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Fünftes Kapitel
Lavertisse macht den Haupttreffer

1.

Es läßt sich über die meisten Dinge hier auf Erden streiten, unter anderem auch darüber, ob eheliche Zwistigkeiten innerhalb oder außerhalb der Ehe schlimmer sind. Wenn wir sagen, innerhalb oder außerhalb, meinen wir natürlich die legitime, und wenn wir Strindberg gelesen haben, halten wir es für ausgeschlossen, daß ein Zank außerhalb der Ehe überhaupt irgendwelchen Anspruch auf Beachtung erheben kann. Aber auf jeden Fall, hätte sich der Leser an einem schönen Januarmorgen des Jahres 1911 auf der selbständigen Insel Korfu im Adriatischen Meer befunden und Gelegenheit gehabt, in den Speisesaal einer der Luxusvillen zu blicken, er würde seine Auffassung vielleicht revidiert haben.

Die Szenerie: Der Speisesaal ist klein, elegant, halb in französischem, halb in orientalischem Geschmack möbliert – die Stühle um den Speisetisch sind niedrige Boudoirfauteuils, und das Kaffeeservice aus schwerem Silber mit kleinen Täßchen paßt besser für eine vorgeschrittene Tageszeit. Ein wachsbleicher, schwarzbärtiger Grieche sieht müde zum Fenster hinaus, und eine üppige junge Dame im Morgenkleide, mit blitzenden schwarzen Augen, gestikuliert lebhaft, wobei sie die scharfen, kleinen, mit Henna gefärbten Nägel tief in die geballten Fäuste bohrt. Es ist klar, daß die Debatte schon längere Zeit dauert.

»Du bist feig.«

Keine Antwort.

»Du bist geizig.«

Keine Antwort.

»Du bist nicht nur feig und geizig, du bist auch noch dumm und eingebildet. Aber wenn du dir einbildest, daß du noch länger auf meine Kosten den grand seigneur spielen wirst, dann irrst du dich.«

Keine Antwort.

»Willst du antworten? Hörst du nicht, was ich sage?«

Keine Antwort.

»Wenn du (wahnsinniges Gabelkonzert auf einem Teller) nicht antwortest, steche ich dir mit der Gabel die Augen aus! Ich weiß, daß du gestern abend im Kasino massenhaft Geld gewonnen hast. Wirst du mir das Kollier kaufen?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, mein Fräulein, daß ich nicht daran denke, zwölftausend Franken für eine Laune von Ihnen zu opfern, die Sie morgen vergessen haben werden.«

»Mein Fräulein! Sie! Ihnen! (Das Gabelkonzert wechselt und richtet sich gegen ein Frühstückstablett aus Silber, das einen ungewöhnlich schrillen und ohrenzerreißenden Ton von sich gibt.) Sparen Sie Ihre Ironie, Herr Simonides! Haha, hahaha!«

»Ich spare sie, geehrtes Fräulein Mavropoulos. Mit den Waffen der Intelligenz würde ich bei Ihnen nicht weit kommen.«

»Mit den Waffen der Intelligenz! Hast du welche von dieser Art, dann sind sie stumpf, stumpf, stumpf. Hörst du. Aber du hast ja keine! Keine! Du bist nicht nur ...«

»Ich habe Ihre Adjektive heute schon oft genug gehört, um sie zu kennen. Ich bin nicht nur feig, ich bin auch geizig.«

»Das bist du! Das bist du!« (In schrillem, halbschluchzendem Ton.)

»Ich bin außerdem dumm und eingebildet, und wenn ich glaube, daß ich noch länger den grand seigneur auf deine Kosten spielen werde, dann irre ich mich ...«

»Du abscheuliches, verächtliches Ungetüm! Ah-h-h (eine Tränenflut, Fräulein Mavropoulos' Gesicht verschwindet in der weißen Serviette, und erst nach geraumer Zeit dringen einigermaßen verständliche Sätze – verständlich für eine Person, die neugriechisch kann – daraus hervor:) k-n, k-n ... Du bist ein Untier, du meinst doch – doch nicht – (k-n, k-n), daß du mir das erste Geschenk abschlagen willst, um das ich dich seit – seit einem halben Jahr bitte ...«

Keine Antwort. Fräulein Mavropoulos' Gegenüber schenkt sich eine Tasse Kaffee ein und zündet sich mit geübter Hand eine Zigarette an. Die Stimme aus der Serviette schluchzt noch einige Augenblicke (k-n, k-n), aber erhebt sich sehr bald zu anderen Tonlagen:

»D – du bist ein (k-n, k-n) Ungetüm – d-du weißt, daß ich dich liebe – daß ich dich mehr geliebt habe als irgendein Weib – (k-n, k-n) überhaupt sollte ... und du hast gestern im Kasino wieder gewonnen, das weiß ich. D-du weißt, daß ich hier als – als deine Geliebte wohne und du –, und du – du ... (Plötzliche Pause; eines von Fräulein Mavropoulos' schwarzen Augen zeigt sich, nicht merklich verweint, über dem Rand der Serviette, und die Stimme nimmt plötzlich die oben angedeutete veränderte Tonlage an): Glaubst du vielleicht, daß ich dich noch liebe – wenn du so bist? Da täuschest du dich, mein Freund? Ah, und wie du dich täuschest! Hörst du! Ich liebe dich nicht, ich habe dich nie geliebt, wenn du nicht sofort sagst, daß ich das Kollier bekomme! Ah, heilige Mutter Gottes, warum habe ich diesen Elenden erhört, als er mich anflehte und beschwor, in diese Villa zu ziehen! Ah, wenn ich gewußt hätte ...«

(Plötzliche Unterbrechung von Fräulein Mavropoulos' Gegenüber, das die Asche von seiner Zigarette abstreift.)

»Sie hatten schon anderen die Ehre erwiesen, sie zu erhören, bevor Sie mir Gehör schenkten, mein Fräulein.«

»Ah! Was wagst du zu sagen! Was wagst du zu sagen!? Willst du behaupten, daß nicht du der warst – – ah, du feiger, elender Schurke, sogar das bist du zu feig einzugestehen. – Nimm dich in acht! Ich bin nicht ungefährlich! Wenn du vielleicht das glaubst! Es gibt noch andere Dinge, die du eingestehen wirst und auf die du keinen Grund hast stolz zu sein. Deine Lotterie! Was! Haha, hahaha! Deine Lotterie! Wenn jemand ...«

»Schweig!« (Fräulein Mavropoulos' Gegenüber hat die Zigarette aus dem Munde genommen, und während er ihr bis jetzt mit einem gewissen perversen Genuß zugehört hat, haben seine Augen nunmehr einen Ausdruck, der nicht zu verkennen ist. Fräulein Mavropoulos verstummt auch sofort und starrt ihn an, zuerst mit einem erschrockenen Blick, dann mit wiederkehrender Zuversicht.)

»Wenn ich, – wenn jemand, natürlich jemand, ein Briefchen schriebe, ein kleines Briefchen an die Regierung und sie auffordern würde, zu untersuchen, wie die vorige Ziehung – –«

»Maria! Schweige, wenn du dich selbst lieb hast! Wenn jemand einen solchen Brief schriebe, würde jemand keinen Glauben finden – und am nächsten Tage würde dieser jemand überhaupt nicht mehr imstande sein, irgendeinen Brief zu schreiben. – Verstehst du? Du sagst, daß du nicht ungefährlich bist – nimm dich in acht, ich bin gefährlich, wenn es darauf ankommt!«

»Ah, du drohst mir! Du drohst einer Dame, die du verführt hast, indem du ihr vorspiegeltest, daß du sie liebst! Das konnte ich erwarten, da du mir nicht einmal ein elendes Kollier geben willst, das erste, um was ich dich seit einem halben Jahre bitte! Und ich weiß, daß du im Kasino eine Unmasse Geld gewonnen hast! Heilige Mutter Gottes – willst du mir das Kollier geben?«

