Gerhart Hauptmann
Im Wirbel der Berufung
Gerhart Hauptmann

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Achtes Buch

Verhältnismäßig ruhig saß Erasmus in einem Abteil des Zuges nach Granitz. Die Erlebnisse, die er hinter sich hatte, und der unmittelbare Schlag, der ihn soeben getroffen, hallten in einem feinen singenden Tone nach, der in seinen Ohren vibrierte. Er wollte und konnte zunächst darüber nicht weiter nachdenken.

Es war alles so überaus schnell gekommen und hatte sich in einer so kurzen Zeitspanne abgespielt: Erasmus konnte es nun beinahe nicht mehr zu einer überzeugenden Wirklichkeit verdichten. Bei diesem Bemühen überschlich ihn Müdigkeit und veranlaßte ihn – er hatte ein Abteil für sich allein –, sich auf die Polster hinzustrecken. Als die jüngsten Geschehnisse nun in seiner Seele vorüberzogen, war darin irgendeine Dominante, die unverändert blieb, und er gestand sich im Halbschlaf, sie sei ihm wohltuend. Sie bedeutete etwas wie einen Halt im Grundlosen, ein festes Ziel, statt allseitig peinlich gefühlter Ufer- und Aussichtslosigkeit. Eine Macht, eine Hand hatte regelnd eingegriffen, gegen die ein Widerspruch nicht zu denken war.

Überlaß dich dem Schlaf, flüsterte ihm eine Stimme zu, du brauchst dir den Kopf darüber nicht mehr zu zergrübeln, wie du den gordischen Knoten auflösen sollst. Ich habe ihn mit dem Schwerte durchhauen.

Die weiteren Träumereien führten den Müden an viele Plätze im geographischen Gebiet seiner Verlobungs- und Ehejahre zurück, und er konnte sich nun recht wohl, nach Kittys Worten und Photographien, an die irische Jugendfreundin erinnern. Es war ein schönes Mädchen, Ginevra King, die zugleich mit ihr in der Brüdergemeinde zu Gnadenfrei erzogen wurde. Das junge leidenschaftliche Wesen hing unzertrennlich an ihr. Es spielten sich herzzerreißende Szenen ab, als sie doch eines Tages nach Irland zurück mußte.

Briefe gewechselt hatten die Freundinnen nicht.

Ich schwöre, nie werde ich mich verheiraten, hatte Ginevra Kitty erklärt, weshalb diese an ein gewisses, vages Gerücht nicht glauben wollte, daß sie nun doch, und zwar mit einem Deutschen, getraut worden sei.

Wacht Kitty auf, spinnt es in ihm fort, sieht sie Ginevra statt meiner an ihrem Lager.

Was war das, denkt Erasmus, mit Doktor Oberdieck? Es fehlte nicht viel, und ich hätte den Burschen hinausgeworfen. Das war zuerst, dann fing er an, mich zu interessieren. Ein gewöhnlicher Wald- und Wiesendoktor ist er nicht. Er ist sehr gründlich und weiß etwas, sein sonstiges Wesen gilt es in Kauf zu nehmen. Man muß an Lombrosos »Genie und Irrsinn« denken, er ist genialisch übergeschnappt.

Als das Bild des Arztes im Nahen der Bewußtlosigkeit verschwamm und auseinanderging, blieb auch hier eine Dominante zurück. An Stelle des glattrasierten, großen und eleganten Mannes mit den durchbohrenden Glutaugen blieb ein unveränderlicher, rosafarbener Fleck, der irgendwie auf den Träumer eine beschwichtigende Wirkung ausübte.

Dann brachte Natur die Wohltat des Schlafs, der alles auslöschte und erst auf dem Bahnhof zu Granitz einen erfrischten und gestärkten Menschen dem Leben und dem Freunde Jetro übergab.

»Gott sei Dank, daß Sie da sind! Mir fallen drei bis vier große Mühlsteine von der Brust«, sagte Jetro. »Wo waren Sie denn, wo sind Sie gewesen? Wenn Sie wüßten, was für Gerüchte seit gestern früh, als Sie die Probe verließen, bis heute abend hier umgegangen sind! Kaum waren Sie fort, wurde von allen Seiten nach Ihnen gefahndet. Irina hat vor Wut fast geweint, weil sie allerhand Wichtiges wissen wollte: ›Der Mensch läuft fort, morgen ist Generalprobe, ich werfe dem Menschen die Rolle hin! Verhält er sich so, warum werde ich nicht kontraktbrüchig?!‹ So wütete sie eine Weile fort, bis seltsamerweise der Anblick Prinzessin Dittas sie beruhigte. Sie hat sich natürlich eingebildet, es sei etwas wie eine fidele Landpartie mit Ihnen und der Prinzessin im Gange.

Aber auch Prinzessin Ditta war außer sich. Haben Sie übrigens das kleine dunkelhaarige Fräulein gesehen, das sich eben bei Ihrem Anblick eilig davonmachte? Es war Nigritta, die Kammerjungfer Ihrer Durchlaucht, die nun sogleich Ihre Ankunft meldet. Sie ging hier, seit gestern, vor Ankunft jedes fahrplanmäßigen Zuges auf und ab.«

»Sorgen Sie, lieber Jetro, daß ich heut außer Ihnen und etwa meinen Wirtsleuten niemand sehen muß. Sie sollen als einziger das Warum wissen.«

Eine halbe Stunde später hatte Frau Herbst den Tisch in der Sommerlaube für die beiden Freunde gedeckt. Es gab saure Milch, Butter, Käse und Brot, kalten Aufschnitt, so überreichlich, wie es in Pommern üblich ist. Natürlich war auch für Wein gesorgt worden. Eine gewaltige Schüssel voll Erdbeeren war von einem Diener Mafaldas gebracht worden.

