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Zweites Kapitel
Herr Collin und das Frauenstimmrecht

1.

»Ah, Lavertisse! Waldeinsamkeit! Hier ist unsere Freistatt! Hier wollen wir ausruhen, ferne von Geschäften und gleich den ersten Sterblichen, die von den Vätern ererbte Scholle mit eigenen Ochsen beackern. Auf jeden Fall können wir wohl einige Dutzend Fasane schießen. Glauben Sie, daß Kenyon hierher findet?«

»In einem Tage schon sicher nicht, Professor.«

Herr Collin und sein Freund standen auf der Treppe des Stationsgebäudes in Roxwell, Hampshire, nicht weit von Portsmouth, und der Anblick, der sich ihnen bot, hatte die oben erwähnten Sentenzen veranlaßt. Ein Spätnovembertag versank golden zwischen den halbentlaubten Baumkronen vor ihnen, der Abendhimmel wölbte sich wie ein leuchtend grünes Seidenzelt über dem Wald, dessen Zweige und welke Blätter schwarze gotische Muster hineinzeichneten. Es duftete von den feuchten Feldern, zwischen denen die Eisenbahn sich nach Horndean schlängelte. Aus dem Wald hörte man hie und da den Schrei und die raschen, schmetternden Flügelschläge eines Fasans, der aufflog. Sonst war alles friedlich wie in Arkadien.

Herr Collin schöpfte tief Atem, seine Blicke versanken in den opalschimmernden Abendhimmel, und er sagte:

»Das ist also Roxwell ... Jetzt gilt es, uns eine Unterkunft zu verschaffen, Lavertisse. Fragen wir vor allem einmal den Stationsinspektor. Er wird uns wohl Bescheid geben können – hier haben wir übrigens schon den Ehrenmann.«

Ein etwa sechzigjähriger Mann mit weißem Schnurrbart, die Sportmütze auf dem Kopfe und eine Pfeife in einem Mundwinkel, kam gerade aus dem Teil des Stationsgebäudes, der mit »Privat« bezeichnet war. Er hatte ein freundliches, rosiges Gesicht, das einen um hundert Jahre zurückversetzte – in die Zeit, wo die Herren Pickwick, Snodgraß und Konsorten nach dem Mittagessen einige Sekunden lang Portwein tranken, während Mr. Sam Weller in der Wirtshausküche dem Bierkrug und den Mägden huldigte. Als der Stationsinspektor Herrn Collin und Mr. Lavertisse erblickte, huschte ein wohlwollendes Lächeln über seine Züge, und er nahm die Pfeife aus dem Mund.

»Nun, Gentlemen! Die Hoteladresse?«

Philipp grüßte lächelnd.

»Hotel, nun ja, auf jeden Fall irgendeines Hauses, wo mein Freund und ich wohnen können. Große Ansprüche stellen wir nicht.«

»Und ein Hotel haben wir nicht auf sieben Meilen im Umkreis, Sir! Ein Wirtshaus ist unten im Dorf, natürlich.«

»Wo liegt das Dorf?«

»Zwei Minuten von hier, den Weg hinunter. Darf ich fragen, gedenken die Herren, lange hier zu bleiben?«

»Hm, das hängt davon ab, ob wir irgendeine Unterkunft finden können, die uns behagt. Wie ist denn das Wirtshaus?«

»Je nun – es war besser, als es ist. Sie haben Gewehre mit? Sie gedenken zu jagen?«

»Wenn wir etwas finden können, ja. Sie empfehlen also das Wirtshaus nicht?«

Der alte Gentleman mit der Sportmütze sah Herrn Collin einen Augenblick gedankenvoll an. Dann rief er:

» By Jove! Ich glaube, ich weiß etwas für Sie! Haha! ... Hören Sie!«

»Wir sind ganz Ohr.«

»Sie sehen die Türme des Schlosses dort drüben über den Baumwipfeln? Roxwell Manor heißt es und gehört Lord Randolphe Mickleham. Seine Lordschaft wohnt in London und auf dem Kontinent und kommt nie her, nicht einmal in der Fasanenzeit. Aber er hat einen Verwalter, der das Schloß in Ordnung hält, Edward Shonts, der in einem Hause an der Auffahrt wohnt. Dort, das wäre etwas für Sie, glaube ich!«

»So? Nimmt Mr. Shonts Fremde auf?«

»Es kommen nicht viel Fremde her, aber ich glaube schon, daß er Sie aufnehmen würde. Er hat mehr Zimmer, als er braucht, und er wohnt sehr komfortabel. Jagen können Sie sicherlich – er hat so viele Fasanen zu schießen, daß er selbst nicht damit fertig werden kann, und die Bauern beklagen sich immer über die verdammten Vögel.«

»Scharmant! Und Mr. Shonts selbst, und seine Küche?«

Der Stationsinspektor schmunzelte in seinen weißen Schnurrbart.

»Mr. Shonts selbst und Mr. Shonts Küche,« wiederholte er. »Haha. Entschuldigen Sie, daß ich lache! Aber Mr. Shonts Küche ist genau so, wie Sie sie haben wollen.«

»Immer besser!«

»Ja, wenn Sie sich bei ihm in Respekt zu setzen wissen! Ich sage nichts Böses über meinen Nächsten hinter seinem Rücken, aber ... Ja, wenn Sie sich bei Mr. Shonts in Respekt setzen können, werden Sie ausgezeichnet essen.«

»Hm, das klingt ja ganz mysteriös und lockend. Ist Mr. Shonts ein Junggeselle?«

»Ja, Junggeselle und hat so seine Eigenheiten. Ich rate Ihnen gar nichts, aber wenn Sie sich nur ...«

» All right. Wir wollen es mit dem Respekt versuchen. Und wie gelangt man zu Mr. Shonts Behausung?«

»Die Landstraße hinunter und dann den ersten Weg rechts. Sie sehen die ganze Zeit die Türme des Schlosses vor sich. Mr. Shonts hat einen Wagen und kann Ihre Sachen holen lassen ... Hallo, Gertie, bist du wieder zurück, mein Kind?«

Philipp drehte sich um. Ein schlankes junges Mädchen von zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren war bis an die Treppe des Stationshauses gekommen, ohne daß er es gehört hatte. Sie trug ein kurzes graubraunes Sportkleid, ihr Gesicht war frisch und energisch, mit klaren grauen Augen. Unter dem kurzen Rock sah Philipp ihre Füße, die von ganz anderem Format waren, als die ausländischen Witzblätter der Engländerin bewilligen, und zwei Knöchel, die er entzückend fand.

»Im Dorf gewesen, Gertie?« fragte der alte Stationsinspektor.

»Ja, Papa, unten bei Mrs. Dobbs. Es geht ihr wieder schlechter, und sie hat noch nicht ein Wort von dem Mann gehört. Es ist gräßlich. Die Männer sind ...«

»Nun, nun, Gertie! Vergiß Mrs. Dobbs einstweilen. Hier siehst du zwei Herren, die eine Zeitlang in Roxwell zubringen wollen. Ich habe ihnen eben Mr. Shonts empfohlen.«

Philipp und Mr. Lavertisse zogen den Hut vor der jungen Dame, die sie musterte und ausrief:

»Sie wollen bei Mr. Shonts wohnen?«

»Ja – Ihr Vater war eben so liebenswürdig, für uns einen Ort ausfindig zu machen, wo wir bleiben können, und er glaubt, daß wir bei Mr. Shonts gut aufgehoben wären.«

»Hm! Hat Papa Ihnen nicht gesagt ...«

»Daß wir uns in Respekt setzen müssen? Doch, Ihr Herr Vater hat uns das klargemacht. Das werden wir doch noch zustande bringen.«

Sie schnitt eine kleine Grimasse.