Fräulein Mavropoulos' Partner hat sich erhoben und geht mit demselben Blick seiner Augen, wie bei seiner letzten Äußerung, auf die Tür zu. Er öffnet sie, geht hinaus und schließt sie wieder, ohne daß auch nur die Andeutung eines Lärms zu hören ist. Fräulein Mavropoulos sinkt in konvulsivischer Verzweiflung zusammen, unterbrochen durch kleine haß- und racheschnaubende neugriechische Flüche. Endlich nach einer guten halben Stunde richtet sie sich auf, trocknet sich vorsichtig die Augen, pudert sich und tritt auf den Altan der Villa, indem sie ihre schöne weiße Patschhand gegen die Tür ballt, durch die ihr Partner verschwunden ist. Die Villa liegt diskret in einer Allee am Rande der Stadt, und es ist kein Mensch zu sehen. Es ist um die Mittagsstunde und sehr heiß, obgleich man sich im Januar befindet. Fräulein Mavropoulos sonnt sich mit dem Wohlbehagen einer Katze und blickt mit träumenden Augen über die wohlbekannte Landschaft – die grauweißen kahlen Berge, die Stadt Korfu mit ihren weißgelben Häusern unten am Strande des blauen Meeres, den blühenden Gärten unter der Villa und die staubige Allee, an der sie liegt. Endlich murmelt sie zwischen den Zähnen:

»Ah, dieser elende Geizkragen! Und ich weiß doch, daß er jetzt die längste Zeit jeden Abend im Kasino gewonnen hat! Von mir aus kann er jemand soviel drohen als er will – wenn mir nur jemand hilft – und jemand nicht zu schlecht aussieht – dann soll er sich nur in acht nehmen!«

2.

»Lieber Lavertisse,« sagte Philipp Collin, »es sieht aus, als müßten wir unsere Kasse verstärken. Die Republik Korfu ist der teuerste Ort, den ich noch kennengelernt habe.«

»Sie haben aber auch geradezu phantastisches Pech mit der Bank gehabt.«

»Sie ebenfalls. In diesem Punkte haben uns die anderen Spieler nichts vorzuwerfen und wir einander nichts. Tatsache ist, daß ich nicht mehr als neunhundert Franken in der Tasche habe.«

»Und ich sechs.«

»Also?«

Lavertisse zuckte die Achseln und sah zum Fenster hinaus.

»Was hatten wir auch hier zu suchen?« sagte er.

»Diese Frage ist Ihrer würdig, Lavertisse. Ein Abenteurer muß am vergnügtesten sein, wenn er blank ist. Geldmangel ist die Würze seines Daseins und ein Ansporn für seine Erfindungsgabe. Wir kamen hierher, weil Korfu die wunderbarste Winterluft in Europa hat und das blaueste Wasser des Adriatischen Meeres. Daß das Kasino für unsere Kasse so verhängnisvoll werden sollte, konnten wir nicht voraussehen, aber nun es so gekommen ist, dürfen wir nicht klagen.«

»Aber warum kann man nicht ein einziges Mal solches Glück haben wie dieser Simonides?« fuhr Lavertisse fort, ohne sich um Philipps Mahnung zu kümmern. »Dieser schwarzbärtige Lotteriedirektor! Der gewinnt doch jedesmal. Gestern abend hat er mir bei einer einzigen Bank neunzehntausend abgenommen. Ich glaube, der Kerl kann hexen.«

Philipp Collin antwortete nichts, und es wurde ganz still in dem eleganten Zimmer des Kurhaushotels in Korfu. Es verging eine halbe Stunde, die Lavertisse in Anbetracht ihrer langjährigen Intimität zu Manikurearbeiten verwendete. Philipp, der schon ein tüchtiges Stück in einer Flasche King George hinuntergekommen war, erledigte noch einen Grog dieser royalistischen Marke, während er zum Nachmittagshimmel hinaufstarrte. Eine weiße Wolkenarmada segelte von Südosten heran und kreuzte über die blauen Himmelstiefen. Durch das offene Fenster kam ein Duft von den Oliven- und Mimosabäumen des Hotelparks und ein leiser Hauch von Rosen und Orangeblüten aus einer unsichtbaren Anlage unterhalb des Fensters. Die Sonne war im Untergehen, und die Lichter des Kasinos ließen schon blanke gelbe Pünktchen zwischen den Palmblättern aufflammen.

Plötzlich brach Philipp das Schweigen.

»An etwas kann ich mich absolut nicht erinnern, Lavertisse!«

»Was denn?« fragte Lavertisse eifrig.

»Ob es am Morgen oder um diese Tageszeit war, als Odysseus von Prinzessin Nausikaa am Meeresufer gefunden wurde. Sie wissen doch, daß das gerade auf dieser Insel passierte, wo wir uns jetzt befinden. Schliemann oder wer es nun ist, hat es bewiesen. Aber ich habe wirklich vergessen, zu welcher Zeit es war. Wenn ich Homer gewesen wäre, ich hätte es unbedingt gerade jetzt im Abendschein geschehen lassen.«

»Zum Kuckuck, was für Vergnügen können Sie an solchem Schnickschnack haben, Professor? Ich glaubte, Sie hätten sich irgendeinen Plan ausgedacht?«

»Das habe ich auch.«

»Nun?!«

»Einmal, wenn ich es müde sein werde, umherzuziehen wie Odysseus, ist es mein Plan, diese ganze Insel für meine Rechnung zu kaufen und mein Leben hier in einem arkadischen Puvis-de-Chavannes-Sonnen-Untergangs-Frieden zu beschließen. Und Nausikaa soll der Trost meines Alters sein.«

»Sie sollten sich wirklich schämen, jetzt solches Zeug zusammenzureden! Denken Sie lieber nach, wie Sie Nausikaas Nachkommen verhindern wollen, uns für unbezahlte Schulden ins Meer zu werfen.«

»Sie denken an den Hotelier?«

»Ja. Wir haben eine niedliche kleine Nota auf dreihundert Franken mehr als wir besitzen.«

»Wie können Sie nur, Lavertisse? Sehen Sie nicht, daß der Himmel gerade in diesem Augenblick von dunkelblau in homerischen Wein übergeht? Sehen Sie nicht, daß der Park blau und starr wie träumend dasteht um die stummen weißen Statuen? Können Sie nicht hören, wie das Plätschern der Fontäne unter uns gleich einem Rhapsoden singt, von – –«

»Prinzessin Nausikaa! Professor, ich werde mir Ihre Sonette auf Korfu kaufen, wenn sie erscheinen, aber wollen Sie mit dem Schreiben nicht warten, bis Sie sich die Insel gekauft haben? Und denken Sie doch jetzt um Himmels willen nach, wie Sie das Geld dazu auftreiben wollen!«

»Ich hätte Sie nicht für so krämerhaft gehalten, Lavertisse. Es schmerzt mich, gerade jetzt diese Entdeckung zu machen, wo ich in der Stimmung wäre, mit Theophile Gautier und anderen berühmten Dichtern zu konkurrieren. Geld! Kaufen Sie sich doch ein Los für Simonides' Lotterie, und machen Sie den Haupttreffer! Dann haben Sie gleich 150 000 Franken beisammen. Das ist der beste Rat, den ich Ihnen augenblicklich geben kann, abgesehen davon, einen Whisky zu trinken und heute abend mit Erfolg zu spielen.«

»Mit sechshundert Franken in der Tasche!«

»Ja, und dann komme morgen abend ich mit meinen neunhundert dran. Sie sind das erste Aufgebot und ich der Landsturm. Mißlingt das, dann muß ich mich allerdings hinsetzen und nachdenken, da es jetzt ganz unmöglich scheint, ein Lebenszeichen von unserem Freund Graham zu bekommen.«

Philipp und sein Freund hatten sich als Bankhalter an den Spieltischen des Kasinos in Korfu so bekannt gemacht, daß es Aufmerksamkeit unter den Spielern erregte, als keiner von ihnen an diesem Abend die Bank übernahm. Einen Augenblick vermutete man mit einem Lächeln, daß sie ausgesackelt waren, aber diese Vermutung mußte man sofort preisgeben, denn das erste, was Lavertisse tat, nachdem er vom Bankhalter eine Karte bekommen hatte, war, blind einen Fünfhundertfrankenschein darauf zu setzen. Das Spiel war »bayrische Bank«, das, in Kürze beschrieben, folgendermaßen gespielt wird: vier neue Kartenspiele werden unter Kontrolle gemischt; und nachdem entschieden ist, wer die Bank übernimmt, bekommt jeder Spieler vom Bankhalter eine Karte; es gilt (mit dieser Karte allein oder durch Kauf von höchstens noch dreien) neun Points so nahe als möglich zu kommen. Alle Figuren und Zehner haben augenblicklichen Verlust zur Folge. Wenn der Spieler sich zufrieden erklärt, muß der Bankhalter überstechen, aber vorher schlägt er, wenn er will, dem Spieler vor, den Einsatz zu erhöhen. Dadurch bekommt das Spiel ein Element des Bluffs, da das Steigern immer fortgesetzt werden kann, so wie das Wetten beim Poker.