Als die Mahlzeit vorüber war, lachte Jetro in die Rede seines verehrten Dichter-Regisseurs von ganzem Herzen hinein: »Kein Wort mehr von Ärzten, lieber Doktor! Ich bin bei allem mitgegangen, was Ihnen seit gestern zugestoßen ist. Man könnte darüber einen Roman schreiben. Aber an den Blödsinn dieser ärztlichen Diagnose – wie heißt dieser Mensch? Doktor Oberdieck? – glaube ich nicht einen Augenblick.

Mögen Sie doch etwas Fieber haben! Sehen Sie mich an: wie ich hier sitze unter Nachtigallengetön und Faltergebrumm beim Lampenlicht, ich komme von achtunddreißig nicht herunter. Seit gut fünf Jahren leb' ich damit. Ich esse, trinke, schlafe und arbeite. Wer nach Davos geht, bleibt natürlich auch dort, und wenn er auch zehnmal kerngesund wäre. Was dieser brave Mann mit Ihnen bezweckt, weiß ich nicht. Er will Sie zunächst mal in seine Gewalt kriegen. Wenn Sie mir folgen: kümmern Sie sich nicht mehr ›so viel‹ um diesen dunklen Ehrenmann!

Und ich bitte Sie: lassen Sie Ihre Gattin herkommen. Sie nehmen das Leben viel zu schwer, auch Liebeleien, mein guter Doktor. Sie werden sehen, wie alles Gewölk sich vor dem Blick Ihrer schönen Frau zerstreuen wird.«

Erasmus hatte den Arzt beobachtet. Oberdieck wurde während der Stunde, die er mit ihm zusammen war, geradezu Gegenstand eines eifrigen Studiums. Er glaubte ihn völlig, durchschaut zu haben: unter rauher Schale ein goldener Kern. Auch das Schicksalhafte des Zufalls hob die Erscheinung in eine höhere Sphäre. Das alles änderte sich unter Jetros zähem wachsenden Einfluß durchaus. Alles noch so genau Erkannte und Erfaßte, Zug um Zug, stellte sich ihm nun anders dar. Vordergründiges trat zurück, Hintergründiges störte die Proportion, indem es sich ungebührlich vordrängte. Kein Zweifel, daß ein scheinbar richtig gefügtes Bild aus dem Leime ging und ein Häuflein wertloser Teile den Rest bildete.

Die Wirkung war: Erasmus sah in dem ärztlichen Dysangelisten einen Nichtwisser, Nichtkenner, Marktschreier, Lügner, Scharlatan und empörte sich nachträglich noch darüber, daß er sich so erbärmlich vor ihm geduckt habe. »Wahrhaftig, er hat mich ins Bockshorn gejagt, aber er soll es vergeblich getan haben.«

War es Jetro, war es der Wein, war es die wundervolle Nacht: Erasmus schwor, er habe allen kranken Dunst von sich geworfen, er mache sich weiter kein X für ein U, denn er fühle, er könne Bäume ausreißen. »Ich danke Ihnen, Sie haben mich zur Vernunft gebracht. Sie haben mir meine Gesundheit wiedergegeben, Sie sind mein wahrer Arzt, lieber Freund.«

Es war kurz vor Mitternacht, als Jetro sich verabschiedete. Er nahm folgendes Telegramm seines Freundes, gerichtet an Tante Mathilde, mit:

»Du mußt umgehend nach Stralsund reisen, Kitty hält sich dort im Hotel Zum Kranich auf, wir bedürfen Deiner so dringend wie selten im Leben.«

Frau Herbst war noch wach, als Erasmus ins Gärtnerhäuschen zurückkehrte. »O Gott, o Gott!« sagte er, »noch einen Brief.«

»Armer Herr Doktor«, bekam er zur Antwort, nachdem sie ihm wirklich ein Schreiben auf halber Treppe überreicht hatte.

Es war von Irina, er wußte es.

Fast mußte er lächeln in dem Gedanken, wie sein leider recht unbewehrtes Herz von allen Seiten berannt wurde.

Ein kleines Buch von hastig beschriebenen Seiten hätte recht gut für eine »Chronique scandaleuse« gelten können, nahezu in Vollständigkeit. Dann aber traf Erasmus auf einen Abschnitt, der so lautete:

»Nun zu mir«, hieß es da. »Ich bin überzeugt, daß meine Vergangenheit eine Krankheit war, beherrschte mich doch eine Sucht nach brutalem Lebensgenuß. Es war mir, als ob ich nur ein kurzes Dasein vor mir hätte und alles Erreichbare an sinnlichen Freuden hastig und gierig erraffen müßte. Durch Dich bin ich eine andere geworden. Ich habe erkannt, daß alles auf diese Weise von mir Erraffte doch schließlich minderwertig ist. Ein besseres, höheres Wollen, ein Bedürfnis nach Reinheit kam über mich. Du bist es gewesen, mit dessen Hilfe, Belehrung und Liebe ich meine wahre Natur erkannt habe. Nur ziehe jetzt nicht Deine Hand von mir ab, verlaß mich nicht!

Ich will ein guter Mensch werden. Der Wille dazu ist plötzlich da, er hat mich mit ganzer Macht gepackt. Hilf mir weiter, hilf mir dazu! Mir graust vor dem Sumpf, vor dem heißen und faulen Sumpf, in dem ich bisher mit Wollust geplantscht habe.