»Dann sind Sie der erste, der das zustande bringt. Mr. Shonts ist ein ...«

»Aber, Gertie, mein Kind!« unterbrach der Stationsinspektor wieder. »Laß doch die Herren selbst sehen, wie ihnen Mr. Shonts gefällt. Ich glaube, ich habe genug gesagt, damit sie wissen, wie sie sich zu verhalten haben.«

»Ganz genug, und wir sind Ihnen sehr verbunden. Von wem dürfen wir Mr. Shonts grüßen, wenn er fragen sollte, wie wir auf die Idee verfallen sind, ihn aufzusuchen? Mein Name ist Professor Pelotard, und dies ist mein Freund, Mr. Lavertisse.«

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Fielder, und ich bin hier Stationsinspektor.«

»Vortrefflich! Besten Dank und guten Abend, Mr. Fielder. Guten Abend, Miß Fielder. Wenn Mr. Shonts entgegenkommend ist, sehen Sie uns heute nicht mehr – aber ein andermal, hoffe ich.«

Philipp und Lavertisse nahmen Abschied von dem freundlichen Stationsinspektor und seiner schönen Tochter und gingen den Weg in der Richtung, die Mr. Fielder bezeichnet hatte, weiter. Es hatte schon zu dunkeln begonnen, und ein schwarzblauer Nebel schwebte zwischen den Baumstämmen im Walde.

Nach ein paar Minuten führte der Weg sie in das Dorf Roxwell, das etwa ein Schock kleiner Häuschen in billigem Villenstil und ein offenbar modernisiertes altes Wirtshaus aufwies. Sie passierten eine kleine, efeuüberwachsene Kirche und verließen dann wieder die gepflasterte Dorfstraße, gefolgt von Dutzenden Augen aus Fenstern und Erkern. Gerade vor ihnen fing der Wald wieder an, und über den Baumwipfeln erhoben sich die zwei Türme, die sie schon von der Station aus gesehen hatten. Plötzlich tauchte rechter Hand eine Allee auf, und gleich an ihrem Anfang sahen sie ein zweistöckiges Haus mit ein paar Wirtschaftsschuppen dahinter.

»Hier muß es sein, Lavertisse, wenn ich mich nicht sehr irre.«

Wie um jeden Zweifel auszuschließen, öffnete sich im selben Augenblick die Eingangstüre des Hauses, und ein ältlicher Mann erschien auf der Schwelle. Als er Philipp und Lavertisse erblickte, blieb er in abwartender Haltung stehen und maß sie mit den Blicken. Er war klein, vom Foxterrier-Typus und hatte ein sommersprossiges, bartloses Gesicht unter einem buschigen roten Haarschopf, der wie eine Kerzenflamme emporzüngelte. Philipp zog den Hut:

»Mr. Shonts?«

»Ja, was wollen Sie?«

»Einen Augenblick mit Ihnen sprechen, wenn Sie nicht beschäftigt sind. Wir sind mit einer Empfehlung von Mr. Fielder hergeschickt worden.«

»Mr. Fielder?«

»Ja. Das heißt (Philipp hatte eine Inspiration) wir können Ihnen auch einen Gruß von Miß Fielder bringen.«

Mr. Shonts verzerrte sein Gesicht zu der wunderlichen Travestie eines Lächelns.

»Nun?« sagte er.

»Wir – mein Freund und ich – dachten, Sie zu fragen, ob Sie uns für einige Zeit Wohnung und Verköstigung geben wollen, Mr. Shonts?«

»Ich? Die Zeiten sind wahrhaftig so, daß man froh sein muß, wenn man für keine Kinder zu sorgen hat, geschweige – – –«

»Einen Augenblick! Die Zeiten sind schrecklich, wie Sie so richtig bemerken. Schrecklich! Aber wir haben Gott sei Dank ein bißchen Kleingeld übrig (Philipp musterte sein Gegenüber) und wir haben uns in die Gegend hier verliebt. Miß Fielder glaubte, daß Sie, bei Ihrer bekannten Liebenswürdigkeit – nun ja, sie hat sich vielleicht geirrt. Wir müssen wieder umkehren, Lavertisse.«

»Warten Sie!« Der rothaarige Mr. Shonts war einen Schritt näher getreten, und sein Gesicht hatte einen neuen Ausdruck. »So haben Sie es doch nicht so eilig! Hat Miß Fielder das von mir gesagt? ... Nun, und was wollen Sie für Kost und Wohnung bezahlen? Lassen Sie mich hören, Gentlemen. Die Zeiten sind ...«

»Schrecklich, Mr. Shonts, schrecklicher als seit Menschengedenken. Sagen wir zwei Pfund die Woche für jeden von uns, oder zweieinhalb, je nach der ...«

»Kommen Sie herein, Sir! Sprechen wir miteinander!« Mr. Shonts riß die Türe zu seinem Haus sperrangelweit auf und trat vor seinen Gästen ein. Sein rotes Toupet leuchtete in der Vorhalle wie die Kapuze eines Heinzelmännchens. Philipp und Lavertisse traten ein, während Philipp Monsieur Lavertisse ins Ohr flüsterte:

»Die Psychologie unseres Freundes Shonts scheint recht einfacher Natur zu sein! Wir haben schon herausgefunden, wie man es anstellt, sich bei ihm in Respekt zu setzen.«

Mr. Shonts' Haus überraschte Philipp aufs äußerste. Durch die Vorhalle, die mehr an ein Schloß als an ein Verwalterhaus erinnerte und von Jagdtrophäen strotzte, kamen sie in ein Herrenzimmer, mit altväterischem, aber gediegenem Geschmack möbliert. Die Wände waren ganz durch Bücherregale verdeckt, und ein mächtiger Schreibtisch stand im Fenster. Mr. Shonts winkte seinen Gästen, Platz zu nehmen und sah sie herausfordernd an:

»Mein Arbeitszimmer,« sagte er.

Philipp nickte anerkennend.

»Sie haben es mit Geschmack möbliert, Mr. Shonts, das muß ich sagen. Sind die anderen Zimmer des Hauses ebenso, dann gratuliere ich Ihnen – und uns.«

»Sie werden sie sogleich sehen,« sagte Mr. Shonts mit Würde. »Sie wollen also zweieinhalb Pfund die Woche pro Person bezahlen?«

»Ja. Einigen wir uns nur ein wenig über die Details. Wie ist es? Haben Sie nicht sehr viel Fasanen auf dem Gut?«

Eine halbe Stunde später fuhr ein Wagen zur Station, um Philipps und Lavertisses Sachen in Mr. Shonts' Haus zu bringen. Es hatte sich gezeigt, daß Mr. Shonts' übrige Zimmer dem Arbeitszimmer entsprachen, und Philipp hatte sich beeilt, zuzugreifen, das Herz voll Entzücken über den glücklichen Zufall. Das letzte, was er zu Mr. Shonts sagte, war:

»Was das Essen betrifft, Mr. Shonts, so halten mein Freund und ich etwas auf gute Küche. Meinethalben einfach, aber gut. Es ist also abgemacht, daß wir das bekommen, wenn wir soviel bezahlen?«

»Ja, ja, gewiß ... aber es ist nur das ... die Zeiten sind ...«

»Schrecklich, Mr. Shonts. Darüber haben wir uns schon geeinigt. Nichtsdestoweniger ist das mit der Küche eine unumgängliche Bedingung dafür, daß wir bleiben.« (Philipp sah Mr. Shonts fest in die Augen, und dabei kam ihm eine kleine Idee) »... und jedesmal, wenn wir zufrieden waren, laden wir Sie zur nächsten Mahlzeit ein!«

Mr. Shonts grinste über sein ganzes sommersprossiges Gesicht und verbeugte sich linkisch, worauf Philipp und Lavertisse ihn verließen, um einen kleinen Spaziergang durch den Wald zu machen, während das Abendbrot bereitet wurde.

