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Drittes Kapitel
Herrn Collins Besuch im Hades

1.

Das Wetter in Paris ist manchmal ebenso launenhaft wie die Frauen dieser Stadt.

Der ganze Herbst 1910 war schön aber unsicher. Mitte November hielt der Spätherbst seinen offiziellen Einzug mit Regenschauern, Schneebrei, Nebel und Schnupfen. Und dann kam plötzlich am 4. Dezember der Umschlag. Es wurde mild wie im Mai; die Sonne lächelte hinter feuchten Wolken; auf den Boulevards wimmelte es von sonnendurstigen Volksmengen; und die Cafetiers, die mit kluger Psychologie voraussahen, daß man bald nach anderem als nach Sonne Durst verspüren würde, beeilten sich, die Trottoirtische hinauszustellen. Noch bis Sonnenuntergang hielt das eigentümliche Wetter an, und die Terrassen der Cafés, wie man die Trottoirtische dort nennt, waren überfüllt.

Nicht weit von der Place de l'Opéra liegt ein großes aber diskretes Hotel, dessen Name aus gewissen Rücksichten aus dieser Erzählung wegbleiben muß, und das hauptsächlich von ebenso exzentrischen wie reichen Amerikanern und Engländern bewohnt wird. Die großen Pariser Hotels pflegen in der Regel keine Trottoirtischchen aufzustellen, aber das fragliche Hotel – nennen wir es Hôtel de Tout le Monde – zeigt seine Exzentrizität auch in diesem Falle; es hat eine Terrasse. Und auf dieser Terrasse saßen in der Dämmerstunde des vierten Dezember 1910 Herr Philipp Collin und sein Freund M. Lavertisse, vor fünf Tagen aus England angekommen. Es war – aus gewissen Gründen – schon lange her, seit M. Lavertisse in seiner Vaterstadt geweilt hatte, aber eigentümlicherweise war kein besonderes Entzücken über das Wiedersehen auf seinem Gesichte zu lesen, wie er da an seinem Tischchen saß.

»Was für ein Gefühl ist es, wieder daheim zu sein, lieber Lavertisse?«

Lavertisse seufzte leicht, bevor er antwortete.

»Herrlich. Paris ist die einzige Stadt, wo man lebt, ich wollte schon sagen, die einzige Stadt, die lebt. Wenn ich an London denke, denke ich immer an diese Ungeheuer, die sie im South Kensington Museum haben – wie heißen sie doch ... Mega ... Mega ...«

»Megaloterien?«

»Ja, mir scheint, so war es. London ist in derselben Weise groß, wie diese Megaloterien, wenn sie so heißen, aber Paris ist ein vernünftiges Lebewesen. Und auf jeden Fall ...«

»Auf jeden Fall sind Sie nicht so recht froh, nun wieder daheim zu sein?«

»Nein, Professor. Ich weiß nicht, ich habe eigentlich alles satt.«

»Trotz des Frühlingswetters?«

»Ja, oder vielleicht macht es gerade dieses Wetter? Den ganzen Tag gehe ich herum und sehne mich nach etwas Neuem, ich weiß nicht was, ganz wie im richtigen Frühling.«

»Ich verstehe Sie. Ich fühle mich selbst wie ein Vogel, der sich mausert. Aber etwas Neues verlangen! Ich habe von einem römischen Kaiser gelesen, der dem, der eine neue Art herausfände, einen Karpfen zu bereiten, eine Provinz versprach. Ich habe keine Provinzen zu vergeben, aber könnte mir jemand heute abend eine neue Sensation verschaffen, ich würde gerne zehntausend Franken dafür hinlegen. Eine Sensation von welcher Art immer, die ich noch nicht gehabt habe, und ich gebe gerne zehntausend aus.«

»Das muß die Frühlingsluft machen, Professor.«

»Wahrscheinlich ... Sehen Sie all die Menschen, die hier an der Terrasse vorbeiströmen? Was treibt sie so hin und her, glauben Sie? Ich habe ein Buch eines Mannes gelesen, der in einem Boulevardcafé in Paris saß, so wie wir, und den Menschenstrom beobachtete. Er sagt, daß ihm plötzlich eine Nacht auf dem Meere einfiel, wo er sich mit einer Fackel in der Hand über den Bootsrand beugte und gerade in einen Heringszug hinabsah. Er sah die Heringe zu Tausenden mit starren Augen vorbeischwimmen, irgendeinem Ziele zu, von dem sie nichts wußten. Und der Menschenstrom hier ...«

Herr Collin verstummte und blickte in die sich verdichtende Dämmerung, in der die Bogenlampen nun eine blauleuchtende Milchstraße zur Place de l'Opéra bildeten. Die Lichtreklamen flackerten auf, die Motoromnibusse und Autos zogen ihren nervösen ewig wechselnden Rahmen um den dahinbrausenden Menschenkatarakt. Stürzte er sich jetzt hinein, so wurde er ein kleiner Tropfen in dem Strom, und dort am Trottoirstrande saß vielleicht ein anderer und philosophierte darüber, welchem Ziele er zujagte ... Etwas Neues! ... Etwas Neues ... Plötzlich fühlte er, wie Lavertisse ihn am Arm packte.