Zunächst aber sprich mich frei von Schuld! Dann will ich, dann kann ich ein neuer Mensch werden.

Ich fühle: ich liebe zum ersten Male. Warum habe ich Dich nicht bereits vor zwei Jahren kennengelernt! Vergiß und mach mich zu Deiner Frau! Du wirst mich dann rein, trotz allem rein, und mit dem Schatz meiner ganzen, vollen, unendlichen Liebe allein besitzen. Ich aber, ich werde in Deinem Herzen, in Deinem Geiste, in Deinem Hause für immer geborgen sein.

Wenn Du indes nicht heut oder morgen zur Rettung schreitest, sinke ich in den Pfuhl zurück, um nie und nie wieder aufzutauchen. Dann aber, Erasmus, sieh, wie Du mit Deinem Gewissen fertig wirst!«

Die Nacht war still, im Sternenlicht glänzte der Bodden, die Uhr des Gymnasiums am Zirkusplatz schlug Mitternacht. Erasmus lehnte sich in den Stuhl. Er lächelte hilflos, er mußte den Kopf schütteln.

Ich will auch wieder einmal zur Feder greifen, dachte er sich, und schrieb diese Worte ins Tagebuch:

»Laß den grundlosen Willen die durch Leidenschaft hervorgerufenen Wollungen deines Wesens hinwegspülen. Unterbinde die Blutgefäße, die von solchen Motiven ausgingen, oder vernichte diese selbst. Erzeuge und rufe vor allem eine neue, überstarke Willenserscheinung und ‑richtung aus dir hervor. Tu das und ordne ihr alles unter. Die Dreieinigkeit dieser neuen Willensrichtung heiße: Gesundheit! Arbeit! Unabhängigkeit!«

Auf diese Notiz war kurze Zeit, nachdem sie gemacht wurde, das Haupt des Schreibers in Schlummer herabgesunken. Der Schlummer indessen war nicht tief und trieb ein freies Spiel mit den Umständen, die den Schläfer wachend umstellt hielten.

Irina Bell saß Kränze windend in einem verankerten Nachen auf einem breiten Strom. Ihr Kleid war weiß, sie trug einen Kranz weißer Rosen im goldbraunen Haar. Ein weißes Licht, das von ihr ausging, von dem Träumer »Reinheit« genannt, schien sie einzuhüllen. Mußte Maria Magdalena nicht eine Heilige sein, sobald sie Jesus entsühnt hatte?

Am Ufer stand ein blonder Apoll, der seltsamerweise mit goldener Angel angelte. War der Träumer ein Fisch, als er im kristallenen Element, unter Wasser, den Haken von Gold sich bewegen sah? Von oben sah das Gesicht des holden, atmenden griechischen Götterbildes, das der Prinzessin Ditta, zu ihm herab, und er lechzte beinahe danach, in den Haken an ihrer Goldschnur zu beißen. Dann zöge sie mich, so klang es in ihm, in ein goldenes olympisches Licht.

Ein anderes Bild ging nun von jenseit des Stromes vor der Seele des Träumers auf: die blauschwarze Kitty mit dem bleichen Oval des Gesichts und einem Kleid aus grellen Blumen. Ihn wunderte nicht, daß sie mit dem ihr eigenen wippenden Gange, den Blick versonnen gesenkt, trockenen Fußes den Fluß überschritt. Sie war anders als Irina und Ditta geartet. Erasmus fühlte Fremdheit an ihr, oder wenigstens schicksalbedingte Trennung. Sie stand bei ihm still, man begrüßte sich, worauf er sie Arm in Arm begleitete.

Oh, sie wohnte in einer Stadt weit fort von hier, sie hatte Kinder, sie war verheiratet. Ihr Mann war reich, er las ihr die Wünsche von den Augen. Besonders was die Küche betraf: alle Leckerbissen der Welt mußten da für sie herhalten. Sie berichtete das mit überlegener, stiller Schalkhaftigkeit.

Ob sie bei alledem glücklich sei?

O ja, sehr glücklich. Doch zuckte sie mit den Achseln.

So schritten sie nebeneinander hin, im Tiefsten getrennt und vereint zugleich. Erasmus wußte sich nicht zu erinnern, daß sie ihm jemals so süß, so schön, so berückend erschienen wäre.

Als Erasmus am Morgen darauf erwachte, lag er ausgezogen im Bett. Die Übermüdung mußte ihn in einen unerwecklichen Schlaf versenkt haben, so daß eine andere Hand ihn, ohne daß er es merkte, auskleiden und zur Ruhe bringen konnte. Wessen diese Hand aber war, wußte er nicht.

 

Vom Schlafe gestärkt – es war bereits zehn Uhr früh –, spürte er heut sogleich die Forderung des Augenblicks. Mit beiden Beinen zugleich sprang er aus dem Bett, wusch sich, rieb seinen Körper mit nassen Tüchern, rief nach Pauline, kleidete sich mit Umsicht an, bestellte Kaffee, benützte die Zeit, um mit Stralsund, dem Hotel Zum Kranich, zu telephonieren.

