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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Den Befehl der guten Tante hatte Lise zur Gänze befolgt. Es war schon halb neun Uhr, als sie das Zimmer der Tante betrat. Onkel Gustav begrüßte sie mit großer Herzlichkeit und entschuldigte sich bei der jungen Dame wegen seiner Morgentoilette. Er war sehr spät nach Hause gekommen. Die Bestrebungen des von ihm gegründeten Weihnachtsbescherungsvereins hatten gerade in diesem Jahre ungeheuren Erfolg gehabt, der in grandiosen Ovationen für den Obmann festlichen Ausdruck gefunden hatte. Er hatte einen schmerzlich träumerischen Zug um die Augen.

»Wenn ich mich dann angekleidet haben werde«, sagte er, »gehe ich sofort auf die Post, um deinen betrübten Eltern zu melden, daß du bei mir bist«, sagte er. »Dein Herr Papa könnte es sich wohl ohnehin an den Fingern abzählen, aber ich will seinem bedrängten Verstande etwas zu Hilfe kommen!«

»Wenn er aber dann herkommt und Skandal macht«, sagte Lise und ward rot vor Angst.

»Das wird er nicht tun, wie er zu toben anfängt, laß ich Hex und Lady herein, und wenn er die zwei Köter sieht, vergeht ihm aller Mut«, tröstete Onkel Gustav.

Lise und Pauline mußten unwillkürlich lachen.

»Also ist dir schon wieder gut ...?« fragte fröhlich Pauline.

»Bene – optime!« antwortete der Gutgelaunte, »ich wünschte mir nur, den tiefen Seelenschmerz meines geliebten Bruders zu sehen, und seine den Himmel anrufenden Tiraden zu hören. Auch Frau Charlotte wäre sehr interessant.«

Er ging hinüber in sein Schlafzimmer. Es dauerte fast drei Viertelstunden, bis er endlich – strahlend wie die Sonne – im Sonntagsstaat wieder die Stube betrat.

»Bevor ich zur Post gehe, muß ich dir im hellen Tageslichte Hex und Lady vorstellen, Lise«, sagte er, und sein Gesicht strahlte vor Vergnügen.

»Ich kenne sie aus den Erzählungen des Papa«, sagte Lise, »er hat über die beiden Hunde nach seiner Rückkehr fürchterlich geschimpft, Eugen hat sie in Schutz genommen, und beinahe wäre wieder ein ungeheurer Skandal losgebrochen.«

»Eugen ist ein braver, tüchtiger Junge, dein Vater ist ein ...«

»Aber, Gustav!« mahnte die Tante.

Gustav unterdrückte den naturhistorischen Terminus technicus, der ihm auf der Zunge lag.

»Lise, nimm dir ein Tuch um und komm mit heraus. Es ist bitter kalt!«

Vermummt mit einem dicken Tuch, folgte Lise dem Onkel nach. Auch Tante Pauline war neugierig, zu beobachten, welchen Eindruck der Anblick der Nichte auf die Köter machen werde.

Ein langgezogenes, wüstes Geheul begrüßte sie.

»Pfui, Hex, pfui, Lady!« befahl der Onkel.

Es bedurfte langer, parlamentarischer Verhandlungen, bis Hex und Lady bereit waren, der Fremden das Pratzerl zu geben.

»Sie sind schön!« sagte der Onkel.

Lise war schon im Begriff, einige Zweifel über ihre Schönheit auszusprechen, aber der sonderbare schalkhafte und so wunderbar sprechende Ausdruck der gelben Katzenaugen hielt sie ab.

»Schön sind sie nicht, Onkel«, sagte sie, »aber gescheit müssen sie sein!«

In diesem Augenblick sprangen die Hunde in stürmischer Freude an ihr empor. Es war, als ob sie ihre Worte verstanden hätten.

»Pfui, Lady ... pfui, Hex ...!« wehrte der Onkel ab.

»Pfui!« schrie die Tante ... »und wie sie nur den Mantel herrichten!« Mit Mühe wurden die Hunde abgewehrt.

»Nun hast du sie gewonnen«, sagte freudig Onkel Gustav, als die Gesellschaft wieder im warmen Zimmer angelangt war. »Jetzt sind sie deine Freunde geworden!«

»Nun muß ich aber auf die Post, um dem betrübten Vater zu telegraphieren«, sagte er; »Marie, meinen Pelz!«

Während er das Telegramm aufgab, hörte er, wie ein Zug in den Bahnhof einrollte. Er ging auf den Perron zu seinem größten Erstaunen erblickte er plötzlich den geliebten Neffen, der ihm mit den Zeichen höchster Freude zuwinkte.

Die Begrüßung war eine ungemein stürmische.

Breuer stand einige Schritte abseits.

»Herr Doktor Thorn«, sagte er und trat vor, »ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern.«

»O, Herr Breuer! Sehr erfreut, sehr schön, daß Sie auch einmal in diese Gegend kommen. Sie kommen natürlich mit mir.«

»Zuerst das Allerwichtigste. Herr Doktor. Ist Elise bei Ihnen?«

»Natürlich. Gestern abends ist der Fratz gekommen«, sagte Dr. Thorn.

»Nun, Herr Breuer, hab' ich nicht recht gehabt?« sagte triumphierend Eugen. »Ich hab' auch gar keine Angst um sie gehabt; sie hat mir's ja gesagt, wohin sie geht. Ich hab' ihr ja meine letzten zehn Kronen für die Reise leihen müssen.«

»Ich war in rechter Sorge um sie«, sagte Breuer. »Gott sei Dank, daß nun alles so gut ausgeht.«

»Ja, ja, sie hat eine große Szene aufgeführt, als sie ankam. Nachdem ich aber kein Freund tragischer Theaterstücke bin, so haben wir sie bald beruhigt. Heute ist sie schon in normaler Verfassung. Ja – und was haben denn die Eltern gesagt!«

»O, die haben fürchterlich geheult, und zum Schluß habe ich vom Vater eine Ohrfeige bekommen. Wenn ich nicht Lise fast mein ganzes Geld geliehen hätte, wäre ich auch davongegangen!«

Die Ankunft der beiden neuen Gäste erregte direkt Sensation im Hause des Herrn Dr. Thorn. Leider war Lise momentan nicht anwesend. Sie war mit Hex und Lady in den Föhrenforst gegangen, die drolligen Hunde unterhielten sie auf die lustigste Weise.

Pauline gab sofort die gemessensten Befehle, daß für die unverhofften Gäste ebenfalls zu Mittag gedeckt werde.

Unterdessen gingen Thorn, Breuer und Eugen durch den Hof hinaus in den Garten.

»Ich werd' sie gleich haben«, sagte Thorn, zog sein Pfeifchen aus dem Sack. Schrillend tönte der grelle Pfiff, daß den Gästen beinahe das Trommelfell auseinandergeschnitten wurde.

»Der Pfiff gilt den Hunden – nicht Lise«, bemerkte Dr. Thorn lächelnd.

Es dauerte nicht lange und die beiden Köter rasten daher, daß der Staub aufwirbelte. Als sie die beiden Fremden erblickten, erhoben sie sofort ein markdurchschütterndes Geheul.

Während Thorn die Hunde in der Hütte versorgte, kam Lise. Sie war starr vor Erstaunen. Hochrot vor Beschämung reichte sie Breuer die Hand.

»Sie haben uns schwere Sorgen gemacht«, sagte bekümmert Breuer.

»Seien Sie nicht böse, Herr Breuer –« sagte sie und die Augen wurden ihr feucht.