»Professor,« flüsterte er, »sehen Sie sich doch diese junge Dame am nächsten Tisch an.«

Philipp drehte den Kopf und stieß unwillkürlich einen kleinen Ausruf aus.

»Lukrezia Borgia! Bei Gott, Lukrezia Borgia, von den Toten auferstanden und hier in eigener Person!«

»Glauben Sie, daß es eine der Habituées von Maxim sein kann, Professor?«

Ohne zu antworten, starrte Philipp Collin im Schutze seiner Hutkrempe die junge Dame am nächsten Tisch an. Er konnte es ungeniert tun, denn sie schenkte weder ihm noch irgend jemandem die geringste Aufmerksamkeit. Außer auf dem Bilde eines Engländers, dessen Name ihm entfallen war, hatte er noch nie ein solches Gesicht gesehen. Unter einem jener großen Hüte, die damals gerade modern waren, sah er ein rotes Haar um ein marmorbleiches Gesicht mit gerader Nase und blassem, vollkommen regungslosem Mund. Er fing einen Strahl ihrer Augen auf; sie waren grünblau leuchtend, mit kaum merkbarer Pupille.

Philipp drehte den Kopf zu Lavertisse, aber bevor er noch den Mund öffnen konnte, sagte dieser:

»Sie geht!«

Philipp drehte sich blitzschnell um. Ganz richtig, sie stand auf. Gerade im selben Augenblick flog irgendwo eine Taube auf und verschwand mit schmetternden Flügelschlägen über den Hausdächern. Die junge Dame begann über das Trottoir zu gehen, ohne nach rechts oder links zu sehen. Philipp sprang hastig auf.

»Ich folge ihr, Lavertisse.«

»Professor!«

»Paris ist ein Knäuel von Menschenschicksalen. Ich ergreife diesen Faden, um zu sehen, wohin er führt.«

»Aber Professor! Sie benehmen sich ärger als ein Senator!«

»Seien Sie ruhig, lieber Freund, es ist kein derartiges Motiv. Aber parole d'honneur, haben Sie je ein solches Antlitz gesehen? Das muß sein Geheimnis haben – und heute abend lechze ich nach dem Unbekannten. Aber bleiben Sie nur! Wir treffen uns im Hotel.«

Philipp eilte über das Trottoir davon. Die Repliken zwischen ihm und Lavertisse waren blitzschnell gefallen, aber trotzdem war sie schon so weit weg, daß er sie nur durch das äußerste Aufgebot seines trefflichen Gesichtssinnes in dem Menschenstrom unterscheiden konnte. Er schritt rascher aus, plötzlich hörte er Lavertisses Schritte an seiner Seite.

»Ich komme natürlich mit, obwohl Gott weiß, daß Sie wahnsinnig sind. Warum müssen auch im Dezember Frühlingslüfte wehen?«

Philipp eilte schweigend weiter, bis sie etwa ein Dutzend Schritte hinter der Unbekannten waren. Sie ging nun auch rascher, aber noch immer ohne einen Blick nach rechts oder links. Sie kamen zur Seine hinunter, sie passierten den Pont-des-Arts und bogen in eine Straße am linken Ufer ein. Philipp beugte sich zu Lavertisse vor.

»Wir dürfen ihre Aufmerksamkeit nicht erregen,« flüsterte er. »Seien Sie ganz ruhig, ich bin weder ein Senator noch ein weißer Sklavenhändler. Aber ein solches Gesicht muß zu irgendeinem Geheimnis führen. Oder wird schließlich nur eine Kokottenwohnung oder ein Atelier herauskommen?«

Lavertisse schüttelte überaus mißbilligend den Kopf ohne zu antworten. Die junge Dame war nun in ein Viertel von schmalen, steilen Straßen von beklemmendem Aussehen eingebogen. Sie begegneten in der Minute höchstens ein oder zwei Personen und diese passierten ebenso stumm vorbei wie die grauen Häuser. Jeden zwanzigsten Schritt kam eine Gasflamme, die das Dunkel nur noch dunkler machte. Hie und da tauchten mysteriöse Gestalten an den Straßenecken auf, und zuweilen schimmerte eine brennende Zigarre aus irgendeinem Quergäßchen, und man hörte leise, gemurmelte Worte.

Es war vollkommene Nacht, trotz der frühen Stunde. Philipp hielt sich so dicht hinter der jungen Dame als er konnte, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Aber sie ging wie eine Schlafwandlerin. Lavertisse zupfte ihn am Ärmel.

»Wollen Sie noch weiter?«

Philipp zögerte einen Augenblick. Die Umgebung sah unleugbar seltsam aus. Und warum sollte man für ein Lukrezia-Borgia-Haar und zwei grünblaue Augen mit Morphiumpupillen einen Messerstich riskieren? Natürlich war es irgendeine Kokotte auf dem Nachhausewege von ihrem Kaffeehausbesuch ... Seine Grübeleien wurden durch die junge Dame unterbrochen.

