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Siebentes Kapitel
Odysseus' Heimkehr

1.

Es war im April 1911, und der Vorfrühling mit Krokus, Regenschauern, Versteckenspiel der Sonne, Sturm und tollen Aprilwolken hatte seit einer Woche seinen Einzug in das Inselreich gehalten. Die Winde zogen in endlosen, singenden Scharen darüber hin; sie kamen vom Süden, und es war klar, daß sie von weither kamen und tüchtige Tagesmärsche gemacht hatten, so warm waren sie. Sogar der fette Fabriksrauch erhob sich bei ihren Alarmsignalen in fröhlicherem Takte als sonst. Die Straßen der Städte glänzten graublank und reingewaschen, und die Landstraßen lagen so lecker braun und zu Fußwanderungen einladend da wie nur im Vorfrühling.

Am Abend des 24. April kamen Herr Philipp Collin und sein treuer Kumpan Lavertisse über eine der alten römischen Heerstraßen in Sussex gewandert. Sie hatten einen langen Tagesmarsch hinter sich, und als Ziel winkte ihnen ein kleines Städtchen am Kanal, dessen Kirchturm soeben einen wegweisenden Finger über die Dünen streckte. Sie gingen schweigend, in jenem Schweigen, das für alte Freunde ebenso inhaltsreich ist wie nur irgendein Gespräch. Sie hatten zusammen Südengland von einem Ende bis zum anderen durchstreift – teils von der Wanderlust des Vorfrühlings getrieben, teils von dem berechtigten Wunsche, Mr. Kenyon und seine Fachgenossen von ihrer Spur abzubringen, nach der Rückeroberung der Besitztümer, die Lord Purbrook auf Purbrook Hall sich unrechtmäßig aneignen wollte. Diese Dinge waren nun sicher untergebracht, außer Reichweite für jeden, wer es auch sein mochte.

»Wissen Sie was, Lavertisse,« sagte Philipp Collin plötzlich, »wie ich so ging, fiel mir etwas ein, das ich irgendwo gelesen habe: Paris, London und Zentralafrika sind die einzigen Orte, wo man wirklich existieren kann. Ich glaube, ein exzentrischer Lord sagt das in einem Buch. Ich mochte wissen, ob das auch für andere zutrifft?«

»Ich weiß nicht, Professor, ich bin nie in Zentralafrika gewesen. Aber ich für meine Person finde, daß man überall ungefähr gleich gut existiert.«

»Das pflege ich in der Regel auch zu finden. Aber manchmal, so jetzt im Frühling, drehe ich den Satz um und finde, daß man überall gleich schlecht existiert.«

»Warten Sie, bis wir in irgendeinem alten Wirtshaus in der Stadt dort drüben zu Abend gegessen haben, dann werden Sie den Satz noch einmal umdrehen. Seit sechs Stunden ist kein Bissen über unsere Lippen gekommen.«

Die späte Dämmerung desselben Abends sah Philipp Collin und Herrn Lavertisse mit angezündeten Pfeifen in der kleinen Kanalstadt umherstreifen. Sie war von der Kultur so gut wie unbeleckt, denn sie war noch nicht von Badegästen entdeckt worden, und lag ebenso grau und unbemerkt da, wie sie vermutlich gelegen, als Wilhelm der Eroberer gleich in der Nähe ans Land stieg. Eine mittelalterliche Kirche war das einzige architektonische Werk, mit dem sie prunken konnte. Die schmalen Gäßchen führten samt und sonders unausweichlich zum Hafen hinunter, der für höchstens sechs Fahrzeuge Platz hatte und augenblicklich nur ein einziges nebst einigen Fischerbooten beherbergte. Philipp und sein Freund schlenderten gemächlich den niedrigen Steinkai hinunter, bis sie an seinem Ende angelangt waren. Da blieben sie eine Weile stehen und starrten über den Kanal, der still und grau in die Unendlichkeit zu verströmen schien. Nur in langen Zwischenräumen blinkte es von einem Fahrzeug dort draußen auf.

Plötzlich wurde die Ruhe des Aprilabends unterbrochen. Eine Ziehharmonika, eine echte schwedische Bauern-Ziehharmonika ließ ihren langgezogenen, nasalen Gesang von dem einen Fahrzeug im Hafen ertönen. Philipp zuckte zusammen und begann aus allen Kräften in die graue Dämmerung hineinzustarren.

»Irgendein schwedischer Matrose natürlich,« murmelte er, »oder – – Lavertisse, das ist, so wahr ich lebe, ein schwedischer Kutter! Albertina, Gothenburg

»Ach so, aus Ihrem Land, Professor?«

»Ja, aus meinem alten Lande. Was spielt er nur? Ah, dacht' ich mir's doch! ›Im englischen Kanale, da segelt eine Brigg!‹ Unleugbar zutreffend – –«

»Ist es nicht Zeit, einzukriechen, Professor? Wir haben auch morgen einen tüchtigen Tagesmarsch vor uns.«

»Warten Sie noch ein bißchen. Lassen Sie uns hören, ob er noch mehr spielt.«

Die Ziehharmonika draußen auf dem Kutter, die einige Augenblicke verstummt war, setzte nun wieder ein. Lavertisse lauschte, halb verständnislos, halb gefesselt, einer Folge von fremdartigen langgedehnten, wehmütigen, ungeschlachten, tollen Melodien. Bald trappelten sie wie schwere Stiefel über eine Landstraße, bald sausten und fegten sie wie Röcke über einen Tanzboden, bald klagten sie in Intervallen, die ihn zum Lachen reizten, bald stürmten sie in einem Takt dahin, der seine Füße unwillkürlich mitzog. Philipp stand unverwandt lauschend an seiner Seite, den Blick auf den Kutter geheftet. Endlich wurde es dort draußen still. Philipp wandte den Blick von dem kleinen Fahrzeug ab und kehrte sich der Stadt zu.

»Wie rührt das Herz doch ein kleines Lied,« murmelte er. »Kommen Sie, Lavertisse, lassen Sie uns zu Bett gehen. Wir haben morgen eine lange Tour vor uns, wie Sie so richtig sagen.«

Wie lange sie werden sollte, erfuhr Lavertisse erst am nächsten Morgen. Es war halb acht Uhr, als er dadurch geweckt wurde, daß Philipp an seinem Kopfkissen stand und ihn rüttelte.

»Sie lassen sich zuviel Zeit, lieber Freund. Wenn Sie mit dem Packen fertig werden wollen, müssen Sie gleich aufstehen.«

Lavertisse starrte Philipp schlaftrunken an. »Packen?«

»Ja. Das Schiff geht in anderthalb Stunden. Und wir wollen doch noch vorher frühstücken.«

»Das Schiff geht?« Lavertisses Augen wurden so groß wie Frühstücksteetassen.

