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Viertes Kapitel
Professor Pelotards physiologischer Versuch

1.

Der Paris–Lyon-Mittelmeerexpreß flog in langen Kurven durch den Dezembernachmittag. Vor den Waggonfenstern war es schon dämmrig. Und die Passagiere, die das Lunch und eine fünfstündige Reise hinter sich hatten, waren definitiv zur Lektüre oder einem passiven Halbschlummer übergegangen. Das Mittagessen winkte in einer Stunde, und der weißbejackte Kellner des Speisewagens wanderte gerade durch die Korridore, wie ein mohammedanischer Muezzin rufend, um die Rechtgläubigen an diesen wichtigen Glockenschlag zu erinnern.

Philipp Collin und sein Freund Lavertisse, die ein Coupé erster Klasse für sich hatten, ließen sich von dem Weißbejackten für das zweite Diner vormerken.

»Immer besser, Professor, da kann man wenigstens sitzenbleiben und in Ruhe und Frieden einen Schwarzen und ein Gläschen Schnaps trinken.«

»Sie sind ein Epikuräer, lieber Lavertisse, in allem außer in Ihrer Lektüre. Was haben Sie da für entsetzliche Mißromane mitgeschleppt?«

»Gyp und Marcelle Tinayre, Professor. Pervenches Heirat und Vor dem Boudoirspiegel. Die beste Lektüre, die ich kenne.«

»Unser Freund Kenyon und M. Lépine würden es kaum vermuten – die würden sicherlich darauf schwören, daß Sie mit Raffles und Arsène Lupin in der Reisetasche als Ihrer Ilias und Odyssee reisen.«

»Man muß zwischen Geschäften und Vergnügen unterscheiden.«

»Ausgezeichnet gesagt, und ich vermute also, daß die Reiselektüre des seligen Manolescu Der Sonnenstrahl des Hauses war. Und daß der Galeerensklave Roccambole sich seinerzeit mit der Lektüre von Klarissa oder Die Belohnung der Tugend erquickte.«

»Womit sitzen denn Sie selber eigentlich da, Professor?«

»Die interessanteste Lektüre, die mir seit langer Zeit untergekommen ist – »Physiologische Mysterien« von einem Professor in Paris. Wenn Sie eine Ahnung hätten, wie intelligent Ihre Leber ist oder wie raffiniert es zugeht, wenn Sie müde und schläfrig werden, dann würden Sie sich schwerlich für Pervenche oder den Boudoirspiegel interessieren. Das heißt, als Material, um Sie müde und schläfrig zu machen, könnten Sie sie ja allenfalls verwenden.«

» All right, Professor. Das hier ist gewiß Lyon. Wann sind wir in Ventimiglia?«

»Um zwölf Uhr nachts, glaube ich, und sehr bald darauf in Bordighera. Wenn die italienischen Zollbeamten sich nicht zuviel Zeit lassen. Und morgen sehen wir die richtige Sonne wieder, Lavertisse!«

Sie sahen sie. Die richtige Sonne enttäuschte die Erwartungen nicht, die Philipp und sein Freund gleich einigen tausend anderen Rivierabesuchern mit dem Recht der Tradition an sie stellten. Schon früh am nächsten Morgen sahen sie sie wie einen goldenen Lanzenwerfer aus dem morgenstillen, violett schimmernden Mittelmeer emportauchen, das tief unter ihren Fenstern aufglühte und funkelte, wie das Farbenspiel in einem Edelstein. Sie ließen den Blick von der einen weißen Villa zur anderen wandern, die in Pinien- und Olivenhainen eingebettet lagen; sie schwelgten in dem Anblick der blühenden Zitronenbäume in den Gärten ringsumher, sie bewunderten die blau und purpurn schimmernden Schlingpflanzen an den Steinmauern, die sie nicht einmal dem Namen nach kannten, aber kehrten immer wieder zu dem samtblauen Mittelmeer zurück, das unter dem samtblauen Himmel seine kurzen Wellen an dem steinigen, gelbweißen Strande zu weißem Schaum zerstieben ließ. Nach einem summarischen Frühstück begaben sie sich auf eine Wanderung durch dieses südländische Paradies.

Aufs Geratewohl gingen sie in nordwestlicher Richtung, als sie das Hotel verließen, und gegen elf Uhr waren sie auf geschlängelten Pfaden, Hügel auf, Hügel ab, in ein Bergtal mit einem kleinen Flüßchen in der Mitte gekommen. Wie alle Rivieraflüsse im Winter war es so gut wie ausgetrocknet. Nur ein kleines Gerinnsel bahnte sich seinen Weg durch die grauen Steinmassen des Flußbettes. In einiger Entfernung sahen sie eine Gruppe weißgelber Häuser um irgend etwas auf einer Anhöhe, das wie eine Ruine aussah. Philipp attackierte eine bunt ausstaffierte alte Italienerin, die eben im Begriffe war, am Wegesrand eine schmutziggelbe, zottige Ziege zu melken. Sie erwiderte mit einem Wortschwall, aus dem Lavertisse nur etwas auffaßte, was seinen Pariser Ohren wie: Douche, ah quoi? klang. Die alte Dame sah erregt aus; und wenn der Professor ihr wirklich eine Douche vorgeschlagen hatte, konnte Lavertisse sowohl ihre Erregung wie ihr empörtes ah quoi? sehr wohl begreifen. Philipp gab ihr eine Lira, die sie beruhigte, und erklärte dann Lavertisse, was die alte Dame gesagt hatte, sei Dolceaqua gewesen. Und dies sei der Name der Stadt, die sie gerade vor sich rings um die Ruine sahen.

»Die Ruine ist eine alte Räuberburg aus dem dreizehnten Jahrhundert. Die Häuser, die wir sehen, sind der moderne Stadtteil, aber die meisten Einwohner hausen in einer Art oberirdischer Katakomben, die seit dem Mittelalter rings um die Ruine der Räuberburg stehen – ein paar Schock Häuser, die unter einem einzigen Dache liegen, das sie alle miteinander deckt.«

»Aber daß Sie italienisch sprechen, Professor! Davon hatte ich keine Ahnung.«

»Sie wissen, was ein Landsmann von Ihnen sagte, die Sprache sei uns gegeben, um unsere Gedanken zu verbergen. Wenn man so viele Gedanken hat, die verborgen werden müssen, wie ich, dann muß man im Verhältnis dazu Sprachen lernen. Ich spreche sogar fließend italienisch, wenn ich es selbst sagen darf. Kommen Sie und lassen Sie uns sehen, ob das Menü in Dolceaqua auch aus dem dreizehnten Jahrhundert ist.«

»Sie haben recht, Professor. Die richtige Sonne und die richtige Luft machen einen erstaunlichen Appetit. Ich könnte sogar Makkaroni essen, wenn es sein müßte.«