Sie war plötzlich vor einem einstöckigen Hause stehengeblieben, aus dessen Fenstern ein matter Lichtschimmer drang, – blutrot. Einen Augenblick stand sie regungslos, gleichsam zaudernd. Plötzlich glaubte Philipp aus dem Innern des Hauses ein schrilles Aufschluchzen oder ein halbersticktes Lachen zu hören – ein Lachen, das ihm durch Mark und Bein ging. Die Unschlüssigkeit der jungen Dame hörte auf; sie ging auf das Haus zu, ein Tor öffnete sich und sie verschwand. Fast im selben Augenblick hörte man einen durchdringenden Schrei; der rote Schimmer in den Fenstern erlosch, und von drinnen erklang etwas, das einem langen Seufzer oder einem erstickten angstvollen Stöhnen glich.

Philipp sah sich eine Sekunde lang um. Das Gäßchen, in dem sie standen, schien ausgestorben. Keine einzige Gaslaterne war zu erblicken, und auch die zweifelhaften Gestalten, die sie früher gesehen hatten, schienen verschwunden. Plötzlich drang ein neuer Laut aus dem undeutlich sichtbaren Hause, in das sie verschwunden war. Philipp ergriff hastig Lavertisses Hand.

»Leben Sie einstweilen wohl, lieber Freund! Es ist irrsinnig, aber ich muß herausbekommen, was in diesem Hause vorgeht.«

»Sie sind toll, Professor! Sie können sich doch denken, was für ein Haus das ist, und was Sie –«

Philipp eilte auf das einstöckige Gebäude zu, ohne zu antworten. Bevor er noch die Schwelle erreicht hatte, stand Lavertisse neben ihm.

»Glauben Sie nicht, daß ich Sie im Stiche lasse, Professor!« Philipp wollte protestieren, aber im selben Augenblick ging das Tor unter seiner Hand auf, und er fiel förmlich in einen unbeleuchteten Vorraum. Hinter sich hörte er Lavertisse hereinstolpern. Von rechts sah man einen schwachen Lichtschimmer unter einer Türe; er ergriff die Klinke und riß sie sperrangelweit auf. Im selben Augenblick hörte er das Haustor krachend zufallen und Lavertisse keuchen:

»Professor! Die Türe ist mir aus der Hand geflogen

Vor ihm leuchtete es matt, wie in weiter Ferne ... Wie konnte es in einem kleinen, einstöckigen Hause so weite Entfernungen geben? Er trat über eine Schwelle, Lavertisse hinter ihm drein, und er tastete mit den Fingern nach seiner Zündhölzchenschachtel. Bevor er sie noch gefunden hatte, spürte er hinter sich einen Luftzug, von einer Türe, die geschlossen wurde; der Raum füllte sich plötzlich mit einem unbestimmten Licht, und er stand vor einem älteren Herrn in Frack und weißer Krawatte.

Philipp starrte um sich.

»Wo ist sie?« rief er, »wo haben Sie die junge Dame, die ich vor einem Augenblick hier eintreten sah? Ich hörte sie rufen!«

»Sie sahen ein Weib hier eintreten, und Sie folgten ihr nach? Sie wären nicht der erste, den ein Weib hierhergeführt hat ... Aber Sie haben sich geirrt. Sie sind von einer Illusion gelockt worden, von einem Traumbild, von keiner Wirklichkeit. Und ist alles, was die Menschen lockt, hier und anderswo, denn etwas anderes als eine Illusion?«

Philipp machte einen Schritt auf den Mann zu und heftete den Blick auf ihn. Nun erst bemerkte er sein Aussehen und prallte zurück. Er hatte den unbestimmten Eindruck gehabt, daß der Mann, vor dem er stand, alt war; aber dieses Antlitz war nicht alt, es war älter als alles Alter. In derselben Sekunde, in der er den Blick auf den Mann heftete, kam ihm dies zum Bewußtsein. Und doch, woher kam dieser Eindruck? Das Haar war grau gesprenkelt, nicht weiß; der Mund von Runzeln umgeben, aber nicht eingefallen; eine Unmenge anderer Runzeln waren in dem Gesicht, aber trotz alledem ging nicht von ihnen oder dem Munde oder dem Haar jener überwältigende Eindruck des Alters aus. Nein, der kam von etwas anderem, dem, was sonst bei Menschen zuletzt zu altern pflegt: von den Augen. Nie hatte Philipp noch solche Augen gesehen. Als er ihrem Blick zuerst begegnete, schienen sie so leer, so blind und tot, wie die nicht ausgemeißelten Augen einer Marmorstatue; aber noch während er in sie hineinstarrte, veränderte sich ihr Aussehen. Ein Licht schien irgendwo hinter der Pupille aufzuflammen, vage, irrend, wie das erste Licht, das in der Leere des Chaos entzündet ward. Philipp starrte wie verhext, und plötzlich fuhr der alte Mann in einem Ton von unendlicher Müdigkeit fort:

»Also ein Weib hat Sie hierher gezogen, wie Sie sagen? Und warum auch nicht? Das Weib ist immer mein bester Bote gewesen, lassen wir ihr diese Gerechtigkeit widerfahren. Sie fanden sie jung und schön, vielleicht mystisch und bezaubernd, Sie folgten ihr und kamen hierher. Sie hätte auch alt und abschreckend sein können, und Sie wären ihr dennoch gefolgt. Alles ist in Ihnen, und was außerhalb von Ihnen ist, ist nur eine Illusion.«