»Wie Sie hören. Ich habe heute morgen um halb sieben Uhr, während Sie noch schliefen, die Albertina aus Gothenburg für eigene Rechnung gemietet. Und Punkt neun Uhr segeln wir nach Schweden ab.«

»Nach Schweden!« Lavertisses Gesicht wurde so langgezogen wie das Land, von dem er sprach. »Sie werden sich doch nicht – Sie denken doch nicht nach ...«

»Doch, ich denke heimzureisen. Es ist schon lange her, seit ich daheim war, und ich brauche eine Abwechslung. Und in Ermangelung von Zentralafrika ... Wenn Sie mir Gesellschaft leisten wollen, so haben Sie anderthalb Stunden vor sich.«

Die Fahrt des Kutters Albertina zeichnete sich durch keinerlei merkwürdige Abenteuer aus. Die Nordsee war wohlwollend gesinnt; die Sonne und die weißen Frühlingswölkchen leuchteten, und der kleine Kutter schlingerte nicht mehr, als daß Lavertisse sich nach einem Tag der Einsamkeit in der Koje wieder auf Deck zeigen konnte. Der Kapitän, der ein ehrlicher Smaländer war, und die drei Mann der Besatzung, die demselben Stamme angehörten, zeigten dies ausschließlich durch ihre unbändige Neugierde. Die Albertina war für Fischtouren bestimmt; dies war das erstemal, daß sie mit Passagieren fuhren, und diese Passagiere waren im höchsten Grade interesseerregend. Kein Knausern bei der Bezahlung, hingegen – wenigstens von seiten des einen Passagiers – ein unerhörtes Interesse für die Darbietungen des Kochs auf der Ziehharmonika. Schwammen in Geld und mieteten sich die Albertina, anstatt mit den Thuledampfern zu reisen! Konnte das die Ziehharmonika machen? Der Kapitän beschloß, sofort nach seiner Heimkehr die musikalischste Besatzung aufzunehmen, die innerhalb der Grenzen Smalands aufzutreiben war, denn Passagierbeförderung dieser Art erwies sich als zehnmal einträglicher als Heringsladung. So allmählich (nur zu rasch für den Kapitän, der den Passagieren Kostgeld per Tag berechnete) erreichte die Albertina Skagen und schaukelte sich auf den kurzen, grünen Wellen des Kattegat. Und dann, zehn Tage nach der Abfahrt aus Sutbury, tauchten die grauen Felsen Bohusläns aus dem silbergrauen Nebel empor und die Albertina steuerte auf Gothenburg los, während der Koch auf Philipps Verlangen wie Arion am Steuer stand und den Möwen mit seinem ganzen Repertoire aufwartete. Unmittelbar vor Sonnenuntergang war man in Gothenburg. Philipp schüttelte die Hand des wehmütigen Kapitäns, der ihm seine möglichst ausführliche Adresse gab, sowie die des traurig trillernden Kochs und stieg zum ersten Male seit sieben Jahren auf seiner Väter Erde ans Land.

2.

» Nom d'un nom, Professor, ist das eine Eisenbahn! Ein Doppelgeleise davon würde nicht mehr Raum einnehmen als eine Tram in Paris. Und warum legt man überhaupt keine Doppelgeleise? Hier ist doch auf Ehre Platz genug, was?«

»Ja, es wäre Platz genug. Aber ob Sie mir nun glauben wollen oder nicht, so ist das, woran es in meinem Lande am meisten fehlt, doch der Raum.«

»Jedenfalls nicht für die Tannenwälder, Professor!«

»Nein, aber für so manches andere. Die Tannenwälder haben spezielle Privilegien, und sie sind ja auch die ältesten am Platze. Jetzt sind wir übrigens, glaube ich, angelangt.«

Der kleine Zug der schmalspurigen Vizinalbahn suchte durch eifriges Aufschlagen den Passagieren anzudeuten, daß das Ziel der Reise erreicht war. Die Wagen rasselten über die Wechsel in eine Station; der Zug hielt. Philipp und sein Freund sprangen auf den Perron und reichten einem galonierten Hoteldiener ihre Gepäckscheine.

»Wir haben im Hotel zwei Zimmer telegraphisch reserviert,« sagte Philipp. »Wissen Sie, ob das geordnet ist? Mein Name ist Professor Pelotard aus London.«

»Ja, alles in Ordnung, Herr Professor. Soll ich den Weg zum Hotel zeigen?«

»Danke, wir finden schon.«

Philipp und Lavertisse gingen durch einen mit Wollplüschsofas geschmückten Wartesaal auf den kleinen grauen Platz vor dem Bahnhof zu. Auf der obersten Stufe der alten Steintreppe blieb Philipp stehen und sah sich lange um.

»Akkurat wie es war,« murmelte er schließlich. »Das Hotel, der Uhrmacherladen, das Weißwarengeschäft, die beiden Banken und die große Spezereihandlung. Das einzig Neue ist jedenfalls das Kino. Akkurat wie es war. Wollen Sie mir glauben, daß das hier meine gute Stadt Kristianshamn ist, Lavertisse?«

»Es fällt mir schwer.«

»Kommen Sie! Bummeln wir ein bißchen durch die Straßen!«

Philipp nahm seinen Freund unter den Arm und zog ihn durch die Maidämmerung der Straßen. Kaum eine Gaslaterne war angezündet. Die langen Reihen der grauen, einstöckigen Häuser schlossen sich aneinander, hier und da von einem plankenumfriedeten Garten unterbrochen, dessen Ulmen neugierig ihre knospenden Zweige aus die Straße hinausstreckten. Die Fensterscheiben funkelten im Abendlicht. Hinter den meisten hing ein Spiegel. Hier und dort sah man Ziegelkasernen, freche Unterbrechungen der Idylle; ab und zu ein Kinotheater mit gelbflammenden Lichtern und wütig kolorierten Affichen von geradezu wunderbarer Häßlichkeit. Davor standen kleine Gruppen von Menschen; sonst waren die Gassen so gut wie leer, nur flüsternde Paare tauchten hier und dort an einer Hausmauer oder aus einem Torweg auf. An einer Ecke, gegenüber einem Park, lag ein zweistöckiges Haus, vor dem Philipp stehenblieb.

»Da lag einmal eine Advokaturskanzlei, Lavertisse.«

»Ihre, Professor?«

»Ja. Meine, vor sieben Jahren. Ich bezweifle, daß sie mit einem anderen Inhaber fortgeführt wird.«

»Nur sieben Jahre! Befürchten Sie wirklich nicht, daß –«

»Ich erkannt werde? Nicht im geringsten. Ich habe mich verändert, was man von der Stadt nicht behaupten kann, und nur auf Ithaka wird man nach einer so langjährigen Odyssee von irgendeinem Menschen erkannt. Und ich habe keinen Hund, der die Rolle des treuen Argos übernehmen könnte.«

»Hm. Und Penelope, Professor?«

»Penelope! Gab es keine. Oder doch – es gab eine, aber sie war nicht einmal mit Odysseus vermählt, und die Freier waren schon vor Odysseus' Abfahrt zahlreich und drängend. Sie hatte an anderes als ans Weben zu denken. Einen Augenblick, Lavertisse, lassen Sie uns noch ein paar Schritte gehen! Penelope wohnte hier gleich nebenan ... hier beim Parktor ... ja, gerade hier.«

Philipp hatte seinen Freund noch ein paar Schritte mitgezogen, und sie standen nun vor einem großen, vornehm aussehenden, altertümlichen Hause. Er blickte zu den Fenstern des zweiten Stockwerks hinauf. Ein paar davon waren beleuchtet, und durch eine halbgeöffnete Scheibe hörte man ein undeutliches Stimmengewirr. Man schien dort oben Gesellschaft zu haben. Eine Droschke hielt vor dem Tor, und plötzlich sah Lavertisse seinen Freund und Arbeitgeber auf den alten Kutscher zutreten, der daneben auf und ab ging. Es entspann sich zwischen ihnen ein Gespräch, das ziemlich lange dauerte. Endlich machte Philipp mit der Hand eine Bewegung nach der Westentasche, die der Kutscher mit einem energischen, beinahe ergrimmten Kopfschütteln beantwortete; dann war Philipp wieder da und nahm Lavertisse beim Arm.