Mit Mißvergnügen betrachtete Dr. Thorn die Szene. »Pardon, meine Herrschaften«, sagte er. »Wollen Sie sich. Ihren Gemütsbewegungen nicht vielleicht drinnen in der warmen Stube hingeben? Ich finde es da hier sehr frisch Das Thermometer hat heute früh Minus elf Grad Celsius gezeigt.«

Die Gesellschaft begab sich in das Speisezimmer. Pauline brachte einige den Magen in angenehmer Weise erquickende Kleinigkeiten.

Die nachfolgende Konversation gestaltete sich durch die häufigen Einwürfe Dr. Thorns sehr schwierig.

»Mutter und Vater sind ja wie die Wilden über mich hergefallen. Vater hat mich ja direkt hinausgeworfen – und da bin ich gegangen«, sagte empört Lise.

»Und sie hat ganz recht gehabt«, sagte eifrig Eugen, der mit großer Beflissenheit an einem Hühnerbein nagte.

»Na, ihr seid mir zwei nette Pflanzen«, bemerkte der Onkel; »vielleicht richtet ihr euch das in Zukunft so ein, daß ihr, wenn ihr mit euren Eltern unzufrieden seid, euch postwendend bei mir einquartiert. Zu einem ruhigen Lebensabend wird das recht viel beitragen!«

»Onkel, du weißt nicht, wie der Papa ist, man könnte manchmal aus der Haut fahren«, bemerkte Eugen.

»So«, bemerkte trocken der Onkel. »Aber eine Frage: was gedenkt meine Nichte jetzt zu tun?«

»Aber das ist einfach ... sehr einfach sogar«, sagte Eugen. »Lisel fährt mit uns wieder zurück. Wenn sie mit uns ankommt, wird ihr die Mutter mit Geheul um den Hals fallen, der Vater wird die Hände falten, einen tränenreichen Blick zum Himmel werfen, daß das verlorene Kind wieder zurückgekehrt ist. Und am nächsten Abend wird die alte Penzerei wieder von neuem angehen.«

Diese Darstellung wirkte auf alle Zuhörer höchst erheiternd. Onkel Gustav konnte das Lachen nicht verbeißen, er wußte nur zu gut, daß Eugens Schilderung äußerst zutreffend sei und stellte sich im Geiste die betreffende Szene ungemein lebhaft vor.

Da Eugen die Erörterung der Familienangelegenheiten nichts weniger als amüsant erschien, so erbat er sich die Erlaubnis, hinaus in den Hof zu den beiden Hunden zu gehen.

»Aber dein Pfeiferl mußt du mir leihen, Onkel!«

Thorn nestelte den kleinen Riemen los und überreichte das gewünschte Instrument dem Neffen.

»Nimm dir auch die Peitsche mit«, empfahl er.

»Sind es weiche Hunde?« fragte der des Weidwerks theoretisch vollständig kundige Neffe.

»Ja, es sind sehr weiche Hunde«, sagte der Onkel, und ein fröhliches Lachen spielte um seinen Mund.

»Seit sie der Förster mehrere Male windelweich geprügelt hat, sind sie sehr weich geworden. Ich bitte aber, den jungen Damen gegenüber nur die Jägersprache zu gebrauchen!«

»Onkel, das wird geschehen«, sagte stolz im Bewußtsein seiner Kenntnisse, Eugen.

Als sich Eugen verzogen hatte, begab sich Fräulein Lise zu Tante Pauline.

Dr. Thorn lud Herrn Breuer ein, seinem Museum einen Besuch abzustatten.

Die großartigen prähistorischen Schätze wurden gehörig bewundert, der prachtvollen Situla das höchste Lob gespendet. Auch die mächtigen, braungelben Knochen des Höhlenbären fanden begeisterte Anerkennung.

»Die Freude an diesen toten, uralten Dingen, hat mich mein ganzes Leben lang begleitet«, sagte Dr. Thorn zu dem Gast. »Eigentlich ist es gerade die Liebe zu diesen längst verdorbenen, vermorschten Dingen gewesen, die mir die Augen vom wirklichen blühenden Leben abgelenkt hat. Ich hab' kein Weib genommen – ich hätt's ja tun können. Nun ist das längst vorüber ... und es ist auch so gut geworden. Ich kann mich noch immer so recht herzlich freuen – an meinen Blumen, an meinen Hühnern und Gänsen und sogar an meinem kleinen Föhrenwald an der Straße, obwohl der gar nicht recht gedeihen will. Und wenn Hex und Lady eine infame Schurkerei begehen, quillt mein Herz vor Freude über, wenn auch Pauline, Marie und Kati vor Ärger fast vergehen könnten.«

Breuer hatte dem fröhlichen Manne schweigend zugehört.

»Sie haben das Talent zum Glück«, sagte er dann so halb für sich hin, »ich glaube, daß mir das fehlt. Als ich damals in die Familie Ihres Bruders hineinkam, glaubte ich törichterweise, mir werde mm ein schönes, helles Glück aufblühen. Ich hab's recht bald erkannt – daß das ein böser Irrtum war.«

Er sah schweigend vor sich hin.

Dr. Thorn tat der stille und gütige Mann, wie er ihn aus den Schilderungen seiner Familie kennen gelernt hatte, herzlich leid.

»Vielleicht ist's ein Glück«, sagte Breuer, »daß ich so rasch meinen Irrtum eingesehen habe. Daß ihr Herz einem anderen gehört, weiß ich längst. Und es ist so seltsam – ich möchte doch heute noch alles daran setzen, um sie glücklich zu sehen – wenn auch an der Seite eines anderen. Wenn sie nur glücklich ist – dann bin ich selber froh...!«

Dr. Thorn hatte schwer mit sich zu kämpfen, bevor er das Wort, ergriff.

»Brav, brav, lieber Herr Kollega! Bevor wir aber Weiter sprechen – ich habe einen ernst- und tiefgefühlten Antrag einzubringen – lassen Sie mich einige Anordnungen im Nahrungsmitteldepartement treffen. Ich bin sofort wieder hier.«

Breuer saß allein im Museum und sah mit wehmütigen Gedanken auf all das uralte Gerät und die morschen Knochen in den blanken Kasten.

Auch die, deren Knochen dort im Kasten liegen, die einst das verwitterte Hausgerät gebrauchten, haben einst all die Schmerzen, all die Leiden und kümmerlichen Freuden gefühlt – wie du – und nun sind Jahrtausende und Jahrtausende dahin ...

Eine feingeschliffene Flasche mit goldiggelbem Rebenblute gefüllt, zwei Stengelgläser in der Hand tragend, trat Dr. Thorn ein.

»Erlauben Sie, verehrter Herr Breuer.«

Breuer sträubte sich ein wenig. »Für den Vormittag ist das zu viel ...«, sagte er.

»Entschuldigen – Verehrtester«, sagte Thorn und schenkte ein.

Er hob sein Glas.

»Lieber Herr Breuer«, begann er, »wir sind einst Kollegen gewesen. Aus den Briefen, die meine Nichte und mein nichtsnutziger Neffe über Sie geschrieben haben, habe ich erkennen gelernt, was für ein guter, tüchtiger, was für ein edler Mensch Sie sind. Sie sind zu mir gekommen, um die – verzeihen Sie das Wort – um die, die Sie so recht vom ganzen Herzen lieben, für einen anderen zu gewinnen. Ruhe – jetzt hab' ich das Wort! ...« rief er, als Breuer versuchte, die Rede zu unterbrechen.

»Das heiß' ich stilles und großes Heldentum. Den Fratzen, die Lise, glücklich zu machen, ist unser beider Bestreben ... Damit unser Verkehr in dieser schwierigen Angelegenheit ein angenehmerer und leichterer wird, wollen wir ›Du‹ zueinander sagen. Sind Sie damit einverstanden?«

Breuer stand auf und stieß mit seinem Glas an das des Doktors an. Darin küßten sich die beiden Alten.