Philipp Collin stand hinter seinem Freund, ohne zu setzen.

Unter den Gästen des Kasinos in Korfu befand sich augenblicklich außer Professor Pelotard und seinem Freunde nur ein Mann, dem man Aufmerksamkeit schenkte: Herr Simonides, der Chef der autorisierten Klassenlotterie Korfus. Die Ankunft des Professors hatte für Simonides einen Wendepunkt bedeutet. Es hieß, daß dieser von Oktober bis Dezember dreimalhunderttausend Franken im Kasino verspielt hatte. Am 22. Dezember traf Professor Pelotard mit seinem Freunde ein, und damit kam für den Lotteriedirektor der Umschwung. Neun Abende hintereinander war er nun vom fabelhaftesten Glück begünstigt worden. Ob nun er oder Lavertisse oder der Professor die Bank hatte, war gleichgültig: Simonides gewann, und die beiden Freunde verloren. Hatte er die Bank, und erklärte er sich mit so wenig wie fünf zufrieden, so saß sein Gegner mit vier oder drei da; hatte sein Gegenspieler mit seinem Kauf Glück gehabt und sieben oder acht in der Hand, so legte Herr Simonides unfehlbar und sofort neun auf den Tisch; hatten sie die Bank, so ging es ebenso. Herrn Simonides' plötzliches Glück hatte den übrigen Spielern auch in anderer Weise Verluste bereitet: es ist gestattet, über den Ausgang des Spieles Wetten einzugehen und in Anbetracht des bisher konstanten Pechs des Lotteriedirektors hatten anfangs alle gegen ihn gewettet; jetzt war schon längst niemand mehr dazu geneigt. Man berechnete, daß Simonides die Verluste von zwei Monaten, ja vielleicht schon mehr, in dem Spiel dieser neun Tage zurückgewonnen hatte.

Herr Simonides war ein Mann in mittleren Jahren, mit einem großen, überaus wohlgepflegten schwarzen Bart, einem wachsbleichen Gesicht und feinen weißen Händen. Er war sehr schweigsam und in seinen Bewegungen gemessen und beherrscht und verriet nie mit einer Miene, wie sein Spiel stand.

Als Lavertisse an diesem Abend seinen Fünfhundertfrankenschein blind auf die Karte setzte, die er von Simonides bekommen hatte, blieben die Züge des Bankhalters ebenso ausdruckslos wie sonst, obgleich der Einsatz im Hinblick darauf, daß die Karte eine Figur sein konnte, hoch war. Er fragte nur:

»Wünschen Sie noch Karten?«

Lavertisse sah seine Karte hastig an und schüttelte den Kopf. Der Bankhalter schlug ruhig eine Karte auf, um zu stechen. Es war ein Vierer. Einen Augenblick zögerte er, dann schlug er noch eine Karte auf. Er bekam einen Zweier und hatte also sechs. Alle glaubten nun, daß er sich damit zufrieden erklären würde, aber da irrten sie sich. Nach einer Sekunde des Zögerns schlug Simonides noch eine Karte auf und bekam einen Zweier.

»Acht,« sagte er ruhig, als wenn nichts passiert wäre, zu Lavertisse. »Darf ich bitten, aufzudecken?«

Man hatte ein Flüstern des Staunens von den anderen Spielern gehört, als Simonides zu sechs hinzukaufte, ohne zuviel zu bekommen; ein neues erhob sich, als Lavertisse seine Karte aufschlug und diese sich als ein Neuner erwies. Fünfhundert Franken waren keine große Summe, aber es war das erstemal, daß es Lavertisse oder seinem Freunde gelungen war, auch nur soviel zu gewinnen. Sollte das Glück sich gewendet haben? Simonides, der Lavertisse schweigend seinen Gewinn ausgezahlt hatte, wandte sich dem nächsten Spieler zu, gegen den er besseren Erfolg hatte. Nach einigen Minuten war er wieder bei Lavertisse, der ohne ein Wort zu sagen, einen Tausendfrankenschein auf seine Karte legte, und sich, nachdem er sie angesehen hatte, zufrieden erklärte. Simonides schlug seine Karte auf, um zu stechen und bekam einen König. Da Figuren für den, der sie bekommen, den augenblicklichen Verlust zur Folge haben, warf er den König beiseite und zahlte die tausend Franken aus. Lavertisses Nachbarn warfen einen raschen Blick auf seine Karte, als er sie weglegte. Sie sahen, daß er sich mit einem Zweier zufrieden erklärt hatte.

Als Simonides zum drittenmal zu Lavertisse zurückkam, schob dieser mit derselben Ruhe wie zuvor zweitausend auf seine Karte. Nachdem er diese angesehen, wünschte er zu kaufen und kaufte hastig drei Karten hintereinander – die höchste gestattete Anzahl.

»Wünschen Sie den Einsatz zu erhöhen?« fragte Simonides.

»Ja. Gestatten Sie, daß ich verdopple?«

»Mit Vergnügen. Und Sie, daß ich verdopple?«

»Wie Sie wollen. Das macht achttausend. Sind Sie mit sechzehntausend einverstanden?«

»Um Ihnen ein Vergnügen zu machen, Monsieur, aber nicht mehr. Es gilt also sechzehntausend?«

»Gemacht.«

Simonides schlug unter der atemlosen Spannung der anderen Spieler seine Karte auf. Er bekam einen Fünfer, zögerte einen Augenblick und kaufte die nächste Karte, die sich als eine Dame erwies. Er hatte verloren; ohne etwas zu sagen, warf er die Karten weg und schob seinem Gegner sechzehn Tausendfrankenscheine hinüber. Lavertisse legte sie auf die zwei vorher gewonnenen und sagte:

»Ich möchte etwas Eigentümliches zeigen. Ich bekam als erste Karte ein Pique-Aß. Wie Sie sahen, kaufte ich drei Karten hintereinander. Und da bekam ich diese.«

Er legte seine vier Karten auf. Es waren die sämtlichen vier Pique-Aß aus den vier vermischten Kartenspielen, die beim Spiele verwendet wurden. Ein erstauntes Gemurmel ging durch die Schar der Zuschauer. Simonides sah Lavertisse an.

»Sie hatten also nur vier,« sagte er. »Es ist ziemlich hohes Spiel, sechzehntausend Franken auf vier Points zu setzen.«

»Sie hätten sich mit Ihrer ersten Karte begnügen sollen, dann hätten jetzt Sie die sechzehntausend Franken.«

Philipp, der hinter ihm stand, beugte sich zu ihm hinab und flüsterte unhörbar:

» Hätte er sie jetzt wirklich, lieber Lavertisse? Soviel ich weiß, wären in diesem Falle nur wir aus dem Kasino draußen.«

»Unsinn, Professor! Mit vier Pique-Aß muß man gewinnen.«

Philipp schüttelte den Kopf und ging auf die Kasinoterrasse hinaus, über der die Sterne in großen Diademen flammten. Er hatte eine halbe Stunde damit verbracht, alle Wunder der südlichen Nacht zu schlürfen, als er hastige Schritte hinter sich hörte und seinen Freund sah.