»Man merkt, in welchem Lande man ist, wenn man auf jemanden trifft, der ein Trinkgeld zurückweist,« sagte er. »Kommen Sie. Gehen wir ins Hotel.«

»Und Penelope? Hatte sie –«

»Pst! Sie – Sie werden es dann schon hören.«

Lavertisse sah ihn erstaunt an; er war an Gemütsbewegungen von dieser Seite nicht gewöhnt. Sie gingen im Eiltakt durch die Straßen, bis sie vor einer neuerbauten, protzigen Hotelfassade standen. Philipp betrachtete sie einen Augenblick.

»Ach so, sie haben umgebaut,« sagte er. »Hier ist es.«

Sie traten ein und gingen, vom Portier gefolgt, in ihre zwei Zimmer im ersten Stockwerk. Philipp winkte dem Portier – einem beflissenen jungen Mann mit blondem, in der Mitte gescheiteltem Haar und einschmeichelndem Lächeln – noch zu bleiben und schien über etwas nachzudenken. Endlich sah er den Portier an, indem er einen Zehnkronenschein zwischen den Fingern drehte.

»Sie kennen wohl die Leute hier in der Gegend ziemlich gut, nicht wahr?«

»Jawohl, Herr Professor, ich glaube schon.«

»Sie wissen ungefähr, wie sie leben und ... hm ... was sie treiben? Ich vermute, sie halten ihre Feste hier im Hotel ab?«

Der Portier lächelte ein Augurenlächeln.

»Hie und da haben wir ja kleine Veranstaltungen,« sagte er. »Und da hört man ja auch öfters von dem oder dem dies und jenes ...«

»Natürlich. Kennen Sie auch den Gutsbesitzer Aspebrink auf Brinkestad?«

Das Lächeln des Portiers vertiefte sich um eine Nuance.

»Ja, etwas,« sagte er mit einem unnachahmlichen Tonfall.

»Er gibt gerne größere Feste?«

»Ganz passable. Hat heute hier eine Veranstaltung.«

Philipp senkte die Stimme und die Augenlider ein wenig.

»Und seine ökonomische Lage? Sie verstehen, – ganz entre nous –«

Der Portier starrte den Zehner an, der nun ein bißchen langsamer in Philipps Hand rotierte, gleichsam im Begriffe, sie zu verlassen. Er warf einen hastigen Blick nach der Tür.

»Man redet soviel,« murmelte er.

»Ja, gewiß. Und man sagt? Nur Klatsch, das wissen wir ja im vorhinein.«

»Man sagt, daß es mit ihm soso lala stehen soll ... aber man weiß ja, was die Leute ...«

»Gewiß. Danke. Wollen Sie dies hier als ein kleines Präsent annehmen. Und wollen Sie dafür sorgen, daß mein Freund und ich gleich ein Souper für zwei hierherauf bekommen.«

»Danke, Herr Professor. Wird sofort besorgt, Herr Professor.«

Der Portier verbeugte sich hinaus, und Lavertisse sprang von seinem Fauteuil auf.

»Was ist denn los, Professor? Worüber haben Sie denn diesen Schmarotzer verhört?«

»Ich habe ihn über etwas verhört, das mich augenblicklich im höchsten Grade interessiert. Darf ich Sie eines fragen, Lavertisse: umfaßt Ihr buntes und reichhaltiges Wissen auch etwas wie Bergwerkskunde?«

»Bergwerkskunde?« Nicht im entferntesten.«

»Hm. Schade. Aber es wird auch so gehen. In London kann man für Geld alles haben. Und Sie müssen sich eben das Nötige dort verschaffen.«

»Was wird auch so gehen?«

Philipp sah Lavertisse eine Minute an, bevor er langsam antwortete:

»Die Rache für sie – für Penelope.«

Lavertisse starrte ihn an, ohne das herauszubringen, was seine Augen sagten: Rappeln Sie, Professor?

»Hören Sie, lieber Freund, ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, und Sie werden besser von mir denken. Es war einmal ein junges Weib in einer kleinen Stadt in einem kalten dunklen Lande, und sie war schön und hatte viele Freier. Mit dem bei Frauen so häufigen Mangel an Unterscheidungsvermögen zog sie den Schlechtesten vor. Ja, sie war schön. Ihr Gesicht war ernst, aber wenn sie lächelte, ein Lächeln, wie es keine andere hatte, war es, wie wenn der Sonnenschein in einem Frühlingstag, der hin und her schwankt, aus den Wolken bricht. Ihr ganzes Wesen war wie ein Frühlingstag, der zwischen Sonne und Schatten schwankt. Wenn sie zärtlich oder eifrig wurde, dann wurde ihre Iris blauleuchtend wie schimmernder Stahl. Und wenn sie einen dann ansah, glaubte man alles zu sein, was man nicht war. Ihr bevorzugter Freier überraschte sich zuweilen darauf zu träumen, daß er ein ehrlicher Mann war oder es wieder werden könnte. Es war ein kurzer, unfruchtbarer Traum, und er mußte ihn fahren lassen, um praktischeren Erwägungen im Ausland nachzuhängen. Wissen Sie, daß nichts die Leute mehr aufbringt, als wenn sie keinen sichtbaren Sündenbock bei der Hand haben? Die Leute in der Stadt, wo sie wohnte, ließen sie entgelten, was er verbrochen hatte. Vielleicht taten sie es gründlicher als andere es getan hätten, weil sie eben in solch einer kleinen Stadt wohnten. Sie verheiratete sich mit einem Manne, um Schutz zu finden, und er ließ sie ihre, geben wir zu, törichte Freundlichkeit gegen einen Unwürdigen schwerer büßen als all die anderen. Im vorigen Jahre gelang es ihr nach vierjähriger ehelicher Hölle die Scheidung von ihm zu erwirken. Und in diesem Jahre, so wahr ich bin, der ich bin, soll er ruiniert sein – wo sie ist, weiß niemand. Sie ist ins Ausland verschwunden.«

Lavertisse schwieg einen Augenblick.

» Bon Dieu, Professor,« sagte er halb zögernd, »wollen Sie den Monte Christo spielen? Haben Sie mich deswegen nach meinen Bergwerkskenntnissen gefragt?«

»So ist es. Morgen beginnt das Spiel und wird in das Gut Brinkestad dicht vor dieser Stadt verlegt. In spätestens zwei Tagen bekommen Sie ein Telegramm, das Sie zwingt, sofort abzureisen, und wenn ich dann Brinkestad noch nicht gekauft habe, so werde ich es in einer Woche gekauft haben. Der Preis tut nichts zur Sache, ich bin nicht derjenige, der ihn bezahlen wird ... aber hier kommt das Souper. Nachher wollen wir weiter miteinander reden.«

3.

Philipp konnte noch ein altes Kapitel aus seinen Jugenderinnerungen Revue passieren lassen, als er tags darauf Besuch in Brinkestad machte: den alten schwedischen Herrenhof, der bessere Tage gesehen hat. Das weiße Corps de logis-Gebäude mit der hohen Vortreppe und den großen, altertümlichen, bauchigen Fenstern, die großen, rotgestrichenen Stallungen und Scheunen, und vor allem den Park, den alten verwilderten Park mit seinen Linden, seinem Obstgarten, den großen Erdbeerbeeten und den durch die Vernachlässigung übermütig gewordenen Stachel- und Johannisbeerhecken ... und dazu als Genius loci, der Besitzer, Herr Aspebrink.