Kaum waren sie außer Hörweite von Mr. Shonts' Hause, als Lavertisse Philipp beim Arm packte.

»Nein, wissen Sie, Professor, das ist ja unglaublich, wie luxuriös dieser Shonts eingerichtet ist!«

»Er hat ja die Möbel von seinem Vater geerbt, wie Sie gehört haben.«

»Aber trotzdem! Er ist doch so geizig – daß er sie nicht verkauft hat!«

»Hm. Das geht uns nichts an. Die Hauptsache ist, daß wir hier ein entzückendes Buen Retiro gefunden haben. Haben Sie gehört, es ist nur eine halbe Stunde durch den Wald zum Meer hinunter? Wir sind in Arkadien, Lavertisse, glauben Sie mir. Und nun wollen wir sehen, wie es um die berühmten Tugenden der Arkadier bestellt ist.«

2.

»Ach, guten Tag, Miß Fielder! Das ist wirklich nett! Wie geht es Ihnen?«

»Danke. Wie geht es Ihnen bei Mr. Shonts?«

»Ausgezeichnet. Es ist uns gelungen, uns in vollkommenen Respekt zu setzen. Es hat fünf Pfund die Woche gekostet und eine Berufung auf Sie.«

»Auf mich!«

Miß Gertie Fielder richtete ihre schlanke Gestalt auf und betrachtete Herrn Collin mit erstaunten Blicken. Sie hatten sich an dem Tage nach Herrn Collins und Lavertisses Ankunft, einem sanften Spätherbsttag mit mildem Sonnenschein, frühmorgens am Waldessaum getroffen.

»Eine Berufung auf mich! Ich verstehe nicht, wie Sie das meinen.«

»Ich will gerne glauben, daß Sie das nicht verstehen, Miß Fielder, aber ich versichere Ihnen nichtsdestoweniger, daß es nur Ihres Namens bedurfte, um Mr. Shonts zu bezwingen. Sowie ich erwähnte, daß Sie anwesend waren, als Ihr Vater uns zu ihm schickte, schmolz sein Herz. Es war das Sesam, das uns die Türe zu seinem Hause öffnete – nebst der Aussicht, fünf Pfund die Woche einzustreichen.«

Miß Fielder sah Philipp noch immer an.

»Ich muß wirklich sagen, daß ...«

»Was denn?«

»Daß Sie sich auch ohne viel Federlesens häuslich einzurichten wissen.«

»Sie finden mich unbescheiden, Miß Fielder? Es ist möglich, daß Sie recht haben. In diesem Falle bitte ich allerergebenst um Entschuldigung. Wenn ich nicht derart von Roxwell bezaubert wäre, würde ich augenblicklich in die Verbannung gehen, um meine Schuld zu sühnen.«

Sie lächelte.

»Ich dächte, es müßte die Verbannung für Sie sein, in Roxwell zu bleiben. Aber ja richtig, Sie haben sich ja in Mr. Shonts verliebt.«

»Miß Fielder, Sie tun mir wirklich unrecht. Roxwell und nicht Mr. Shonts hat mich gefesselt. Aber ich gebe zu, daß Mr. Shonts mich in mehr als einer Weise interessiert.«

»Ich bedaure, von mir nicht dasselbe sagen zu können.«

»Sie haben kein Interesse für psychologische Studien, Miß Fielder? Ich schon.«

»Oh, ich auch, aber Mr. Shonts' Psychologie interessiert mich nicht. Die ist mir zu einfach.«

»Ach, Miß Fielder, gerade die einfachsten psychologischen Phänomene sind oft die allerinteressantesten. Ich habe nun immer Menschen mit einfachen und starken Trieben geliebt.«

»Pfui!« Sie machte einen Schritt zurück und blickte Philipp an, die grauen Augen voll Widerwillen. – »Einfache und starke Triebe! So typisch für die Männer!« –

»Danke sehr.«

»Sie brauchen gar nicht zu danken. Solche Leute wie Sie – Ihr Geschlecht überhaupt – hält alle Entwicklung für uns auf. Brutalität und Habsucht und derlei, das sind wohl die einfachen, starken Triebe, die Sie lieben? Aber warten Sie nur, es werden schon andere Zeiten kommen – und zwar bald!«

Sie hatte sich warm gesprochen und sah Philipp und Lavertisse mit blitzenden Augen an. Dabei streckte sie die eine Hand aus, wie um ihren Worten noch größeren Nachdruck zu geben. Philipp bemerkte, daß sie ein Paket kleiner Schriften darin hatte. Eine Ahnung durchzuckte Philipp, er faßte rasch nach der kleinen Hand, um zu sehen, was es war, das sie hielt. Frauen, organisiert euch! las er und ließ Miß Fielders Hand wieder los.

»Sieh da, eine kleine Suffragette!«

Sie hatte ihn ganz sprachlos angestarrt, während er seine Untersuchung vornahm. Jetzt richtete sie sich empor, und indem sie Philipp vom Scheitel bis zur Sohle mit vernichtenden Blicken maß, sagte sie:

»Suffragette! Das ist natürlich das einzige, was Sie von der größten Bewegung, die es je auf Erden gegeben hat, wissen! Ein Spitzname, und die Sache ist abgetan. Ich bin Suffragette, wie Sie so artig sagen – und ich muß wirklich die Art und Weise bewundern, wie Sie Ihre einfachen, starken Triebe im Umgang mit Damen betätigen. Guten Morgen!«

Sie drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand mit energischen Schritten über den Weg, den schlanken Rücken so aufrecht wie eine dorische Säule. Philipp und Lavertisse starrten ihr nach. Endlich murmelte Philipp:

»Eine solche kleine Zelotin! Auf Ehre, sie ist entzückend! Ich war unartig – und ich bereue es. Aber daß sie die einfachen und starken Leidenschaften leugnen will ...!«

»Sie ist wie alle Frauen, Professor. Sie wissen nicht, was sie wollen, aber sie wollen es verdammt energisch.«

»Lavertisse, Sie werden bei Gott noch ein neuer Labruyère. Wollen wir zum Meer hinuntergehen?«

*

Gegen halb acht Uhr desselben Tages saßen Philipp Collin und Lavertisse mit Mr. Shonts beim Abendessen. Auf dem Tisch stand eine Schüssel Schinken mit Eiern, Bier, Butter, Brot, geröstetes Hammelfleisch und Käse. Der Appetit war allerseits vortrefflich – nicht zum geringsten der Mr. Shonts!

Endlich legte Philipp Messer und Gabel nieder.

»Geht es so weiter, Mr. Shonts, wird der November ein billiger Monat für Sie. Sie werden offenbar bei jeder Mahlzeit unser Gast sein.«

Mr. Shonts grinste befriedigt.

»Es war Ihr eigener Vorschlag, Mr. Pelotard.«

»Das war es. Und ich bereue ihn nicht, solange er so gute Früchte trägt wie bisher. Jetzt kann ich auf jeden Fall sicher sein, daß ich kein Arsenik ins Essen gemischt bekomme. Ich weiß nicht, ob Sie gehört haben, wie die römischen Kaiser sich dagegen zu schützen pflegten?«

Mr. Shonts machte eine Handbewegung nach dem Nebenzimmer.

»Man hat drinnen seinen Gibbon,« sagte er mit bescheidener aber selbstzufriedener Stimme. »Den Suetonius auch, in der Übersetzung.«

»Aber Mr. Shonts! Sie sind ja ein schrecklich gelehrtes Haus!«

»Man trachtet nicht zurückzubleiben, Mr. Pelotard! Nicht nur in London lesen die Leute. Mein Vater las sehr gerne, und ich habe es von ihm geerbt. Sind Sie in der Literatur bewandert, Mr. Pelotard?«

»Hm, ja, so einigermaßen. Gestatten Sie, daß ich mir Ihre Bibliothek ansehe?«

»Natürlich, Sir, natürlich.«

Philipp folgte seinem Wirt mit nachdenklicher Miene. Mr. Shonts' Psychologie war vielleicht doch nicht ganz so einfach, als er zuerst geglaubt hatte. Gibbon und Suetonius! Offenbar hatte er doch für andere Dinge Zeit übrig als für sein Kassabuch, und es gab vielleicht eine Erklärung für die Tatsache, die Mr. Lavertisse aufgefallen war, daß er die schönen alten Möbel nicht verkauft hatte.