Es mußte nicht sein. Ein Huhn hatte am selben Tage im Wirtshause sein Leben gelassen, Salat und Käse war die Spezialität des fetten, phantastisch unrasierten Gastwirts, wie er in wortreichem Piemontesisch versicherte. Was den Wein betraf, so kam man mehrere Meilen von Frankreich herüber, um ihn mit Lebensgefahr über die Grenze zu schmuggeln. Wünschten die Signori einen Führer, um sich die weltberühmte Ruine und das pittoreske Dolceaqua anzusehen, während das wohlschmeckende Hühnchen nach den auserlesensten Rezepten der italienischen Küche bereitet wurde? Gut – Francesca! –

Ein schönes, ungewaschenes, schon so gut wie erwachsenes italienisches Mädchen von dreizehn Jahren bekam den Auftrag, die Signori zu führen, was sie mit einem Knicks und einem strahlenden Lächeln übernahm, während die Menge anderer Führer, die sich schon vor dem Wirtshaus angesammelt hatten, sie mit einem Hagelsturm von Protesten begrüßte, als sie sich mit Philipp und Lavertisse, jeden an einem Arm, zeigte. Ihre Proteste führten zu nichts, und nachdem sie Philipp und Lavertisse eine Weile in einer bettelnden Karawane gefolgt waren, gaben sie unter Francescas hohnvollem Triumphgelächter alle Hoffnungen auf. Francesca lächelte Philipp strahlend zu und begann, ihm und Lavertisse die Sehenswürdigkeiten Dolceaquas zu zeigen.

Es war unleugbar ein pittoreskes Nest. Kaum waren sie zwanzig Schritte gegangen, als sie vor einer Art Kellergang standen. – » Ecco, signori,« sagte Francesca, »der Eingang zur alten Stadt Dolceaqua.« Philipp starrte um sich. Die Häusermauern streckten sich nach rechts und links im Halbkreis aus; ihre altersgraue, ungebrochene Fassade sah aus wie eine niedrige Festungsmauer, denn, wie die ziegenmelkende alte Italienerin erwähnt hatte, waren alle Häuser von einem und demselben Dach bedeckt. – »Dieses Dach diente einstmals zum Schutze gegen die Angriffe der Feinde, Signori,« leierte Francesca herunter. »Kommen Sie, Signori!« – Sie ging voran, in den Gang, der recht steil anstieg und offenbar Dolceaquas Hauptstraße vorstellte. »Wie kann man hier sehen?« wollte Philipp eben fragen, als diese Frage auch schon von selbst beantwortet wurde: eine Glühlampe ragte von einer Hausmauer und verbreitete ein rotgelbes Licht. Dolceaqua hatte elektrische Beleuchtung! Philipp und Lavertisse mußten lachen, so überraschend wirkte die kleine Glühbirne hier. Sie passierten noch ein Dutzend Lampen und kamen zu einer Straßenkreuzung, wo das Dach durchbrochen war und sie den Himmel wiedersahen. Philipp blieb stehen und sah sich um. Die Häuser auf diesem offenen Platze waren offenbar vornehmer als die anderen; sie waren zweistöckig, sie hatten Balkons mit Eisengeländern und grün gestrichene, sorgfältig verschlossene Fensterläden, die auf die anderthalb Meter breite Katakombenstraße gingen, in deren Mitte das Spülwasser strömte. Francesca beobachtete befriedigt Philipps Staunen.

»Wie kann man hier leben?« murmelte Philipp. »Wandern nicht alle Menschen nach Amerika aus? Oder wenigstens nach den Schwefelgruben in Sizilien?«

»Gewiß nicht, Signor! Alle leben zufrieden, jetzt, seit das elektrische Licht da ist.«

»Was sagen Sie dazu, Lavertisse? Sie leben zufrieden in diesen Rattenhöhlen, seit sie elektrisches Licht haben! Und das sind die Einwohner des Landes der richtigen Sonne!«

»Hier drinnen,« fuhr Francesca eifrig fort und wies auf eines der zweistöckigen Häuser, »hier drinnen wohnt Vater Triulzi. Er ist sechzig Jahre, und er wohnt seit seiner Kindheit hier.«

»Heilige Madonna!« murmelte Philipp, als im selben Augenblick die Türe des zweistöckigen Hauses sich öffnete und ein weißbärtiger Alter mit einer Gesichtshaut, deren ursprüngliche Farbe man unmöglich erraten konnte, auf der Schwelle erschien. Außer dem weißen Barte zeigte er keinerlei Spur von Altersschwäche.

»Da sind zwei fremde Signori, die sich wundern, wie man in Dolceaqua wohnen kann!« rief Francesca ihm zu. Vater Triulzi lächelte schlau und unterwürfig.

»Aber man lebt hier vortrefflich, Signori!« sagte er. »Immer ausgezeichnete Luft, und kein Regen zu spüren, nicht einmal in der Sturmzeit. Darf ich Ihnen mein Haus zeigen, Signori?«

Philipp nickte. Es interessierte ihn wirklich, zu sehen, wie der reiche Vater Triulzi wohnte. Er und Lavertisse traten ein, und nachdem sie sich an die Grabesfinsternis gewöhnt hatten, fanden sie, daß sie in einem Zimmer standen, wo möglicherweise fünf, aber absolut nicht sechs Personen sich gleichzeitig aufhalten konnten. Die ausgezeichnete Luft war nahe daran, Philipp zu töten. Er nickte Vater Triulzi hastig zu und wandte sich zum Gehen. Vater Triulzi streckte wimmernd die Hand aus, um um Geld zu bitten, wogegen Francesca heftig protestierte, mit der Behauptung, er sollte sich schämen, um Almosen zu betteln, wo es doch so viele gab, die sie wirklich brauchten. Philipp steckte ihm eine Lira zu, um nur hinauszukommen.

»Lavertisse,« rief er, »so kommen Sie doch! Ich ersticke.«

»Warten Sie einen Augenblick, Professor!« Lavertisses Stimme war erregt; er stand da und starrte einen dicken Folianten an, den er in der Hand hielt. »Fragen Sie doch den alten Gauner, was er für dieses Buch haben will, ja?«

»Was ist es denn?«

»Boccaccio, in französischer Ausgabe, 1529, mit Stichen nach Giulio Romano! Weiß Gott, wo er das herhaben kann?«

»Sind Sie sicher? Können Sie bei dieser Beleuchtung überhaupt etwas sehen?«

»Das ist so sicher wie das Evangelium. Fragen Sie ihn nur, was er dafür haben will. Es ist gut fünfhundert wert.«

Philipp übermittelte Lavertisses Frage Vater Triulzi, der mit den Händen um sich schlug, als sollte er ohnmächtig werden, und rief laut, daß er nie, nie es sich nur im Traume einfallen lassen könnte, dieses Buch zu verkaufen.