»Was soll aber jetzt geschehen?« fragte Dr. Thorn. »In solchen Affären bin ich so unerfahren wie nur möglich.«

»Wenn ich mit Lise zu ihren Eltern zurückkomme, werde ich ihnen zuerst reinen Wein darüber einschenken, daß ich absolut nicht die Absicht habe, das Fräulein Thorn zu heiraten. Diese Nachricht allein wird aber Lise nicht vor Unannehmlichkeiten schützen. Wir müssen ihren Heißgeliebten vor den P. T. Eltern in das beste Licht setzen. Ich glaube diese Nachricht hier ...« – er nahm ein Zeitungsblatt aus der Tasche und reichte es Dr. Thorn hin – »wird sehr günstig auf sie einwirken.«

Dr. Thorn las.

»Was? Das ist doch nicht möglich! Ulrich ist bereits Assistent geworden. Na – das geht nicht mit richtigen Dingen zu!« rief Dr. Thorn erstaunt aus.

»Ja, Sektionschef Arnoldi hat sich alle Mühe gegeben, ihn zu fördern. Seine Exzellenz Dr. v. Seidler hat den Herrn Ulrich Kirchmaier auf seine Vorstellungen hin, in sein Departement verlangt, und er ist mit dem hohen Range eines k.k. Assistenten dorthin übertreten.«

»Lieber Herr Breuer«, sagte Dr. Thorn mit leuchtendem Gesicht, »da kommt mir eine glänzende Idee – wir gehen beide nachmittags hinüber zu seinem Herrn Papa, dem gestrengen Herrn Bürgermeister, und gratulieren ihm zur Standeserhebung seines Sohnes. Er ist für solche Ovationen ungemein empfänglich. Bist du dabei?«

»Sehr gerne!«

»Also abgemacht – ich werde durch Marie sofort eine Karte hinübersenden, und uns bei dem Hochmögenden für drei Uhr nachmittags zur Audienz melden.«

Das Mittagmahl verlief in sehr gemütlicher Weise. Beim schwarzen Kaffe zeigte Dr. Thorn der Lise das k.k. Amtsblatt, das die Ernennung Ulrichs enthielt.

Das Fräulein wurde erst totenbleich – dann wieder sehr rot im Gesicht. Dann fiel sie weinend der Tante um den Hals. Sie war so erregt, daß Pauline sie hinausführen mußte.

Mit feuchten Augen sah ihr Breuer nach.

»Wir haben beide eigentlich doch viel versäumt im Leben«, sagte Breuer, »meinst du nicht?«

»Wie man's nimmt«, sagte ruhig Dr. Thorn.

»Lise ist manchmal sehr fad«, erklärte der weise Eugen und erbat sich die Erlaubnis, nachmittags wieder mit den Hunden fortgehen zu dürfen.

»Sie sind doch schon leinenfähig?« fragte er.

»Ja, ja – sie sind schon leinenfähig«, beruhigte der Onkel, »sie haben nur die unangenehme Gewohnheit, manchmal die Leine so um die Beine ihres Führers zu schlingen, daß derselbe vollständig in seinen Bewegungen gehemmt ist. Der Boden ist sehr glatt heute, gib acht, daß du nicht hinfällst, wenn sie mit dir das Kunststück exekutieren.«

Marie brachte vom Herrn Bürgermeister ein in den höflichsten Ausdrücken gehaltenes Schreiben mit, in dem er seine Freude darüber ausdrückte, den Herrn Dr. Thorn und den Herrn Regierungsrat bei sich sehen zu können.

Seit Dr. Thorn den Orden bekommen hatte, hatten sich des Herrn Bürgermeisters Gefühle ihm gegenüber bedeutend gemildert. Der Herr Pfarrer selbst hatte ihm mitgeteilt, daß, wenn Ulrich nicht selbst den Beruf zum Priester in sich fühle, es für ihn und die allein seligmachende katholische Kirche weit besser sei, wenn der Sohn ein anderes Metier ergreife. Diese und andere Erwägungen hatten den starren Sinn des Vaters etwas erweicht, ja – einmal, am Sterbetage der Frau Bürgermeisterin, war er sogar nahe daran gewesen, dem Einzigen, der ihm noch im Leben nahestand, einen Brief zu schreiben. Aber sein Selbstgefühl als Mann, Vater und Bürgermeister hatte ihn noch rechtzeitig davon zurückgehalten.

Er empfing die Herren mit gemessener Höflichkeit und bat sie, Platz zu nehmen.

»Sehr erfreut, meine Herren – welch angenehmem Anlaß habe ich diesen schätzbaren Besuch zu verdanken?« fragte er.

Diese Anrede hatte er sich schon seit mehreren Stunden zurechtgelegt.

»O – einem sehr angenehmen Anlasse, verehrter Herr Bürgermeister«, begann der lebhafte Herr Dr. Thorn. »Wir wollen die Ersten sein, die Ihnen zu dem hervorragenden Ereignisse in Ihrer Familie gratulieren. Lieber Freund – reiche die k.k. Wiener Zeitung dem glücklichen Vater.« Breuer tat es.

Der Herr Bürgermeister suchte nach seiner Brille.

»Bemühen Sie sich nicht, Herr Bürgermeister«, sagte Dr. Thorn. »Herr Ulrich Kirchmaier ist außertourlich zum k.k. Assistenten ernannt worden. Er hat die erste Stufe der Beamtenhierarchie errungen, seine Zukunft ist gesichert.«

Der Herr Bürgermeister war starr vor Erstaunen und drückte fast unwillkürlich die hingereichten Hände der beiden Herren.

Erst allmählich erholte er sich von seinem freudigen Schrecken.

»Sie wissen«, begann er feierlich, »daß ich mit meinem Sohne nicht mehr verkehre!«

»Ah – papperlapapp – davon kann ja heute keine Rede mehr sein.«

»Ihrem Sohne steht eine große Zukunft bevor«, mengte sich schließlich Herr Breuer in das Gespräch. »Exzellenz Dr. v. Seidler nimmt sich sehr nachhaltig um ihn an, und wie ich gehört habe, soll Ihr Sohn diese Rücksichtnahme vollauf verdienen – sein Fleiß – seine Tüchtigkeit sollen über alles Lob erhaben sein ...«

Der Bürgermeister kämpfte schwer mit sich selbst. Die Nachricht tat seinem Vaterherzen wohl – Breuers Lob des Sohnes erregte sein Entzücken. Aber der alte Groll ließ ihn noch immer zu keiner rechten Freude kommen.

»Ja, ja ... sehr schön ... es freut mich ... aber ... er hat sieh von mir losgesagt ...« begann der gekränkte Vater.

»Oho«, fuhr der bewegliche Dr. Thorn auf, »das ist nicht wahr. Sie haben ihn aus dem Hause gestoßen! Aber lassen wir das, das sind dumme, alberne Geschichten. Würden Sie ihn jetzt, wenn er in Uniform bei Ihnen erscheint, wieder hinauswerfen?«

Das war ein Argument, das mächtig auf den gekränkten Vater wirkte. Er malte sich das stolze Bild aus, wenn sein Sohn in Uniform neben ihm am Stammtische sitzen werde und sein Groll schmolz mählich vor diesem sonnigen Zukunftsbild dahin.

Trotzdem runzelte er tief die Stirne.

»Wenn er bittet, zu mir kommen zu dürfen«, begann er.

»Gut, gut«, sagte Thorn, »werden das veranstalten. Und nun adieu, verehrter Herr Bürgermeister, ich hoffe, wir haben Ihnen eine Freude bereitet!« sagte Dr. Thorn und stand auf.

»Die Herren wollen schon gehen?« fragte betreten der Herr Bürgermeister. »Gestatten Sie doch, daß ich Ihnen eine kleine Erfrischung anbiete.«

»Nein, nein, geht absolut nicht, muß sofort nach Hause, wie Sie sehen, habe ich Besuch!« wehrte Dr. Thorn.