Unerwartet war Kitty am Telephon und beruhigte ihn wegen ihres nun ganz überwundenen Anfalls. »Mache dir um mich keine Sorgen«, sagte sie, »gib dich in aller Ruhe, mein Lieber, Guter, deiner theatralischen Aufgabe hin und sag mir durchs Telephon, wie alles verlaufen.« Sie ging hernach auf das überraschende Wiederfinden Ginevras ein, nicht aber in einem solchen Ton von Begeisterung, wie er ihn voraussetzte. »Eh ich's vergesse«, fuhr sie fort, »nimm dir um Gottes willen nicht zu Herzen, womit Doktor Oberdieck dich höchst überflüssigerweise überrumpelt hat. Glaube mir, ich kenne die Ärzte. Die Mücke zum Elefanten machen, ist ihr Geschäft.«

Das war ein gesunder Hauch, Gott sei Dank, und man durfte mit Appetit frühstücken.

Und noch ein anderer Umstand trug an diesem Morgen zur Reinigung seiner Seele bei, der beiseitegeschobene Hamlet-Komplex verdrängte in ihr bald alles andere. Das große Erlebnis, das sich auf der Bühne, als seinem Kern, zusammenzog, beanspruchte allen Raum. Es war wieder da, gespeist von allen Quellen und Zuflüssen aus ebendem Boden im Wesen des jungen Kunstmediums, der es von Anfang an gespeist und getragen hatte. Es war wieder da, mit dem ganzen tätig bewegten menschlichen Zubehör, das nun schon seine Geschichte besaß und dessen Zusammenwirken zur eigenen Vollendung hindrängte.

Die Vollendung sollte heute durch die Generalprobe eintreten.

Indem Erasmus nach dem Frühstück ebenso eilig wie eindringlich den von ihm geschaffenen neuen Hamlet-Text auf sich wirken ließ, hatte er alle Gestalten des Dramas wiederum in sich aufgerufen. Er war somit nicht Erasmus mehr, sondern bestand etwa aus zwanzig Persönlichkeiten, in deren jeder er ein- und untergegangen war, während sie doch zugleich auf seiner inneren Bühne, vor dem Auge seiner Seele, herumagierten.

Der Tag war schön wie die meisten dieser Hochsommerzeit und noch besonders festlich für Granitz. »Das Schloß«, berichtete Frau Herbst, »hat die Reichsflagge und die Hausflagge gesetzt.« – »Das ist nur billig«, bemerkte Erasmus, »kommt doch ein wahrer Prinz aus Genieland heut an den kleinen Hof zu Besuch, dessengleichen es nicht zum zweitenmal auf der Erde gegeben hat und geben wird. Was freilich seine Krone betrifft, so besteht sie nicht aus Juwelen und Gold, sondern ist von der Art, wie Jesus am Kreuz sie getragen.«

Erasmus fühlte, wie er mit diesen Worten fast in der Hamlet-Gestalt aufgegangen war und diese mit ihm ein und das gleiche wurde. Mit leisem Erschrecken gestand er sich das Erlebnis dieses Martyriums, das er beinahe vor sich selbst, geschweige vor andern geheimhalten mußte, wenn er nicht in den Verdacht des Wahnsinns geraten wollte.

In diesem Zustand hätte er Hamlet von Anfang bis Ende ohne Souffleur zu spielen vermocht, er brauchte nur auf die Bühne zu springen.

 

Im Theater wurde er zunächst mehr nach außen gelenkt.

Die angstvoll harrenden Augen Doktor Ollantags, die sich hinter den Brillengläsern in Spannung auf den jungen Dramaturgen fast müde gesehen hatten, entspannten sich, als der Vermißte nun leibhaftig vorhanden war, und Ollantag reichte ihm beide Hände. »Sie waren so plötzlich verschwunden, lieber Freund, daß man auf einen ungewöhnlichen Zwischenfall schließen mußte. Direktor Georgi hatte sich schon für den Notfall zur Übernahme der letzten Regie bereit erklärt. Ohne Ihre Gegenwart aber würde der ganzen Sache das Beste gefehlt haben. Man ist nun einmal auf dem Schloß, voran der Fürst, auf Sie, und beinahe nur auf Sie, eingestellt. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit: Sie müssen wissen, Seine Durchlaucht haben sich die morgige Premiere gleichsam selbst zum Geburtstag geschenkt: Sie der Geburtstagsgesellschaft zu präsentieren ist der Kernpunkt seines Programms. Die allgemeine Anerkennung Sie entdeckt zu haben ist sein Ehrgeiz geworden. Sie werden vielleicht nicht wissen, und man hat es Ihnen geflissentlich verborgen, was alles für den Geburtstag des Fürsten, der zugleich der Geburtstag Ihrer theatralischen Sendung sein soll, im Gange ist. Ein preußischer Prinz und seine Gemahlin werden zugegen sein, die Kronprinzessin von Sachsen, eine geistreiche und theaterfreudige Habsburgerin, der Weimarer Intendant, auch der von Wiesbaden, der ein Freund des Fürsten ist, und noch andere Fürstlichkeiten sowie Männer und Frauen von Bedeutung werden erwartet.

Es müßte einer der boshaftesten und nichtswürdigsten Dämonen sein, dessen satanischen Machenschaften es gelungen wäre, Sie um den morgigen großen Tag zu betrügen. So etwas, einmal versäumt, ereignet sich nicht zum zweitenmal. Entwickelt es sich morgen, wie ich glaube, programmmäßig, so haben Sie übermorgen die Wahl, ob Sie Intendant an dem kleinen Hoftheater in Bückeburg, Anhalt-Dessau, Gotha oder sonstwo werden wollen. Ihre Karriere ist dann so gut wie gemacht, und so wäre geglückt, wofür ich und die überzeugte Gemeinde Ihrer Getreuen in dieser Sache gekämpft haben.«

Wieder bebte Erasmus zurück.