Philipp hatte schon bei seiner Ankunft in der Heimat das anglosächsischeste Aussehen angenommen, das er nur aufbringen konnte, und für den Besuch bei Gutsbesitzer Aspebrink hatte er es aus gewissen, bestimmten Gründen noch schärfer akzentuiert. – Es dauerte bis zur Nacht des nächsten Tages, ehe Lavertisse ihn wieder zu Gesicht bekam, und der gute Lavertisse hatte schon begonnen, unruhig zu werden. Da hatte der Professor vielleicht doch zu viel riskiert! Endlich gegen halb ein Uhr nachts kam Philipp mit einem Gesicht, das anglosächsischer und energiegeladener war als je.

»Nun, Professor?«

»Alles klar. Sie reisen übermorgen. Ah – ich wünschte, ich könnte Ihnen den Herrn, mit dem ich heute zu tun gehabt habe, beschreiben! Ich bezweifle, daß Sie seinen Typus schon gesehen haben, da dies Ihr erster Besuch in meinem Lande ist. Der hochgeschätzte Eigentümer von Brinkestad ist dreiunddreißig Jahre alt, hat einen Spitzbauch, ein Doppelkinn und einen aufgezwirbelten Schnurrbart. Er versucht wie ein Militär auszusehen und aufzutreten, obwohl er eigentlich das unblutigste Wesen auf Gottes Erdboden ist. Ein netter Mann, der aus purer Lethargie untergeht, ein Mitglied einer großen, großen Familie hier in Schweden. Als ich kam, war er recht zugeknöpft – das gestrige Fest im Hotel hatte sich wohl bis in die Morgenstunden erstreckt. Ich plauderte ein bißchen, um ihn aufzutauen, aber ich kann nicht gerade behaupten, daß ich besonderen Erfolg damit hatte. Da kam mir eine Eingebung, die vielleicht nicht ganz erstklassig war, aber in diesem Falle heiligte der Zweck in doppeltem Grade die Mittel. Ich kannte ihn ja par renommée von früher her und wußte, daß sein jüngerer Bruder aus gewissen recht triftigen Gründen nach Amerika exportiert worden war. – Herr Gutsbesitzer Aspebrink, sagte ich, hier sitze ich und rede immerfort und vergesse ganz den eigentlichen Zweck meines Besuches. Ich kann Sie von Ihrem Bruder grüßen. – Meinem Bruder? Sie haben meinen Bruder getroffen? Ich habe seit Jahren nichts von ihm gehört. – Ausgezeichnet, dachte ich, da kann ich frei fabulieren. – Ich habe Ihren Bruder vor drei Monaten in San Franzisko gesehen. Er hat da eine Farm in der Nähe und war das Bild der Gesundheit. – Und Sie glauben, daß – daß es ihm gut geht? – Brillant, wie es scheint. – Er seufzte und sah seinen verwilderten Park an. – Soso, dem geht es gut, murmelte er zu sich selbst, dann dachte er einen Augenblick nach, und es kam ihm eine lichte Idee: Wollen Sie etwas trinken? Ich nahm natürlich dankend an, es kam etwas zum Trinken herein – ein Vormittagsgrog – und wir debattierten über das große Zukunftsland im Westen. Glauben Sie mir, ich redete wie ein Auswanderungsagent. Nach zwei Grogs – mehr wagte ich ihn nicht trinken zu lassen, damit er nicht etwa anfing, Brinkestad und die Heimat wieder in rosigem Licht zu sehen – standen wir auf und sahen uns das Gut an. Nicht daß ich mich auf Ackerbau oder Viehzucht besonders verstehe, aber so viel konnte ich doch sehen, daß das Gut bei dieser Art der Bewirtschaftung kein langes Leben vor sich hatte. Dank meiner Vorsicht mit den Grogs sah Gutsbesitzer Aspebrink dies ebenfalls – und ich legte mit Beschreibungen Kaliforniens los ... Er lud mich zu Mittag ein, und beim Kaffee war die Situation reif. Ich brauchte nur das allerkleinste Hölzchen zu werfen, da rückte er schon selbst damit heraus: ob ich glaube, daß es dort draußen für ihn etwas gebe. Sie können sich meine Antwort denken; die Auswanderungsagenten hätten sich übertroffen gesehen, wenn sie sie gehört hätten. – Ach ja, aber die Reisekasse ... und Geld, um drüben etwas anzufangen ... Ich machte eine höchst erstaunte Handbewegung. Herrgott, wie meinen Sie das? Sie als Besitzer von Brinkestad! – Ich! Mir gehört ungefähr soviel wie die Schornsteine (wir tranken Kognak zum Kaffee, und der Kognak erwies wieder einmal seine herzlösenden Eigenschaften). – Hm, was Sie da sagen, Herr Aspebrink. Und es gibt niemanden, der Lust hätte, die Schornsteine zu kaufen? – Höchstwahrscheinlich! Wissen Sie jemanden? Möchten Sie es selbst zum Beispiel? – Ja, warum nicht? Ich habe das Ausland satt und Sie Schweden. Warum sollten wir nicht tauschen? Ich habe in jedem Falle daran gedacht, mich irgendwo daheim niederzulassen. – Jetzt wurde er natürlich mißtrauisch, und ich wich zurück, um ihn wieder herankommen zu lassen. Und er kam auch wieder heran, nach einer Weile fragte er geradeheraus zur Sache, was ich zu geben gewillt sei. Bevor wir darüber sprechen, sagte ich, muß ich Sie fragen, ob Sie es ernst meinen? – Das hängt von Ihrem Preis ab. – Well, wenn wir darüber reden sollen, muß ich Sie bitten, vorerst Ihren Advokaten anzurufen. – Sie haben es aber eilig, das muß ich sagen! meinte er und begann mich zu fixieren. – Das haben die Leute überall, nur nicht in Schweden. Ich reise morgen weiter, wenn es mit Brinkestad nichts wird. – Ich sah, daß er jetzt so eifrig war, daß ich gerade auf mein Ziel losgehen konnte. Er überlegte einige Minuten, dann trat er ans Telephon und klingelte an, wie ein braves Kind, das er ja auch ist. Und wollen Sie mir nun das Vergnügen machen, dies hier einen Augenblick zu betrachten, Lavertisse! Präliminarkontrakt darüber, daß ich ein verwahrlostes Gut für eine Summe kaufe, die Herrn Aspebrink in schlecht verhehltem Entzücken erzittern machte. Aber was tut's? Ich werde sie nicht bezahlen!«

»Neunzigtausend Kronen, Professor, und Sie übernehmen die Hypotheken! Das macht doch gut fünftausend Pfund, nicht? Aber was glauben Sie, wird Ihr Landsmann sagen, wenn er seinen Bruder nicht findet?«

»Bah, wer kann das wissen? Vielleicht ist sein Bruder in Kalifornien. Warum soll er nicht in Kalifornien sein? Die Welt ist voll von Wundern. Und im anderen Falle habe ich nur etwas getan, was die Heilsarmee in London jeden Tag tut und wofür sie gerühmt wird – einen Menschen, der in der Heimat untergegangen wäre, an einen Ort verpflanzt, wo er lernen wird, seinen Mann zu stellen. Aber ich erwarte keine Anerkennung dafür.«

4.

Brinkestad, 14. Mai 1911.

Lieber Lavertisse!

Nur einige Zeilen, um das Telegramm zu erklären, das ich Ihnen gestern sandte. Hoffe, Sie haben es so gemacht, wie ich Ihnen depeschierte: es ist von Wichtigkeit, daß die Sache rasch durchgeführt wird.

Lassen Sie mich Ihnen erzählen, was sich in den vier Tagen seit Ihrer Abreise ereignet hat.