»Der Herr Regierungsrat wird doch die Güte haben, einen Tropfen von mir anzunehmen«, fragte der Herr Bürgermeister.

»Ja, ja, aber auch meine Nichte ist außerdem hier, und mein Neffe.«

Bei Erwähnung der Nichte zog wieder schwarzes Gewölk auf dem Antlitz des Gestrengen empor.

»Fräulein Lise ist auch hier?« fragte er.

»Jawohl, jawohl«, erwiderte Dr. Thorn, »der Fratz ist gestern abends ganz unvermutet angekommen. Sie müssen also sehr schnell sein mit der Erfrischung, denn ich kann mich nicht so lange meinen Familienangehörigen entgehen.«

Der Bürgermeister ging und brachte eine Flasche Wein nebst drei Gläsern.

Thorn brachte das erste Prosit aus.

»Daß Herr Ulrich Kirchmaier sehr bald k.k. Hofrat werde!« sagte er lustig.

Des Vaters Herz erfüllten die seligsten Zukunftsträume. Er, der Vater eines Hofrates!

Auch der Bürgermeister erhob sein Glas.

»Der Mensch denkt und Gott lenkt, wir müssen uns in den Willen Gottes ergeben«, sagte er fromm.

»Sehr richtig«, erwiderte Dr. Thorn.

Die Unterhaltung ging noch ein Viertelstündchen weiter. Der Vater und Bürgermeister war sichtlich guter Laune.

»Herr Doktor«, sagte er beim Abschied, »diese Nachricht hat mich wirklich sehr erfreut, denn schließlich ist und bleibt er mein Sohn ... es wäre mir wohl eine sehr große Freude gewesen, wenn er Priester geworden wäre«, dabei umdüsterte sich seine Miene bedenklich, »und ich weiß es nur zu gut, daß Ihre Nichte die direkte Ursache ist, nun lassen wir das ...«

»Meine Nichte ...?« fragte mit allen Zeichen verleumdeter Unschuld der Onkel.

»Ja, ja, Herr Doktor – seit er sie gesehen hat, war's aus mit ihm. Ich glaube ...«

Er brach plötzlich ab.

»Lassen wir das«, winkte Herr Breuer ab. »Wenn es Gottes Wille gewesen wäre, so wäre er sicher Priester geworden ...«

Breuer hielt es für höchst vorteilhaft, in diesem Moment der tiefreligiösen Gesinnung des Bürgermeisters Rechnung zu tragen.

»Sehr richtig, Herr Regierungsrat«, antwortete der Bürgermeister, »Gottes Wege sind unerforschlich.«

»Und die Wege, auf denen die Herzen einander finden, sind noch sonderbarer«, meinte der etwas weniger fromme Dr. Thorn, »apropos – bald hätte ich das Allerwichtigste vergessen. Würden Sie nicht die große Güte haben, den heutigen Abend bei mir zu verbringen. Wir wollen die Ernennung Ulrichs mit einer Flasche vom Besten feiern. Denn Sie gehören jetzt zu uns-, Sie sind als Bürgermeister gewissermaßen ja auch Beamter – vom Volke frei zur Vertretung seiner Interessen gewählt, Herr Breuer ist Regierungsrat, obwohl er der Regierung schon lange keine Ratschläge mehr erteilt – na – und ich bin Rechnungsdirektor, dirigier ebenfalls nur mehr für meine eigenen Rechnungen. Sie müssen kommen – Sie müssen bei der heutigen Festfeier die Stelle des Herrn k.k. Assistenten beim Handelsministerium Ulrich Kirchmaier vertreten.«

Die lustige Ansprache Dr. Thorns übte eine große Wirkung auf den Vater aus. Daß er durch seinen Sohn in eine so illustre Gesellschaft gekommen war, tat seinem nach Ehren geizenden Herzen wohl. Er versprach mit vieler Wärme bestimmtest zu erscheinen.

Als Breuer und Thorn auf der Straße waren, sagte letzterer; »Ich möchte jetzt einen Freudentanz aufführen, aber die Straßen sind glatt, und ich will bei Lisens Hochzeit nicht gern mit einem krummen Bein erscheinen! Die Sache geht ausgezeichnet.«

Breuer lächelte wehmütig vor sich hin.

»Mir wär's recht lieb«, sagte er, »wenn die Geschichte in diesem Tempo weiterginge, wenn einmal alles vorüber ist – dann ...«

»Armer, guter Freund – mach dir nichts draus«, tröstete Dr. Thorn; »ich glaube auch, es ist für dich, für Lise und wahrscheinlich auch für Ulrich das beste, wenn die Komödie so bald als möglich zu Ende ist. Schau mich an – ich wollte einen geruhigen Lebensabend liier vollführen, und sieh nun, welcher Spektakel auf einmal in mein Haus dringt: Verlobung – Hochzeit – und natürlich Kindstaufen! Ich seh' mich heute schon, einen schreienden Fratzen auf dem Arm haltend, umgeben von sämtlichen Verwandten, in der Kirche stehen. Die Figur wird gut werden!«

Breuer lachte.

Dr. Thorn hatte eine wundersame Art, zu trösten. Der Abend verging herrlich. Der Herr Bürgermeister war anfangs ganz Würde, wurde aber später ungemein gemütlich.

Die größte Mühe kostete es, Lise zu bewegen, dem Gewaltigen vor die Augen zu treten, und Onkel Gustav mußte direkt böse werden, bis es gelang, daß sich Lise zeigte.

Dem Gewaltigen wurde ganz wohl ums Herz, ihm war zumute, als ob mit all ihrem frohen Liebreiz die Jugend ins Zimmer trete. Er fand es im Verlaufe des Abends beinahe schon selbstverständlich, daß sein Ulrich um eines solchen Wesens wegen den heiligen Pfad, der ihn direkt zum Himmel führen sollte, ausgewichen war und die in fröhlicher Jugend blumenumblühte Straße des Erdenlebens beschritten hatte.

Lisel war von bezaubernder Liebenswürdigkeit, der Bürgermeister war ganz Wonne. Auch Eugen tat sich hervor, er war ganz »gute Erziehung« und machte immer eine Verbeugung, wenn der Gewaltige die Gnade hatte, das Wort an ihn zu richten.

Nur Breuer saß still am Tische, er konnte den Blick von dem schönen Mädchen nicht abwenden und mußte immer und immer wieder an die Geschichte vom Zauberspiegel denken.

Spät nachts nahm der Gestrenge Abschied. Er erklärte, daß er äußerst zufrieden gewesen sei, sagte zu Tante Pauline »Ich küsse die Hand«, erklärte dem Regierungsrat, daß es ihm eine hohe Ehre sei, mit ihm bekannt geworden zu sein und drückte Dr. Thorn leidenschaftlich die Hand.

»Herr Doktor! – Sie haben hinter meinem Rücken gehandelt – aber ich verzeihe es Ihnen; wenn mein Sohn kömmt, dann will ich bei mir ein Freudenmahl herrichten lassen!«

»Wir müssen das Eisen schmieden, so lange es warm ist«, sagte Dr. Thorn zu Freund Breuer, »morgen telegraphiere ich sofort an Ulrich. Binnen drei Tagen hat er sich in Paradeuniform hier einzustellen!«

»Ja – ja – ganz gut –« sagte Breuer – »aber mir wär's lieb, wenn ich nicht dabei sein müßte.«

»Kinderei – Kinderei – lieber Freund – ich glaube, die zärtlichen Szenen werden trotz ihrer Schmerzlichkeit wie Karbolwatte auf dein wundes Herz wirken!«

Am nächsten Tag gab Dr. Thorn ein mehr als dreißig Worte enthaltendes Telegramm an Herrn Ulrich Kirchmaier, k.k. Assistenten in Wien usw. auf.