Immerhin dachte es in ihm mit den Worten, die er gestern ins Diarium eingezeichnet hatte: »Laß den grundlosen Willen die durch Leidenschaft hervorgerufenen Wollungen deines Wesens hinwegspülen. Unterbinde die Blutgefäße, die von solchen Motiven ausgingen, oder vernichte diese selbst: Erzeuge und rufe vor allem eine neue, überstarke Willenserscheinung und ‑richtung aus dir hervor. Tu das und ordne ihr alles unter. Die Dreieinigkeit dieser neuen Willensrichtung heiße: Gesundheit! Arbeit! Unabhängigkeit!«

Das heißt nichts anderes als: ein Mann werden.

Das Theater war klein. Aber hatte nicht Goethe in dem kleineren Lauchstädter Bühnenhäuschen den »Tell« und den »Wallenstein« gespielt, zwei Stücke, die den größten szenischen Aufwand erforderten? Und vertrug Shakespeare, mit seinen vielen, schnell wechselnden Auftritten und Abgängen, nicht die größte Vereinfachung?

So war es, und dies hatte sich Baron Cramm, der Maler, zunutze gemacht. Man spielte vor langen samtenen Vorhängen, die in vielen Vertikalen anstanden. Die Gestalten traten teils von den Seiten, teils eben durch diese Vorhänge auf. Die Samte der Draperien, die, hintereinander aufgehängt, schnell entblößt werden konnten, waren in der Farbe auf die verschiedenen Szenenkostüme abgestimmt. Die Wünsche des Malers, kaum ausgesprochen, hatte der nun einmal für das Unternehmen erwärmte Fürst sogleich erfüllt. Alte italienische, ja sogar türkische Samte traten hervor hinter modernen, die aus Paris verschrieben waren. Auch gemusterte hingen darunter. Das Duell zwischen Hamlet und Laertes fand vor einem Brüsseler Bilderteppich statt, der in der Hauptsache einen Garten mit griechischen Tempeln und Schwanenteichen vorstellte.

Auch der Vorhang, der die Bühne vom Parkett trennte, war erneut worden. Man hatte aus dem Gerümpel der fürstlichen Schlösser alte Brokate mit dem goldgestickten Wappen des Hauses zutage gebracht, kurz, alles mögliche war getan worden, um den kommenden Doppelgeburtstag über den Alltag festlich hinauszuheben.

 

Trotzdem vor der letzten Probe unsäglich viel mehr als bei jeder anderen zu verrichten war, schien es eher, als sei eine Atempause eingetreten. Ein etwa laut gesprochenes Wort zog sich gleichsam erschrocken in sich zurück: Grund war das Bedürfnis der Künstler, sich zu sammeln, ferner auch die unmittelbare Nähe jener magischen Wolke, in die sie eingehen sollten.

Als Erasmus seinen Obliegenheiten hinter der Bühne überall nachgekommen war und in den Zuschauerraum zurückkehrte, fand er ihn sozusagen ausverkauft. Die hohen Herrschaften, voran der Fürst, waren da. Im übrigen aber Kopf an Kopf die Einwohner von Granitz, die man auf diese Weise schadlos halten wollte, da nur die Honoratioren des Orts für die eigentliche Festvorstellung in Betracht kamen.

Der junge Spielleiter nahm seinen Platz auf dem für ihn freigehaltenen Sperrsitz ein, unter der Gaslampe, neben dem Assistenten, der seine Retouchen, letzten Einfälle und Ergänzungen zu notieren hatte. Nach kurzer halblauter Zwiesprache mit diesem stand er sogleich wieder auf, blickte sich, Ruhe gebietend, im Räume um und befahl dann mit lauter Stimme: »Anfangen!«

 

Erasmus hatte sich eine etwas gewagte Einleitung ausgedacht, die man seiner Jugend zugute halten mag. Der Vorhang ging auseinander, und die Schauspieler in ihren Masken und Kostümen, inbegriffen Hamlet, standen um eine Gestalt herum, die Shakespeare selbst darstellen sollte. Die Maske war geglückt, und eine Bewegung im Hause bewies die starke Wirkung, die sie ausübte.

In diesem Vorspiel, das Shakespeare selbst an Stelle Hamlets sprechen läßt, drückte sich die Überzeugung Erasmus Gotters aus, durch die Hamlet und sein Dichter in gewissem Sinne als ein und dieselbe Person betrachtet wurden. Gewiß ist, daß der Prinz, wie der Theaterdichter Shakespeare, für eine Schauspielertruppe Verse geschrieben hat und daß er ihr, vor dem Beginn des Schauspiels, Verhaltungsmaßregeln gibt, wie Shakespeare, der Theaterdirektor und Dichter, oft getan haben mag.

Und Shakespeare im Vorspiel sprach zu den Schauspielern eben die Worte, die er Hamlet im Stück zu jenen Schauspielern sagen läßt, die das Schauspiel im Schauspiel, zur Entlarvung des Königs und Königsmörders, darstellen sollen.