Er verstummte. Das Licht hinter den Pupillen erlosch, und die Augen wurden wieder marmortot. Ein Luftzug begann durch den Raum zu wirbeln, ohne daß Philipp entdecken konnte, woher er kam. Plötzlich hörte er in weiter Ferne einen schneidenden Angstschrei, der ihm den Schweiß auf die Stirne trieb. Er machte einen Schritt auf den Mann zu, hob drohend die Hand und rief:

»Genug des Geschwätzes! Wo ist sie? Antworten Sie, sonst wende ich Gewalt an.«

Für eine Sekunde sah er das Gesicht mit dem eisigen Marmorblick lächeln, so wie die Sphinx gelächelt haben mag, hohnvoll, unzugänglich; er griff mit der Hand in die Revolvertasche, um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen. Im selben Augenblick erlosch plötzlich das Licht im Zimmer. Der Luftzug, der ihn umwirbelte, wuchs zu einem rasenden Sturm an; der Boden unter ihm gab nach, und alles drehte sich um ihn im Kreise. Mit den Händen vor sich tastend, halb betäubt, fiel er kopfüber nieder, fiel und fiel, eine Minute nach der andern. Rings um ihn brauste und toste es von einem satanischen Sturm. Was war all dies? Wohin fiel er? Wo war Lavertisse? »Lavertisse!« rief er, aber er konnte seine eigene Stimme in dem tosenden Höllensturm nicht hören. Wie lange war er gefallen? Mit einem Male schlug er gegen etwas auf und dachte blitzschnell: jetzt ist es aus – jetzt werde ich zu Atomen zermalmt! ... Alles drehte sich um ihn, aber dann konnte er wieder denken. Sein erster klarer Gedanke war: wie kann ich mehrere Minuten lang fallen, ohne mich totzuschlagen? Wie viele Knochen habe ich mir zerbrochen? Er begann sich selbst zu betasten. Wunder über Wunder! Seine Arme schienen unversehrt. Er streckte zuerst das eine Bein aus, dann das andere, beide waren heil. Er versuchte schwankend sich zu erheben; es gelang; und er stand einen Augenblick aufrecht in abgrundtiefer Finsternis, während der Sturm heulte und brauste und der Luftzug so heftig war, daß er sich sofort wieder niederlegen mußte. Er befühlte den Boden. Anstatt eines elastischen Stoffes, der seinen Fall hätte dämpfen können, wie er erwartet hatte, berührte seine Hand einen eisenharten Granitfelsen.

Er griff sich mit der Hand an die Stirn und versuchte zu denken. Wie war das möglich? Wo war Lavertisse? – »Lavertisse!« rief er wieder, ein Mal ums andere, aber es kam keine Antwort aus dem Höllensturm. Plötzlich glaubte er jedoch mitten durch das Sturmesbrausen einen Laut zu hören – oder war es eine Halluzination? – Flügelschläge, wie von irgendeinem ungeheuren Vogel ... Er starrte nach allen Seiten um sich; der Laut wurde deutlicher und umkreiste ihn eine Weile, ohne daß er entdecken konnte, was ihn hervorrief. Plötzlich hörte das Tosen und der Sturm auf, und er begann über die Felsplatte, auf der er lag, zu kriechen. War er wahnsinnig, oder was war dies für ein infernalischer Ort? Das Dunkel vor ihm lichtete sich ein wenig. Plötzlich prallte er zurück; seine tastende Hand war dem leeren Nichts begegnet; die Felsplatte war zu Ende. Behutsam schob er sich näher an den Rand heran, über den ein schwacher Schimmer fiel. Er erreichte ihn und beugte sich vor, um zu sehen.

War das bisher Geschehene unerklärlich gewesen, so war der Anblick, der ihm begegnete, als er über den Felsen hinausstarrte, derart, daß er Körper und Seele zu Eis erstarren ließ.

Er sah auf eine unendliche, nebelumhüllte Ebene, die sich in einer Ferne verlor, die seine Augen nicht durchdringen konnten. Oder war es keine Ebene? War es ein Meer? Oder war es das leere Chaos? Ein graugrünes Licht strömte von Gegenständen aus, die sich in unendlicher Zahl über die Weiten unter ihm hin und her bewegten. Sie waren in ihren Lichtkreisen so undeutlich und bewegten sich so unendlich langsam und planlos, daß Philipp zuerst glaubte, irgendwelche Irrlichter auf dieser gigantischen Nebelebene zu sehen. Dann sah er mit einem Erschauern im Herzen, was er für Irrlichter gehalten hatte: es waren Menschen, ebenso formlos wie die Umgebung, in der sie umhertrieben, aber doch Menschen. Zwei der Nebelgestalten, die sich langsam durch diese Schattenwelt bewegten, fesselten seine Aufmerksamkeit. Er sah sie aufeinander zutreiben, gleitend wie Nebelschleier im Windeswehen. Nun waren sie dicht beisammen und streckten zwei mattgrau leuchtende Arme nach einander aus. Es sah aus, als suchten sie sich einander verständlich zu machen. Einige Augenblicke vergingen, dann sanken ihre nebelhaften Arme, und sie wurden wie von unsichtbarer Hand auseinandergerissen. Für eine Sekunde sah Philipp undeutlich ihre Gesichter. Sie waren starr und grau, mit regungslosen Augäpfeln und einem Ausdruck unendlicher, hilfloser Angst um den Mund.