Die nächsten drei Tage verliefen bis auf einige unangenehme Momente sehr fröhlich.

Lise befand sich in sehr wechselnder Stimmung, bald lachte sie übermütig zu den harmlosesten Sachen, bald umschlang sie den Hals der Tante und erklärte ihr mit weinenden Augen, daß sie sich sehr unglücklich fühle.

Eugen hielt sich die meiste Zeit über beim Förster auf. Trotzdem die Försterin ihren Gemahl, der sie weit um die doppelte Kopfeslänge überragte, immer mächtig zusammenschimpfte, wenn er Eugen auf seine Pirschgänge mitnahm – sie hatte den hübschen, lebhaften Jungen warm ins Herz geschlossen – trabte Eugen mit dem alten, knorrigen Herrn tapfer stundenlang durch den verschneiten Wald. Dr. Thorn und Breuer waren stets beisammen. Obwohl sich die beiden längst kannten, erstand erst jetzt nach so langen, langen Jahren jene innige, warme Freundschaft, wie sie nur zwischen edlen, treuen Männerherzen entstehen kann.

Jeder Abend vereinte die beiden am gemütlichen Stammtisch. Niemals fehlte der Herr Bürgermeister. Die anderen Herren staunten, über den Gestrengen war eine seltsame, frohsinnige Heiterkeit gekommen – besonders die Herren Dr. Thorn und Regierungsrat Breuer behandelte er mit großartiger Hochachtung.

Am dritten Tage nach Absendung der Depesche an Ulrich langte von diesem ein Telegramm ein, in dem er sein Erscheinen für den nächsten Tag ankündigte.

Es ging wie ein Lauffeuer durch das Dorf. Ein junger, eleganter Herr in Uniform, einige behaupteten direkt, es sei ein Offizier gewesen, sei im Bahnhof angekommen und sogleich zum Bürgermeister gegangen.

Die Mißgünstigen behaupteten direkt, es sei ein Beamter aus der Kreisstadt gewesen, der ausgesendet wurde, das fraudulöse Gebaren des Bürgermeisters zu kontrollieren. Schließlich wurden die Gerüchte durch den Stationsvorstand dahin richtiggestellt, daß es der Sohn des Herrn Bürgermeisters gewesen sei, der gekommen ist, um nach langer Zeit den Vater zu besuchen.

Es war ein großer, tragischer Moment, als der verstoßene Sohn im dunklen Hausflur dem Vater begegnete.

»Grüß dich Gott, Vater!« sagte Ulrich.

Dem Herrn Bürgermeister bebte das Vaterherz vor Freude. Aber er bezwang sich.

»Komm' in das Zimmer hierauf«, sagte er erst kühl und abweisend, und stieg die Holztreppe vor ihm empor.

Als die beiden im Zimmer einander gegenüberstanden, sagte Ulrich etwas zaghaft: »Bist du mir noch böse, Vater?«

»Ulrich–« begann mit unsicherer Stimme der Vater–, »du hast dir einen, anderen Weg gesucht, als ich gewollt hab' – aber Gott hat deinen Weg gesegnet. Ich will vergessen – was für böse Stunden du mir bereitet hast. Sei willkommen wieder im Vaterhause!«

Vater und Sohn küßten sich so stürmisch wie ein verliebtes Ehepaar, das nach wochenlangem Getrenntsein wieder zusammenkommt.

Der Vater war närrisch vor Freude!

Was er nur alles auftischen ließ – um den Sohn zu erfreuen. Am liebsten hätte er nach biblischem Vorbild ein Kalb schlachten lassen, um damit den heimgekehrten Sohn zu bewirten.

Lange, lange, saßen die beiden beisammen. Der Sohn erzählte, und des Vaters Herz erfüllte es mit stolzer Freude, als er hörte, wie gutgesinnt ihm alle Vorgesetzten seien, und welch schöner Weg ihm in die Zukunft bereitet sei.

»Es ist alles recht – alles ist recht, Ulrich, ich möcht nur, daß die Mutter da sitzen würde«, sagte der Bürgermeister, »ich glaub – die würde sich erst freuen!«

Und in dem Gedanken an die längst Verstorbene und von beiden so heiß geliebte, wurden ihre Seelen aufs neue froh und weh gestimmt, und Vater und Sohn reichten sich gerührt die Hände.

»Mir kommt's vor, als ob die Mutter jetzt bei uns sitze«, sagte Ulrich.

Nachmittags ward Dr. Thorn ein Besuch abgestattet. »Wir müssen das tun«, sagte der Vater, »es trifft sich gut, daß Herr Breuer just zu Besuch ist. Die beiden Herren haben so viel für dich getan.«

»Herr Breuer ist hier ...?« fragte erstaunt Ulrich.

»Ja, es ist auch sonst noch Besuch gekommen; der Neffe und die Nichte sind ebenfalls hier.«

»Lise?« fragte mit erglühendem Gesicht Ulrich.

»Ja – auch ihr Bruder Eugen. Ist's dir unangenehm, so bleiben wir lieber da!«

»Vater, jetzt versteh ich dich«, sagte Ulrich mit stockender Stimme, »ich hätt's nicht geglaubt, daß ein Tag so viel Glück bringen kann!«

Der Herr Bürgermeister hatte viele Mühe, den wiedergefundenen Sohn abzuwehren, daß er ihn nicht mit seinen Umarmungen ersticke. Mit väterlicher Sorgfalt empfahl er ihm, sich das Gesicht ordentlich zu waschen, die vielen Freudentränen hatten es in der Farbe etwas geschädigt.

Beide machten nun mit äußerster Sorgfalt Toilette.

Als der Herr Bürgermeister mit dem uniformierten Sohn über die Straße schritt, erregte es Sensation. Aus allen Wirtshäusern, aus allen Kaufläden traten die Leute heraus und starrten den beiden nach.

Herr Dr. Thorn hatte immer eine sehr herzliche Art, seine Gäste zu begrüßen; als aber dieser unerwartete Besuch eintrat, explodierte er fast vor Freundlichkeit. Der ungeheure Lärm, den er machte, lockte sämtliche Hausbewohner herbei, so daß der ohnehin ziemlich enge Flur vollständig abgeschlossen erschien und es fast unmöglich war, in das Speisezimmer zu gelangen.

»Platz – Platz – für den zukünftigen Herrn Hofrat!« schrie mit Stentorstimme Dr. Thorn und drückte sich direkt in das erstaunte Publikum hinein.

»Ach, das ise schene Mensch!« sagte Kathi, die Köchin.

»Das ist ja Herr Ulrich!« rief entzückt Marie aus. »Herr Ulrich ...!« rief Tante Pauline.

Es war ein wirrer Durcheinander, der noch dadurch vermehrt wurde, daß Hex und Lady, angeeifert durch den Lärm, ein unendliches Geheul erhoben.

Endlich gelang es Dr. Thorn, die Tür des Speisezimmers aufzumachen und die beiden Gäste unter einer unendlichen Flut höflicher Bitten zu veranlassen, einzutreten.

Voran schritt unter vielen Verbeugungen der Herr Bürgermeister. Ihm nach folgten Ulrich, Dr. Thorn, Breuer und Frau Pauline. Kaum war die Gesellschaft eingetreten, als sich die entgegengesetzte Tür des Speisezimmers auftat und Lise eintrat.

Flammenröte überzog ihr Antlitz, als sie Ulrich erblickte. Die Hand auf eine Sessellehne gestützt, stand sie da und überhörte ganz den jovialen Gruß des Herrn Bürgermeisters.

»Lise!« rief Ulrich, und eilte in ganz unzeremonieller Weise auf sie zu und gab ihr die Hand.