Seid so gut und haltet die Rede, wie ich sie euch vorsagte, leicht von der Zunge weg; aber wenn ihr den Mund so voll nehmt wie viele unsrer Schauspieler, so möchte ich meine Verse ebensogern von dem Ausrufer hören. Sägt auch nicht zuviel mit den Händen durch die Luft, so – sondern behandelt alles gelinde. Denn mitten in dem Strom, Sturm und, wie ich sagen mag, Wirbelwind eurer Leidenschaft müßt ihr euch eine Mäßigung zu eigen machen, die ihr Geschmeidigkeit gibt. Oh, es ärgert mich in der Seele, wenn solch ein handfester, haarbuschiger Geselle eine Leidenschaft in Fetzen, in rechte Lumpen zerreißt, um den Gründlingen im Parterre in die Ohren zu donnern, die meistens von nichts wissen als von verworrenen stummen Pantomimen und Lärm. Ich möchte solch einen Kerl für sein Bramarbasieren prügeln lassen: es übertyrannt den Tyrannen. Ich bitte euch, vermeidet das.

Shakespeare fährt fort:

Seid auch nicht allzu zahm, sondern laßt euer eigenes Urteil euren Meister sein: paßt die Gebärde dem Wort, das Wort der Gebärde an, wobei ihr sonderlich darauf achten müßt, niemals die Bescheidenheit der Natur zu überschreiten. Denn alles, was so übertrieben wird, ist dem Vorhaben des Schauspieles entgegen, dessen Zweck sowohl anfangs als jetzt war und ist, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten: der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild, und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen. Wird dies nun übertrieben oder zu schwach vorgestellt, so kann es zwar den Unwissenden zum Lachen bringen, aber den Einsichtsvollen muß es verdrießen. Und der Tadel von einem solchen muß in eurer Schätzung ein ganzes Schauspielhaus voll von andern überwiegen. Oh, es gibt Schauspieler, die ich habe spielen sehen und von andern preisen hören, und das höchlich, die, gelinde zu sprechen, weder den Ton noch den Gang von Christen, Heiden oder Menschen hatten und so stolzierten und blökten, daß ich glaubte, irgendein Handlanger der Natur hätte Menschen gemacht, und sie wären ihm nicht geraten. So abscheulich ahmten sie die Menschheit nach.

Laertes antwortet:

Ich hoffe, wir haben das bei uns so ziemlich abgestellt.

Shakespeare fährt fort:

Oh, stellt es ganz und gar ab! Geht, macht euch fertig!

Nachdem sich der Vorhang über dem Vorspiel geschlossen, tat er sich vor der ersten Szene des Dramas wieder auf, jener nächtlichen auf der Schloßterrasse zu Helsingör, wo den Offizieren der Schloßwache der Geist des ermordeten Königs erscheint. Erst nach den Gesprächen beim Mafalda-Tee und besonders mit Professor Trautvetter, der nun in der Tat die Rolle des Geistes im Stück übernommen hatte, war dem immer lernbereiten Erasmus das Mythische des Werkes aufgegangen, und er hatte die Vorstellung mehr und mehr damit imprägniert. Wenn er früher der Meinung gewesen war, daß der Bau des Dramas vornehmlich auf zwei Säulen ruhe, Prinz Hamlet und dem Usurpatorkönig Claudius, so erblickte er nun in dem seinem Grabe entstiegenen, Rache heischenden und geharnischten Heros die alles durchdringende, alles bewegende, alles beherrschende und am Ende alles wahllos vernichtende, furchtbare Macht. Der Schuldirektor war groß und breitschultrig. Durch Beleuchtungseffekte, die der Maler-Baron mit vielem Geschick gehandhabt hatte, ward die Gestalt des geharnischten Heros ins Überlebensgroße gesteigert. Nicht war er mehr nur eine Gestalt wie alle Gestalten oder gar eine Beiläufigkeit, sondern schon in der ersten Szene, obgleich kein Wort aus seinem Munde geht, wie es heißt: »ein Prolog der Schrecknis, die sich naht«.

Schon im Verlauf dieser ersten Szene ward ein Alp auf die Hörer gelegt, und die Luft schien wirklich, nach dem Text, an Verfinsterung zu kranken wie zum Jüngsten Tag. Eine kosmische Angst ging um, in der sich unabwendbares Schicksal verdichtete. Was sich aber dem Hause mitteilte, war eine beklemmende und betörende Atmosphäre, darin kein kleiner dünkelhafter, menschlicher Wille, der etwa sich als Schöpfer eigenen Schicksals hervortun möchte, noch bestehen kann.

»Ich kreuz' es«, nämlich das Gespenst, sagt Horatio, »und sollt' es mich verderben.«

Nein, es wird gerade Horatio nicht verderben, um so gnadenloser aber das ganze eigene Haus.

Die kranke Verfinsterung zum Jüngsten Tage lag auch auf der zweiten Szene, einem Staatsakt, der, wahrscheinlich zum erstenmal, den König und Thronräuber Claudius mit der Witwe des gemordeten Königs, der Mutter Hamlets, als königliches Ehepaar öffentlich zeigt.

Über diesem Staatsrat liegt in der Luft, was Horatio in der ersten Szene sagt:

Kurz vor dem Fall des großen Julius standen
die Gräber leer, verhüllte Tote schrien . . .
Und ebensolche Zeichen grauser Dinge –
als Boten, die dem Schicksal stets vorangehn –
hat Erd' und Himmel insgeheim gesandt
an unsern Himmelsstrich und Landsgenossen.

Als gezeichnetes Opfer und zugleich erstes Werkzeug der »Schrecknis, die sich naht«, steht, im schwarzen Mantel, Prinz Hamlet, die Erinnye seines ermordeten Vaters fast sichtbar hinter ihm. Sie gibt Hamlet Worte ein, aber auch seiner Mutter und deren mordbelastetem Ehegemahl. »Hamlet«, muß die Mutter sagen, »bleib bei uns, geh nicht zurück nach Wittenberg«, und ihr Gatte, in langer Heuchlerrede, muß diese Bitte unterstützen, deren Erfüllung allen zum Verhängnis wird.