Philipp fühlte, wie der kalte Schweiß aus seinen Haarwurzeln drang. Dieselbe hilflose und angstvolle Frage, die er in den Gesichtern der irrenden Nebelmenschen zu lesen glaubte, hämmerte hinter seiner Stirne und suchte sich einen Weg durch seine zusammengeschnürte Kehle zu bahnen: was war dies? Wo war er? Ich bin doch in Paris, in Paris, in Paris, im zwanzigsten Jahrhundert, murmelte er innerlich ein Mal ums andere, ohne es über die Lippen bringen zu können. Plötzlich gewahrte er etwas, was ihn totenstarr machte.

Hatte sich die Nebelebene plötzlich gehoben? Oder hatte sich der Felsabsatz, auf dem er lag, gesenkt? Eines von beiden mußte geschehen sein, denn während die Gestalten sich früher unter ihm zu bewegen schienen, waren sie nun fast in gleicher Höhe mit ihm. Er begann von dem Nebeldunkel, in dem sie sich bewegten, verschlungen zu werden; und plötzlich sah er, wie eine der unheimlichen, grauschimmernden Gestalten sachte auf ihn zutrieb. Er sah sie näher und näher kommen, und plötzlich kam ihm etwas zum Bewußtsein, das ihm früher nicht aufgefallen war: die Totenstille des Ortes, an dem er sich befand. Rings um ihn brütete ein Schweigen, wie er es nie vernommen. Wie still es auch auf Erden sein mag, vibriert die Luft doch immer von kleinen Lauten, die wir nicht beachten, weil wir an sie gewöhnt sind; aber die Stille, die sich auf Philipp herabgesenkt hatte, war so vollkommen, als hätte er sich im leeren Weltenraum befunden, wo es keinen Laut geben kann. Und in dieser Stille, die erschreckender war als der Höllensturm vorhin, sah er den Schattenmenschen auf sich zutreiben. Er konnte sein graues verschwommenes Gesicht mit den starren Augäpfeln sehen; aber während der Ausdruck der Gesichter, die früher an ihm vorbeigezogen waren, hilflose Angst gewesen war, war der Ausdruck dieses Gesichtes Bosheit und Haß. Es trieb näher und näher, ohne daß Philipp sich aus seiner Lähmung aufraffen konnte; plötzlich bemerkte er hinter der ersten Gestalt eine Reihe anderer, die nach der ersten auf ihn zuströmten. Ein Schrei des Entsetzens wollte aus seiner Kehle brechen, aber rang sich nicht durch. Nun war der erste Schattenmensch dicht bei ihm angelangt; er sah in ein Augenpaar, dessen eisige Leere ihn seltsam an etwas erinnerte, das er schon gesehen – den alten Mann in dem niedrigen Gelaß – wo war er? Was war dies? – Ich bin in Paris, in Paris, in Paris! versuchte er zu rufen, während er den einströmenden Schattenwesen abwehrend die Hände entgegenstreckte. Etwas tauchte zwischen ihnen und ihm auf, ein Dröhnen erhob sich plötzlich, als stürzte die Welt zusammen, alles wirbelte im Kreise wie in einem Mahlstrom, und es wurde nachtschwarz um ihn.

Verlor er das Bewußtsein oder nicht? Es war ihm unmöglich, es zu sagen. Auf jeden Fall hatte er das Gefühl, daß ein langer Zeitraum vergangen war, als sein nächster Eindruck kam.

Als dies geschah, war das erste, woran er dachte, die unheimlichen, grauen Schatten. Er starrte ihnen mit weit aufgerissenen Augen nach; sie waren nicht mehr da; aber noch brütete die Nebeldämmerung um ihn, ja sie hatte sich verdichtet. Er hatte die Empfindung, daß irgendeine Veränderung in der Umgebung vorgegangen sein mußte. Und nach einiger Zeit hatte er herausgefunden, worin sie bestand; ein schwarzes Portal erhob sich in einiger Entfernung vor ihm. Ja, war es ein Portal? Das Licht, das ihm ermöglichte, es zu sehen, war trüber als das Licht einer mondlosen Herbstnacht, und während er die zwei runden Riesensäulen anstarrte, aus denen das Portal bestand, schienen sie hin und her zu wogen, als wären sie nur ein schwarzer Nebel im Nebel. Er glaubte, irgendeine Inschrift über dem gewölbten Portal zu sehen, aber konnte sie nicht lesen. Dann gewahrte er etwas anderes, das ihn mit Erleichterung und Angst zugleich erfüllte.

Einige Schritte von sich sah er Lavertisse! Kein Zweifel, es war sein alter Freund. Aber dieser schien ihn gar nicht zu bemerken.

»Lavertisse!« rief er.

Sein Freund gab kein Zeichen, daß er ihn gehört hatte; Philipp wiederholte seinen Ruf ohne jede Wirkung, und nun erst merkte er mit einem krampfhaften Gefühl des Schreckens: es war kein Laut aus seinem Mund gekommen, als er gerufen hatte! ... Eine furchtbare Erinnerung durchzuckte ihn: die grauen Nebelmenschen, die vergeblich versucht hatten, sich einander mitzuteilen.