»Um Gottes willen, Professor, geben Sie mir Ihre neunhundert Franken. Ich bin blank. Ich habe zwanzigtausend auf einen Achter gesetzt, und bei meinem seligen Vater, schlägt der schwarzbärtige Schurke nicht einen Neuner auf und gewinnt. Mit Ihren neunhundert kann ich ihn gerade noch bezahlen.«

Fünf Minuten später wanderten die beiden Freunde durch die Rosenavenue in die Stadt Korfu hinunter. Philipp, einen Walzer aus dem Zigeunerbaron pfeifend, Lavertisse nach Herzenslust tobend und fluchend, über sich selbst, seine Vorväter, seine Dummheit, seine Einbildung, die selbständige Insel Korfu und den Menschen, der das Hasardspiel erfunden hat. Es war noch nicht zehn Uhr, und die elektrisch beleuchteten Straßen des Städtchens waren noch recht belebt. Lavertisse beschloß seine Rede, indem er eine einsame Goldmünze aus der Hosentasche zog:

»Das hier, das ist die ganze Kasse!« rief er. »Was sollen wir jetzt anfangen? Ah, Tod und Teufel, warum mußte ich auch alles auf diesen verdammten Achter setzen!«

»Mein lieber Freund,« sagte Philipp, »querulieren Sie nicht. Sie hatten rasendes Glück, als Sie mit den vier Aß gewannen. Aber wenn Sie das Hasardspiel satt haben, können Sie ja zum Lotteriespiel übergehen, wie ich Ihnen schon einmal vorgeschlagen habe. Sie sehen das Etablissement Ihres Freundes Simonides gerade vor sich links.«

Sie waren zum offenen Hauptplatz der Stadt gelangt. Rechts davon erhob sich die große, gelbgraue Sandsteinfassade des neuerbauten Rathauses mit ihren sechs gewaltigen korinthischen Säulen. Im rechten Winkel zum Rathaus schlossen sich überbaute Arkaden an, unter denen Cafés und Kaufläden lagen. Licht und Lärm drang heraus. Gegenüber dem Rathaus stand nur ein sechseckiger Pavillon im Rokokostil, dessen sechs goldvergitterte Fenster in elektrischem Lichte erstrahlten. Philipp und Lavertisse gingen darauf zu. In den sechs Fenstern standen ebenso viele Füllhörner, die von Goldmünzen überquollen, während eine zierliche Überschrift kundgab, daß ein jedes der Hörner den vollen Betrag eines der sechs Haupttreffer der Klassenlotterie Korfus in Gold enthielt. Lavertisse starrte einen Augenblick wie verhext auf die blinkenden Goldmünzen, zog dann seinen einsamen Louisdor aus der Hosentasche, sah ihn an, stieß ein melancholisches Geheul aus und stürzte zu einer Tür hinein, über der Losverkauf für die neue Serie, Ziehung in fünf Tagen zu lesen war. Nach drei Minuten kam er mit einem Lose heraus und hielt es Philipp unter die Nase.

»14760!« rief er. »Meinen letzten Louisdor habe ich geopfert, um Ihren Rat zu befolgen, Professor! Jetzt müssen Sie aber auch dafür sorgen, daß ich gewinne.«

»Das verspreche ich auf Ehrenwort,« sagte Philipp. »Zufälligerweise habe ich eben jetzt in meiner einen Westentasche ein Fünffrankenstück gefunden. Gehen wir in das Café dort unter den Arkaden und trinken wir auf den Haupttreffer.«

Sie fanden das kleine Café voll von Kleinbürgern, die ihre Angelegenheiten in neugriechischer Sprache diskutierten. Nach den Gesten und dem Tonfall zu schließen, mußten die debattierten Fragen geradezu brennend sein; da aber weder Philipp noch Lavertisse die Sprache der Abkömmlinge Nausikaas verstanden, gaben sie sich ihren privaten Gedanken hin, bis eine neuangekommene Gesellschaft am Tische neben ihnen eine andere Sprache als Neugriechisch zu sprechen begann. Philipp spitzte die Ohren, und nachdem er eine Minute zugehört hatte, wandte er sich an Lavertisse.

»Was reden denn die, Professor? Verstehen Sie sie?«

»Sie sprechen Deutsch, und das verstehe ich ebensogut wie meine eigene Muttersprache. Der Herr mit der Sportmütze und dem forschen Schnurrbart ist ein Handelsreisender aus Dresden und versorgt die Inselbewohner mit jenen Teppichen, die unter dem Namen echte handgewebte Korfuteppiche arglosen Touristen wie Ihnen und mir angehängt werden. Jetzt gerade sprechen sie jedoch von etwas, das Sie wahrscheinlich mehr interessieren dürfte.«

»Wovon denn?«

»Von der Lotterie. Diese ehrenwerten Bürger gratulieren dem Handelsreisenden eben zu dem Glück, das seine Landsleute beim Lotteriespiel haben. Der Haupttreffer von zwei der drei letzten Ziehungen der Lotterie ist auf Deutschland gefallen ... warten Sie ein bißchen! Das ist aber komisch!«

»Was denn, Professor?«

Lavertisse bekam erst einige Minuten später die Antwort auf seine Frage. Philipp hörte angespannt dem Gespräche am Nebentisch zu. Der Herr mit der Sportmütze hatte fast ebenso eifrig zu gestikulieren begonnen wie die Nachkommen Nausikaas, die sich ihrerseits beinahe die Schultern aus dem Gelenke renkten. Einer von ihnen wies eine gedruckte Liste vor, die der Herr mit der Sportmütze besichtigte, worauf auch seine Schultern auf- und niederzugehen begannen. Lavertisse hörte ein paar Sätze, die er verstand: » Aber ich versichere! ... Aber ganz bestimmt ...« Endlich schien das Gespräch eine andere Wendung zu nehmen, und Philipp wendete sich mit einem eigentümlichen Blick Lavertisse zu.

»Höchst kuriose Debatte,« murmelte er, indem er sich ganz weit zurücklehnte. Lavertisse wußte, daß das seine Lieblingsstellung bei scharfem Nachgrübeln war.

»So sagen Sie doch, was los ist! Was hat denn der Mann mit den Korfuteppichen so bestimmt versichert?«

Philipp sah Lavertisse an.

»Daß einer derjenigen, der bei den letzten Ziehungen den Haupttreffer gewonnen haben soll, dies unmöglich getan haben kann, da er vor zehn Monaten gestorben ist. Die Lotterie veröffentlicht nämlich eine Liste, wo der Name dessen, der den Haupttreffer gemacht hat, publiziert wird.«

»Und der Mann, der ihn nun zuletzt gewonnen haben soll, war schon gestorben?«

»Ja. Der Handelsreisende hat ihn ganz gut gekannt.«

»Nun, dann hat eben seine Familie in seinem Namen weitergespielt.«

»Er war Junggeselle.«

Lavertisse sah Philipp eine Weile an, zog dann sein neuerworbenes Los heraus und fixierte es melancholisch.

»Mein letzter Louisdor,« murmelte er. »Sie werden sehen, ich muß auch erst sterben, bevor ich da den Haupttreffer gewinne. Ach was, der Mann mit den Teppichen hat nur so dahergeredet, um sich interessant zu machen, glauben Sie nicht auch?«

Philipp nickte.

»Höchst wahrscheinlich. Gehen wir nach Hause und sehen wir, ob nicht ein Telegramm aus England gekommen ist.«

Es war zwei Tage später am frühen Morgen, als Lavertisse zu Philipp, der sich eben ankleidete, hereingestürzt kam und rief:

»Haben Sie schon gehört, was heute nacht im Kasino geschehen ist?«

»Nein. Hat Simonides irgendeinen anderen Spieler ebenso gründlich ausgeplündert wie uns?«

»Simonides hat gestern abend beim Bankhalten siebzigtausend Franken verloren.«

»Siebzigtausend!«

»Es ist ein Amerikaner angekommen, der besser im Bluff bewandert zu sein scheint als wir. Der hat den Löwenanteil davongetragen. Später hat er die Bank gehalten und Simonides noch fünfzehntausend abgenommen.«

»Fünfundachtzigtausend Franken an einem Abend. Wie hat Simonides sich dabei verhalten?«

»Ganz wie immer, so als ob nichts passiert wäre. Er hat Haltung, das muß man sagen. Das heißt ...«

»Nun?«

»Ich bin mit einem der Kellner aus dem Kasinocafé ins Gespräch gekommen, der sagte mir, daß er noch spät nachts, als er die Avenue hinunterging, Simonides begegnet sei, und daß er ausgesehen hätte, als wenn er jemanden ermorden wollte.«