»Es ist eine Bibel, Signor! E una bibbia! Nie! Nie!«

»Nie, nie!«

»Aber was haben Sie für Freude daran? Können Sie denn französisch lesen?

»Ich lese jeden Tag drin, Signor. Das ist eine Bibel.«

Philipp, der Lavertisse den Folianten aus der Hand genommen und die Illustrationen angesehen hatte, zog im Geiste vor Vater Triulzis frommer Phantasie den Hut. Weniger biblische Bilder hatte er nie in seinem Leben gesehen. Aber es war unleugbar, Lavertisse hatte recht. Es war ein Originalexemplar der Edition von 1529, Franz I. zugeeignet und mit sämtlichen Illustrationen des berühmten italienischen Wollüstlings versehen.

»Hören Sie zu,« sagte er zu Vater Triulzi, der ihn schielend beobachtet hatte, »ich gebe Ihnen dreihundert Lire für Ihre kuriose Bibel, aber nicht einen Centesimo mehr.«

»Nie,« heulte Vater Triulzi, immer erregter bei dem Gedanken dieser Zumutung. »Es ist eine Bibel! Mein Haus würde sofort vom Blitz getroffen werden.«

Philipp legte das Buch aus der Hand. »Wie Sie wollen,« sagte er. »Ich glaube zwar, daß es dem Blitz schwer fallen würde, in dieser Stadt Ihr Haus zu treffen.«

»Bitte, mein Haus ist das höchste, Signor,« rief Vater Triulzi.

»Verkaufen Sie Ihr Buch, dann können Sie einen Blitzableiter anbringen lassen,« sagte Philipp, aber seine Ironie war an Vater Triulzi verschwendet.

Philipp wollte gehen, aber Lavertisse zupfte ihn am Ärmel.

»Bieten Sie ihm fünfhundert. Es ist kein Gewinn für mich, aber dennoch.«

Philipp wandte sich wieder dem alten Geizkragen zu.

»Hören Sie mal,« sagte er. »Mein Freund hier ist verrückt. Er bietet Ihnen fünfhundert Lire für Ihre alte Scharteke, aber nicht einen Centesimo mehr, hören Sie, wollen Sie oder wollen Sie nicht?«

Vater Triulzi stieß ein neues Geheul aus, das Antwort genug war. Philipp packte Lavertisse am Arm und zog ihn auf die Straße hinaus. Unter einer Sturmflut von Urteilen über Vater Triulzi von seiten Francescas wanderten sie durch die Katakombengäßchen weiter, bis sie plötzlich am Fuße der alten Räuberburg anlangten, die in alter Zeit Dolceaqua vor den Angriffen der nahe gelegenen anderen Räuberburgen beschirmt hatte. Es war eine Befreiung, wieder in die Luft und den Sonnenschein hinauszukommen. Sie besichtigten die Ruine und genossen die Aussicht über das Flußtal darunter, bis Francesca sie an das Hühnchen ihres Vaters erinnerte, das nun schon über eine halbe Stunde auf dem Spieße briet.

»Sie sehen aus, als ob Ihnen der Appetit vergangen wäre, Lavertisse,« sagte Philipp, während sie rasch hinabschritten.

»Ich kann mir das Buch dieses alten Banditen nicht aus dem Kopf schlagen. Ich glaube nicht, daß es noch drei andere käufliche Exemplare auf der Welt gibt.«

»Vergessen Sie doch ihn mitsamt seiner Bibel. Es gibt noch andere Antiquitäten.«

Lavertisse nickte, ohne zu antworten.

Als sie wieder an Vater Triulzis Haus vorbeikamen, stand der ehrwürdige Greis in der Türe, das eine Auge eingekniffen, mit dem anderen schlau den Himmel betrachtend. Bei ihrem Herankommen zuckte er zusammen und nahm eine ängstliche Miene an, so als fürchtete er, daß sie wieder mit ihrem schändlichen Feilschen beginnen könnten. Als dies jedoch ausblieb und sie schweigend vorbeipassierten, kam er auf die Straße hinausgestürzt.

»Signor!« winkte er Lavertisse zu.

»Mein Freund spricht nicht italienisch. Wollen Sie Ihr Buch jetzt für fünfhundert verkaufen?«

»Nie, nie!« Vater Triulzis Geheul war schriller denn je. Aber als er sah, wie Philipp sich sofort zum Gehen wandte, verstummte er plötzlich, und indem er alle seine zehn Finger ausspreizte, rief er heiser:

»Mille, Signor! Tausend! Bedenken Sie, es ist eine Bibel!«

Francesca übernahm die Antwort auf diesen Vorschlag, und einige Minuten später saßen sie im Wirtshaus bei ihrer Mahlzeit. Francesca erzählte ihrem unrasierten Vater ihre Erlebnisse, und beim Käse erschien dieser mit seiner ganzen eigenen Bibliothek, sorgsam vom Staube gereinigt. Da sie jedoch nur fünf Heiligenlegenden mit Holzschnitten und als Clou einen Jahrgang der Illustrazione italiana umfaßte, sahen Philipp und Lavertisse sich nicht in der Lage, darauf zu reflektieren. Philipp tröstete ihn mit der Aufforderung, sich zu ihnen zu setzen und eine Flasche seines vortrefflichen Weines mitzutrinken. Er stellte ihm einige Fragen nach Dolceaqua, und der Wirt schüttete ihm sein Herz aus. Alles war gut in Dolceaqua bis auf die Steuern und die Obrigkeit, die diese Steuern auferlegte. Heilige Madonna, welche Steuern! Hohe, unerhörte Steuern! Wahnsinnige, ganz und gar sinnlose Steuern! Und wozu wurden sie nicht verwendet? Ein Schulhaus war errichtet worden! – Haha, Signori, ein Schulhaus! Und was noch? Ein Gefängnis! – Haha, Signori, ein großes, solides Gefängnis für Dolceaqua und die umliegende Gegend – wo seit hundert Jahren kein Verbrechen begangen worden war! Wo man niemanden gehängt hatte, seit der letzte Räuberbaron der Burg von seinen Kollegen aufgeknüpft worden war, was schon vier-, fünfhundert Jahre her sein sollte. Aber nun, Signori, nun kommt das Allerärgste!«

»Und was ist das Allerärgste?« fragte Philipp. Lavertisse saß in tiefes Sinnen versunken da und schien wenig Anteil an dem Gespräch zu nehmen, was begreiflich war, da er die Sprache nicht verstand.

Der Gastwirt trank sein Glas aus und machte eine weite Handbewegung.