Er wollte die Hand heben, um die Aufmerksamkeit seines Freundes zu erregen; doch plötzlich merkte er, daß seine Glieder seiner Kontrolle vollkommen entzogen waren, sie waren wie tot. Er hatte kein Gefühl seines eigenen Körpers! Was war dies? Was war dies? Eine unsägliche Angst erfüllte ihn; er versuchte durch eine krampfhafte Bewegung die Herrschaft über sich selbst wiederzuerlangen, als er etwas erblickte, das aus dem Nebel vor ihm herausgewachsen zu sein schien.

Eine dunkle Gestalt mit eisigen, durchdringenden, unerbittlichen Augen sah auf Philipp und seinen Freund herab, – der Mann, der ihnen am selben Abend in dem niedrigen Häuschen der Pariser Straße entgegengekommen war. Plötzlich, während Philipp vergeblich die Zunge zu bewegen versuchte, begann die dunkle Erscheinung zu sprechen:

»Ich sagte euch heute abend, als ihr über unsere Schwelle tratet, ihr seid von einer Illusion gelockt worden. Ich sagte euch, daß alles eine Illusion ist. Ich log. Ich bin ein Lügner von Anbeginn an. Nichts ist Illusion. Alles ist Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die ihr Menschen nach Gefallen liebt oder verabscheut und die ihr zuweilen zu leugnen sucht! Die euch aber binnen kurzem mit Entsetzen erfüllen wird. Was habt ihr aus euerem Leben gemacht? Was machen die Menschen aus ihrem Leben?«

Es kam wie ein erstickter tausendfältiger Seufzer von der anderen Seite des Portals. Philipps Zunge war totenstarr. Die Stimme fuhr fort:

»Was habt ihr aus diesem Leben gemacht, das heute nacht ablief? Was ist ein Leben? Ihr sagt, unfrei. Ich sage, frei. Ich bin der Ankläger. Ihr seid selbst eure Richter, aber hier geschieht kein Unrecht. Alles ist aufgezeichnet – alles. Seht selbst, was ihr aus euerem Leben gemacht habt, und urteilt!«

Er hatte einen Finger gegen Lavertisse erhoben, und im selben Augenblick flammte ein dunkelblau glimmender Lichtball im Nebel vor diesem auf. Er schien von lebenden Gestalten erfüllt; sie bewegten sich mit schwindelnder Schnelligkeit in dem Lichtglobus, und Philipp zuckte zusammen, denn in einer der Gestalten glaubte er seinen Freund zu erkennen. Er glaubte zu sehen, daß die Figuren eine Art von Drama agierten, aber was es war oder vorstellte, konnte er nicht erfassen, so rasch waren die Bewegungen. Hie und da, wenn er zu verstehen glaubte, daß die Szenen sich veränderten, ertönte eine dumpfe unerbittliche Frage von der Erscheinung vor ihnen: » So hast du damals gehandelt, kannst du bezahlen, was du verbrachst

Endlich erlosch der Lichtkreis; Philipps alter Freund starrte, die Blicke voll wahnsinniger Angst, die dunkle Gestalt an, deren Augen mit durchbohrendem Glanze leuchteten. Philipp wollte rufen: Mich! Laß mich für ihn bezahlen! als der düstere Ankläger rief:

»Du gestehst. Du kannst nicht bezahlen, und kein anderer für dich. Hier bezahlt ein jeder für sich selbst.« Im selben Augenblick reckten sich zwei Nebelschleier vor, wie zwei lange Arme, ein dumpfer Seufzer ertönte von der anderen Seite des Portals, und als Philipp wieder sehen konnte, war sein alter Freund verschwunden.

Er hatte sich noch nicht von seinem wahnwitzigen Schrecken – einem Gefühl, das er nie empfinden zu können geglaubt hatte – erholt, als die Gestalt den Finger erhob und der Lichtglobus abermals aufblitzte, diesmal vor ihm. Gestalten begannen sich darin zu bewegen; er starrte sie betäubt an, bis plötzlich ein Ruf sich seiner Kehle entringen wollte. Der, um den die Handlung sich diesmal drehte, war er selbst.

Die Szenen in dem Lichtglobus lösten einander mit Blitzesschnelle ab. Zuerst wollte er seinen Augen nicht trauen; aber es dauerte nicht lange, so folgte er wie behext der Handlung dort drinnen – da war kein Zweifel: es waren Szenen aus seinem eigenen Leben, die er in dem hypnotisch flimmernden Lichtball sich abrollen sah. Er sah sich als jungen Mann in seiner Advokatenkanzlei; Leute gingen aus und ein; er empfing Geld und Vertrauensaufträge, und er sah sich die, die sie ihm gegeben, in verschiedener Weise täuschen. Dann saß er allein da; er warf vorsichtige Blicke um sich, und mit der Feder auf einem Stück Papier schrieb er etwas ab, das auf einem anderen Papiere stand, welches vor ihm auf dem Tische lag. Eine neue Szene kam, er stand vor einem Kassenschrank, dessen Inhalt er in ein Portefeuille leerte; er verließ das Zimmer, und er sah sich plötzlich in einem Gewühl von Menschen auf einem Dampfschiff.

