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Zur Einführung

Sehr häufig bin ich gefragt worden, auf welche Weise ich zuerst zu den im folgenden beschriebenen Versuchen geführt worden bin.« Dieser Satz, mit dem Heinrich Hertz seine gesammelten Aufsätze über die Ausbreitung der elektrischen Kraft einleitet, könnte zugleich auch die allgemeine Überschrift zu diesem Bande sein, in dem versucht ist, einen allgemeinverständlichen Ausschnitt aus dem Schaffen von Helmholtz und Hertz zu geben.

Ein langer, schwieriger Weg, auf dem der deutsche Genius wie kein andrer bahnbrechend gewirkt hat, führt von den ersten unbeholfenen Versuchen, durch die Einführung der Erfahrung als Erkenntnisquelle die mittelalterlichen Denkmethoden zu überwinden, zu unserm Weltbild.

Das deutsche Geistesleben im Anfang des vorigen Jahrhunderts stand noch ganz unter dem Zeichen der reinen Philosophie. Das war nach der Umwälzung des Denkens durch den Titanen Kant wohl verständlich. Kant hatte zwar der Erfahrung eine wichtige Aufgabe zugewiesen, aber andererseits auch die Selbstherrlichkeit des apriorischen Denkens begründet. Raum und Zeit wurden als Formen unserer Anschauung definiert. Alle Erscheinungen in Raum und Zeit sollten sich den Gesetzen unseres apriorischen Denkens fügen, wie es in Geometrie und Algebra sich äußert, zu denen als weitere apriorische Denkform die Kausalität hinzutrat. Der Verlockung zu einer schrankenlosen Ausnutzung des apriorischen Denkens, auch in der Erklärung der Natur, war trotz des Gegenbeispiels, das Kant mit seiner »Naturgeschichte des Himmels« gegeben hatte, eine ganze Generation kühner Philosophen erlegen, und ihre im leeren Raum schwebenden Weltgebäude nahmen das Interesse der Gebildeten weit mehr in Anspruch als die schon damals recht reiche exakte Naturwissenschaft. Mit einer uns heute unverständlichen Überheblichkeit meinte die Philosophie des reinen Denkens auf die Erfahrung herabblicken zu dürfen. Man glaubte, mit großen naturphilosophischen Systemen der Natur Gesetze vorschreiben und damit den langwierigen Weg einer Erforschung durch Beobachtung und Experiment sparen zu können.

Die Neigung zum Geistigen philologisch-philosophischen Gepräges fand von einer andern Seite her eine wesentliche Stützung. Gerade auf deutschem Boden, von Franz Bopp, war zu Beginn des Jahrhunderts die vergleichende Sprachwissenschaft begründet worden. Die Brüder Grimm, um nur ein Beispiel herauszugreifen, hatten dem wissenschaftlich interessierten Geist durch die Wiedererschließung des deutschen Altertums reiche Nahrung gegeben.

Diese von der Romantik getragene geisteswissenschaftliche Richtung, die in Hegel ihren Höhepunkt erreichte, behauptete ihren unbedingten Vorrang bis in die Mitte des Jahrhunderts hinein. Als Helmholtz 1849 Professor der Physiologie in Königsberg wurde, riet ihm noch ein wohlmeinender Kollege, wie er in dem Aufsatz »Das Denken in der Medizin« schildert, die experimentelle Seite seiner Disziplin einem Assistenten zu überlassen, da es sich für einen Ordinarius nicht zieme, aus der Region reinen Denkens in die profane Erfahrung herabzusteigen. Helmholtz stellte dieser Anschauungsweise mit größter Folgerichtigkeit die induktive Methode als einzige Grundlage der Naturwissenschaft entgegen. Die Notwendigkeit einer ständigen Verteidigung des wissenschaftlichen Eigenwertes der Naturforschung zwang ihn dazu, von seiner Wissenschaft her in die Gefilde der Philosophie vorzustoßen, um im fruchtbarsten Wettkampf mit den Fachphilosophen die erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlagen seines Forschens aufzuweisen und zu einem selbständigen in sich geschlossenen Weltbild auszugestalten. So ist der Aufsatz »Die Tatsachen in der Wahrnehmung« von höchster Bedeutung auch für die Geschichte der Philosophie.

Daß Helmholtz angesichts seiner überragenden Stellung in der internationalen wissenschaftlichen Welt davon absehen konnte, wie es jetzt wieder zuweilen geschieht, dem Laien gegenüber immer nur den praktischen Wert wissenschaftlicher Entdeckungen zu betonen, daß er immer wieder gerade den hohen ethischen Zug des reinen Strebens nach der Wahrheit hervorhob, verleiht seinen Äußerungen über seine Zeit hinaus besonderen Wert.