»Was, solch einen Gast hättest du nicht erwartet, Lise?« sagte lustig Dr. Thorn und beschwor mit einem Riesenaufwand höflicher Worte die Herrschaften, Platz zu nehmen, wobei er es selbstverständlich so einrichtete, daß Lise an Ulrichs Seite zu sitzen kam.

Aber es schien Lise die Rede verschlagen zu haben – kein Wort sprach sie – und sie war zutode froh, als sie von der Tante aufgefordert wurde, ihr bei Herbeischaffung eines kleinen Imbisses behilflich zu sein.

Als sie draußen waren, fiel sie der Tante um den Hals und bedeckte ihr Gesicht mit unzähligen Küssen.

Als dann die Herren beim Weine saßen und in oft ziemlich lauter Wechselrede ihren Anschauungen erstens über den Beamtenstand im allgemeinen, dann über hervorragende Mitglieder desselben im besonderen aussprachen – Breuer und Dr. Thorn hatten viele dieser Herren zu guten Bekannten – taute auch Lise auf. Ulrich erzählte, daß ihn Dr. Thorn durch ein langes Telegramm aufgefordert habe, sich sofort bei seinem Vater vorzustellen. Und auch Lise teilte mit, auf welche Weise sie diesmal zum Onkel gekommen sei, wie sie aus dem Vaterhause floh, und schließlich gaben beide der Meinung Ausdruck, daß es das Schicksal sehr sonderbar, aber äußerst glücklich gefügt hatte, daß sie auf solche Weise zusammenkommen konnten. Sodann kamen sie in solchen Eifer, daß sie es gar nicht merkten, daß die Herren ihre tiefsinnigen Betrachtungen eingestellt hatten und mit vergnügten Sinnen auf die beiden Glücklichen hinsahen.

Lise wurde ganz purpurrot, auch Ulrich sah sehr betreten darein, als er endlich merkte, daß die Aufmerksamkeit der gesamten Gesellschaft auf ihn und Lise gerichtet war.

Als die Herren merkten, wie verlegen das junge, hübsche Paar geworden, lachten sie in höchst unanständiger Weise auf, und es muß mit Betrübnis mitgeteilt werden, daß sich der Herr Bürgermeister in sehr hervorragender, aber ungemein herzlicher Weise an dieser Unziemlichkeit beteiligte. Selbst Breuer konnte das Lachen nicht unterdrücken, aber sein Lachen hatte einen seltsam wehmütigen Klang.

Als die Herren aufbrachen, um zum gewohnten Stammtisch zu gehen, war Lise zu Tode froh. Leider mußte Ulrich mitfolgen, denn der Vater konnte es nicht erwarten, mit seinem Sohn unter den Honoratioren des Ortes zu erscheinen. Mit einem heißen Händedruck verabschiedete sich Ulrich von der Geliebten.

Der Abend im Gemeindegasthaus verlief sehr gemütlich. Ulrich wurde von allen Seiten höchst lärmend begrüßt und beglückwünscht. Der Vater war ganz Stolz und Würde, und als der alte Herr Pfarrer in seiner liebenswürdigen Weise ebenfalls seine Freude über Herrn Kirchmaier junior aussprach, quoll das Herz des Vaters über, und jede Spur einstigen Zornes entschwand.

Nun folgten zwei selige Tage für die Liebenden. Leider war es ihnen nicht gegönnt, sich so ganz auszusprechen, da sie auf ihren Spaziergängen meist von den beiden Herren begleitet wurden. Sehr hübsch gestaltete sich ein Abend in dem tief verschneiten Forsthaus. Die Försterin war ganz entzückt wegen des schönen Mädchens.

»Die zwei sind ein Prachtpaar ...« sagte sie. Denn es schien ihr unpassend, Lise allein zu loben, und Eugen, den sie besonders ins Herz geschlossen hatte, nicht mit freundlichen Worten zu bedenken.

Auch der Förster drückte in seiner derben und dabei so herzlichen Weise seine Freude über den Besuch aus.

»Es ist jetzt ordentlich licht im Zimmer« sagte er, »seit das Fräulein hereingekommen ist, Alte, die Kunst solltest du auch mal probieren, wir täten eine Masse Licht ersparen!«

Die Frau Försterin ward etwas böse.

»Es wird eh' Licht genug, wenn du ins Zimmer kommst«, antwortete sie schlagfertig. Da diese Antwort einen kränkenden Hinweis auf des Försters mächtig entwickelte Glatze enthielt, brach ein allgemeines Gelächter los.

Eugen hatte sich während dieser Tage meist im Walde herumgetrieben. Er hatte einen Sperber, ein Kaninchen und zwei Eichhörnchen geschossen. Für die Familienangelegenheiten, die rings um ihn zum Ausdruck kamen, bezeigte er nicht das geringste Interesse. Unangenehm war es ihm, daß er mit seinen Jagderzählungen so wenig Erfolg hatte. Er hätte so gern jedem der Beutetiere einen längeren Nachruf gehalten, da ihm aber niemand zuhörte, war er sehr gekränkt und nannte in seinem Herzen Ulrich und Lise Idioten, weil sie alles Interesse in Anspruch nahmen. Auch über Onkel Gustav ärgerte er sich.

»Er wird alt« – sagte er zu sich – »früher war er ganz anders.«

Nun aber nahte der Tag des Abschiedes. Am Abend vorher wurde großer Familienrat abgehalten, in welcher Weise man in Wien Frau Charlotte und ihrem pathetischen Gemahl entgegentreten sollte.

»Das kann am besten Herr Breuer machen«, meinte Eugen; »wenn er spricht, ist sogar die Mama ruhig!«

Der Vorschlag Eugens ward angenommen; man betraute Breuer mit der Vermittlung zwischen der durchgegangenen Tochter und dem Elternpaar. Mit Jubel ward die angenehme Nachricht aufgenommen, daß auch Onkel Gustav sich persönlich an der Aktion zu beteiligen die Absicht habe.

Am Abend vor der Abreise wurde noch ein Familienfest im engsten Kreise abgehalten, bei dem es sich ereignete, daß sich der Herr Bürgermeister total versprach und gelegentlich einer sehr gerührten Rede Fräulein Lise mit »du« ansprach. Als er merkte, daß er sich versprochen habe, korrigierte er sich insoweit, daß er damit sagen wolle, sich längst eine Tochter von dem Aussehen Lisens gewünscht zu haben.

Unendlicher Beifall ertönte und Jungfer Maria war sehr gerührt. Sie erklärte der Köchin Kathi, daß man das ganz gut für eine Verlobung halten könne.

Der nächste Morgen fand die Gesellschaft im Bahnhof versammelt.

Lise und Ulrich waren sehr schweigsam; Eugen stolzierte mit martialischem Gesichtsausdruck, den Gewehrsack über der Schulter, an der Jagdtasche den geschossenen Sperber, am Perron hin und her.

»Es wird vielen Ärger geben«, meinte Dr. Thorn zu seinem Freunde, »wenn wir jetzt nach Wien kommen – ich höre jetzt schon die Deklamationen meines Herrn Bruders und das Gekeif der Frau Charlotte –.«

»Wir werden die Sache so gründlich als möglich abmachen«, sagte mit seltsamer Ruhe Breuer, »ich bin froh, wenn das alles vorüber ist. Du bleibst doch heute abends noch in Wien – du kannst ganz gut bei mir übernachten!«

Dr. Thorn sträubte sich anfangs ein wenig.

»Nein, nein«, sagte Breuer, »du störst mich gar nicht – und ich glaube, es wird mir ein Bedürfnis sein, mit dir nach dieser Haupt- und Staatsaktion noch einige Worte reden zu können.«

Auf dieses Argument hin nahm Dr. Thorn die Einladung seines Freundes an.