»So?«

»Das war wohl nur so geredet. Der Kellner wollte sich interessant machen wie der Mann mit den Teppichen. Und Sie haben also auch heute kein Telegramm von unseren Freunden in England?«

»Nein. Hingegen habe ich schon einen Besuch des Hoteliers in höchsteigener Person gehabt, der sich erkundigte, wie lange wir bleiben wollten und mit Vergnügen der Begleichung unserer Rechnung entgegensah. Er hat natürlich gehört, daß wir nicht mehr spielen, und da er ein Grieche ist, war er infolgedessen so ziemlich unverschämt.«

»Wie soll das enden, Professor?«

»Wir müssen ihn eben erst nach der Ziehung von Simonides' Lotterie bezahlen.«

»Sie sollten sich schämen, sich über mich lustig zu machen. Woher wissen Sie, daß wir solange bleiben können?«

»Nun ja, das ist eine andere Sache.«

»Sie sehen so verflucht geheimnisvoll aus. Haben Sie einen Plan?«

»Ich will nicht sagen, daß ich einen Plan habe, aber ich habe das Gefühl, daß ich nach ein paar kleinen Untersuchungen, die ich heute vorzunehmen gedenke, einen haben werde. Schade nur, daß ich nicht soviel wie fünf Franken zur Förderung dieser Untersuchungen habe. Sie wissen ja, ein Esel, mit Gold beladen, kann die stärkste Festung einnehmen, aber mein Gold liegt schon wohlverwahrt in der Festung, und ich stehe mit leerem Rücken draußen.«

»Was meinen Sie? Denken Sie an das Kasino?«

»Das tut vorläufig nichts zur Sache. Es ist nur eine halbe Idee, die wahrscheinlich zu wahnwitzig ist, um sich verwirklichen zu lassen. Aber seien Sie ohne Sorge! Wir haben ja jedenfalls Ihr Los.«

3.

Es ist nicht gut für den Mann, wenn das Weib allein ist.

Wenn eine junge Dame sich in ihrer Villa langweilt, und was mehr ist, sich mehrere Tage hintereinander langweilt, dann kann sie auf die unmöglichsten Ideen verfallen. Auch ist es in diesem Falle sehr wahrscheinlich, daß diese Ideen und die Handlungen, zu denen sie führen, sich gegen den richten, der schuld daran ist, daß sie sich langweilt. Und wenn nun jemand sich dann einfindet und sie aufheitert, können die Folgen unberechenbar sein; eine Reise von Korfu nach Griechenland ist eine der allerwahrscheinlichsten, vorausgesetzt, daß die betreffende junge Dame in Korfu wohnhaft sein sollte.

Fräulein Mavropoulos war seit einem ganzen Jahre in Korfu wohnhaft und hatte diese Zeit dazu verwendet, dem großen Lotteriedirektor Simonides die Zeit zu vertreiben. Dies war ihr vortrefflich gelungen, denn Fräulein Mavropoulos stammte aus Aspasias Stadt und wurde von sich selbst und anderen dieser Abstammung nicht unwürdig befunden. Sie hatte in einem der halbfranzösischen Operettentheater Athens debütiert, und dank ihres angenehmen Äußeren und der Reise eines Athener Bewunderers nach Paris hatte sie Gelegenheit gehabt, ihre Singstimme in dieser Weltstadt auszubilden. Es mag jedoch sogleich erwähnt werden, daß diese Singstimme die Hoffnungen, die sie daran knüpfte, enttäuschte; und als der Athener Bewunderer ihr nach mißglückten Geschäftsspekulationen anvertraute, daß seine hauptsächlichste Einnahmequelle für den Augenblick besagte Singstimme sei, faßte sie einen resoluten Entschluß und verduftete aus Paris.

Aus welchen Irrfahrten sie schließlich Korfu erreichte, ist unbekannt; die Hauptsache ist, daß, als sie es erreicht hatte, sie endlich eine Freistatt gefunden zu haben glaubte. Ihre reizende Erscheinung, ihr feuriges Temperament und der Pariser Jargon, den sie sich erworben hatte, zwangen sofort den Direktor der autorisierten Lotterie Korfus zu ihren Füßen nieder. Fräulein Mavropoulos bezog eine elegante Villa nicht weit von der seinen, und sie waren beinahe ein ganzes Jahr recht zufrieden miteinander, als gewisse schon angedeutete Wolken an ihrem Himmel aufzusteigen begannen. Simonides zeigte sich ihren Wünschen gegenüber kalt; es kam zu Szenen; und nach der Szene, die zu Anfang dieser Erzählung geschildert wurde, hatte der Lotteriedirektor seine Willensstärke dadurch gezeigt, daß er drei volle Tage ganz und gar aus der eleganten kleinen Villa ausblieb.

Was beweist, daß er klüger in Geschäften als in der Liebe war.

Der erste Tag von Fräulein Mavropoulos' Einsamkeit verlief anfangs unter Zornesausbrüchen, dann in Melancholie. »Der Schurke! Ah, der Schurke! Aber so sind die Männer! Niemals freigebig, immer ohne Verständnis für das, was ein Weib denkt und empfindet ...« Fräulein Mavropoulos saß mit tränenvollen Augen auf ihrem Altan und dachte an ihre Kindheit. Der zweite Tag brach melancholisch an und ging am Nachmittag in wilden Zorn über. »Hahaha! Glaubt er, daß er mich durch sein Ausbleiben einschüchtern wird! Va banque, mein Freund! Du hast die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Und es kann eine teuere Rechnung für dich werden! Warte nur, warte nur, ich werde schon ...!« Hier fand Fräulein Mavropoulos' Entschlossenheit Ablauf darin, daß sie Champagner einkühlen ließ, sich freigebig dekolletierte, Zigaretten rauchte und den ganzen Abend hindurch das Klavier malträtierte. Der Schluß des zweiten Tages war eine Wutkrise im Bett.

Der dritte Tag graute, er graute im roten Zeichen der Wut. Fräulein Mavropoulos aß ihr Frühstück, während sie mit ihren kleinen weißen Zähnen knirschte und die Servietten zu Schneeballen zusammenknüllte. Dann nahm sie mit wilder Entschlossenheit Mantel und Hut, um irgend etwas zu tun, was, war sie noch nicht entschlossen. Sie schlug die Tür ihrer Villa krachend hinter sich zu und ging durch den rosenumbuschten Gartengang auf das Ausgangspförtchen zu, während sie auf ihrem Wege die Rosen grausam mißhandelte.

Sie wollte eben das Gartengitter öffnen, als ihr ein junger Herr zuvorkam, der es von außen aufriß und in den Garten trat. Nachdem er sie einen Augenblick gemustert hatte, zog er artig lächelnd den Hut.

Philipp Collin hatte, ausgesackelt wie er war, an diesem Tage seine Untersuchungen mit geringen Chancen begonnen. Der Gegenstand seines unbestimmten Mißtrauens schien nach jeder neuen Erkundigung immer erhabener über allem Derartigen zu stehen – solide, aus alter Familie, seit mehreren Jahren Inhaber seines Postens. Das klang nicht gerade vielversprechend. Erst später am Tage vertraute ihm vor einem Zeitungskiosk ein französisch sprechender Herr, dessen politische Ansichten mit denen Philipps wunderbar übereinstimmten, diskret lächelnd etwas an, das ihn veranlaßte, sich schleunigst in die Allee zu begeben, an der Fräulein Mavropoulos' Villa lag. Eine Dame! Es war eine Dame im Spiel! Dann war das Spiel noch zu gewinnen – vorausgesetzt, daß die Dame es war ...

Fräulein Mavropoulos konstatierte mit einem geübten intuitiv alles umfassenden Blick, daß der junge Herr vor ihr ein Ausländer war, gut aussah, elegant gekleidet war, ihr gefiel und daß sie ihm Gehör schenken wollte, sogar in ihrer jetzigen Laune.

»Madame!« sagte Philipp.

»Monsieur??« gab sie zurück.

4.