Mr. Shonts führte die Herren in die Bibliothek. Er wies mit einer Geste auf die Bücherregale.

»Bitte sehr!«

Philipp begann in den Bücherreihen herumzustöbern. Das war wirklich eine bunte Sammlung! Da war Gibbon en suite, Macaulay, Carlyle und Michelet (in der Übersetzung); Suetonius, Tacitus, und dazwischen gesteckt, Brantôme (im Original, unaufgeschnitten). Es folgte eine Reihe Autobiographien, Pepys, Casanova (in der Übersetzung), dann historische Skandalbücher, »Nächte am französischen Hofe«, »Die Memoiren der Marquise« und »William Wycherleys Erinnerungen«. Die älteste Romanliteratur von Clarissa abwärts war reich vertreten. Auch theologische Arbeiten fehlten nicht. Plötzlich zuckte Philipp überrascht zusammen. Zwischen ein paar kleine, in Leder gebundene Oktavbändchen von Swift hineingeschoben, fand er ein Paket Broschüren, das ihn auf den ersten Blick frappierte. »Frauen, organisiert euch!« – »Was haben die Männer zu ihrer Verteidigung vorzubringen?« – »Eine Erwiderung«, las er hastig.

»Was, Mr. Shonts,« rief er, »sind Sie auch Anhänger der W. S. P. U.?« Women's Social and Political Union.

Mr. Shonts fuhr zusammen, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Er starrte einen Augenblick das Paket Broschüren an, das Philipp in der Hand hielt; dann rief er mit einer Stimme, die eigentümlich von seiner gewöhnlichen, untertänigen abstach:

»Ich! Der Teufel soll – Mr. Pelotard, Sie sind doch ein Gentleman, wie können Sie so etwas fragen? Ich kenne kein ärgeres Pack auf Erden als diese Stimmrechtlerinnen! Ich hasse, ich verabscheue – –«

»Aber Mr. Shonts! Ich sehe diese Broschüren auf Ihrem Bücherbrett, und nur darum – –«

»Genug, Sir, ich will nichts mehr davon hören. Wenn es etwas auf Erden gibt ...« Mr. Shonts' Stimme erstickte vor Aufregung und er starrte mit brennenden Augen vor sich hin. Plötzlich kam Philipp ein Gedanke, und er schob die Bücher mit verstohlenem Lächeln wieder auf das Regal zurück.

»Sie müssen schon entschuldigen. Ich wollte Sie wirklich nicht verletzen. Nur der Fund dieser Broschüren ... Aber ich verstehe. Sie sagen mit Terenz: Nichts Menschliches ist mir fremd. Sie studieren auch die Dinge, mit denen Sie nicht einverstanden sind!«

Mr. Shonts schien sich allmählich von seiner Erregung zu erholen.

»Ja, gewiß, Sir. Man versucht, sich auf dem Laufenden zu erhalten. Gewiß, man mißbilligt, aber man studiert doch auf jeden Fall, nicht wahr?«

»Ja, gewiß.«

Mr. Shonts begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Seine Wangen glühten noch. Plötzlich blieb er vor Philipp stehen.

»Sie sagten: auch, Mr. Pelotard? Wen haben Sie denn sonst hier getroffen, der ... der diese Ansichten billigt?«

»Tja, ich weiß nicht, ob ... Aber ich hatte den Eindruck, daß Miß Fielder ...«

»Miß Fielder! Das kann ich mir denken.« Mr. Shonts hatte wieder seine ganze Heftigkeit.

»Ja, ist das nicht traurig, Mr. Shonts? Ein so schönes junges Mädchen, das doch lieber daran denken sollte, sich zu verheiraten ... Ich muß sagen, mir tat es sehr leid, als ich bemerkte ...«

Mr. Shonts unterbrach ihn mit einem halb fanatischen Blick seiner lichtgrauen Augen.

»Traurig!« rief er. »Das ist, das ist mehr als traurig.«

Er verstummte plötzlich. Auf einmal schien ihm ein Gedanke zu kommen, und er richtete sich in die Höhe.

»Mr. Pelotard!« sagte er. »Sie haben mich heute zum Abendessen eingeladen und schon so oft – so oft, als wir vereinbart haben. Ich glaube, wir sympathisieren miteinander ... Wollen Sie nicht einen Whisky und Soda mit mir trinken? Und Sie, Mr. Lavertisse? Es ist ein guter Whisky, den ich von meinem Vater geerbt habe ...«

Während Philipp und Lavertisse (der mit Brantômes Dames galantes, die er von Mr. Shonts' Bücherbrett genommen hatte, dasaß), ihn erstaunt anstarrten, drückte Mr. Shonts heftig auf den elektrischen Knopf an der Türe. Nach einem Augenblick erschien die Haushälterin, Mrs. Gilling.

»Mrs. Gilling,« sagte Mr. Shonts mit majestätischer Stimme, »Sodawasser und eine Flasche von dem Whisky, den ich von meinem Vater geerbt habe.«

*

Als Philipp und Lavertisse am nächsten Morgen zur gewohnten Zeit zum Frühstück hinunterkamen, zeigte es sich, daß Mr. Shonts schon ausgegangen war ... Auf dem Frühstückstisch neben ihren Tellern lag der »Daily Telegraph« und der »Hampshire Guardian«. Philipp lächelte.

»Wie nennt man Katzenjammer auf französisch, Lavertisse? In Hampshire sagt man auf jeden Fall: schon ausgegangen. Warum liegen sonst Mr. Shonts' Briefe hier? Und sehen Sie sich den Tisch an! Eier, geröstetes Brot und Marmelade, aber nicht mehr als eine geräucherte Makrele für uns beide. Mrs. Gilling hat offenbar Order, da ihr Herr nicht teilnehmen kann.«

Er entfaltete das Lokalblatt und blätterte darin, während Lavertisse den dicken Daily Telegraph aufschlug. Plötzlich, beinahe gleichzeitig, stießen beide einen kleinen Schrei aus.

»Professor, sehen Sie doch!«

»Wie ich prophezeit habe, Lavertisse. Kenyon hat die Lorbeeren! Neue Meisterleistung des hervorragenden Londoner Detektivs – Die Lustfahrt der Yacht Medusa – Der teuflische Plan einer Portsmouther Firma – Ist es möglich? Wie nimmt sich das in Ihrem Blatt aus, Lavertisse?«

»Ungefähr ebenso, Professor. Aber daß die Zeitungen das nicht schon früher gebracht haben? Wir kamen doch Dienstag mit der Medusa nach Portsmouth, und heute ist Freitag.«

»Kenyon hat sich vermutlich erst den Kopf zerbrochen, was er tun soll. Haben Sie gesehen, daß die Suffragetten wieder mal in Tätigkeit sind?«

»Ja, jetzt haben sie zur Abwechslung ein Schloß in Schottland in Brand gesteckt. Steht auch hier. Wohin soll das noch führen?«

»Fragen Sie Mr. Shonts, der wird Ihnen Bescheid geben. Haben Sie bemerkt, daß er einen Brief aus Nizza hat? Von Lord Mickleham vermutlich.«

Als Philipp und Lavertisse am selben Tage zum Lunch nach Hause kamen, fanden sie ihren Hauswirt mit bleichem Antlitz und gerunzelten Brauen vor einem Glas Sodawasser im Arbeitszimmer. Bei ihrem Eintritt richtete er sich auf, aber schien überaus zerstreut.