»Ja, das fragen Sie,« sagte er. »Wissen Sie, man will uns impfen! Alle miteinander.«

»Gütiger Gott,« sagte Philipp. »Das ist noch nicht geschehen?«

»Nie, Signor!« rief der Gastwirt mit berechtigtem lokalpatriotischem Stolz. – »Aber jetzt, in einer Woche oder zehn Tagen soll es geschehen. Haha, der Mann, der das tun soll, ist schon in Seborga. In einer Woche oder zehn Tagen ist er hier. Und dann ...«

Er starrte düster auf die strohumsponnene Weinflasche. Lavertisse zupfte Philipp am Arm.

»Gehen wir doch, Professor!«

Sie tranken aus, und der Gastwirt stellte Philipp die schmeichelhafte Frage, ob er Italiener sei. Philipp erwiderte, er sei Schwede, bezahlte die Rechnung, verehrte Francesca ein goldenes Zwanziglirestück und empfing als Quittung eine zahllose Menge Segenswünsche von ihr und ihrem Vater. Hierauf wanderten er und Lavertisse weiter, und es war sieben Uhr, ehe sie wieder in das Hotel in Bordighera zurückgekehrt waren.

Am nächsten Morgen wurde Philipp von einem überaus redseligen italienischen Kellner geweckt. Es dauerte einige Zeit, bevor es ihm gelang, zu verstehen, daß eine junge Dame ... hm ... eine sehr junge Dame ihn zu sprechen wünschte.

»Sagen Sie ihr, ich komme, sowie ich mich angekleidet habe.«

»Die junge Dame bat mich, zu sagen, sie könne unmöglich warten.«

»So führen Sie sie herein und bleiben Sie als Tugendwächter.«

Der Kellner öffnete die Tür, und herein kam niemand Geringerer als Francesca.

»Was in aller Welt!« rief Philipp. Aber Francesca unterbrach ihn ohne weiteres, indem sie vor allen Dingen den Kellner hinauswarf. Nachdem dies geschehen war, zog sie ein Kuvert hervor und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus:

» Oh, Dio mio, warum, warum hat er das getan?«

»Liebe Francesca,« sagte Philipp, »tun Sie mir den Gefallen und weinen Sie etwas weniger laut. Der Kellner ist ohnehin schon mißtrauisch genug.«

»Warum, warum hat er das getan?« schluchzte Francesca.

»Ist dieser Brief an mich, liebe Francesca, oder sollen Sie ihn aufgeben und haben keine Marken?«

Endlich gab ihm Francesca den Brief, unter einer Sturmflut von Tränen. Philipp riß das Kuvert auf, und nach zwei Blicken in den Brief fehlte nicht viel, und er hätte seinen Gefühlen ebenso freien Lauf gelassen wie Francesca. Es gelang ihm jedoch, sich zu beherrschen und er sagte rasch:

»Liebe Francesca, beruhige dich! Sage ihm, ich werde die Sache schon ordnen. Hier hast du zwanzig Lire, kaufe dir was Schönes dafür und sieh jetzt, daß du fortkommst, bevor die Sittenpolizei erscheint. Merke dir, was du sagen sollst: der Professor ordnet die Sache, seien Sie ganz beruhigt! Und jetzt, adieu, mein Kind.«

Noch laut weinend, verschwand Francesca durch die Türe. Philipp sprang aus dem Bette und klingelte dem Kellner.

»Bitte bestellen Sie die Rechnung für mich und meinen Freund. Ich reise mit dem Expreß um elf Uhr. Die junge Dame brachte mir Nachricht von meinem Freunde. Er mußte ganz unerwartet nach Rom fahren. Darum weinte sie, sie hängt sehr an ihm.«

Der Kellner verschwand, konsterniert, aber immerhin einigermaßen beruhigt, und Philipp zog sich in fliegender Eile an. Es war halb elf Uhr und er hatte tatsächlich die Absicht, den Zug, der nach Rom ging, zu benutzen, allerdings nicht um Lavertisse dort zu treffen. Denn der Ort, wo dieser sich befand, lag weit von Rom, und gottlob führten nicht so viele Wege hin wie zur ewigen Stadt.

Monsieur Lavertisse saß im engen Loch, und so lautete der Brief, den Francesca ihm überbracht hatte:

»Professor! Verduften Sie sofort, solange es noch Zeit ist! Unternahm eine nächtliche Expedition, um Vater Triulzi den Boccaccio abzukaufen – für fünfhundert Lire, auf Ehre, aber diskret – und hol' mich der und jener, wurde ich nicht hoppgenommen! Schlägerei, große Hunde, Biß ins Bein, Arretierung. Sitze allein in dem neuen, soliden Gefängnis in Dolceaqua, bewacht von fünf blutdürstigen Sbirren! Mindestens ein Jahr, sagen sie. Sie werden Ihnen auch nachsetzen. Es gelang mir, Francesca das zuzustecken, hoffentlich trifft sie Sie rechtzeitig.

Verduften Sie sofort, auf Wiedersehen in einem Jahr oder so!

Lavertisse.«

Der Romexpreß sah Philipp Collin unter seinen Passagieren, aber nicht weiter als bis Genua. In dieser Stadt verließ er den Zug und ließ sich in einem in aller Eile gewählten Hotelzimmer mit einem Whisky nieder. Seine Überlegungen dauerten ein paar Stunden, und wurden, anscheinend unmotiviert, kurz darauf gelöst, nachdem sein Blick gegen sechs Uhr auf ein Buch gefallen war, das er sich als Reiselektüre aus Paris mitgebracht hatte. Und das für einen Außenstehenden dunkle Wort Seborga murmelnd, bestellte Herr Collin beim Etagenkellner einen neuen Whisky und einen Fahrplan.

2.

Kleinstädte sehen sich in der ganzen Welt ähnlich. Der vorherrschende Zug in Grönköping wie in Grüneberg an der Oder ist Sensationsgier. Und wenn Dolceaqua auch in architektonischer Beziehung von anderen Kleinstädten abwich, so machte es im Moralischen keine Ausnahme. Die Affäre mit diesem feinen Ausländer, den man mitten in der Nacht auf frischer Tat bei einem Einbruchsversuch bei Vater Triulzi ertappt hatte, war der größte soziale Triumph, den Dolceaqua seit Menschengedenken erlebt hatte. Wie schon der Gastwirt Philipp Collin klagte, hatte die Stadt seit dem letzten halben Säkulum kein Verbrechen aufzuweisen, und da ließen die Behörden es sich einfallen, ein Gefängnis zu bauen! Und nun, ecco, findet sich plötzlich Verwendung für das Gefängnis, dank diesem fremden Signor.

»Der muß fünfzehn Jahre bekommen,« rief der Perückenmacher und Barbier Zazori. »Da steht das Gefängnis wenigstens solange nicht leer.«

»Aber da müssen wir ihn ja fünfzehn Jahre ausfüttern,« wendete der sonst auch sehr für das Recht eifernde Höker Mantero nachdenklich ein.

»Man kann ihn ja zu Strafarbeit verurteilen, so daß er sich seine Kost selbst verdient!« verbesserte Signor Zazori seinen Vorschlag.