Es war Mittagszeit, als Lavertisse Philipp wiedersah, lächelnd, aber geheimnisvoller denn je. Er amüsierte sich damit, Lavertisse während des ganzen Mittagessens durch seine Schweigsamkeit zu peinigen. Als er endlich den Mund auftat, war es, um zu sagen:

»Nun, was Neues aus England?«

»Nichts, Gott helfe uns! Wie soll das enden? Glauben Sie, daß wir über den heutigen Tag hinaus Kost und Quartier bekommen?«

»Ich weiß nicht. Wir wollen es hoffen. Wir müssen mit Ihrem Los zum Hotelier gehen und ihm erklären, daß der Haupttreffer ...«

»Professor, warum habe ich 20 gute Franken für diesen elenden Fetzen Papier hinausgeworfen ...«

»Nana, lassen Sie es gut sein. Jetzt müssen Sie nur noch um Eines zum Himmel bitten.«

»Was denn?«

»Daß Simonides heute abend im Kasino tüchtiges Pech hat.«

»Aber Herrgott, Sie haben ja nichts, um zu spielen!«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Sind Sie rachsüchtig geworden? Pfui, das finde ich häßlich. Simonides hat uns schließlich ganz ehrlich ausgesackelt.«

»Ja, und ich bin nicht rachsüchtig. Hingegen ist es jemand, dessen Bekanntschaft ich heute vormittag machte, um so mehr. Auf Ehre, eine höchst interessante Bekanntschaft ... Nein, Sie erfahren noch nichts. Aber sowohl meiner neuen Bekanntschaft wie uns zuliebe wünsche ich, daß Simonides heute abend recht ausgiebig verliert. Tut er das nicht, dann ist meine Tagesarbeit vergebens, und meine Nachtarbeit wird überflüssig.«

»Ihre Tagesarbeit! Ihre Nachtarbeit! So erklären Sie sich doch!«

»Nicht früher, bis ich gesehen habe, wie es Simonides ergeht. Kommt es so, wie ich hoffe, dann werden Sie meine Nachtarbeit aus nächster Nähe sehen.«

Das Kasino war schon gesteckt voll, als Lavertisse und Philipp gegen zehn Uhr hinkamen; aber das ganze Interesse war auf den Tisch konzentriert, an dem der schwarzbärtige Lotteriedirektor die Bank hielt. Er war vielleicht eine Ahnung blasser als sonst, aber sein Benehmen und seine Bewegungen waren ebenso beherrscht wie immer, und der Blick seiner Augen war vollkommen klar. Ihm gegenüber saß ein glattrasierter, dicker, lächelnder Herr, der trotz seiner Korpulenz etwas unverkennbar Amerikanisches an sich hatte. Er sah aus wie die Gutmütigkeit selbst und plauderte unaufhörlich mit seinen Nachbarn und einem anderen dicken Herrn mit Monokel im Auge, der hinter seinem Stuhl stand, und seinem Spiel zusah. Simonides hatte eben den Spieler, der vor dem Amerikaner saß, geschlagen, und nun kam dieser an die Reihe. Es standen ungefähr 2000 Franken in der Bank. Der Amerikaner schob ruhig den entsprechenden Betrag hin, ohne seine Karte angesehen zu haben.

»Wünschen Sie zu erhöhen, Mr. Duncan?« fragte Simonides.

»Gerne. Fünftausend.«

»Auf unbesehene Karte?«

»Natürlich.«

»Wie Sie wollen.«

Simonides schlug hastig die oberste Karte auf, um zu überstechen. Philipp konnte sehen, daß seine Augenlider dabei ein klein wenig zitterten. Dann schob er ruhig die Karte seinem Gegenspieler hinüber: es war ein Neuner. Mr. Duncan nickte.

»Sie hatten Glück! Ich hatte nur fünf. Bitte, fünftausend.«

Simonides wandte sich dem nächsten Spieler zu, ohne etwas zu sagen. Eigentlich hätte er das Recht gehabt, die Bank nach dieser Runde aufzugeben, aber als er zum letzten Mann gekommen war, den er auch schlug, gab er ruhig neue Karten. Die Spieler, die vor Mr. Duncan saßen, verloren sämtlich, bis auf einen, der zweitausend Franken gewann. Als die Reihe an den dicken Amerikaner kam, enthielt die Bank vierzigtausend. Mr. Duncan spitzte die Lippen zu einem gedankenvollen Pfiff.

»Bank,« sagte er, nachdem er rasch den Inhalt berechnet hatte.

Zum ersten Male zuckte es merklich in Simonides' Gesicht. Es dauerte zwei oder drei Sekunden, bis er antwortete.

»Auf unbesehene Karte?!«

»Wie Sie sehen.«

Simonides fuhr sich hastig über die Stirne, während die übrigen Spieler wie behext den beständig lächelnden Duncan anstarrten.

Endlich sagte Simonides:

»Wünschen Sie noch Karten?«

Mr. Duncan nahm seine Karte auf, sah sie einen Augenblick an und ließ ein herzliches Lachen ertönen.

»Würden Sie noch welche wünschen, Mr. Simonides?« sagte er. » Damned, das habe ich gut gemacht! Ein König, gleich von Anfang an! Bitte sehr, vierzigtausend!«

Ein dumpfes Gemurmel ging bei seinen Worten durch den Raum. Er war mit einer »totgeborenen« Karte dagesessen und hatte vierzigtausend gesetzt. Lavertisse sah Philipp an, der düster den Kopf schüttelte, während Simonides wieder zum nächsten Spieler überging.

»Wie steht es mit Ihrer Nachtarbeit, Professor?«

»Es sieht aus, als würde sie überflüssig – aber wen die Götter verderben wollen ... Achtzigtausend in der Bank, und er gibt noch einmal!«

Simonides war jetzt zu dem letzten Spieler gekommen und hatte auch diesen geschlagen. Alle waren überzeugt, daß er aufhören würde, aber nach einem Augenblick des Zögerns strich er sich wieder hastig über die Stirne und begann neue Karten auszuteilen. Philipp stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Niemand außer Mr. Duncan kümmerte sich um das Spiel, bis es wieder bei dem dicken Amerikaner angelangt war. Die Bank enthielt nun an hunderttausend Franken. Der Amerikaner machte einen raschen Überschlag über den Inhalt der Bank und sagte dann ohne weiteres:

»Bank!«

Simonides fuhr sich zum dritten Male über die Stirne.

»Gut, wünschen Sie noch Karten?«

Dieses Mal fragte er nicht, ob der Amerikaner zu steigern wünschte. Mr. Duncan nahm seine Karte auf und schob nachdenklich seine vollen Lippen vor.

»Nein,« sagte er dann, »ich habe genug. Schlagen Sie auf!«

Simonides schlug etwas zögernd die oberste Karte auf. Er hatte mit seinem Zögern recht gehabt. Die Karte war ein König. Zum erstenmal kam ein heiserer Laut von den Lippen des Lotteriedirektors, so daß Mr. Duncan einen Augenblick innehielt, bevor er seinen Gewinn einstrich.

»Sie haben recht,« sagte er. »Das macht für Sie eine Differenz von zweimalhunderttausend. Aber es wäre Ihnen schwer gefallen, mich zu schlagen. Ich hatte einen Neuner!«

Simonides antwortete nicht, sondern machte nur eine Bewegung um anzudeuten, daß er auf die Bank verzichte. Der Amerikaner beeilte sich, sich als Reflektanten anzumelden, und bekam sie. Das Spiel wurde wieder aufgenommen, mit vertauschten Rollen, nur nicht was das Glück betraf – das folgte Duncan treu wie eine Sklavin. Es wurde zwei Uhr, bevor Simonides das Spiel aufgab. Um diese Zeit waren der Amerikaner und er so gut wie die einzigen Spieler im Kasino; alle anderen waren mehr oder weniger Zuschauer des Duells geworden. Der Amerikaner schüttelte Simonides die Hand, dieser murmelte etwas von Kopfschmerzen und verschwand.