Am Tage nach Ihrer Abfahrt, am 11. Mai also, verließ Herr Aspebrink seine verschuldete Besitzung und fuhr weiter nach Gothenburg. Natürlich fand im Hotel ein Abschiedsfest statt, zu dem ich eingeladen war. Ich lehnte ab, indem ich Unpäßlichkeit vorschützte. Schließlich darf man doch nicht zu viel riskieren, wenn man in seiner eigenen Vaterstadt operiert, besonders wenn man für einen geheiligten Zweck arbeitet. Das Fest soll sehr gelungen gewesen sein – die halbe Festgesellschaft konnte sich erst in Gothenburg entschließen, sich von Herrn Aspebrink zu trennen. Ich hoffe, daß es ihm trotzdem gelungen ist, den »Thorsten« zu besteigen und in Liverpool die »Olympic« zu erreichen. Und hiermit nehmen wir Abschied von Herrn Aspebrink. Er hat seine Schuldigkeit getan, und er kann gehen – wie ich hoffe, einer tätigen Zukunft entgegen.

Ich habe, seit ich in Brinkestad einzog, keine Zeit versäumt. Ich hatte zwei Sachen zu ordnen, eine von ideeller, eine von materieller Natur; ich habe versucht, mir Auskünfte über sie zu verschaffen, und ich habe alle disponiblen Arbeitskräfte auf drei Meilen im Umkreis aufgenommen, um die Bearbeitung des Brinkebergs in Gang zu setzen. Das letztere hat das Resultat ergeben, daß zweihundertzehn Mann augenblicklich damit beschäftigt sind, besagtem Berge die Eingeweide auszureißen; das erstere hat bisher nur magere Resultate ergeben.

Lavertisse, es ist schwer, von seinem Volke verurteilt zu sein, einem kleinen Volke anzugehören und ein Weib zu sein. Arme, arme kleine Margot ... Trage ich alle Schuld an deinem Schicksal, oder darf ich einen angemessenen Teil davon den engbrüstigen Spießbürgern aufbürden, die sich zu Richtern über dich aufwarfen? Ah, wenn dem so wäre – und ah, was für ein Gefühl würde es dann sein, sie zu verurteilen und sie zugleich zu strafen. Sei ruhig, Margot, du mußtest gerächt werden und du wirst gerächt werden – wenigstens an dem Hauptverbrecher ... deinem Mann, Herrn von Marck.

Und damit zum Schluß das, was die Hauptneuigkeit ist: Herr von Marck hat durch seinen Kontorchef – Sie wissen, er hat ein Export- und Importgeschäft – den Vorarbeiter meiner zweihundertzehn Bergknappen auszuholen gesucht. Was denn der Zweck dieser intensiven Arbeiten sein könne? Und wer der neue Besitzer von Brinkestad sei? (Diese Frage haben sich wohl noch andere außer ihm gestellt.) Mein Werkmeister fertigte ihn der Order gemäß mit der kategorischen Erklärung ab, daß er keinerlei Auskünfte geben könne.

Genug, Lavertisse, der Tiger beginnt die ausgelegte Lockbeute zu wittern. Ich gedenke, sein Interesse Tag für Tag zu steigern, indem ich mich weigere, irgendwelche Besuche anzunehmen und mich ebenso hartnäckig auf meinem Gut einsperre, wie der Philosoph Kant in Königsberg, wenn Sie schon von diesem Denker gehört haben. Er philosophierte viel über den menschlichen Willen, von dem er behauptete, daß er frei sein müsse. Ich neige mehr der Ansicht zu, daß die größte Anziehungskraft den Ausschlag gibt. Und ich hoffe, es an Herrn von Marck beweisen zu können.

Ihr Freund Pelotard.

 

Brinkestad, 17. Mai 1911.

Lieber Lavertisse!

Besten Dank für alles, was Sie geschickt haben – sowohl Ihre Anfragen über das Rohmaterial des Brinkebergs wie Ihre ganz außerordentlich präparierten »Mineralproben«, für die große Grube desselben Berges bestimmt. Es war besonders fein von Ihnen ausgedacht, drei verschiedene Firmen mit wohlklingenden Namen und Adressen nach Mineralproben und eventuellen Lieferungsmöglichkeiten Erkundigungen einziehen zu lassen. Ja, dieser Zug macht Ihnen wirklich Ehre. Wenn ich nicht Professor Pelotard wäre, ich wollte Lavertisse sein. Bentham, Bentham & Bentham, Ebury Lane, Victoria, Croswell & Son, Lloyds Avenue, E. C. – und The Leeds & London Smelting Co., Pemberton Street, Leeds: ausgezeichnete Namen. Ich hoffe, Sie haben dafür gesorgt, daß die Briefe ordnungsmäßig an Sie weiterbefördert werden?

Was die präparierten Proben des Brinkeberger Erzes betrifft, so sind sie noch nicht zur Anwendung gekommen. Die Schwierigkeit ist natürlich, sie, wenn es darauf ankommt, in richtiger Weise zu plazieren – aber ça ira, es wird schon gehen. Und vielleicht in einer nicht allzu fernen Zukunft. Denn Herr v. M. – aber zuerst will ich erwähnen, daß ich, um zu verhüten, daß der Betreffende sich auf eigene Hand Proben des Produktes des Brinkebergs verschafft, das ganze Bergwerksgebiet mit Stacheldraht einzäunen ließ und den Vorarbeitern strenge Weisung gab, darauf zu sehen, daß kein Unbefugter das Terrain betritt. Ich schützte Furcht vor sozialdemokratischen Agitatoren vor, obwohl der Lohn, den ich den Zweihundertzehn bezahle, wahrlich genügt, um sie fernzuhalten.

Aber ich wollte von Herrn v. M. erzählen: Der Tiger ist der Lockbeute schon erheblich näher gekommen. Gestern stieß ich – natürlich »ganz zufällig« – mit seinem Kontorchef, seiner »rechten Hand«, zusammen, als ich mich eben zu einer Inspektion in das Bergwerk begeben wollte. Er beeilte sich nach schwedischer Manier, sich vorzustellen – vergaß jedoch zu erwähnen, bei wem er angestellt war – und begann ein Kreuzverhör nach allen Regeln der Kunst, ohne weiteres Talent, aber daran lag mir ja nichts. Woher ich käme? Aus dem Ausland, näher bestimmt England und Amerika. Ob ich in Schweden geboren sei? Ja, zufälligerweise, aber früh von der heimatlichen Erde fortgewandert wie so viele andere ihrer besten Söhne. Wahr, sehr wahr. Warum ich gerade Brinkestad gekauft hatte? Weil es mir zusagte und ich bei einer raschen Prüfung, bevor ich es kaufte, gefunden hatte, daß das Geschäft ein rentables war. Ah, was ich von Herrn Aspebrink dächte – ein Dummkopf, nicht wahr? Gewiß – nun, das heißt, ein unverständiger junger Mann, der nicht fähig sein würde, das Glück zu ergreifen, wenn es ihm noch so deutlich die Hand böte. Ah – man wunderte sich sehr über mein zurückgezogenes Leben in Brinkestad, wie sollte man das auffassen? So, daß ich an andere Dinge zu denken habe als an Geselligkeit. Ah – aber man glaubte, ich wäre heim nach Schweden gekommen, um auszuruhen? Gewiß; für einen Schweden, der im Ausland gelebt hat, ist Arbeit ein Ausruhen – das einzige Ausruhen. Aha; und man spräche speziell von den Arbeiten im Brinkeberg ... Sehr möglich, man würde vielleicht binnen kurzem noch mehr sprechen. »Leben Sie wohl, Herr Norden. Ich bedauere, daß ich das Gespräch nicht weiter fortsetzen kann.«

Damit nahm ich Abschied von Herrn Norden, gerade vor der Einfriedigung des Bruchplatzes. Ich sah ihn gleich einem unseligen Geiste eine Zeitlang da herumirren, in der Erwartung, daß ich mich wieder zeigen würde. Als diese Hoffnung sich als trügerisch erwies und der Werkmeister, einen gesellschaftauflösenden Agitator witternd, sich ihm drohend näherte, verschwand er in die Stadt hinunter. Ich bin ziemlich sicher, daß der Rapport, den er seinem Herrn und Chef ablegt, befriedigend ausfällt, und ich habe den Nachmittag damit verbracht, mir einen kleinen Plan auszudenken, um ihm Gelegenheit zum baldigen Ausspielen zu geben – aber später mehr davon.