»Aber kann man für einen mißlungenen Einbruchsversuch fünfzehn Jahre Strafarbeit bekommen?« fragte Signor Mantero. »Ihr müßt doch bedenken, daß er nicht weiter gekommen ist als bis in Vater Triulzis Vorraum.«

»Zu fünfzehn Jahren Strafarbeit muß er verurteilt werden, sonst gilt hierzulande weder Recht noch Gesetz,« rief Signor Zazori, »und ich wandere nach Amerika aus!«

»Hat ihn jemand gesehen, seit er eingesperrt ist?« fragte der Schmied Gazzo, der für einen Augenblick ins Wirtshaus hineinsah.

»Die Polizeikonstabler zeigen ihn für fünf Centesimi jedem, der ihn sehen will,« sagte der Briefträger Tognioli, dessen Beruf ihm Muße genug ließ, seinen ganzen Tag im Gasthaus zu verbringen, wenn er wollte. »Ich war gleich heute morgen drüben und habe ihn mir angesehen.«

»Wie sieht er denn aus?« fragte Signor Gazzo. »Der ist wohl recht traurig und läßt den Kopf hängen?«

»Nein, porca Madonna, das ist das Eigentümliche. Der lacht und pfeift wie ein Star im Frühling. Der Konstabler Borbante, der französisch spricht, hat ihm das vorgehalten und gesagt, daß man von einem Arrestanten ein anderes Betragen erwartet. Aber er pfeift nur und bietet ihnen Zigaretten an.«

»Hat er denn Geld?« rief Signor Mantero.

»Massenhaft,« versicherte der Briefträger.

»Aber warum ist er dann bei Vater Triulzi eingebrochen?«

»Vater Triulzi hat eine Bibel, die der Fremde stehlen wollte, eine illustrierte Bibel mit der Madonna und allen Heiligen. So sagt Vater Triulzi. Der Franzose sagt, daß er die Bibel kaufen wollte und daß er dazu Geld mit hatte.«

»Haha! Wer das glaubt!«

»Natürlich nicht, aber Geld hat er, das stimmt, und er ist auch freigebig damit.«

»Er hofft wohl, die Konstabler zu bestechen!«

»Da kann er sein Geld sparen! Borbante läßt den ersten Gefangenen, den er im Leben gehabt hat, nicht um eine halbe Million aus. Übermorgen nachmittag beginnt das Verhör.«

»Und der andere, sein Komplize?« fragte Signor Zazori und runzelte die Brauen. »Von dem haben sie noch keine Spur?«

»Nein, der ist entkommen. Er soll ein Schwede sein, sagt Vater Giglio hier im Wirtshaus, obwohl er unsere Sprache fließend spricht.«

»Ein Schwede!« sagte Signor Zazori und runzelte seine zolldicken Augenbrauen noch heftiger, » Porca Madonna, das sind ja die, die in Deutschland wohnen. Und der ist entwischt!«

»Ja, entwischt. Aber die Gendarmen setzen ihm überall nach.«

»Wenn's ein Deutscher ist, dann kriegen sie ihn nie,« sagte der Höker Mantero pessimistisch. »Mich hat einmal ein Deutscher beschwindelt, als ich noch in Bordighera ein Geschäft hatte. Es war ein Baron.«

Der Briefträger Tognioli senkte die Stimme und sah sich um.

»Morgen kommt er,« flüsterte er.

»Wer?«

»Der Impfarzt. Heute ist an den Bürgermeister der Brief gekommen. Morgen nachmittag trifft er ein, und übermorgen soll die Impferei losgehen.«

Es wurde still in der Tafelrunde. Man sah einander an und trank, ohne ein Wort zu sprechen. Endlich brach Signor Zazori los. »Tod und Teufel, wenn ich mit dem Messer in mich hineinstechen lasse!«

»Du mußt! Es ist auf Befehl der Regierung. In Genua gehen die Blattern um, und alle müssen geimpft werden.«

»Ich sage nur eines. Eher soll man mich ins Gefängnis zu dem Franzosen setzen, als der mir mit seinem Messer in die Nähe kommt. Mich von so einem aufschneiden lassen! Corpo di Christo! So eine Schweinerei! Wer weiß denn, ob er einen nicht zum Spaß vergiftet!«

»Aber es ist eine Verordnung, und in Seborga hat er niemanden vergiftet, das habe ich gehört,« sagte der Briefträger Tognioli, der das dunkle Gefühl hatte, daß sein Beruf einen gewissen gebildeten Radikalismus der Ansichten von ihm verlangte. Aber ein Sturm von Protesten erhob sich gegen ihn.

»Ich werde hingehen,« schrie der Barbier Zazori, »aber wie er nur Miene macht, mich anzurühren, schneide ich ihm mit meinem Rasiermesser den Hals ab!« Signor Zazoris Freunde drückten ihren Beifall aus. »Er soll nur mit dem Barbier anfangen,« riefen sie, »dann wird er schon sehen, ob wir uns in Dolceaqua alles gefallen lassen! Es lebe der Barbier!« Schließlich sagte Signor Tognioli, um ein anderes Gespräch aufs Tapet zu bringen:

»Die Impfung findet um zwölf Uhr statt, und das Verhör beginnt um drei. Übermorgen ist ein großer Tag für Dolceaqua!«

Signor Zazori beteuerte mit noch etlichen blutrünstigen Ausdrücken, daß der Tag ein denkwürdiger sein würde, wenigstens durch das erste seiner Ereignisse, wenn der Impfarzt ihm in die Nähe kam; und man brach auf.

Signor Zazori sollte recht behalten. Der für die großen Ereignisse festgesetzte Tag blieb in Dolceaqua ewig unvergeßlich, und zwar durch die erstere dieser Begebenheiten. Aber es war nicht Signor Zazoris Verdienst, daß es so kam; und wenn du dich auf der Durchreise durch Dolceaqua von Signor Zazori rasieren läßt, dann tust du überhaupt am besten, den denkwürdigen Tag als Gesprächsthema mit ihm zu vermeiden. Derselbe Rat gilt auch für die übrigen Einwohner der Stadt. Und zwar aus dem Grunde, weil – aber versuchen wir zu schildern, was geschah.

Gegen fünf Uhr, am Tage nach dem oben referierten Gespräch in Vater Gilios Wirtshaus trafen vier Herren im Auto in Dolceaqua ein und wurden mit erwartungsvollem Interesse begrüßt. Touristen waren immer willkommen und namentlich im Auto. Die vier Herren machten vor dem Wirtshause halt und erkundigten sich nach Zimmern. Vater Gilio, der es nicht gewohnt war, Logiergaste zu haben, geriet vor Freude außer sich.