»Guten Tag, Mr. Shonts. Wie geht es?« Philipp hütete sich, seine Frage allzusehr zu betonen.

»Danke. Haben Sie was geschossen?«

»Zwölf oder dreizehn Fasanen. Sie sehen, wir helfen bei der Bewirtschaftung des Gutes. Kommt Lord Mickleham heim, wenn ich fragen darf?«

»Lord Mickleham? Was meinen Sie?«

»Gar nichts. Ich dachte nur, weil die Jagdzeit bald zu Ende geht.«

»Seine Lordschaft wollte den ganzen Winter an der Riviera bleiben. Aber merkwürdigerweise kommt er tatsächlich nach Hause. Ich hatte heute Brief von ihm ... Ich erwarte ihn in den allernächsten Tagen.«

Mr. Shonts sah zum Fenster hinaus, schluckte sein Sodawasser und wies nach dem Speisesaal.

»Das Lunch ist fertig, Mr. Pelotard. Sie müssen verzeihen, wenn ich nicht mitesse ... Ich bin sehr in Anspruch genommen.«

3.

Am nächsten Tage begann der arkadische Friede in Roxwell gestört zu werden. Philipp und Lavertisse hatten so vortrefflich geschlafen, wie man nur nach zehnstündigem Herumstreifen in frischer Luft schläft, und hatten keinerlei Vorgefühl von etwas Ungewöhnlichem, als sie gegen halb neun Uhr morgens die Treppe aus ihren Schlafzimmern hinuntergingen. In der Halle erblickten sie Mrs. Gilling, die ihnen mit verstörten Zügen entgegenkam.

»Ist das nicht entsetzlich, Sir?« rief sie. »Das Schloß! Wie kann das nur entstanden sein?«

»Was gibt es denn?« fragte Philipp. »Was ist's denn mit dem Schloß?«

»Es ist heute nacht abgebrannt, Sir. Wissen Sie das nicht?«

»Abgebrannt? Was sagen Sie da!«

»Ja, Sir. Beinahe das ganze Schloß ist abgebrannt.«

Philipp packte Lavertisse am Arm und stürzte zur Türe hinaus, ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, einen Hut auf den Kopf zu setzen.

»Das Schloß ist abgebrannt!« murmelte er, »Lavertisse!«

Sie legten den Weg zum Schloß hinauf in zwei Minuten zurück. Der Novembermorgen war grau und windig. Große Rauchwolken, die über die Baumwipfel schlugen, wiesen den Weg dorthin, anstatt der früheren Türme.

Am Ziel angelangt, überzeugten sie sich von der Wahrheit von Mrs. Gillings Worten. Von dem Schlosse, das sie an den vorhergehenden Tagen bewundert hatten, war kaum ein halber Flügel übrig. Das Hauptgebäude und der linke Flügel waren ein einziger Haufen von rauchenden Ruinen. Halb verbrannte Balken und Steinhaufen türmten sich zu einem trostlosen Monument des Feuers und Wassers auf – man ließ nicht ab, das Ganze mit all dem Wasser zu überpumpen, das Roxwells einzige Feuerspritze liefern konnte. Die Polizei hatte die Brandstätte mit einem Strick umzogen, und vor demselben drängten sich die Dorfbewohner. In einer Ecke des eingefriedeten Platzes sah Philipp seinen Wirt im Gespräch mit einem graubärtigen Herrn. Mr. Shonts war ohne Hut und von Schmutz und Ruß übel zugerichtet. Sein rotes Haar war vom Schweiß verklebt und hing ihm tief ins Gesicht. Er gestikulierte eifrig und schien sein Gegenüber von etwas überzeugen zu wollen. Plötzlich drehte er sich um und bemerkte Philipp und Lavertisse. Er schüttelte dem graubärtigen Herrn die Hand und verabschiedete sich mit einer letzten energischen Bemerkung. Dann verließ er rasch den eingefriedeten Platz und kam auf Philipp zu.

»Haben Sie je so etwas gehört, Sir? Wie lange soll das noch so fortgehen dürfen? Gibt es Gesetz und Recht hierzulande oder nicht?«

»Was ist es denn, Mr. Shonts?«

»Die Suffragetten, Sir! Wußten Sie es nicht? Die waren wieder einmal im Spiele. Votes for Women! Da sehen Sie ihr Werk –«

Philipp starrte ihn mit weitgeöffneten Augen an.

»Die Suffragetten?« wiederholte er langsam.

»Ja, gerade die und niemand anderer. Mr. Fletcher, der Oberkonstabler, mit dem ich eben sprach, wollte es auch kaum glauben. Und doch habe ich selbst ihre Papiere gefunden! Ja, so ist es, wenn es sich um Frauenzimmer handelt ...«

»Papiere?« unterbrach Philipp.

»Ihre elenden Flugschriften. Mr. Fletcher fand einen ganzen Stoß davon im linken Flügel verstreut. Die meisten sind vermutlich verbrannt. Und trotzdem will er es nicht glauben. Votes for devils –«

»Aber hier in Roxwell gibt es doch gar keine Suffragetten, Mr. Shonts!«

Mr. Shonts sah Philipp an und öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen. Dann überlegte er es sich jedoch und bemerkte nach einer kleinen Pause:

»Nicht viele, da haben Sie recht ...«

Philipp pfiff vor sich hin und warf seinem Wirt einen raschen Blick zu. Nicht viele – wehte der Wind daher?

»Nicht viele, Mr. Shonts!« wiederholte er langsam. »Vielleicht nicht mehr als ein oder zwei? Vielleicht nicht mehr als ...«

»Keine Namen, Sir! Hüten Sie sich, schon jetzt etwas zu sagen! Gehen wir nach Hause und essen wir etwas. Ich bin seit fünf Uhr hier droben.«

»Fünf Uhr? Wer hat Sie geweckt?«

»Ich habe doch den Brand entdeckt und die Feuerwehr hergebracht.«

Mr. Shonts wischte sich die Stirne und schöpfte tief Atem.

»Ein kleiner Imbiß wird mir wirklich gut tun.«

Der Vormittag verstrich ohne neue Ereignisse. Philipp und Lavertisse verbrachten ihn auf der Brandstätte. Indem er sich an einen der Polizisten wendete, war es Philipp gelungen, die Erlaubnis zu erlangen, sich auf das eingefriedete Gebiet zu begeben. Lavertisse sah, wie er dort herumging, in den Trümmerhaufen wühlte, und sich in der Nähe des linken Flügels zu tun machte, bis ein Polizist sein Interesse allzu eifrig fand und ihn fortwies. Auf dem Platze davor fanden sie den alten Mr. Fielder, der die Ruinen mit einem nachdenklichen Ausdruck seines freundlichen Gesichtes anstarrte. Philipp ging auf ihn zu.

»Wie geht es, Mr. Fielder? Ein trauriger Vorfall, nicht wahr?«

Der alte Stationsvorsteher musterte ihn einen Augenblick erstaunt.

»Ach,« sagte er dann, »Sie sind ja der Herr aus London! Ein furchtbares Ereignis! Wie in aller Welt kann es nur entstanden sein? Weiß man etwas darüber?«

Philipp sah ihn an und sagte langsam:

»Man weiß noch nichts ... Mr. Shonts behauptet, es seien die Suffragetten.«

»Die Suffragetten? Hier gibt es doch keine Suffragetten. Warum glaubt er das?«

»Man fand ihre gewöhnliche Literatur auf der Brandstätte. Wir wollen hoffen, daß Mr. Fletcher, der mit der Untersuchung der Sache betraut ist, sie aufklären kann. Das wird eine traurige Heimkehr für Lord Mickleham.«

»Der Lord kommt heim? Was sagen Sie?«

»In den nächsten Tagen, sagte mir Mr. Shonts. Wer war denn Mr. Shonts Vater, Herr Stationsinspektor? Wissen Sie das zufällig?«

»Sein Vater? Ein kleiner Schullehrer im Norden des Landes, in Schottland, glaube ich.«

»So? Da hat Mr. Shonts wohl von dort so guten Whisky!«

Philipp nickte zum Abschied und ging seiner Wege.