Für heute also: fahren Sie fort, eine energische, imaginäre Geschäftskorrespondenz für die Firmen Bentham, Croswell und The Leeds & London zu führen! Drücken Sie die größte Zufriedenheit mit den gesandten Proben aus und verlangen Sie umgehend oder baldmöglichst Mitteilungen über die Lieferungsmodalitäten! Fügen Sie hinzu, daß, wenn eine provisorische Einigung zustande kommt, die Vertreter der Firmen Bentham, Croswell usw. sofort abreisen werden, um die Dinge in Augenschein zu nehmen.

Ihr Freund Pelotard.

 

Brinkestad, 23. Mai 1911.

Lieber Lavertisse!

Der Tiger hat den Rachen aufgerissen, um die Zähne in die Lockbeute zu schlagen! Ein erreichtes Ziel und eine rasche Abreise nach London winken mir. Und unter uns gesagt, ich habe nichts dagegen. Ich fange an zu glauben, daß der exzentrische Lord mit seinem Ausspruch über London, Paris und Zentralafrika recht hatte!

Vorderhand habe ich noch keine direkte Verwendung für die Briefe der Firmen Bentham, Croswell und Leeds & London gehabt. Aber welcher Geschäftskorrespondent ist an Ihnen verloren gegangen, Lavertisse! Ihre Schreiben haben jenen unnachahmlichen Tonfall von gravitätischem elefantenhaften Ernst, den alle englischen Firmenbriefe ausströmen. Und Ihre Detaildarlegung! Bewunderungswürdig! Wäre ich nicht Professor Pelotard, ich möchte Pierpont Morgan sein und Sie als meine erste Kraft haben.

Doch zur Sache. Auch ich habe eine kleine Arbeit geleistet, die meine Billigung hat. Lassen Sie hören, ob auch die Ihre.

Nach meiner Unterredung mit Herrn v. M.s rechter Hand hatte ich allen Anlaß, entweder eine direkte Annäherung dieses Herrn zu erwarten oder auch einen kleinen Versuch von derselben Seite, dem mystischen Einsiedler von Brinkestad insgeheim in die Karten zu gucken. Und da ich wie so viele berühmte Philosophen bis zu einem gewissen Grade Misanthrop bin, hielt ich die letztere Möglichkeit für wahrscheinlicher. Also fragte ich mich selbst: was ist anzunehmen, daß Herr v. M. in diesem Falle tun wird? Die Antwort ergab sich von selbst: er wünscht sich Proben dessen zu verschaffen, was meine Zweihundertzehn aus dem Brinkeberg ausbrechen. Kann man ihm eine geeignete Probe in die Hand spielen, so ist die Sache binnen einer Woche klipp und klar. Und so beschloß ich denn, als einfacher Arbeitsmann gekleidet, in den nächsten Nächten dort oben Nachtwache zu halten.

Es war anfangs etwas einförmig. Die erste Nacht patrouillierte ich rings um den Platz, bis die Uhr drei schlug, eine knappe Stunde, bevor die Sonne zu erwachen beginnt, ohne das geringste zu sehen, und in den nächsten zwei Nächten ging es ebenso. Ich begann faktisch eine halbe Nuance besser von Herrn v. M.s Gewissen zu denken oder doch auf jeden Fall von seiner Vorsicht, als die vierte Nacht das gewünschte Resultat herbeiführte.

Die Uhr war zwei, die dunkelste Stunde der Nacht, als, um die Sprache der alten ehrlichen Räuberromane zu sprechen, eine Gestalt, die nichts verhüllen konnte, in lauernder Haltung durch das Nachtdunkel geschlichen kam. Das war mein guter Freund Norden; Herr v. M. war offenbar abgeneigt, selbst aktiv teilzunehmen. Unter dem einen Arm trug der Maskierte eine Tasche von ansehnlichen Dimensionen; und diese vorsichtig an sich drückend, kletterte er über das Gitter der Einfriedigung, das ich im Hinblick auf diesen eventuellen Besuch vom Stacheldraht befreit hatte. Dicht dahinter hatte ich diese Nacht wie die vorhergehenden Nächte meinem nächtlichen Besucher zu Ehren zwei kleine Hügel von Ihren präparierten Proben aufgebaut – lassen Sie mich Ihnen noch einmal mein Kompliment für ihr naturgetreues Aussehen machen! Die Gestalt neigte sich über diese Haufen und steckte hastig einige Probestücke in ihre Tasche. Nun war die Zeit für mich gekommen, einzugreifen. »Hallo!« brüllte ich mit meiner gröbsten Baßstimme und stürzte aus meinem Hinterhalt hervor, eine Blendlaterne gerade auf Herrn Nordens Gesicht gerichtet. »Was machen Sie hier?« Herr Norden retirierte und trachtete aus dem Bereich des Lichtkegels zu kommen. Ich drängte ihn zum Gitter und wiederholte meine Frage in dem furchtbarsten Tonfall, den ich produzieren konnte. »Gar nichts,« stammelte er. »Gar nichts« ... »Wollen Sie sich sofort packen, sonst soll –« Ich brauchte nicht weiterzusprechen; Herr Norden flog wie ein Steeplechasepferd über das Gitter und verschwand mit seiner Tasche nach der Stadt zu.

Und seltsam, heute, zwei Tage später, gerade zu der Zeit, wo sie die chemische Analyse Ihrer Proben fertighaben können, hatte ich einen Brief von der Firma H. von Marck, ob sie als alte Exporteure nicht das Vergnügen haben könnten, mit mir in Verbindung zu treten. Die Antwort darauf habe ich soeben abgesandt: wenn Herr v. M. mir das Vergnügen seines Besuches machen will, können wir immerhin über dies und jenes miteinander sprechen.

Ihre Geschäftskorrespondenz (d. h. die der Firmen Dentham, Croswell und Leeds-London) wird eines der Debattethemen bei dieser Unterredung sein, darauf können Sie jede Wette eingehen, lieber Lavertisse. Und wenn ich mich nicht sehr irre, sehen wir uns in einer Woche, und Herr v. M. wird schon merken, in was für ein Wespennest er, ohne es zu ahnen, gestochen hat, als er sie quälte.

Wir fangen an, vollkommene Ritter der Tafelrunde zu werden, Lavertisse, wenn es sich darum handelt, die Frauen zu verteidigen!

Ihr Freund Pelotard.

P. S. Um Gottes willen, vergessen Sie ja nicht, genau zum angegebenen Glockenschlag so zu depeschieren, wie ich Sie telegraphisch ersucht habe.

 

München, den 6. Juni 1911.

Lieber Lavertisse!