»Ich habe vier Zimmer frei, Signori,« sagte er. »Sie können den ganzen oberen Stock haben.«

»Ausgezeichnet.«

Die Reisenden hoben eine Menge Gepäck von teilweise eigentümlichem Aussehen aus dem Auto, und Vater Gilio trug es hinaus. Das Auto wurde in einen Stall gezogen, der sonst Vater Gilios Esel beherbergte. Die Fremden, die offenbar Italiener waren, machten nichtsdestoweniger einen sehr schweigsamen Eindruck und begaben sich sofort in ihre Zimmer. Nach einiger Zeit hörte Vater Gilio, der im Treppenhause stand und lauschte, dort oben ein wunderliches Summen; kurz darauf öffnete sich die Türe, und einer der vier Neuankömmlinge ging die Stiege hinunter. Er hatte goldgefaßte Brillen und sah wie ein Arzt aus. Er nahm in Vater Gilios bestem Gastzimmer Platz, ließ sich eine Flasche Wein von Vater Gilio servieren und rauchte gedankenvoll eine Zigarette nach der anderen, während er dem Summen zu lauschen schien, das vom oberen Stockwerk ertönte. Vater Gilio verging vor Neugierde, aber wagte es nicht, den Fremden zu stören, dessen gelehrtes Aussehen ihn einschüchterte. Gegen acht Uhr sah der Fremde auf seine Uhr, stand stillschweigend vom Tisch auf und ging in das obere Stockwerk. Es dauerte einige Zeit, bis er wieder herunterkam, und unterdessen hatte das Summen dort oben aufgehört. Schließlich zeigte er sich wieder und bestellte bei Vater Gilio ein Souper.

»Für Sie und die anderen Signori in der Wohnung zu servieren, nicht wahr?« beeilte sich Vater Gilio zu fragen.

»Nein. Nur ein Souper für mich. Und ich wünsche es hier zu essen.«

Vater Gilio starrte ihn an.

»Und die anderen Signori?«

»Die soupieren nie.«

Vater Gilio tischte stumm auf, was er hatte. Makkaroni, ein Ragout, Käse und Wein. Was hatte er da für eine eigentümliche Gesellschaft unter seinem Dache? Was war das für ein hartnäckiges Summen, das aus dem Oberstock kam? Und was waren das für Herren, die im Auto ankamen und nicht soupierten? Er zerbrach sich den Kopf, bis der Fremde seinen Kaffee ausgetrunken hatte und aufstand.

»Sie möchten vielleicht wissen, wer ich bin?« sagte er. »Sie machen sich vielleicht Sorgen wegen der Rechnung? Lassen Sie mich Ihnen für mich und meine Reisegefährten zwei Tage im vorhinein bezahlen!«

Vater Gilio erschöpfte sich in Protesten. Der Fremde schnitt sie kurz ab, gab ihm ein paar Goldmünzen und zog ein gestempeltes Papier aus der Tasche.

»Ich werde in Dolceaqua erwartet,« sagte er, »aber ich weiß nicht, ob gerade mit Sehnsucht. Können Sie lesen?«

Vater Gilio nickte stolz und nahm das Papier, das ihm gereicht wurde. Er buchstabierte sich durch die ersten Zeilen hindurch, dann entschlüpfte ihm ein Ausruf:

»Der Impfarzt!«

Der Fremde nickte schweigend.

»Ich konnte mir schon denken, daß ich hier so empfangen werden würde wie anderswo,« sagte er. »Jetzt wissen Sie, wer ich bin, und Sie können die Obrigkeit verständigen, daß die Impfung morgen um zwölf Uhr beginnt.«

Er machte einen Schritt auf die Treppe zu, aber drehte sich noch einmal um.

»Ja, richtig,« sagte er. »Seien Sie nicht ängstlich, wenn dieses Summen, das Sie da hören, bis in die Nacht fortdauert, das sind meine Assistenten, die arbeiten. Und weil es mir gerade einfällt – bereiten Sie ein gutes und konsistentes Frühstück frühmorgens für sie vor. Sie werden ihm schon Ehre antun.«

Mit diesen Worten ging er, und der erschreckte Vater Gilio eilte in das Schankzimmer, um Signor Zazori und seinen Freunden die Neuigkeit zu verkünden.

Es ist nicht so leicht, eine richtige Schilderung der Ereignisse des folgenden Morgens in Dolceaqua zu entwerfen. Will man an Ort und Stelle Zeugenaussagen einholen – wie es die italienischen Behörden versucht haben – so bekommt man geradezu eine verwirrende Masse von Details zu hören. Allerdings stimmen sie in der Hauptsache überein: daß eine Panik entstand, und daß der Teil der Stadtbevölkerung, der überhaupt seine Beine rühren konnte, sich gegen zwei Uhr nachmittags überall befand, nur nicht in Dolceaqua. Aber da das Gesehene von den Augen, die sehen, abhängig ist, geben die Zeugenaussagen im übrigen ein sehr verwirrendes Bild des Vorgefallenen. Signor Zazori schwört darauf, daß nur die flehentlichen Bitten der übrigen Einwohner ihn abhielten, ein Blutbad, ärger als die Bartholomäusnacht, anzurichten, während die übrigen Einwohner schwören, daß Signor Zazori den ersten Preis bei dem Wettrennen vom Rathaus weg beanspruchen konnte. Sicher steht jedoch folgendes:

Um halb 12 Uhr vormittags erschienen die vier fremden Herren, die am vorhergehenden Tage eingetroffen waren, im Rathaus, wo sie den Bürgermeister zu sprechen wünschten. Der Bürgermeister empfing sie nach einigem Zögern. Der eine der Fremden zog ein gestempeltes Papier heraus und sagte:

»Mein Besuch ist Ihnen schon angemeldet, Herr Bürgermeister, und Sie wissen, um was es sich handelt. Hier ist meine Vollmacht. Ich hoffe, Sie haben einen Aufruf an die Bevölkerung ergehen lassen, sich vollzählig einzufinden.«

»Ja – ja, gewiß,« stammelte der Bürgermeister, nachdem er das Papier durchgelesen hatte. »Ja, gewiß. Sie kommen bestimmt.«

»Ich glaube, es wird am besten sein, wenn Sie ein paar Ausrufer in Dolceaqua herumschicken, falls Sie das nicht schon getan haben. Sonst habe ich keine großen Hoffnungen. Betonen Sie, daß die Impfung gratis und vollkommen schmerzlos ist.«

»Ja, ja, – das ist vielleicht das beste,« sagte der Bürgermeister.

Es wurde halb 1 Uhr, bevor die Bevölkerung anfing, sich einzufinden. Der erste, der kam, war der Barbier Zazori, dessen Züge wilden Trotz ausdrückten. Wie durch sein Beispiel gestärkt, begannen andere anzurücken, und gegen 1 Uhr fing der Empfangssaal an sich zu füllen.