Der Sonntag und Montag, die zwei nächsten Tage, verstrichen ohne neue Ereignisse; aber dann kamen sie Schlag auf Schlag.

Als Philipp und Lavertisse am Dienstag morgen zum Frühstück hinunterkamen, war Mr. Shonts schon fort. Anstatt seiner empfing sie Mrs. Gilling, welche mit vor Empörung flammenden Augen die großen Neuigkeiten verkündigte.

»Können Sie sich so etwas denken, Sir! Jetzt hat man die Schuldige! Nun ist es klar, wer das Feuer im Schloß gelegt hat.«

»Nein, wirklich, Mrs. Gilling, wer ist es also?«

»Eine Suffragette, natürlich, wie Mr. Shonts es sich gedacht hat. Gehören sie nicht alle miteinander ins Zuchthaus? Und wenn ich so denke, daß ich sie aufwachsen gesehen habe, und jetzt nimmt es mit ihr ein solches Ende!«

»Ja, wer ist es denn, Mrs. Gilling?«

»Miß Fielder, Sir. Wer sollte es denn sonst sein? Sie hat diese abscheulichen Bücher in Roxwell verbreitet. Und wenn ich bedenke, daß ich sie aufwachsen gesehen habe! Na, unverschämt war sie immer, und der alte Peter Barnes hat sie am Abend vor dem Brand um das Schloß herumstreichen gesehen. Das ist so sicher wie das Evan –«

»Ist sie verhaftet?«

»Nein, noch nicht. Aber sie muß jederzeit für Mr. Fletcher zu finden sein. Mr. Shonts war so aufgeregt, Sir, daß er gar nichts essen konnte. Er ist fortgegangen und hat mich gebeten, ihn zu entschuldigen.«

»Danke, Mrs. Gilling.«

Philipp schnitt Mrs. Gillings Suada mit einer Handbewegung ab und sah Lavertisse an, der die Erzählung der Haushälterin mit weit aufgerissenen Augen angehört hatte. Sie nahmen ihr Frühstück schweigend ein. Als es beendet war, erhob Philipp sich plötzlich und zog die Klingel. Mrs. Gilling zeigte sich abermals, indem sie sich die Hände an der Schürze abwischte.

»Hören Sie, Mrs. Gilling, ich möchte gerne drinnen in der Bibliothek einen Brief schreiben.«

»In der Bibliothek, Sir?«

»Ja, in Mr. Shonts Arbeitszimmer.«

Mrs. Gilling hatte sich die Hände fertig abgewischt und schüttelte nun den Kopf.

»Es tut mir leid, Sir, aber das geht nicht. Mr. Shonts hat die Bibliothek abgesperrt, bevor er wegging, und den Schlüssel eingesteckt. Ich glaube übrigens, er hat schon gestern abgesperrt. Können Sie denn nicht in Ihrem Zimmer schreiben, Sir?«

»Das werde ich wohl, Mrs. Gilling. Es eilt übrigens nicht.«

Kaum war die Haushälterin zur Türe hinaus, als Philipp Lavertisse stumm zunickte und in die Vorhalle eilte.

»Kommen Sie mit, Lavertisse. Ich gehe ein bißchen ins Dorf hinunter.«

»Um Briefe zu schreiben, Professor?«

Philipp antwortete nicht. Nach einem Marsche von zehn Minuten waren sie auf der gepflasterten Dorfstraße Roxwells angelangt, wo Philipp einen Einheimischen ansprach und ihm einige Fragen stellte, die Lavertisse nicht genau verstand. Dann gingen sie weiter, bis Philipp vor einer kleinen roten Villa stehenblieb.

»Ach, bitte, Lavertisse, wollen Sie ein paar Minuten warten.«

Lavertisse sah ihn in die Villa verschwinden und stellte sich in abwartender Haltung vor dem Eingangsgitter auf. Es dauerte eine halbe Stunde; dann kam Philipp wieder heraus, mit einem Glanz in den Augen, den Lavertisse kannte. Ohne etwas zu sagen, machte er eine Geste in der Richtung des Schlosses, und sie gingen zurück. Endlich, als sie zum Dorf hinausgekommen waren, blieb er stehen, nahm Lavertisse beim Knopfloch und sagte:

»Sagen Sie mir, wie kommt es, daß wir immer mit Schwindlern und Verbrechern zusammentreffen? Ich lernte doch, als ich noch jung war, in der Physik, daß die gleichen Sorten Elektrizität sich abstoßen, während die verschiedenen voneinander angezogen werden. Und wir können nicht einmal nach Arkadien kommen, ohne auf Kollegen zu stoßen.«

»Sie meinen, Professor?«

»Daß ich bei Mr. Fletcher zu Besuch war und nach vielen süßen Worten das Beweismaterial des Schloßbrandes zu sehen bekam. Und nun –«

»Ja, Professor?«

»Und nun stehe ich vor einem moralischen Problem. Dartmoor oder nicht Dartmoor, das ist hier die Frage.«

»Dartmoor! Das Gefängnis! Was meinen Sie?«

»Lassen Sie mich hören, was Sie meinen, Lavertisse! Soll der Betreffende nach Dartmoor gebracht werden oder nicht?«

»Wer?«

»Der Betreffende. Soll der Betreffende nach Dartmoor? Der Betreffende ist geizig, er ist feig, er hat sich in der schurkischesten Weise an einer Person rächen wollen, die dem Betreffenden eine Enttäuschung bereitet hat, er hat – darauf könnte ich einen Eid ablegen, obwohl ich es nicht beweisen kann – viele Jahre hindurch das Vertrauen seines Arbeitgebers mißbraucht. Nun, was sagen Sie, Lavertisse? Soll der Betreffende nach Dartmoor?«

Monsieur Lavertisse blieb auf der Landstraße stehen und starrte auf die gelben, entlaubten Wälder. Schließlich sah er Philipp an und sagte:

»Hm, Professor. Ich bin ja kein Richter. Wie steht es doch vom nicht richten, auf daß man nicht gerichtet werde? Der Betreffende ist sicherlich all das, was Sie sagen, aber –«

»Nun?«

»Aber er hat uns doch auf jeden Fall aus eigenem Antrieb einen erstklassigen Whisky vorgesetzt, Professor. Wenn er auch vielleicht gestohlen war!«

Philipp brach in ein Gelächter aus.

»Also nicht Dartmoor?«

»Meiner Ansicht nach, nicht.«

»Gut. Und nun wollen wir sehen, ob Mr. Shonts zu treffen ist und ob wir einen Blick in seine Bibliothek werfen können! Ich glaube, ich bin mit Ihrem Urteil einverstanden, denn bei Mr. Fletcher erfuhr ich auch, daß kein Geringerer als unser Freund Kenyon berufen wurde, die Sache mit dem Schloßbrande zu untersuchen und daß also ihm das Vergnügen zugefallen wäre, den Betreffenden zu verhaften.«

4.

Mittwoch, der zweite Dezember, wurde der ereignisreichste Tag in der Geschichte Roxwells.

Mit dem Morgenzug traf ein rothaariger, elegant gekleideter Herr in der Station ein und wurde da von dem graubärtigen Oberkonstabler, Mr. Fletcher, empfangen. Die beiden Herren schüttelten sich die Hand.