 

Man hat sich in Deutschland daran gewöhnt, die Darstellungsweise unserer Wissenschaftler als schwerfällig und schwerverständlich zu kritisieren und den leicht faßlichen Stil etwa der französischen Gelehrten ihr entgegenzuhalten. Das ist eines der ungerechtesten Vorurteile. Die Geschichte der deutschen Wissenschaft ist reich an Meisterwerken darstellender Prosa. Gewiß ist es schwer, das Ringen Kants um Klarheit an den Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens zu verfolgen. Aber selbst ihm tut man unrecht; seine »Kritik der Urteilskraft« ist lichtvoll und klar, ganz zu schweigen von seinen kleineren Schriften, etwa der »Naturgeschichte des Himmels« oder »Vom ewigen Frieden«. Gerade unsere großen Forscher haben mit wenigen Ausnahmen neben ihren nur für den engeren Fachkreis bestimmten Werken, die nicht Schönheit auf Kosten von Exaktheit und Gründlichkeit erkaufen durften, in Vorbildlichem Stil geschrieben. Unter ihnen steht Helmholtz an erster Stelle. Es gibt kaum etwas Eleganteres in deutscher Prosa als seine zierliche Antwortrede nach Empfang der Graefe-Medaille, und wenig rein literarische Betrachtungen dürften seinen Aufsatz über Goethes Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Entdeckungen an Tiefe, philosophischen Gehalt und Schönheit der Form übertreffen. Mit großer Klarheit vermag er selbst verwickelte Gedankengänge dem Verständnis auch des Nichtwissenschaftlers näherzubringen. Dazu befähigt ihn vor allem die große Anschaulichkeit seines Denkens. Es grenzt ans Wunderbare, wie er es versteht, in seinem Vortrag über die Axiome der Geometrie nichteuklidische Raumgebilde in anschauliche Bestandteile aufzulösen. Beim Lesen kann man ihm nachempfinden, welche Freude es ihm bereitet, geometrische Theorien, die nach landläufiger Meinung das Fassungsvermögen des Nichtmathematikers weit übersteigen, Kant zum Trotz, durch Mittel unserer sinnlichen Anschauung jedermann zugänglich zu machen.

Das gleiche gilt von Heinrich Hertz. Sein nach äußerster Einfachheit strebender Stil spiegelt die Klarheit und Folgerichtigkeit seiner schöpferischen Gedanken. Das beste Beispiel dafür ist seine Einleitung zu den Versuchen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft, in der es ihm gelingt, ohne Mathematik den möglichen Wirklichkeitsgehalt der Maxwellschen Gleichungen gemeinverständlich darzustellen.

 

Heute ist es dem einzelnen ganz unmöglich, auch nur ein größeres Teilgebiet eines wissenschaftlichen Faches in allen Einzelheiten zu überblicken. Helmholtz war das letzte große Genie, das, wie zwei Jahrhunderte vor ihm Leibniz, die gesamte exakte Naturwissenschaft seiner Zeit von der Mathematik über Physik, Chemie, Astronomie, Geologie bis zur Physiologie und Medizin beherrschte. Jede dieser Wissenschaften erfuhr mehr oder weniger entscheidende Förderung durch ihn, alle fügten sich auch bei fortschreitender Entwicklung in seine fest begründete Weltanschauung.

Gegenüber seiner reichen Vielseitigkeit beschränkt sich das Lebenswerk seines früh vollendeten Schülers Heinrich Hertz, des Entdeckers der elektrischen Wellen und Begründers unseres Funkwesens, auf einige Sondergebiete der Physik. Gleichwohl erheben ihn seine Leistungen in die Reihe der begnadeten wissenschaftlichen Genien.

Neben diesen beiden Gestirnen am Himmel der Physik ist der Ruhm J. R. Mayers, des Entdeckers des Gesetzes von der Erhaltung der Energie fast verblichen. Als Außenseiter hatte er es schwer sich durchzusetzen, besonders da Helmholtz wenige Jahre später ebenfalls selbständig dieses fundamentalste Naturgesetz fand und zu seiner Überraschung erst später erfuhr, daß dieser unbekannte Arzt ihm zuvorgekommen war.

 

In seiner Mechanik unternahm Hertz einen letzten großartigen Versuch, die Einheitlichkeit und Einheit des physikalischen Weltbildes auf der Grundlage und mit den Mitteln der sogenannten »klassischen« Mechanik zu sichern. Damit schloß er eine lange ungemein fruchtbare Epoche einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise ab, in der neben vielen andern Kopernikus, Galilei, Kepler, Leibniz, Newton, Kant, J. R. Mayer und Helmholtz durch immer schärfere Fassung der Begriffe Masse, Kraft und Bewegung und ihre raumzeitliche Ordnung eine dem Stande der jeweiligen Erfahrung angemessene und ausreichende Beschreibung der Erscheinungen zu geben sich bemüht hatten. Noch 1893, kurz vor seinem Tode, kann Hertz schreiben: »Alle Physiker sind einstimmig darin, daß es die Aufgabe der Physik sei, die Erscheinungen der Natur auf die einfachen Gesetze der Mechanik zurückzuführen.« Der nächste Satz bringt bereits die Einschränkung: »Welches aber diese einfachen Gesetze sind, darüber herrscht nicht mehr die gleiche Einstimmigkeit.«