Die Bilder in der Kugel setzten ihren Anklageakt fort, Szene um Szene, und nach jeder Szene ertönte die Stimme der Gestalt vor ihm: » So hast du gehandelt. Kannst du bezahlen, was du verbrachst?« – Er sah nicht mehr den Zusammenhang der Bilder; er hörte nur die anklagende Stimme, und seine Kehle arbeitete, um eine Antwort auf diese monotone Frage zu formen. Plötzlich erlosch der Ball, und die Stimme verkündete wie zuvor, als Lavertisse verschwunden war – » So hast du gehandelt. Kannst du bezahlen, was du verbrachst?« Ich will alles bezahlen, alles! versuchte er zu rufen, aber war unfähig, ein Wort hervorzubringen. »Es ist gesagt! Du hast dich selbst gerichtet. Du kannst nicht bezahlen, und kein anderer für dich. Hier bezahlt ein jeder für sich selbst!« – Er machte eine letzte verzweifelte Anstrengung, seine Sache zu führen. Der Nebel wallte auf ihn zu, wie zuvor auf Lavertisse, und während er von der anderen Seite des dunklen Portals einen tiefen furchtbaren Seufzer zu hören glaubte, versank er in eine raum- und zeitlose Bewußtlosigkeit.

2.

Wo erwacht man, nachdem man von dem unerbittlichen Richter gerichtet worden ist? Wer das wüßte! Als Philipp zum Bewußtsein zurückkehrte, war es dadurch, daß ein unerbittlicher Laut in seiner Nähe ertönte, begleitet von einer Stimme, die wie eine Posaune des Jüngsten Gerichtes klang. Es verging längere Zeit, bis er sich so weit gesammelt hatte, um konstatieren zu können, daß er anscheinend in seinem Bette im Hôtel de Tout le Monde lag, und daß die posaunenähnliche Stimme, die in seinem Innern widerhallt war, zu sagen schien:

»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Monsieur! Es ist halb ein Uhr, Monsieur!«

Es dauerte eine Minute, bevor es ihm gelang, sich zu überzeugen, daß dies zumindest den täuschenden Eindruck der Wirklichkeit machte. Die Stimme wiederholte:

»Es ist halb ein Uhr, Monsieur, und ein Herr wünscht Sie sofort zu sprechen. Was soll ich sagen?«

Es ist halb ein Uhr ... Er hatte geglaubt, an einem Orte zu erwachen, wo alle Uhren aufgehört haben, zu schlagen. Hatte er hier in seinem Bette gelegen und das Ganze geträumt? Doch nein, er erinnerte sich ja an alles, die Dame, der er gefolgt war, das niedrige Häuschen, den furchtbaren alten Mann ...

Zum dritten Male wiederholte die Stimme:

»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Monsieur. Es ist halb ein Uhr!«

Endlich fand er die Sprache wieder:

»Herein!«

Die Türe öffnete sich, und der Etagenkellner erschien, glatt rasiert und mit einem Gesicht, so regungslos wie eine Maske.

»Ist das hier das Hôtel de Tout le Monde

»Jawohl, Monsieur.«

»Und wer bin ich?«

»Professor Pelotard, Monsieur.«

»Auf Nummer 204?«

»Ja gewiß, Monsieur.«

»Und es ist halb ein Uhr, und ein Herr wünscht mich zu sprechen?«

»Wie ich Ihnen gesagt habe, Monsieur. Was soll ich ihm sagen, Monsieur?«

Philipp starrte die unbewegliche Gesichtsmaske an, die bei seinen Fragen auch nicht einen Zug verändert hatte.

»Führen Sie den Herrn herauf. Hat er Ihnen eine Visitenkarte gegeben?«

»Nein, Monsieur. Es ist geschäftlich, hat er gesagt.«

Philipp schlüpfte in seinen Schlafrock, stellte sich an das Fenster und starrte auf die große Avenue hinunter. War es möglich, daß er das Ganze geträumt hatte? Dort draußen brauste der Verkehr durch die Hauptstadt der Sünde – wie er sie daheim benennen gelernt hatte – und er war hier erwacht, und nicht an dem Orte, wo ihr Sündenkonto erledigt wird ... Es klopfte, und er rief ein zerstreutes Herein!

Ein glattrasierter, liebenswürdig lächelnder junger Mann mit glänzendem, schwarzen, in der Mitte gescheiteltem Haar verbeugte sich vor ihm –

»Verzeihen Sie, daß ich Sie störe, Monsieur,« sagte er. »Es ist die Rechnung von der Gesellschaft.«

Er überreichte ein Kuvert, das Philipp nahm, ohne im mindesten zu begreifen. Soviel er wußte, war er doch keiner Gesellschaft in Paris Geld schuldig. Er fixierte den jungen Mann, der seinen Blick mit einem korrekten Lächeln begegnete. Philipp riß das Kuvert auf. Es enthielt einen Bogen Pergamentpapier mit Firmenstempel, und darauf las er:

 

Französisch-amerikanische Sensationsgesellschaft.
New York, Chicago, San Francisco, Paris, Buenos Aires, Cairo und Calcutta.

Herrn Professor Pelotard,

Zimmer 204, Hôtel de Tout le Monde.
6. Dezember 1910.

Sehr geehrter Herr!