»Sie müssen entschuldigen, daß ich Sie bemüht habe, Mr. Kenyon. Aber ich las in der Zeitung, daß Sie in Portsmouth sind und was Sie da alles geleistet haben. Und diese Sache hier übersteigt wirklich meine Kräfte.«

»Aber man hat doch eine Spur?«

»Ja, in gewisser Weise ...«

»Glaubt man nicht, daß die Suffragetten im Spiele gewesen sind?«

»Doch, ich fand selbst ihre üblichen Flugschriften auf der Unglücksstätte. Aber hier waren keine Reisenden dieses Typus, und ...«

»Und?«

»Und hier in Roxwell haben wir meines Wissens kaum mehr als eine einzige eifrige Anhängerin der W. S. P. U.«

»Das entnahm ich aus Ihrem Briefe. Die Tochter des Stationsinspektors, nicht wahr?«

»Ja, Mr. Kenyon ... Eine sehr traurige Sache, wenn es nun wahr sein sollte.«

»Sie haben sie unter Aufsicht gestellt?«

»Ja.«

»Das ist gut. Wir wollen uns nun zuerst die Brandstätte ansehen.«

Mr. Kenyon und Mr. Fletcher verfügten sich nach dem Schlosse, wo Mr. Kenyon eine Stunde lang zwischen den Ruinen und auf dem ganzen übrigen Platze herumschnüffelte, während Mr. Fletcher ihn schweigend beobachtete. Schließlich schüttelte Kenyon ungeduldig den Kopf.

»Ausgeschlossen, da etwas zu sehen. Übrigens bin ich ja um vier Tage zu spät gekommen. Wann können wir mit den Zeugen verhandeln?«

»Das wird wohl erst im Laufe des Tages möglich sein, Mr. Kenyon. In dieser Geschwindigkeit sind sie nicht zusammenzubringen. Die einzige, auf die wir sofort rechnen können, ist Miß Fielder.«

»Ist gut. Lassen Sie sie in Ihr Kontor rufen. Ich vermute, Sie haben auch das vorliegende Beweismaterial da?«

»Ja.«

Mr. Kenyon und Mr. Fletcher kehrten ins Dorf zurück. Ein Konstabler in Zivil wurde nach der Station geschickt und erschien nach zwanzig Minuten mit der jungen Miß Fielder und ihrem Vater. Sie war bleich, aber trug den Kopf höher als sonst, und in ihren grauen Augen war ein trotziger Glanz. Mr. Fletcher stellte ihr und dem Stationsinspektor, dessen Gesicht seine ganze Freundlichkeit verloren hatte, Mr. Kenyon vor.

Kenyon begann das Verhör.

»Ist Ihnen bekannt, weshalb Sie hierher gerufen wurden, Miß Fielder?«

»Ja, wegen einer wahnsinnigen und unerhörten Beschuldigung Mr. Fletchers.«

»Keine Ausfälle gegen Mr. Fletcher, Miß Fielder. Er hat nur seine Pflicht getan, und alle unbedachten Äußerungen schaden Ihnen nur. Sie wissen, daß Mickleham Castle in der Nacht von Freitag auf Sonnabend abgebrannt ist. Niemand wohnt dort, das Feuer muß also gelegt worden sein. Wissen Sie etwas über diese Sache?«

»Wie meinen Sie das? Ebensoviel wie Sie, und das heißt nicht viel.«

»Miß Fielder, ich bitte Sie noch einmal, alle unbedachten Äußerungen zu unterlassen. Kennen Sie Lady Mickleham persönlich?«

»Nein.«

»Sind Sie in dem Schlosse gewesen?«

»Ja. Einmal, vor mehreren Jahren, als das Publikum Zutritt hatte.«

»Später nie?«

»Nein.«

»Nicht am Freitag abend? Denken Sie nach, bevor Sie antworten.«

»Nein.«

Kenyon erhob die Stimme ein wenig.

»Aber nach der Aussage einer vollkommen einwandfreien Persönlichkeit wurden Sie am Abend vor dem Brande in der Nähe des Schlosses gesehen. Bleiben Sie bei Ihrem Leugnen?«

»Einwandfreie Persönlichkeit! Der alte Barnes, der beschwören würde, daß er den König da gesehen hat, wenn man ihm drei Pence dafür gibt.«

»Miß Fielder!«

»Ja! Das können Sie von jedem Menschen in Roxwell hören – wenigstens von jeder Frau. Die Männer halten natürlich zusammen.«

»Miß Fielder, ich fange an, Ihre Ausdrucksweise zu erkennen. Wenn Sie den Namen dessen wissen, der Sie gesehen hat, so wissen Sie vielleicht auch, welchen Grund man hat anzunehmen, daß gerade Sie an diesem Abend in der Nähe des Schlosses gesehen wurden?«

»Ja. Weil ich Suffragette bin. Bitte sehr. Ich leugne es nicht, wenn Sie das glauben! Ich bin Suffragette mit Leib und Seele, und wenn Sie meinen, daß Sie mich einschüchtern können, so irren Sie sich.«

»Sie sind Suffragette? Kennen Sie vielleicht (Kenyon warf mit einer blitzschnellen Geste ein kleines Paket Broschüren vor sie hin), kennen Sie vielleicht diese Schriften hier?«

Miß Fielder brach in ein Gelächter aus.

»Ob ich sie kenne? Meine eigenen – ich meine die Broschüren, die ich jeden Augenblick ver...«

Kenyon unterbrach sie rasch.

»Mr. Fletcher, Sie haben gehört, was die Angeklagte eben sagen wollte, bevor sie es sich überlegte? Meine eigenen Broschüren. Es ist gut. Miß Fielder. Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß diese Broschüren, die Sie eben als Ihre eigenen bezeichneten, am Morgen nach dem Feuer auf der Brandstätte gefunden wurden?«

»Ja, da ganz Roxwell es weiß. Ich habe mich versprochen, das müßten Sie doch verstehen, wenn Sie Ihre männliche Logik anwenden würden.«

Kenyon erhob sich, vor Zorn errötend.

»Es ist gut, Miß Fielder. Ich wünsche keinen Wortwechsel mit Ihnen. Sie können sich als formell angeklagt betrachten, den Brand in Mickleham Castle angelegt zu haben.«

»Mr. Kenyon!«

Es war der Ausruf des alten Stationsinspektors. Er hatte einen Schritt vorwärts gemacht und starrte Kenyon in die Augen, während sein Schnurrbart vor Gemütserregung zitterte.

»Wie können Sie wagen, meine Tochter einer solchen Sache zu beschuldigen?«

»Ihre Tochter hat sich selbst beschuldigt. Das übrige hat die Jury zu entscheiden. Ich habe nur die Untersuchung durchgeführt, um die man mich gebeten hat.«

»Also soll meine Tochter ins Gefängnis?«

»Wie Sie sagen. Ich bedauere Sie, aber Sie hätten Ihre Tochter besser erziehen sollen ...«

»Schweigen Sie, Sir!«

Bevor noch das Echo des Ausrufes des alten Stationsinspektors verklungen war, und ehe noch Kenyon etwas darauf hätte antworten können, klopfte es an der Türe. Diese öffnete sich, und eine alte Frau mit verweinten Augen wurde auf der Schwelle sichtbar. Mr. Fletcher fuhr von seinem Platze in die Höhe.

»Mrs. Gilling! Was wollen Sie!«

»Ein – ein Brief an Sie, Sir. Ein Brief an Sie, und einer an Mr. James Kenyon.« Mrs. Gillings Stimme war von Tränen halb erstickt.