Diese Einstimmigkeit herrscht heute weniger denn je. Die so fest scheinende Grundlage der »klassischen« Mechanik, die Geltung des Kausalitätsbegriffs und der euklidischen Geometrie für unsere Naturerkenntnis, ist erschüttert. Die »prästabilierte Harmonie« zwischen unserm reinen, apriorischen Denken und der wirklichen Welt, wie sie in Kants »Kritik der reinen Vernunft« dem Stande der Wissenschaft seiner Zeit entsprechend ihre klarste Prägung fand, muß jetzt nach mehr als hundertjähriger Geltung in einer höheren Schicht des Erkennens gesucht werden. Der Kausalitätsbegriff in seiner strengen Fassung verliert für die Betrachtungsweise der neuesten Physik seinen erfüllbaren Sinn und ist der statistischen Gesetzmäßigkeit, die mit Wahrscheinlichkeitsregeln arbeitet, gewichen. Die euklidische Geometrie gilt als geeignetes Darstellungsmittel nur noch annäherungsweise in mittleren Größenverhältnissen. Im Kosmischen wie in der Welt des Kleinsten, in der Astronomie wie in der Atomphysik erfüllen nichteuklidische Raumvorstellungen, wie sie Helmholtz als erster in der Erscheinungswelt anzuwenden versuchte, besser den Zweck einer ökonomischen Beschreibung des Wirklichen. Die gewaltigste Umwälzung der naturwissenschaftlichen Grundbegriffe, die stärker als alle andern Neuerungen zugleich eine Umstellung des Denkens erfordert, ist die Erkenntnis, daß der in zwei Jahrtausenden entwickelte Begriff der Kontinuität für das reale Geschehen nicht gültig ist, daß vielmehr die Energie in Elementarquanten wirkt. Diese im Jahre 1900, wenige Jahre nach dem Tode von Helmholtz und Hertz von Max Planck begründete »Quantentheorie« führte eine neue allgemeine Konstante in die Physik ein und war der Anfang einer ungemein fruchtbaren Entwicklung, aus der sich das Plancksche Strahlungsgesetz und die Bohrsche Quantentheorie des Atoms als erste fundamentale Einzelleistungen abheben.

So bildet die Mechanik von Hertz den letzten großen Ausklang des neunzehnten Jahrhunderts. Schon einmal in der Geschichte der Naturerkenntnis hatte man versucht, eine zu eng gewordene Anschauung durch immer neue Erweiterungen, durch immer künstlichere Betrachtungsweisen zu stützen, als das vorkopernikanische Weltsystem in einer letzten großartigen Fassung durch Tycho de Brahe seinen stärksten Verteidiger fand. Aus seinen vergeblichen komplizierten Bemühungen, durch Zyklen und Epizyklen die scheinbare Unregelmäßigkeit der Planetenbahnen zu erklären, hat Kepler seine klaren und einfachen Rechnungen abgeleitet. In ähnlicher Weise zeigte gerade der konsequenteste Versuch, alle Naturerscheinungen auf mechanische Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, die Unzulänglichkeiten und Begrenztheiten der mechanischen Theorie. Es ist Hertz nicht gelungen, »die nächste und in gewissem Sinne wichtigste Aufgabe unserer bewußten Naturerkenntnis, daß sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Voraussicht unser gegenwärtiges Handeln einrichten zu können«, zu lösen. Seine erkenntnistheoretischen Gedanken, mit denen er sein letztes großes Werk einleitet, werden gleichwohl in ihrer überirdischen kristallenen Klarheit in der Geschichte der Wissenschaft ihren unvergänglichen Wert behaupten. Sie bilden, über die methodologischen Anschauungen von Helmholtz teilweise hinausgehend, die moderne Fortsetzung zu dem Streben Kants nach klarster, nüchternster Abwägung der Gültigkeit und Reichweite unserer wissenschaftlichen Begriffsbildung. So durften sie neben den das ganze Weltbild des neunzehnten Jahrhunderts umfassenden Gedanken Helmholtz' nicht fehlen in diesem Band, der in den besten Beispielen einen Querschnitt durch den geistigen Gehalt der heroischen Epoche unserer modernen Naturwissenschaft geben soll. Beide, Helmholtz wie Hertz, ragen als schöpferische Persönlichkeiten aus ihrer Zeit heraus in die neueste vielgestaltige Entwicklung hinein.


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