Der Mensch denkt, und wer lenkt? Ich möchte nur ungerne glauben, daß es unser Herrgott ist, der es in diesem Falle, den ich im Auge habe, getan hat. Ah, mille tonnerres, wie Sie wahrscheinlich nicht sagen würden, da Sie zweifelsohne noch zehnmal ärgere Dinge gesagt hätten. Ah, ich armer, blinder Maulwurf, der ich glaubte, die Burg des Feindes unterminiert zu haben, während ich nur seine Erde auflockerte. Ich schreibe diesen Brief nur, um mein Herz zu erleichtern, denn wenn Sie den Brief bekommen, haben Sie mich vermutlich gleichzeitig wieder, aber ich muß mir Luft machen.

Am Tage nach meinem letzten Brief kam Herr v. M. zu Besuch. Habe ich ihn Ihnen beschrieben? Ich glaube nicht. Und ich möchte es gern in unparteiischer Weise tun, wie Sie sich denken können, aber weiß Gott, ob ich es kann. Arme, arme kleine Margot! Ich wußte ja, daß die Frauen in ihren Gefühlen blinder sind als Motten, und das meinte auch die übrige Welt von dir, Margot, als du einmal mich vorzogst, aber – – –! Sie haben ein ausgezeichnetes Wort im Französischen, das rastaquouère heißt; das gibt Ihnen den Grundton von Herrn v. M.s Wesen. Ein glatter, rücksichtsloser Ausbeuter aller Möglichkeiten und aller Personen; und sein Aussehen? Wie das eines solchen Menschen sein muß. Recht stattlich, dunkel, leicht graugesprenkeltes Haar, zusammengewachsene Augenbrauen und dunkler gestutzter Schnurrbart. Frischer, schwedischer Teint; ein Herr, der es versteht, à la carte zu leben, in Restaurants und auch sonst im Leben – ein Rastaquouère-Don Juan. Ich schaudere, wenn ich mir seine intimen Dialoge mit Margot vorzustellen versuche.

Wenn ich Ihnen doch unsere Auseinandersetzung schildern könnte, Lavertisse! Er begann vorsichtig, überaus diplomatisch; suchte mich dazu zu bringen, auszuspielen, um selbst mit seinen Karten in der Hinterhand zu bleiben. Seine Firma habe schon längere Zeit den Export als Spezialität gepflegt und verfüge über ausgezeichnete Verbindungen mit den Frachtlinien, wenn solche notwendig sein sollten. »Ah,« sagte ich, »ja höchstwahrscheinlich werde ich in Kürze eine Menge Frachtgelegenheiten benötigen; es ist ja gut, daß Kristianshamn am Meere liegt. Die Eisenbahnverbindungen sind ja kläglich.« Herr v. M. gab dies zu. Würde ich diese Frachtgelegenheiten in nächster Zeit brauchen? »Wahrscheinlich,« sagte ich, »Sie können sich ja z. B. diesen Brief hier von Bentham, Bentham & Bentham, der großen Londoner Gießerei, von der Sie vermutlich schon gehört haben, ansehen.« Herr v. M. nahm den Brief und las ihn mit gestielten Augen durch ... »Kupfer!« sagte er schließlich mit geheucheltem Staunen – ich wußte ja, daß er inzwischen Herrn Nordens Proben schon hatte analysieren lassen – »Sie haben Kupfer gefunden, hier oben?« – »Wie Sie sehen, scheint dies der Fall zu sein,« sagte ich kalt. »Glücklicherweise sind ja die Konjunkturen auf dem Kupfermarkt im Steigen, und der Prozentsatz, den man von englischer Seite in meinen Proben konstatiert hat, wird als ungewöhnlich hoch angesehen. Leeds & London Smelting Company haben konstatiert – lassen Sie mich mal sehen, wo ist das? ...« »24,7, nicht wahr?« sagte Herr v. M. und biß sich in die Lippe. (Das war offenbar der Gehalt, den er selbst in Ihren präparierten Proben gefunden hatte!) »24,7,« sagte ich mit größter Verwunderung, »nein, mehr als 18 haben sie nicht gefunden, und das soll ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz sein. Croswell in London, die auch Proben bekommen haben, haben 16,9 gefunden und sind sehr interessiert. Sie können selbst sehen.« Ich reichte ihm Leeds & Londons und Croswells Briefe (lieber Lavertisse, wenn ich an all die Arbeit denke, die Sie an die Sache gewendet haben!) und er wurde abwechselnd bleich und rot, als er sie las und nagte unaufhörlich an seiner Unterlippe. »Sie sind aber wirklich ein Glückspilz,« sagte er. »Da geht dieses Rindvieh, dieser Aspebrink, jahraus, jahrein herum, ohne zu wissen, was er vor der Nase hat, und dann kommen Sie und – – darf ich fragen, haben Sie das Kupfer gleich entdeckt, ehe Sie Brinkestad kauften?« – »Verzeihen Sie, wenn ich mir erlaube, Ihre Frage indiskret zu finden, Herr v. M.,« sagte ich. »Die Hauptsache ist, daß Brinkestad mir gehört und daß man gelernt hat, die Augen offen zu halten.« – »Gewiß,« murmelte er. »Gestatten Sie, daß ich mir Ihre Goldgrube ein bißchen ansehe? Sie lassen sie ja Tag und Nacht bewachen.« – »Gerne,« sagte ich, »mit größtem Vergnügen,« und wir machten uns zum Brinkeberg auf. Ich hatte ein paar von Ihren Pröbchen in der Tasche, lieber Lavertisse; denn ich hoffte, daß sie von Nutzen sein konnten. Ganz richtig; kaum waren wir an Ort und Stelle, als Herr v. M., sowie er sich unbemerkt glaubte, Splitter aufzuheben begann. Ich tat nichts dergleichen. Wir spazierten etwa eine halbe Stunde dort drinnen herum; der Vorarbeiter legte Rapport ab, wieviel man gefördert hatte; ich nickte, und Herr v. M. wurde gedankenvoller denn je. – Nun will ich gewiß nicht mit meiner Fingerfertigkeit prahlen, Lavertisse, aber der Mann war doch mit den Steinen, die er aufgeklaubt hatte, auf seiner Hut (daß ich sie nicht zu sehen bekäme, natürlich); nun schön, als wir uns bei der Kreuzung der Landstraße zur Stadt trennten, hatte er nicht sie in der Tasche – sondern Ihre Proben.

Er wollte ein Kontrollexperiment machen, um mit einem unserer großen Schriftsteller zu sprechen. Herr Norden konnte ja von mir besoldet sein – die Diebe trauen sich ja gegenseitig nicht über den Weg.

Es war zwei Tage später, als ich die Mine springen ließ; ich hatte berechnet, daß er da mit der Kontrollanalyse der Proben, mit denen ich ihn versehen Hatte, fertig sein würde. Ich hatte beabsichtigt, ihm zu telephonieren und mich nach den Frachtgelegenheiten zu erkundigen, über die wir nach dem Besuch im Bergwerk ganz vergessen hatten, weiter zu debattieren; und aufrichtig gesagt, war ich diesbezüglich ein wenig unschlüssig, es konnte doch zu sehr arrangiert aussehen, aber andererseits wußte ich keinen anderen Weg. Well, dem Mutigen gehört die Welt, wen die Götter zugrunde richten wollen, den schlagen sie mit Blindheit, der Vogel spaziert in den aufgerissenen Schlangenrachen – ich häufe die Bilder, um mich selbst zu demütigen, denn all dies dachte ich, als Herr v. M. an diesem Tage unaufgefordert bei mir vorfuhr. Vermutlich hatte die Kontrollanalyse ein mehr als glänzendes Resultat ergeben; wieviel hatten Sie doch hineingetan, Lavertisse? Er wußte kaum, auf welchem Fuß er stehen sollte, aber fing so wie das letztemal mit den Exportmöglichkeiten an. Ich ließ ihn reden und zeigte angemessenes Interesse – fragte, wie große Frachten er mir verschaffen könne und zu welchen Bedingungen. Schließlich schien mir der Augenblick reif. Ich hatte an der Unterseite des Schreibtisches eine elektrische Leitung zu dem Zimmer des Bedienten legen lassen, den ich von Herrn Aspebrink geerbt hatte, und hatte ihn instruiert, sobald ich klingelte, mit Ihrem Telegramm zu erscheinen. Er tat es, und Sie können sich die Szene denken, die folgte. Herr v. M. sprang von seinem Stuhle in die Höhe, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Ja, was ist denn geschehen?« rief er. »Ist mit der Grube was passiert?« Ich schüttelte ungeduldig den Kopf und schwieg eine angemessene Weile, bevor ich die Stirne auf die Hände sinken ließ. »Ja, aber was ist denn los, was ist denn los?« rief Herr v. M. in seiner angeborenen Aufdringlichkeit. Ich sah wieder auf und reichte ihm langsam das Telegramm:

Professor Pelotard, Brinkestad, Kristianshamn, Schweden.

Los Angeles, 25. Mai (von London weiterbefördert).

Ihre Frau schwer erkrankt. Kommen Sie sofort. Gefahr im Verzug.

Lavertisse.

Herr v. M. sah mich mit Augen an, die gerne Mitleid ausdrücken wollten, aber denen dies ebenso leicht fiel wie einem Schakal. »Ah, Sie sind verheiratet ... ich bedaure ... gestatten Sie mir, meine Teilnahme auszudrücken ...« Ich nickte stumm. – »Sie ... Sie reisen?« Ich richtete mich heftig auf. »Natürlich. Gleich. Gott allein weiß, wann ich wiederkommen kann. Ah, arme kleine Margot, möchte ich dich noch lebend antreffen!« Ich war kühn genug, meiner imaginären Frau ihren Namen zu geben, um zu sehen, ob die Bestie nicht mit der Wimper zucken würde; aber nein, den fochten keine Erinnerungen an, so ausgefüllt war er von seinem jetzigen Plan. Und plötzlich konnte er sich absolut nicht mehr halten, und er platzte heraus: »Und das Bergwerk? Was gedenken Sie damit zu tun? Wer soll das beaufsichtigen, wenn Sie reisen?« Ich zuckte zusammen wie von dem Gedanken gepackt. »Das Bergwerk! Ja, wahrhaftig ... was in aller Welt soll ich tun? Ich habe ja keine Menschenseele, der ich ...« Ich ließ den Satz unvollendet. Herr v. M. ergriff meine Hand mit dem Ausdruck tiefster Sympathie, räusperte sich hastig und sagte: »Würden Sie es sonderbar finden, wenn ich Ihnen einen Vorschlag machte? Lassen Sie mich der Sache während Ihrer Abwesenheit vorstehen. Ich hoffe, Sie wissen, daß Sie sich ganz und gar auf mich verlassen können.«

Die Schlacht war gewonnen. Sie können sich denken, lieber Lavertisse, was ich alles sagte: wie schwer es für mich sei, zu wissen, wann ich wiederkommen würde, ob ich überhaupt wiederkommen würde, vor allem, wie unsagbar gleichgültig mir alles nach diesem Telegramm geworden sei ... Ich brauchte Herrn v. M. nicht einmal das Wort in den Mund zu legen, um seinen Kaufvorschlag zu erhalten. Vierundzwanzig Stunden darauf war das Bergwerk in seinem Besitz, für einen Betrag von 250 000 Kronen – ein Spottpreis, bedingt durch meine notgedrungene Abreise. Diese erfolgte noch am Abend desselben Tages, und am nächsten Morgen sandte ich Herrn v. M. aus Kopenhagen folgenden Brief:

Mein Herr!

Wenn Sie diese Zeilen erhalten, haben Sie vielleicht schon entdeckt, wie günstig Sie gestern Ihre 2500 00 Kronen placiert haben; auf jeden Fall wird es nicht lange dauern, bis Ihnen dies klar ist. Das Brinkeberger Bergwerk ist ein Schwindel. Die Proben, die Sie sich, teils durch Herrn Norden, teils auf eigene Faust verschafft haben, waren falsch – direkt für Sie arrangiert; und die englischen Firmen, die auf das Brinkeberger Erz reflektierten, haben nie existiert.

Sie haben vier Jahre lang eine sanfte, entzückende Frau gepeinigt, ohne daß Ihnen dies auch nur die leisesten Gewissensbisse bereitete; Sie sind überhaupt außerstande, sich etwas anderes zu Herzen zu nehmen als Geldverluste. Logisch, wie Sie in Ihrer Tortur Ihrer Gattin gegenüber waren, sind Sie zweifellos auch imstande, die Logik zu würdigen, die meinem Auftreten in Kristianshamn und dem Geschäft zugrunde liegt, zu dem ich Sie zwang – merken Sie wohl – zwang.

Vielleicht werden Sie die Logik dieses Geschäfts noch besser begreifen, wenn ich Ihnen anvertraue, daß derjenige, dem Sie das »Bergwerk« Brinkeberg abkauften, derselbe ist, um dessentwillen Sie Ihre Frau quälten, Ihr Freund

Professor Pelotard
alias
Philipp Collin.

Ja, Lavertisse, das war mein Kopenhagener Brief, und ich glaube ja gern, daß er Herrn v. M. eine schlaflose Nacht bereitet hat. Aber ach, der Mensch denkt, und wer lenkt? Von Kopenhagen reiste ich ganz gemächlich durch Deutschland, und heute, zehn Tage nach meiner Abreise, fand ich in den schwedischen Zeitungen, die ich mir kaufte, folgenden Artikel:

Große Bergwerksunternehmung in Kristianshamn.

Kristianshamn, 3. Juni.

Ein neuer Aufschwung in der Industrie der Stadt Kristianshamn ist zu registrieren. In dem auf der Besitzung Brinkestad gelegenen Brinkeberg hat man Kupfer in einem Ausmaß gefunden, das überaus bedeutende Produktionsmöglichkeiten verspricht.

Direktor H. v. Marck, der das Gut gekauft und den Betrieb nach den von ihm vorgenommenen Analysen des Rohstoffs in Gang gesetzt hat, ließ gestern zur größeren Sicherheit den bekannten Grubenexperten Vogel aus Stockholm kommen. Das Resultat seiner Untersuchungen war das glänzendste, das man sich denken kann: außer Kupfer im durchschnittlichen Prozentgehalt von 17,4 per Zentner enthalt das Gestein auch nicht unbedeutende Mengen Silber. Die Vorbereitungen zu einem Betrieb in größerem Maßstab sind schon in Angriff genommen.

Wir beglückwünschen die Stadt Kristianshamn und ihren energischen Sohn, Herrn v. Marck, aus ganzem Herzen.

 

Lieber Lavertisse, was ist da noch zu sagen? Um in der Sprache der Zeitungen zu sprechen: ich habe mit der Wünschelrute der Genialität eine Goldgrube entdeckt – für den Mann, den ich mit all meiner List zu ruinieren trachtete. Ihre präparierten Proben waren unnötig; Ihre Geschäftskorrespondenz ist für die Katz; und die arme Penelope bleibt ungerächt! Unser einziger Gewinn ist der, den wir zu ernten pflegen – ein Häufchen Mammon.

Der Mensch denkt – und wer lenkt?

Übermorgen haben Sie mich aus Ithaka wieder.

Ihr Freund Pelotard.

*

 


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