In Wien angekommen, begleitete Ulrich die Gesellschaft noch bis zum Hause seines zukünftigen Schwiegervaters. Beim Haustor angekommen, nahm er tiefbewegten Herzens Abschied von der Gesellschaft.

»Merken Sie sich dieses Haus genau – ich glaube, Sie werden es in den nächsten Tagen sehr oft betreten«, sagte Breuer.

Ulrich verbeugte sich sehr devot; in seinem Gesicht war zu lesen, daß er dieses Haus ohnehin sehr genau kenne.

Lise klopfte das Herz vor Angst, als sie mit den anderen die Stiege zum väterlichen Heim emporstieg. Ängstlich schmiegte sie sich an den Arm des Onkels an. Breuer sah es.

»Haben Sie keine Angst, Fräulein«, sagte er; »es wird alles sehr glatt vorübergehen!«

Die Szene, da die flüchtige Tochter das elterliche Heim betrat, gestaltete sich äußerst dramatisch.

Mama fiel der heimgekehrten Tochter mit einem furchtbaren Aufschrei um den Hals, und Papa hob die ineinandergepreßten Hände dankend zum Himmel empor. In liebevoller Güte führte Charlotte ihr Kind in das Zimmer hinein.

»Daß du nur da bist!« rief sie unter Wimmern und Schluchzen.

»Daß sie nur da ist!« sagte mit erstickter Stimme Vater Thorn.

Endlich erblickte Thorn seinen Bruder.

»Ich danke dir«, sagte er mit großartiger Pose, »daß du dich um mein armes Kind angenommen hast!«

»Wir haben viel gelitten ...« sagte er zu Breuer; »ich werde Ihnen das nie vergessen, daß Sie mir mein Kind zurückgebracht haben.«

Eugen zeigte den erlegten Sperber, fand aber wieder nicht die richtige Würdigung und zog sich verärgert aus dem Familienkreise zurück.

Der innigen Familienszene folgte ein gemütliches Beisammensitzen.

Herr Thorn wollte eben die nötigen Befehle geben, daß einige Erfrischungen aufgetragen würden.

»Laß das – lieber Bruder«, sagte Dr. Thorn, »erlaube, daß ich diese materielle Seite auf mich nehme. Ich kenne die Umgebung sehr genau – alle Kaufleute usw.«

»Ich werde dich begleiten, Thorn«, sagte Breuer.

»Ja – ja – gut, mein lieber Freund – komm mit.«

Als Herr Thorn hörte, daß die beiden auf dem »Du«-Fuße stünden, riß er seine Augen sperrangelweit auf.

Während der Abwesenheit der beiden Herren wurde Lise mit tausend und abertausend Fragen bestürmt.

»Warum bist du eigentlich fortgegangen, mein Kind?« fragte die Mutter.

Ein furchtbarer Blick traf den herzlosen Vater.

»Und was sagt Herr Breuer?« fragte der mehr um das Materielle besorgte Papa.

»Nichts – gar nichts – sagt er«, antwortete die Tochter.

»Er weiß doch nichts davon, daß die Sache wegen des unglücklichen Briefes gekommen ist.«

»O ja – das weiß er alles«, sagte die Tochter.

»Er weiß es?« kreischte die Mutter.

»Er weiß es!« stöhnte der Vater. »Dann ist alles verloren. Lise, du hast dein Glück mit Füßen getreten. Mein armes, armes Kind. Nie – nie hätte ich dich damals nach St. Ruprecht fahren lassen sollen!«

»Wer hat es ihm gesagt?« rief die Mutter schmerzbewegt aus.

»Ich«, antwortete einfach die Tochter.

»So unvorsichtig warst du ...?« heulte die Mutter.

»Hast du bedacht, was du getan hast?« fragte der Vater und fuhr mit dem gewohnten Pathos fort; »Das größte Unglück kann geschehen! Jetzt sage ich es dir, Breuer liebt dich – er ist ein alter Couleurstudent und auch, wenn ich nicht irre, Reserveoffizier, er wird hergehen und den jungen Laffen über den Haufen schießen!«

»Das glaube ich nicht!« sagte Lise.

»Ich glaub's auch nicht«, gab Eugen seinen Senf dazu. »Herr Ulrich war die letzten Tage immer mit uns beisammen, und Herr Breuer war sehr freundlich mit ihm. Wenn er sich hätte mit ihm schießen wollen, so hätte er in St. Ruprecht Platz genüg dazu gehabt!«

»Was, Ulrich war bei euch?« rief entsetzt die Mama aus, »wir sind von allen Seiten betrogen worden ...!«

»Das ist ja ein förmliches Komplott – Eugen, warum hast du nicht sofort geschrieben?« fragte hocherzürnt der Vater.

»Was geht denn mich die Geschichte an!« sagte Eugen und zuckte dazu mit den Achseln.

Es war ein Glück, daß in diesem Moment Breuer und Dr. Thorn eintraten. Ihnen nach folgte der Geschäftsdiener einer größeren Viktualienhandlung mit einem mächtigen Korbe. Trotzdem ein flüchtiger Blick auf den Inhalt desselben in des beleidigten Vaters Herzen die fröhlichsten Gefühle erweckte, fand er es für geraten, eine finstere Miene zur Schau zu tragen. Er trat auf Breuer zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Breuer, teurer, alter Freund, soeben habe ich aus dem Munde meiner Tochter erfahren, was sich in dem Unglücksort abgespielt hat. Ich schwöre Ihnen, weder ich, noch Charlotte sind schuld daran, daß dieser freche Junge ...«

Weiter kam er nicht. Mit flammenden Augen war Lise aufgesprungen.

»Vater!« rief sie entrüstet aus.

»Mäßige dich, lieber Bruder«, empfahl Dr. Thorn.

»Menge dich nicht in meine Familienangelegenheiten!« schrie der gekränkte Vater, »du hast mich um mein Rind betrogen!«

Eugen, der infolge seines jugendlichen Alters kein rechtes Verständnis für die Tragik hatte, lachte hell auf.

»Bengel!« schrie der Vater.

Frau Charlotte, die es sich noch gar nicht zurechtzulegen vermochte, wie die sehr bedrohlich scheinende Sache ausgehen werde, rief vorsichtshalber dem entrüsteten Vater zu: »Schimpfe nicht, du bist hier in anständiger Gesellschaft!«

Der sonst so liebenswürdige Dr. Thorn war nahe daran, sehr scharf zu erwidern. Das immer so freundlich und fröhlich in die Welt blickende Auge fing ganz unheimlich hinter den scharfen Gläsern zu funkeln an.

Da legte sich Breuer in das Mittel.

»Herr Thorn«, sagte er scharf, »in dem Moment, da Sie sich noch einmal zu einem ungehörigen Wort hinreißen lassen, entfernen wir uns, nämlich ich und Herr Dr. Thorn; ich habe durchaus nicht Lust, meinen teuren Freund, diesen guten, edlen und höchst schätzenswerten Menschen von Ihnen beleidigen zu lassen!«

»Wenn du jetzt noch einmal den Mund aufmachst, so passiert etwas«, sagte mit furchtbarer Miene Frau Charlotte.

»Bei Gott, es steht mir gänzlich ferne, absolut ferne, Herrn Breuer zu beleidigen«, sagte kleinlaut Vater Thorn. »Die Aufregung, in die mich die ungewisse Zukunft meines Kindes versetzt hat ...«

»Aber mich hast du beleidigt«, fuhr nun Dr. Thorn auf, »ich bin ein Kindesräuber, hast du gesagt!«

»Lieber Freund«, besänftigte Breuer, »laß das! Bevor wir daran gehen, uns an diesen Herrlichkeiten zu laben, wollen wir uns über die Angelegenheit aussprechen. Fräulein Lise und Eugen bitte ich, für eine Viertelstunde dieses Zimmer zu verlassen.«

Lise ging wortlos hinaus.