»An mich!« Kenyon machte einen Sprung auf sie zu. »Was für einen Brief haben Sie an mich? Woher kennen Sie mich überhaupt?«

»Ich – ich kenne Sie nicht, Sir – aber – aber der fremde Herr hat gesagt, ich sollte diesen Brief Ihnen geben. O – und – und Mr. Shonts ist fort.«

»Mr. Shonts ist fort! Was sagen Sie, Mrs. Gilling?«

»Welcher fremde Herr? So geben Sie doch den Brief her!«

Das riefen Mr. Fletcher und Mr. Kenyon zugleich. Mrs. Gilling zog schluchzend zwei Briefe hervor und überreichte jedem von ihnen einen, während sie fortfuhr:

»Mr. Shonts – der ist – der ist schon gestern fort. Ich glaube, der ... der fremde Herr hat ihn gezwungen ... Oh, Mr. Fletcher!«

Der graubärtige Oberkonstabler hörte nicht mehr zu. Er hatte den Brief, den er bekommen hatte, aufgerissen und mit raschem Blick durchflogen. Nun ließ er ihn sinken und starrte Mr. Kenyon an.

»Mr. Kenyon!« murmelte er mit halberstickter Stimme. »Ein Geständnis – ein vollständiges Geständnis, den Brand angelegt zu haben, von Mr. Shonts, dem Verwalter! Gütiger Himmel! ... Was steht in Ihrem Brief?«

»Nichts,« murmelte er. »Eine Privatsache. Ich reise heute nachmittag nach Portsmouth zurück.«

»Und was soll ich tun? Ist der Brief denn ernst zu nehmen? Glauben Sie, daß man sich auf dieses Geständnis verlassen kann?«

»Vollkommen,« murmelte Kenyon. »Ich ... ich bin davon überzeugt. Wir haben uns sicherlich bezüglich Miß Fielder geirrt. Sorgen Sie dafür, daß dieser Shonts verfolgt wird ... Wann geht der Zug?«

Mr. Fletcher sah seinen Bundesgenossen mit einem Ausdruck in den Augen an, der lange nicht mehr so ehrfurchtsvoll war wie bisher. Dann, während Mrs. Gilling den Raum noch immer mit verzweifeltem Schluchzen erfüllte, drehte er sich auf dem Absatz herum und sagte:

»Der Zug? Ich weiß nicht. Fragen Sie doch Mr. Fielder!«

5.

An demselben Tage, an dem Roxwell, Hampshire, so dramatisch das Geheimnis von dem Schloßbrand, Mr. Shonts' Flucht und das gleichzeitige Verschwinden seiner zwei Pensionäre erfuhr, standen zwei Herren in Reiseanzug im Gespräch auf dem Verdeck eines Kanaldampfers. Die englische Küste verschwand im Nebel. Das Meer lag so gut wie regungslos da.

»Unser Traum von Arkadien ist zerstoben, Lavertisse. Wir gehen in Ihr schönes Frankreich hinüber. Ich bin neugierig, ob es uns dort eher gelingen wird, anständige Leute zu treffen und Mr. James Kenyon auszuweichen.«

»Ja. Aber erklären Sie mir doch, wie alles zugegangen ist. Sie waren die ganze Zeit über so verflucht geheimnisvoll.«

»Wie es zugegangen ist? Das ist leicht erklärt, lieber Lavertisse. Als wir von unserem Besuch in Mr. Fletchers Kontor zurückkehrten, ging ich direkt zu Mr. Shonts hinein und sagte: Wollen Sie so freundlich sein, mich in Ihrem Arbeitszimmer einen Brief schreiben zu lassen, Mr. Shonts? – Das geht nicht, Sir. Können Sie nicht in Ihrem eigenen Zimmer schreiben? – Nein, lieber Mr. Shonts. Ich will nämlich an die Polizei schreiben, und das muß in würdiger Umgebung geschehen. – Er wurde bleich und sagte: An die Polizei? – Allerdings, Shonts, um mitzuteilen, daß ich herausgefunden habe, wer den Brand angelegt hat. Freuen Sie sich nicht, Shonts? – Den Brand? Wer sollte das sein, Mr. Pelotard? – Derselbe, der im Besitz der Flugschriften war, lieber Shonts, mit anderen Worten, Sie selbst. – Er wurde ganz erbsengrün im Gesicht und schrie: Sie sind übergeschnappt! Was meinen Sie? – Genau das, was ich sage – wollen Sie das Gegenteil beweisen, lieber Shonts, so kommen Sie und sehen wir uns Ihr Bücherregal an. Möchten Sie mir nicht vielleicht die kleinen Suffragettenbroschüren leihen, die ich vor ein paar Tagen dort sah? – Er brach in Flüche aus, wie ich noch nie schrecklichere gehört habe. – Sie verfluchter Hund, was unterstehen Sie sich? Sie, den ich in meinem Hause ausgefüttert habe! Hinaus mit Ihnen! Hinaus! – Wie Sie wollen, Shonts, ich hatte die Absicht gehabt, Sie zu schonen. Aber wie Sie wollen. Adieu! – Sie können nicht beweisen, was Sie sagen! brüllte er. – Doch, lieber Shonts, Sie hatten Ihre Broschüren zwischen zwei Bändchen Swift gesteckt, ob Sie sich nun daran erinnern oder nicht. Zwei kleine Bändchen Swift, die Sie von Ihrem Vater geerbt haben, mit anderen Worten, von Lord Mickleham, den Sie viele Jahre hindurch konsequent bestohlen haben. Haben Sie nicht gehört, daß das Sonnenlicht das Papier gelb macht? Der oberste Rand Ihrer Broschüren, der über Swifts Bücher hinausragte, bestätigt die Wahrheit dieser Tatsache. Und ich habe eben Mr. Fletcher besucht und sein Beweismaterial von der Brandstätte studiert. Es zeigte genau dieselben gelben oberen Ränder, die ich schon das Vergnügen hatte, an Ihrer Broschürensammlung zu bewundern. Sie sind ein Anfänger in solchen Dingen, mein lieber Shonts. – Er begann wie ein Wahnsinniger zu toben, aber ich brachte ihn zum Schweigen. – Ich habe jetzt nicht die geringste Ursache auf Erden, Sie nicht nach Dartmoor zu bringen, Shonts. Sie sind geizig und feig; Sie haben mit aller Sicherheit viele Jahre hindurch Ihrem Arbeitgeber Möbel und anderes gestohlen, Sie haben das Schloß in Brand gesteckt, um das zu verbergen, und Sie haben versucht, jemanden anderen zu verdächtigen – ja, sogar eine Dame, in die Sie verliebt waren. Aber ich will Gnade vor Recht ergehen lassen, in Anbetracht dessen, daß Sie sich einmal vergessen und mir und meinem Freund uneigennützigerweise Whisky vorgesetzt haben. Wenn er auch gestohlen war! Reisen Sie und retten Sie sich, wenn Sie können, aber die Größe Ihrer Reisekasse bestimme ich ... Da hätten Sie ihn hören sollen, Lavertisse! Es dauerte eine Stunde, bevor er sich ergab und mir zwölfhundert Pfund von den fünfzehnhundert, die er kontant hatte, einhändigte. Er war geradezu großartig in seinen einfachen und starken Trieben. –«

»Zwölfhundert Pfund, Professor, ich muß sagen ...«

»Sie finden, daß das Sündengeld ist. Seien Sie beruhigt, Lavertisse. Sie tun mir ausnahmsweise Unrecht. Vielleicht haben Sie bemerkt, daß ich, bevor wir an Bord gingen, auf dem Postamt war? Die zwölfhundert gehen anonym an Miß Fielder – für die Bewegung zu verwenden oder für ihre eigene Person. Heißt das nicht, glühende Kohlen auf das Haupt derer sammeln, die uns verachten?«

Philipp Collin verstummte einen Augenblick und sah über die ölig grauen Kanalwellen hin. Während er Lavertisse zur Kajütentreppe des Dampfers zog, fuhr er fort:

»Wahrhaftig, mir ist zumute wie einem neuen Theseus! Wir haben in Arkadien eine Schlacht für eine gute Sache geschlagen – und wir haben einen Sieg einkassiert für die Tugend und für das Frauenstimmrecht!«


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