Der Impfarzt und seine drei Assistenten standen auf einer Estrade. Auch der Bürgermeister hatte über Aufforderung des Impfarztes da Platz genommen. Er war sichtlich bleich und nervös und putzte eifrig seine Brillen. Der Impfarzt beugte sich zu ihm vor.

»Bevor wir anfangen,« sagte er, »wäre es vielleicht am besten, ein paar Polizisten kommen zu lassen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie wissen, wie leicht eine Volksmenge zu erschrecken ist, Herr Bürgermeister.«

»Ja, gewiß.«

»Wie viele Polizisten haben Sie?«

»Fünf. Aber die haben einen gefährlichen Verbrecher zu bewachen, von dem können sie nicht weggehen. Ich soll um 3 Uhr ein Verhör mit ihm abhalten.«

Der Impfarzt überblickte den Saal.

»In Ceriana hatte ich zehn Konstabler zu meiner Unterstützung, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, und in Seborga sieben.«

»Aber der Gefangene! Der Gefangene!«

»Der ist doch hinter Schloß und Riegel!«

»Ja, aber – – –«

»So lassen Sie ihn unterdessen in Ketten legen, wenn Sie solche Angst haben. Ich kann nicht garantieren, daß ich die hiesige Bevölkerung ohne mindestens fünf Konstabler im Zaume halten kann. Wollen Sie? Vergessen Sie nicht, daß die Impfung auf Regierungsbefehl stattfindet.«

»Es ist ungesetzlich, ihn in Ketten legen zu lassen.«

»Ach was, ein Verbrecher, für ein paar Stunden! Wenn Sie sich nicht trauen, die Verantwortung zu übernehmen, ich traue mich schon.«

Der Bürgermeister warf einen hilflosen Blick rings um den Saal und beugte sich dann zu seinem Schreiber vor, dem er eine Weisung erteilte. Es verging eine weitere Viertelstunde, während der Saal sich noch mehr füllte; dann kam Dolceaquas Ordnungsmacht vollzählig hereinmarschiert und postierte sich in der Nähe des Eingangs. Einen Augenblick ging eine Welle der Nervosität durch die Menschenmenge, aber der Impfarzt zerstreute sie sofort, indem er die Hand hob und das Wort ergriff.

»Bürger von Dolceaqua,« sagte er, »wie ihr alle wißt, findet heute hier die Impfung statt. Es ist Befehl der Regierung, und er ist einzig und allein zu eurer Wohlfahrt erlassen. Ihr wißt, daß eine schwere Blatternepidemie in Genua rast, kaum fünf Stunden Eisenbahnfahrt von hier. Ihr wißt vermutlich auch alle, was für eine furchtbare Krankheit die Blattern sind? (Stimme im Saal: Wir haben hier noch nie keine Blattern nicht gehabt.) Ihr könnt die Blattern in fünf Stunden hier haben; ein Reisender aus Genua kann sie mitbringen. (Stimme im Saal: Hierher kommen sowieso keine Reisenden.) Wer garantiert euch, daß keine Reisenden hierherkommen? Habt ihr nicht eben jetzt einen ausländischen Verbrecher in eurem Gefängnis, wie ich gehört habe? – Die Blattern gehören zu den schrecklichsten Krankheiten, die es gibt. Sie raffen Männer, Frauen und Kinder dahin, und wen sie nicht töten, den entstellen sie fürs ganze Leben. Und gegen die Blattern gibt es nur eine Rettung: sich impfen zu lassen. (Stimme im Saal, als die Signor Zazoris erkannt: Und wer sagt uns, daß wir nicht noch was Ärgeres kriegen, wenn wir uns impfen lassen?) Der große Vorteil der Impfung ist, daß sie vollständig ungefährlich ist. Ihr hört, was ich sage, vollständig ungefährlich. In ein paar Augenblicken, wenn ich den ersten von euch geimpft habe, werden es die anderen mit ihren eigenen Augen sehen. Wer von euch, Bürger von Dolceaqua, will der erste sein, der den Weisungen der Regierung bereitwillig Folge leistet?«

Wenn der Sprecher erwartet hatte, daß daraufhin eine Stürmung der Estrade erfolgen werde, hatte er sich geirrt. Seinen Worten folgte vielmehr tödliches Schweigen, nur das heisere Knirschen von Signor Zazoris Zähnen war zu hören, während er seinen Nachbarn, dem Höker Mantero und dem Briefträger Tognioli auseinandersetzte, welche Martern er dem Impfarzt zudachte, wenn dieser ihn zwingen wollte, der erste zu sein. Der Impfarzt, der über die Volksmenge hingesehen hatte, zuckte die Achseln und fuhr fort:

»Bürger von Dolceaqua, es schmerzt mich, zu sehen, daß keiner von euch freiwillig der erste sein will, den Weisungen der Regierung zu entsprechen. Nun wohl, die Regierung ist weitblickend und freigebig; sie hat eine Belohnung von zwanzig Lire für den ersten ausgesetzt der sich impfen lassen will, und fünf Lire für jeden der zehn nächsten, die sich melden. Hier liegt das Geld. Bürger von Dolceaqua, wer will der erste sein?«

Wieder entstand eine Pause, und alle sahen einander an. Signor Zazoris Antlitz drückte durch ein teuflisches Grinsen aus, daß er die Falle mit dem Zwanziglirestück durchschaut hatte. Der Impfarzt ließ seine Blicke durch den Saal schweifen. Schließlich heftete er sie auf den Mann, der neben ihm auf der Estrade saß, den Bürgermeister, der wie unter einem Vipernblick zusammenzuckte. Ohne daß jemand im Saal etwas merkte, schob er dem Bürgermeister einen Zettel hinüber, aus dem dieser las: Ich werde nur so tun, als ob ich Sie impfte. Sie werden es kaum spüren, und das Zwanziglirestück gehört Ihnen! – Im nächsten Augenblick brach ein Sturm des Beifalls im Saale los. Der Bürgermeister hatte sich von seinem Sitz erhoben und den Rock abgeworfen.

»Lassen Sie mich mit gutem Beispiel vorangehen,« sagte er mit majestätischer Stimme.

»Darf ich Sie bitten, die Arme zu entblößen,« sagte der Impfarzt mit einer Verbeugung. »Sie machen Ihrer Stadt Ehre, Herr Bürgermeister.«

Unter der atemlosen Spannung der Menge krempelte er geschickt die beiden zweifelhaft reinen Hemdärmel des Bürgermeisters auf. Er nahm eine kleine Spritze vom Tisch, und mit einer blitzschnellen Bewegung hatte er zwei Injektionen gemacht. Die Schreie des Bürgermeisters wurden durch den Applaus des Volkes übertönt. Nach ein paar Sekunden saß er angekleidet auf dem Stuhle und nickte dem Volke zu. Wer nun im Eilmarsch die Estrade erklomm, das waren die fünf Polizeikonstabler Dolceaquas. Die Prozedur mit ihnen nahm für den Impfarzt und seine zwei Assistenten kaum eine halbe Minute in Anspruch, und das Volk war eben im Begriff, die Estrade zu stürmen, als die furchtbare Unterbrechung eintraf.