Es ist ein Vorgang, in dem jede Heiterkeit krampfhafte Lüge bedeutet und, um nicht im Grauen zu ersticken, sich in betäubende Bakchanale stürzen muß.

Der furchtbar geharnischte, furchtbare Heros materialisiert sich in der vierten Szene als Erscheinung und Wort seinem Sohn. Trautvetter sprach die Partie im gleichen Sinne, wie er sie beim Tee der Prinzessin Mafalda vorgetragen hatte. Erscheinung und Bewegung waren gleichermaßen eindrucksvoll. »Mein Schicksal ruft«, sagt Prinz Hamlet, als er dem Winken des Gespenstes, ihm zu folgen, willfahrt. »Mein Schicksal ruft und macht die kleinste Ader dieses Leibes so fest als Sehnen des Nemeer Löwen.«

Erasmus, an die Vorgänge der Bühne angesaugt, empfand bis in die tiefsten Regionen seines Wesens allverstehende mystische Teilnahme. Und diese Stelle, wo Hamlet dem Glauben an seinen eisernen Willen unterliegt, brachte ihm eine mitleidsvolle Erschütterung.

Prinzessin Ditta hatte sich, nicht weit von Erasmus, in die leere Parkettreihe niedergelassen. Sie widmete weniger den Vorgängen auf der Bühne als ihm ihre Aufmerksamkeit, und so mußte sie sehen, wie seine bleichen Wangen von Tränen feucht wurden.

Es ist nicht möglich, hier eine Bühne aufzuschlagen und den Ablauf der neunzehn Szenen des Hamlet-Stückes, und also die ganze Generalprobe, sichtbar zu machen. Es ist auch nicht darauf abgesehen. Genug, nach dem dritten Akt befanden sich die Zuschauer noch immer wie beim ersten im Zustand magnetischer Benommenheit.

Als sie sich langsam herauslösten, da man hier eine längere Pause einlegte, fing ein allgemeines Geflüster und Getuschel an, bei dem sich keine Stimme hervorwagte.

Es war ungefähr Mittag geworden. Viele unter den Zuschauern eilten nach Hause, um schnell einen kleinen Imbiß zu sich zu nehmen, andere gingen auf dem Marktplatz oder in der den Park begrenzenden Allee alter Bäume auf und ab. Der Fürst ließ sich ins Schloß zurückrollen, um einige Augenblicke zu verschnaufen und eine Stärkung einzunehmen.

Es war eine Stimme darüber, daß man eine dergleichen ernsthafte Angelegenheit im Theater von Granitz noch nicht erlebt hatte. Die aber, welche mit dem allgemeinen deutschen Theater vertraut waren, konnten sich nicht einer ähnlichen Wirkung erinnern und diskutierten darüber, worin sie am Ende bestand. Es sei ein Zauber, sagte Doktor Ollantag, der das persönliche Sein des Zuschauers aufhebt. – Ähnlich dem, erklärte der Maler-Baron mit halbem Humor zustimmend, den die Schlange ausübe, wenn sie ein Kaninchen, das sie verschlingen will, hypnotisiert. »Solange man diesen sozusagen todgeweihten Vorgängen zuschaut, sitzt man nicht mehr, wie sonst, gewohntermaßen im Theater, sondern ist seelisch unterjocht und befindet sich gleichsam in tiefster Gefangenschaft.«

»Sehen Sie diesen Erasmus an, diesen Spielleiter«, wandte sich Ollantag seltsamerweise an Bourtier, als dieser zu Mafalda zurückkehrte, nachdem er den Fürsten ins Schloß geleitet hatte, »sehen Sie diesen Menschen an: blutlos, mit bleichen Lippen sitzt er da, wie ein Besessener, willenlos muß er mit stummer Lippenbewegung jeden kleinsten Satz, jedes Wort des Dichtwerkes nachsprechen. Man fühlt, daß es von seinem Herzblut lebt, vampirisch gleichsam trinkt es ihn aus – ich fürchte geradezu für ihn –, um ihn als leere Hülse wegzuwerfen.

Ich nenne ihn Hamnet, Shakespeares Sohn. Shakespeares einziger Sohn hat Hamnet geheißen. Wer zweifelt, daß der Vater, Shakespeare, in seines Wesens Wesen Hamlet gewesen ist?

Übrigens, Hamlet ist Däne, nicht Engländer. War also Shakespeare wirklich Engländer, wenn er Hamlet gewesen ist? Von der Reihe der Königsdramen abgesehen, weisen seine übrigen nicht auf Polen, Böhmen, Wien, Verona und Venedig hin? Seltsam genug, wenn er oder seine Vorfahren, wie der jüngere Holbein, Erasmus, Giordano Bruno und viele andere, ihre Wanderung vom Kontinent, etwa aus der Umgegend von Prag, nach England unternommen hätten? Von daher stammen die seltsamsten Leute.«

Prinzessin Mafalda wollte wissen, ob Doktor Gotter nicht auch daher stamme.

Bourtier aber fand wiederum, daß man zuviel aus Erasmus mache. Man hätte »Kyritz-Pyritz« zum Geburtstag des Fürsten aufführen sollen, erklärte er. Hamlet sei ein peinliches Stück. Er begreife durchaus nicht, weshalb man sich für die arme, gequälte Durchlaucht, statt einiger englischer Clowns, diesen Alpdruck verschrieben habe.