Wir gestatten uns, die Nota über unten spezifizierte Posten zu übersenden:

Sensation Nummer 2a:

ein Besuch im Hades
Frcs. 10 000
dito für M. Pelotards Freund
Frcs. 10 000
Summa
Frcs. 20 000

Wie Sie sich erinnern dürften, haben Sie selbst gestern abend, den 5. Dezember, Ihre Bereitwilligkeit ausgesprochen, diesen Betrag für eine neue Sensation zu bezahlen, und wir hoffen, daß Sie unsere Bemühungen genügend nach Ihrem Geschmack gefunden haben, um an dem Preis festzuhalten, der übrigens – wir möchten eigens darauf aufmerksam machen – keineswegs zu hoch bemessen ist.

Wir haben uns erlaubt, das Konto Ihres Freundes mit Ihrem eigenen zu vereinigen.

In der Hoffnung, zur werten Zufriedenheit gearbeitet zu haben, und darauf rechnend, eventuell in Zukunft die angenehme Verbindung fortzusetzen

In ausgezeichneter Hochachtung
für die Französisch-amerikanische Sensationsgesellschaft

M. T.

 

Mit dem Papier in der Hand starrte Philipp eine gute Minute den jungen Mann mit dem glänzenden schwarzen Haar an. Dieser erwiderte seinen Blick mit dem korrektesten, liebenswürdigsten Lächeln der Welt und sagte:

»Eine neue Idee, Monsieur! Wir hoffen zu Ihrer Zufriedenheit gearbeitet zu haben. Die Gäste des Hôtel de Tout le Monde gehören zu unseren besten Klienten, und es würde uns schmerzen, wenn ...«

»Aber,« rief Philipp, »wie ...«

»Die Gesellschaft kann leider unmöglich irgendwelche Erklärungen abgeben. Sie begreifen, das würde uns in einem halben Jahre ruinieren.«

Noch mit weitaufgerissenen, verdutzten Augen zählte Philipp zwanzig blaue Scheine ab, die der junge Mann nachzählte, worauf er mit einer eleganten Füllfeder rasch eine Quittung schrieb. Philipp sah ihn an.

»Die Gesellschaft kann keine Erklärungen abgeben,« sagte er langsam. »Nun – aber Sie?«

»Ich bin solidarisch mit meinem Arbeitgeber, Monsieur.«

Philipp drehte zerstreut einen blauen Schein hin und her. Der korrekte junge Mann beobachtete ihn unter gesenkten Augenlidern.

»Das heißt,« sagte er, »einiges könnte ich ja ohne Gefahr erklären ... Sie fielen in einen Abgrund, nicht wahr, Monsieur, während es rings um Sie dröhnte? Und Sie glaubten, daß Sie zermalmt werden würden?«

Philipp nickte, ohne zu antworten.

»Hm – haben Sie denn nie eine jener Wasserkünste gesehen, wo eine schwere Kugel auf einer aufsteigenden Wassersäule balanciert? Eine sehr starke Luftsäule tut denselben Dienst und ruft genau den Effekt hervor, den wir wünschen.«

»Und die unheimlichen Wesen, die ich dort unten sah?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf.

»Das kann ich leider nicht verraten, Monsieur.«

»Und die Szene mit dem Lichtball? Ich sah doch mich selbst!«

Der junge Mann nickte.

»Wir haben eines der besten Nachrichtendepartements der Welt. Sobald wir einen Klienten vermuten – und das Hôtel de Tout le Monde hat uns, wie schon gesagt, viele vortreffliche Klienten geliefert – verschaffen wir uns ein bis zwei Details über ihn.«

»Aber ich habe doch Szene für Szene aus meinem Leben gesehen!«

»Freut mich, Sie das sagen zu hören, Monsieur. Ich werde es unserem Direktor berichten, der ein Künstler in seinem Fach ist. Aber im Vertrauen will ich Ihnen sagen,« – seine Augen verschlangen den blauen Schein, und Philipp reichte ihn ihm – »daß ein richtiges Detail im Lichtball in der Regel genügt. Der Rest wird durch die Phantasie des Klienten ergänzt. Wie sagte Ihnen doch jemand gestern, Monsieur? ›Alles ist Illusion‹, nicht wahr?«

Etwas später, nachdem Philipp sich in tiefen Grübeleien angekleidet hatte, fiel ihm sein alter Freund ein, und er begab sich in dessen Zimmer. M. Lavertisse mußte mehrmals geschüttelt werden, um in die Sinneswelt zurückzukehren, und als das geschehen war, war es mit Augen, die vor Erregung ganz wild stierten. Philipp gab ihm einen kurzen Bericht über den Besuch, den er am Morgen gehabt hatte. Lavertisse schüttelte energisch den Kopf.

»Aber ich sah doch Szene für Szene aus meinem Leben, Professor! Und diese furchtbare Stimme, die rief: Kannst du bezahlen, was du verbrachst! Ich gehe in die Nachmittagsmesse.«

Philipp zündete sich eine Zigarette an und zog die Quittung hervor, die er von dem korrekten jungen Mann bekommen hatte.

»Lukrezia Borgia hat uns zu recht eigentümlichen Bußpredigern geführt,« sagte er. »Und ferne sei es von mir, Ihnen von der Nachmittagsmesse abzuraten. Aber im übrigen habe ich das Zeugnis, daß auch für Sie alles bezahlt ist.«


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