Eugen konnte es nicht unterlassen, seine Freude darüber auszudrücken, daß er bei der Streiterei nicht dabei sein müsse.

»Mein lieber Freund Thorn«, begann Breuer mit sehr ernster Miene, »ich weiß es schon lange, daß Sie und vielleicht auch die Frau Gemahlin es gern gesehen hätten, daß Ihre Tochter meine Frau werde!«

»Sehr richtig«, sagte mit verhaltener Würde Vater Thorn.

Auch die Mama nickte höchst beifällig.

»Aber das geht aus zwei Gründen nicht an. Erstens bin ich zu alt ...«

»Aber Herr Breuer ...!« rief abwehrend Frau Charlotte aus.

»Und zweitens weiß ich nun auch aus dem Munde Ihrer Tochter selbst, daß ihr Herz einem ganz anderen zugetan ist!« fuhr Breuer fort.

»Ich werde den Kerl zu finden wissen!« schrie Thorn auf. »Ich erschlage ihn – ich – ich! ...« Vater Thorn wollte noch verschiedene andere Tötungsarten andeuten, aber in seiner entsetzlichen Wut fand er keine Worte.

»Versuch' das nicht«, empfahl Dr. Thorn; »Ulrich dürfte bedeutend stärker sein als du!«

»Bruder – du kennst mich nicht ...« sagte Thorn und hob drohend die Faust.

»Bitte um Ruhe!« sagte gelassen Herr Breuer.

Breuer führte nun folgendes aus:

»Dieser junge Herr – wie Sie ja aus dem Briefe wissen, heißt Ulrich Kirchmaier und ist ein höchst tüchtiger, achtungswerter Mann, der sicherlich alles Glück im Leben verdient. Ich muß Ihnen das sagen, um Ihnen die törichte Hoffnung zu benehmen, mich einst als Schwiegersohn zu sehen. Ich bin in erster Linie gekommen, Ihnen mitzuteilen, daß Sie all die Freundlichkeit, die ich Ihrem Fräulein Tochter erwiesen habe, gänzlich falsch verstanden haben. Wenn sie das Glück haben wird, einen braven, tüchtigen Mann zu heiraten, wie es zum Beispiel Herr Ulrich Kirchmaier ist, so werde ich unentwegt fortfahren, nach Möglichkeit einige Lichtblicke in ihr Leben hineinzutragen, auch wenn sie schon längst verheiratet ist.«

»Verstehst du das, Bruder?« fragte etwas zweifelnd Dr. Thorn.

Charlotte und ihr Gatte waren bei dieser langen Rede des Herrn Breuer ganz in starrer Verwunderung dagesessen. Vater Thorn riß den Mund auf, als wenn er jetzt und jetzt Breuer verschlingen wollte.

»Ich bin fassungslos!« sagte er.

»Das sieht man dir an«, sagte fröhlich lächelnd Doktor Thorn. »Breuer, wenn du erlaubst, so will ich meinem geliebten Bruder die Sache mit einigen kurzen Worten klar machen.«

Breuer nickte ihm zu.

»Wir sind, mein vielgeliebter Bruder, zu dir gekommen, um für den Herrn Assistenten Ulrich Kirchmaier, den Sohn des schwerreichen Herrn Bürgermeisters Karl Kirchmaier von St. Ruprecht, die Hand deiner Tochter zu erbitten.«

»Wie? Was?« fragte der überraschte Vater.

»Was ... was ist das?« fragte Charlotte.

In diesem höchst dramatischen Momente ging plötzlich die Tür auf. Draußen standen Lise und Eugen, woraus zur Genüge erhellt, daß die braven Kinder gelauscht hatten. Lise hatte wie zu einem inbrünstigen Gebete die Hände ineinander gekrampft und sah angstvoll auf die Gruppe.

»Was ist's?« fragte der strenge Papa.

»Ich hab mir's gleich gedacht«, sagte der weise Eugen.

»Ihr habt gehorcht!« rief Papa Thorn mit strenger Miene.

»Vater, Mutter ...!« rief unter Tränen lachend Lise und umschlang den Hals des völlig konsternierten Papas.

Dr. Thorn ergriff voll abweisender Würde das Wort.

»Ich bitte dich, Lise, wenn weise und erprobte Männer sprechen, so schweige. Ich und mein Freund Breuer haben das so abgekartet. Ich bin es einmal satt, mir meinen Lebensabend, den ich in Ruhe verbringen will, durch Liebesgeschichten und andere Dummheiten verärgern zu lassen. Und gegen so tolles Verliebtsein gibt es nur ein einziges Mittel ... das ist die Ehe. Sag' ja, Heber Bruder. Für Ulrich garantieren ich und mein teurer Freund in jeder Weise; in moralischer und finanzieller Beziehung.«

Eine Pause trat ein. Vater und Mutter schwiegen, niedergedrückt von der Wucht dieses außerordentlichen Ereignisses.

Endlich erhob sich Vater Thorn.

»Ihr bringt mich ja um alle meine Vaterrechte! Ihr verlobt meine Tochter! Das ist ja unerhört!«

»Vater, lieber Vater!« rief ängstlich Lise.

»Beruhige dich, Bruder«, sagte fröhlich lächelnd Doktor Thorn; »deine Rechte bleiben dir alle gewahrt. Herr Ulrich wird in vollem Wichs vor euch aufmarschieren und euch in bester Form um die Hand der Tochter bitten. Er wird Charlotten, der zukünftigen Schwiegermutter, mit tiefer Bewegung die Hand küssen (die Alte strahlte bei Ausmalung dieser Szene wie eine voll aufgeblühte Päonie), du wirst eine große Rede halten und feierlich die Hand der Tochter in Ulrichs Hand legen ... dann werden Verlobungskarten ausgesendet, in denen Vater und Mutter Thorn die Verlobung ihrer Tochter und Herr Bürgermeister Kirchmaier die Verlobung seines Sohnes anzeigen werden. Was willst du noch mehr?«

Charlotte war ganz entzückt und gerührt und drückte die erglühende Tochter an ihr Herz.

Thorn erhob sich zu einer großen Rede, aber Charlotte verdarb ihm sofort den Effekt.

»Red' keinen Unsinn ... Lise kann zutode froh sein... heut' ist es für ein Mädchen sehr schwer, zu heiraten ... verstehst du?«

Dieser Einwurf verwirrte Vater Thorn derart, daß er, statt neuerlich seiner gekränkten Vaterrechte zu gedenken, in wohlgesetzter Rede Herrn Breuer dankte, daß er sich in dieser verzwickten Sache so edel benommen habe. Gustavs erwähnte er mit keinem Worte. Daß der Bruder auch in dieser Angelegenheit sein Meister geworden war, verstimmte ihn tief.

Der Abend verfloß in ungetrübter Heiterkeit, wozu nicht wenig der Inhalt des von Dr. Thorn und Breuer mitgebrachten Korbes beitrug.

Lise zeigte eine höchst veränderliche Stimmung. Bald weinte sie – bald lachte sie in ausgelassenster Freude. Dann nannte sie Breuer ihren lieben Onkel und küßte ihn so innig, als wenn es Ulrich gewesen wäre.

Als Herr Thorn mit tiefgerührter, von Schluchzen unterbrochener Stimme begann: »Es ist ein höchst schmerzliches Gefühl, sein Kind in die Arme eines Fremden zu legen«, ward die Sitzung geschlossen, ohne daß der glückliche Vater dazu gekommen wäre, seine Gefühle näher zu beschreiben.

»Das haben wir gut gemacht«, sagte Dr. Thorn zu seinem Freunde Breuer unterm Stiefelausziehen. »Wir werden demnächst darangehen, ein Lustspiel zu schreiben, wir haben, scheint es, Talent dazu.«


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