»Einmalhundertvierundzwanzigtausend!« flüsterte Philipp Lavertisse zu. »Bei Gott, ein schönes Sümmchen! Jetzt fängt unser Spiel an. Kommen Sie!«

Er eilte im Laufmarsch voran, die abschüssigen Alleen hinunter, wo die elektrischen Lampen jetzt nur die Palmen und Mimosen beleuchteten. Unmittelbar vor dem Marktplatz bog er in eine Nebengasse ein, die ihn und Lavertisse auf einem Umweg in die Nähe des Lotteriepavillons führte. Philipp versteckte sich in einem Gebüsch des Palmenhains hinter dem Pavillon und gab Lavertisse einen Wink, es ebenso zu machen. Der Platz lag vollkommen öde und leer da. Die Kaufläden und Cafés in den Arkaden waren schon längst geschlossen, kein Laut war zu hören, nur das metallische Rasseln der schweren Palmblätter. Der Pavillon erstrahlte wie gewöhnlich in elektrischem Lichte, und die vollen Füllhörner funkelten von Gold.

»Sie haben hier elektrische Alarmapparate, die zur Polizeistation und Simonides' Wohnung gehen,« flüsterte Philipp Lavertisse zu. »Ich bin neugierig, zu sehen, wie er sich diesbezüglich verhalten wird – richtiger, wie er sich diesbezüglich zu verhalten pflegt.«

»Wer? Was?«

»Pst! Da ist er! Nein, ich habe mich geirrt. Das ist der Wächter des Gesetzes, nicht der Übertreter.«

Ein uniformierter Polizeikonstabler tauchte eben aus den Schatten auf der anderen Seite des Platzes auf. Mit den Händen auf dem Rücken kreuzte er langsam und nachdenklich über den offenen Platz zum Pavillon hinüber, vor dessen blinkenden Fenstern er stehenblieb. Die Zeit verging; er gähnte vier- oder fünfmal und legte den Kopf schräg, um den Anblick des Goldes in den Füllhörnern noch besser zu genießen. Hie und da hörte man seine Absätze auf der hartgepreßten Kiesbeschotterung knirschen. Plötzlich ertönte ein anderer Laut.

Ein Auto war leise wie eine Katze aus der Mündung einer der vier Hauptalleen geglitten, die auf dem Platze zusammenstrahlten. Es war schwarz, mit einer einzigen blendenden Laterne vorne. Es glitt zum Pavillon hin und hielt lautlos hinter dem Schutzmann, der erstaunt zusammenzuckte, als der Lenker des Autos ihn plötzlich ansprach. Im nächsten Augenblick war seine Hand am Helmrand, und er stieß einen erstaunten Ruf aus. Der Mann an der Steuerung erwiderte seinen Gruß, stieg aus dem Auto und war jetzt im Lichte des Pavillons deutlich sichtbar. Lavertisse zuckte zusammen. Es war der schwarzbärtige Lotteriedirektor.

Dieser wechselte mit dem Schutzmann einige Worte und steckte ihm eine Goldmünze zu, worauf dieser ehrfurchtsvoll salutierte. Weder Philipp noch Lavertisse verstanden, was Simonides sagte. Der Konstabler verschwand mit eiligen Schritten; Simonides zog eine Uhr hervor und blieb damit in der Hand stehen. Nach zehn Minuten steckte er die Uhr wieder ein, zog einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das Schloß der Pavillontür. Die Tür ging auf, Simonides verschwand durch dieselbe und war für einen Augenblick unsichtbar. Dann öffnete sich das schwere in den Pavillon hineingehende Gitter eines der Fenster, und im Lichte der elektrischen Lampen zeigte sich sein wachsbleiches Gesicht mit dem schwarzen Barte. Lavertisse starrte es wie verhext an und konnte sich den Sinn des Ganzen nicht erklären. Plötzlich hatte er des Rätsels Lösung.

Der schwarzbärtige Direktor hatte zwei große Handtaschen auf das Fenster gestellt; jetzt ergriff er das Füllhorn, das da stand und leerte ohne zu zögern seinen ganzen Inhalt in eine der Handtaschen. Aus der anderen nahm er einige Handvoll Baumwolle, steckte sie in das vergoldete Horn und legte drei bis vier Schichten Goldmünzen obenauf. Dann stellte er das Horn auf seinen Platz zurück, verschwand mit den Handtaschen hinter dem Gitter und tauchte beim nächsten Fenster wieder auf. Das Ganze hatte kaum mehr als eine Minute gedauert. Ein Schluchzen entrang sich Lavertisses Kehle:

»Mein Treffer! Mein Treffer! Ah, der Bandit! Ja, gedenkt denn der Kerl alle Hörner auszuplündern?«

Philipp beschwichtigte seinen Freund durch eine Handbewegung. Herr Simonides beantwortete Lavertisses Frage sofort, indem er seine Prozedur bei den übrigen fünf Fenstern wiederholte. Kaum zehn Minuten, nachdem er den Pavillon betreten hatte, kam er wieder mit seinen Handtaschen heraus, die er im Auto unterbrachte. Er versperrte die Türe des Pavillons, steckte sich eine Zigarette an und begann gemächlich neben dem Auto auf und ab zu spazieren. Nach zwei oder drei Minuten tauchte der Schutzmann, den er vorhin fortgeschickt hatte, wieder auf; er wechselte einige Worte mit ihm, er salutierte und nahm mit untertänigem Grinsen eine neue Goldmünze in Empfang, woraus Herr Simonides sich wieder an den Volant setzte. Das schwarze Auto glitt über den Platz; Philipp nahm Lavertisse beim Arm und zog ihn im Eilmarsch denselben Weg zurück, den sie gekommen waren, und von dort noch immer im Eilmarsch nach einem anderen Stadtteil.

»System Potemkin!« rief er. »Sie haben doch verstanden, was er dem Schutzmann gesagt hat?«

»Nein, so wahr mir Gott helfe. Ich verstehe nicht neugriechisch, und ich wußte nicht, daß Sie es können.«

»Tue ich ja nicht. Aber das ist auch wahrhaftig nicht nötig. Zuerst schickte er den Konstabler in die Polizeistation, um zu melden, daß er im Pavillon etwas zu tun habe, und sie sich nicht wundern sollten, wenn sie das Alarmsignal der elektrischen Apparate hörten. Dann wartete er hier, um dem Konstabler zu sagen, daß er jetzt fortgehe und die Alarmsignale wieder ernst genommen werden müßten.«

»Als ob noch Alarmsignale nötig wären! Ah, dieser Räuber! Mein Treffer, mein schöner Treffer!«

»Machen Sie sich keine Sorgen darüber! Jetzt sind wir am Ziele!«

Sie standen vor einer kleinen, aber kostspielig ausgestatteten Villa in einer Vorstadt. Eine Furche im Kies zeigte, daß ein Auto eben vorgefahren war. Im Handumdrehen hatte Philipp das Gittertor geöffnet und war eingetreten. Lavertisse hinter ihm drein. Zur Haustüre gekommen, fanden sie diese offen. Ohne zu zögern, ging Philipp voran, in ein Zimmer im oberen Stockwerk, und auf dessen Schwelle standen sie plötzlich Angesicht gen Angesicht keinem anderen gegenüber als Herrn Simonides selbst, der offenbar auf dem Wege hinunter war, um die Haustüre zu schließen. Als er Philipp und seinen Freund erblickte, wurde er zuerst leichenblaß, dann stieß er einen schrillen Schrei aus.

»Was tun Sie hier?«

»Dasselbe, was Sie eben taten, Herr Simonides, einbrechen. Nur mit dem Unterschiede, daß wir keine Alarmsignale zu befürchten haben. Haben Sie etwas gegen eine Unterredung von fünf Minuten?«

Der schwarzbärtige Lotteriedirektor stieß wieder ein heiseres Geheul aus und war im Handumdrehen bei einem Telephonapparat.

»Unterredung!« rief er. »Sie werden sofort eine Unterredung von fünf Minuten mit der Polizei haben.«

Er gab ein wütendes Signal und hob den Hörer des Apparates ab.

»Scharmant,« sagte Philipp und nahm auf einem Fauteuil Platz. »Wollen Sie nicht vielleicht bei der Polizei beantragen, daß ich und mein Freund von dem Schutzmann arretiert werden, den Sie eben nach der Station schickten, während Sie im Pavillon beschäftigt waren? Das würde mir ein Vergnügen bereiten, das Sie mir sicherlich nicht mißgönnen werden.«

Simonides blieb mit dem Hörer in der Hand stehen ohne zu telephonieren. Er war leichenblaß.