Die Goldmünze, die der Bürgermeister als Belohnung empfangen, fiel plötzlich aus seiner Hand, und fast gleichzeitig folgten ihr die Silbermünzen der Polizisten. Der Bürgermeister machte einen Versuch, sich von seinem Stuhl zu erheben, aber er vermochte es nicht. Die Konstabler sanken auf der Estrade zusammen wie Luftballons, aus denen das Gas ausgeströmt ist. Das Gesicht des Bürgermeisters wurde von Schrecken verzerrt, das der Polizisten ebenfalls, ihre Wangen wurden puterrot; sie begannen zu keuchen, wie nach einem mehrstündigen Laufmarsch, und während sie verzweifelte Anstrengungen machten, sich zu erheben, gellte der sechsfache Angstschrei:

»Er hat uns vergiftet! Wir sterben!« durch den Saal.

Das war das Signal zum Aufbruch. Wie eine sausende Lawine stürzte die Bevölkerung von Dolceaqua zu den Türen hinaus, Signor Zazori an der Spitze. Dort ging es nach den Katakombengäßchen und den Hügeln rings um die Stadt; nach fünf Minuten war nicht eine Menschenseele zu sehen und nichts anderes zu hören als vereinzelte Wehrufe aus den Katakomben und das Klappern einiger fliehender Holzstöckel, ferne auf den Anhöhen. Plötzlich wurden die vier Personen sichtbar, die die Schreckensszene verursacht hatten. Anscheinend ganz unberührt lenkten sie ihre Schritte nach dem Gefängnis von Dolceaqua; nach zwei Minuten kamen sie wieder heraus, aber waren nun ihrer fünf. Und einige Minuten später flog ein Auto die Küste hinunter.

3.

»Da sehen Sie den Nutzen einer guten und bildenden Lektüre, lieber Lavertisse! Hätte ich Pervenches Heirat oder den Boudoirspiegel als Reiselektüre mitgehabt, dann wären Sie jetzt verhört und gerichtet. Meine physiologischen Mysterien haben Sie gerettet.«

»Möchten Sie nicht so sprechen, daß ein gewöhnlicher Christenmensch Sie verstehen kann, Professor?«

»Ich finde, ich spreche wie eine Fibel. Als ich Ihren Brief durch Francesca bekam, wußte ich nur das eine, daß ich Sie loskriegen muß. Sie haben wahrhaftig etwas Gescheiteres zu tun, als in Italien im Gefängnis zu sitzen. Aber wie ich es anstellen sollte, das war ein Rätsel, zu dessen Lösung ich sieben Stunden Zeit brauchte. So gut bewacht, wie Sie waren, wäre es nicht einmal in London leicht gewesen, Sie fortzuschaffen, in einem kleinen Nest wie Dolceaqua war es ein Ding der Unmöglichkeit; ich konnte mich nicht im Gesichtskreis der Katakomben zeigen, ohne Verdacht zu erregen. Ich dachte schon daran, mich als Zirkuskünstler oder Menageriebesitzer dort niederzulassen, aber diese fünf blutdürstigen Konstabler waren mir um drei zuviel. Da fiel mir plötzlich der Impfarzt ein, der dort erwartet wurde, der augenblicklich in Seborga war, und dem wir eben auf dem Amerikadampfer unser Lebewohl zugewinkt haben. Ich fand ihn in Seborga, und er war sehr geneigt, gegen entsprechende Gegenleistung auf welchem Ohr immer zu hören. Ich schlug ihm vor, seinen Platz einzunehmen und die Bevölkerung mit irgendeinem Betäubungsmittel anstatt mit Lymphe zu impfen. Aber das war unmöglich, weil es unmöglich war, geeignete Gifte in genügender Quantität aufzutreiben. Die Giftvorschriften sind hier überaus streng, und von anderswo etwas einzuschmuggeln, ging auch nicht, aus dem einfachen Grunde, weil ich zu große Eile hatte. Der Mann sollte zur bestimmten Zeit in Dolceaqua sein. Und da kamen mir die physiologischen Mysterien zu Hilfe.

Wissen Sie, wie die Müdigkeit entsteht, Lavertisse? Wenn Sie es nicht wissen, so sind Sie entschuldigt, denn die Wissenschaft versteht es auch nicht so recht. Aber soviel ist sicher, daß alle Arbeit wirkliche Gifte in den Muskeln hervorruft, und diese Gifte bewirken es, daß wir uns müde fühlen. In normalen Fällen werden sie durch das Blut ausgeschieden – aber nichts hindert uns, sie in anderer Weise aus den Muskeln zu schaffen. Das kann jeder Physiologe in seinem Laboratorium machen. Und spritzt man das Gift einer anderen Person ein, dann entsteht ein überwältigendes Müdigkeitsgefühl, und wenn die Dosis stark genug ist, eine momentane Lähmung.

Da hatte ich mein Ei des Kolumbus, und der Rest war sehr einfach. Ich nahm ein Auto nach Dolceaqua, in Gesellschaft des Impfarztes und seiner zwei Brüder, die sich nichts Besseres wünschten als ein Billett nach Amerika. Wir hatten eine kleine Armtretmühle mit, die in Ihrem Interesse den ganzen gestrigen Abend bis tief in die Nacht schnurrte. Ich verschaffte mir von meinen drei Assistenten Müdigkeitsgifte genug für ein Schock Menschen, aber ich war gewiß, daß mit ein wenig dramatischer Inszenierung schon die Hälfte genügen würde. Der Richter und die Polizisten waren ja die, mit denen ich am liebsten experimentieren wollte, und der Bürgermeister, der zugleich Richter ist, kam mir in dieser Sache entgegen. Ich fürchte, lieber Lavertisse, der nächste Impfarzt wird ein hartes Stück Arbeit mit der Obrigkeit und der Ordnungsmacht in Dolceaqua haben. Es wäre wirklich schade, wenn ich so im Dienste des Obskurantismus gewirkt hätte.«

»Die glaubten wohl, sie seien vergiftet und müßten sterben, Professor?«

»Allerdings. Als ich sie verließ, saßen sie auf der Estrade, so ermattet, daß sie sich nicht rühren konnten und erinnerten lebhaft an Dornröschens Hofstaat. Aber ich glaube, jetzt werden sie schon wieder auf den Beinen sein. – Apropos, lieber Lavertisse, Sie schrieben, daß Sie in jener Nacht, wo Sie Vater Triulzis Bibel kaufen wollten, von Hunden gebissen wurden? Soll ich Ihnen nicht vielleicht eine kleine Injektion zur Verhütung der Hundswut geben?«


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