»Sie – Sie – Sie Teufel,« zischte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie gottverdammter Spion!«

»Meinetwegen Spion,« sagte Philipp. »Sie, Herr Simonides, sind ein unglücklicher Spieler, und das erfüllt mich mit einem gewissen Mitgefühl für Sie. Ich weiß selbst, wie es ist, mit Pech zu spielen. Außerdem sind Sie ein kaltblütiger Verbrecher, da Sie es heute zum vierten Male wagen, ein hellbeleuchtetes Lokal auszuplündern. Legen Sie den Hörer nieder, bevor Sie ihn zerquetscht haben, und plaudern wir fünf Minuten miteinander, ich bin sicher, daß wir uns schon einigen werden. Abgemacht? Also bitte, nehmen Sie Platz!«

Simonides sank in einen Klubfauteuil, den Blick starr auf Philipp gerichtet. Philipp nahm eine Zigarette aus einer silbernen Schale, die auf dem Rauchtischchen neben seinem Sessel stand, setzte sie in Brand und fuhr fort:

»Sie hatten ganz recht, wenn Sie mich einen Spion nannten, Herr Simonides. Ich bin heute den ganzen Vormittag Ihren Angelegenheiten nachgegangen, und trotz des kläglichen Zustandes meiner Kasse gelang es mir, dank jener Neigung, die manche Frauen instinktiv für mich empfinden, ein paar Dinge über Sie in Erfahrung zu bringen, die das Interesse, welches ich schon von Anfang an für Sie hegte, noch gesteigert haben. Erstlich, daß Sie erst diesen Herbst begonnen haben, im Kasino zu spielen. Bis dahin kamen die Treffer Ihrer Lotterie bald hier bald dort heraus und ein angemessener Prozentsatz hier in Korfu. Zweitens, daß Sie im Oktober vom Spielteufel gepackt wurden und daß Sie nachweisbar in der Zeit, bis ich hierherkam, 300 000 Franken verloren haben. In dieser Zeit fanden drei Ziehungen Ihrer Lotterie statt, und alle die großen Treffer fielen auf Menschen in ferne gelegenen Ländern, während sich die Einwohner Korfus plötzlich nicht ganz grundlos vom hartnäckigsten Pech verfolgt glaubten. Was die Namen dieser Gewinner betrifft, vermute ich, daß eine lebhafte Phantasie und ein alter Geschäftskalender für sie gesorgt haben.«

»Sie lügen,« schrie Simonides. »Sie lügen.«

»In zwei Tagen haben Sie eine Ziehung Ihrer Lotterie. Ich setze voraus, daß Sie in Ihrer Güte dem seligen Herrn R. Schulze in Dresden noch eine angenehme Überraschung über das Grab hinaus zugedacht haben – er ist nämlich vor zehn Monaten gestorben, lieber Herr Simonides – und ihn wieder den Haupttreffer gewinnen lassen wollten. Wie Sie das anstellen, geht mich nichts an. Alles, was ich wünsche, ist, daß Sie anstatt dessen einen meiner Bekannten zum Gegenstande Ihrer Liebenswürdigkeit machen. Es ist dies um so gerechter, als er sich ehrlich ein Los für Ihre Lotterie gekauft hat.«

»Und das sind natürlich Sie selber,« pfauchte Simonides heiser.

»Gewiß nicht, lieber Freund. Sie dürfen mich nicht für einen Egoisten halten. Es ist mein Freund, Herr Lavertisse, hier. Zeigen Sie doch Ihr Los, das Sie in den letzten Tagen so sehr unterschätzt haben, Lavertisse! Lieber Simonides, wenn Sie mir garantieren, daß das Los 14 760 mit dem Haupttreffer gezogen wird, dann ist mein Gewissen beruhigt, und wir können dieses Gespräch jederzeit beenden, sowie Sie den Betrag im Vorhinein ausgezahlt haben. Es geht nämlich morgen in aller Frühe ein Schiff von hier nach Griechenland, und ich kann mich der Befürchtung nicht entschlagen, daß Sie auf die Idee verfallen könnten, es zu benützen, und darüber die übermorgige Ziehung zu vergessen.«

Der Lotteriedirektor starrte Philipp mit Augen an, die wie glühende Kohlen brannten. Seine Finger öffneten und schlossen sich mechanisch wie in dem Drange, Philipps Kehle zu umklammern, und seine gefletschten Zähne leuchteten hinter dem Bart.

»Die Sache ist nämlich die,« fügte Philipp in erklärendem Tone hinzu, »daß Griechenland keine Auslieferungstraktate hat. Glauben Sie mir, Simonides, das ist absolut das einzige, was Sie tun können.«

»Sie Satan – Sie Satan! Sie können nicht ein Wort von dem, was Sie sagen, beweisen!«

»Lieber Simonides, Ihre Gemütsverfassung macht Sie gegen Tatsachen blind. Ich und mein Freund waren Augenzeugen, wie Sie den Pavillon ausleerten. Außerdem spricht der Pavillon selbst deutlich genug. Und wir verlangen ja nur, was uns als Loskäufern rechtmäßig zukommt, nichts anderes. Den Überschuß aus den Füllhörnern können Sie für Ihre eigene Rechnung behalten. Und wer weiß? Vielleicht haben Sie morgen im Kasino Glück.«

Der Lotteriedirektor starrte Philipp noch immer an, bis ihm plötzlich eine Idee kam und er mit einem erstickten Wutschrei aus seinem Fauteuil aufsprang.

»Sie sagten, daß eine Frau geplaudert hat ... ist es ... ist es ... es ist doch nicht ... Marie ... Marie Mavropoulos!«

»Sie haben sich verhört, und ich muß Sie bitten, bei der Sache zu bleiben. Wollen Sie den Treffer meines Freundes ausbezahlen?«

»Marie! Ah! Dafür wirst du mir büßen! Es soll ...«

»Simonides! Ich ersuche Sie auf das Nachdrücklichste, alle Drohungen, gegen wen es auch sei, zu unterlassen. Sie sind nicht mehr in der Lage, zu drohen.«

»Marie ... Marie, du Verräterin, das wirst du nicht überleben, das gelobe – –«

»Zum letzten Male, Simonides, alle Drohungen schaden Ihnen nur. Ich garantiere Ihnen – und ich hoffe, Sie verstehen, daß das aus meinem Munde etwas bedeutet? ... daß ich schon Vorsorge getroffen habe ... hm ... den Gegenstand Ihrer Drohungen für Sie unerreichbar zu machen. Wollen Sie also unsere Verrechnung sofort regeln? Es ist fast vier Uhr, und ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.«

Vierzig Minuten später gingen die späten Gäste des schwarzbärtigen Lotteriedirektors die Allee, an der er wohnte, hinunter. Lavertisse trug eine der beiden Handtaschen, die ihr Gastgeber bei seinem abendlichen Besuch im Pavillon bei sich gehabt hatte. Sie war schwer, aber schien ihn nicht zu belästigen. Philipp hatte den Hut in den Nacken geschoben und paffte befriedigt an einer von Herrn Simonides' Zigaretten.

»Jetzt haben wir doch genug, um die Rechnung im Hotel zu begleichen und anständige Trinkgelder zu geben, Lavertisse. Sie sehen, Sie haben sich in dieser Sache ganz unnötige Sorgen gemacht. Aber dann glaube ich, nehmen wir diesen Dampfer nach Griechenland, und wie Sie sich denken können, werden wir Damengesellschaft haben – nicht gerade Nausikaa, aber immerhin! Weiß Gott, wie unliebenswürdig die Richter in Korfu sich zeigen könnten, wenn Simonides auf die Idee käme, uns anzuzeigen und ihnen den zweithöchsten Treffer im voraus zu bezahlen.«

»Er sah wirklich aus, als hätte er nicht übel Lust dazu, Professor. Aber ich glaube, er hat Respekt vor Ihnen bekommen. Sie sind ein Teufelskerl!«

»Lieber Lavertisse, ich kann nicht finden, daß ich mehr getan habe als meine einfache Pflicht und Schuldigkeit. Ich habe Ihnen, als Sie das Los kauften, versprochen, daß Sie den Haupttreffer gewinnen würden. Und wenn ich in irgend etwas pedantisch bin, so ist es darin, immer Wort zu halten.«


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