»Der Fürst ist ganz bei der Sache, Herr Oberhofmeister. ›Hamlet‹ ist ein klassisches Stück. Es ist vielleicht nicht eine Tragödie, sondern, wie jemand sagt, die Tragödie selber. Und die kathartische Wirkung der Tragödie ist keine trübe, sondern eine befreiende und erlösende.«

»Voltaire ist nicht ebenderselben Meinung«, sagte Bourtier. »Ein Düngerhaufen sei das ganze Stück, auf dem man diese und jene Perle finde. Aber wer will in Dünger greifen? Die ganze Klitterung, die er als schauderhaft bezeichnet, habe ein besoffener Wilder erfunden, wie er meint, der vielleicht«, setzte er aus eignem auflachend hinzu, »wenn Sie wollen, aus der Gegend von Johann Hus stammen mag.«

»Voltaire ist in dieser Beziehung ein Esel«, erwiderte trocken Ollantag.

 

Während diese Gespräche hier gepflogen wurden, hatte Erasmus hinter der Bühne mit den einzelnen Darstellern kurze Aussprachen und trat nun in die Garderobe von Irina ein. Verloren im magischen Kreis des Hamlet-Werkes, wurde er unsanft aufgeweckt, als er, ihre Arme um seinen Hals, durch zahllose Küsse seinen Mund verschlossen fühlte. Was Erasmus dabei empfand, war nichts als ein unangenehmer mechanischer Überfall. »Hamlet, Hamlet, Hamlet! Mein Hamlet!« waren die Worte, die Irina, ihn umklammernd, immer wieder und wieder stammelte.

Da sie alsbald seine Fremdheit und Kälte spürte, zog sie andere Saiten auf. »Die Prinzessin muß von dir wegrücken. Neben dich und in die Parkettreihe der Regie gehört sie nicht. Das mag ich nicht! Ich will das nicht! Das liebe ich nicht. Ich kann nicht spielen«, endete sie, »wenn sie dir nicht von der Seite geht. Ich werde ihr nächstens die Augen auskratzen.

Und du sagst mir kein Wort auf meinen Brief?!«

»Das alles werden wir später besprechen, übermorgen, wenn das ganze Hamlet-Spektakel hinter uns liegt.«

»Oh, bitte, du kommst mir so leicht nicht aus!«

Und eine Weile ging es so fort, bis Syrowatky von Erasmus allerlei wissen wollte und ihn erlöste.

 

Gegen fünf Uhr hatte die Generalprobe ihr Ende erreicht. Erasmus war nicht anders zumute, als ob man ihm die Seele aus dem Leibe gesponnen hätte und dieser nur noch eine leere, an den Innenwänden schmerzende Höhlung sei. Der Beifall war stark, man war einig darüber, etwas Großes erlebt zu haben.

Erasmus, diesen Beifall quittierend, sagte zu sich: Jawohl, es ist alles im Lot. Die Hoheit des begrabenen-nichtbegrabenen Dänemark steht über dem Leichenfelde als blutgieriger, unsichtbarer, befriedigter Rachegeist. So werden auch die vier letzten Toten verständlich, denen Polonius und seine Tochter vorausgegangen sind. Nun ist die ganze Kämmererfamilie ausgerottet. Die eigene Gattin, den Bruder, den Sohn vernichtet der beleidigte Heroengeist. So sind ihm auch Rosenkranz und Güldenstern zum Opfer gefallen.

Prinz Hamlet ist erst in dem Augenblick dem Todesurteil des Rächers anheimgegeben, denkt Erasmus, als er sich das Schwert seines großen Aufstandes durch die Mutter aus der Hand schmeicheln läßt. Von da ab wird alles makaber, dunkel und wirr um ihn, eine Willenslähmung scheint eingetreten, bis schließlich der Tritt des rasenden Dämons mit geharnischtem Fuß auch ihn ohne Gnade zertritt.

»Brav, alter Maulwurf, wühlst so hurtig fort!« hat Hamlet einst dem Gespenst unter der Erde nachgerufen, als es mit dem Befehl »Schwört!« von seinen Genossen die Gefolgschaft für Hamlet verlangt. Der alte Maulwurf hat fortgewühlt. Aber die Beschwörung des jungen Prinzen: »Ruh, ruh, verstörter Geist!« hat nichts gefruchtet. Jetzt erst, durch übermenschliche Raserei, hat der beleidigte Heros Ruhe gefunden.

 

Eine Stunde verging, bevor Erasmus sich einigermaßen aus den Schleiern und Dünsten der theatralischen Phantasmagorie befreit hatte. Er war der innigste Hörer, Genießer und Bewunderer seines eigenen Werkes; aber gerade deshalb meldete sich ein Gefühl der Bitterkeit, daß es einen so vergänglichen Charakter trug. War von den vielen wundervollen Einzelheiten vom Publikum auch nur ein kleiner Teil erkannt und genossen worden? Es blieb Erasmus zweifelhaft. Fünf Minuten jedoch, nachdem der Vorhang sich geschlossen hatte, brach eine solche Welle von Banalität in den Zuschauerraum, daß man an eine Fortexistenz des eben empfangenen Eindrucks unmöglich glauben konnte. Restlos schien er hinweggespült.

Warum bestand keine Möglichkeit, diese dynamische Ballung festzuhalten? War sie nichts weiter als ein erstaunliches Feuerwerk, das in schwarzen Lüften zerprasselte?

Die Szene Hamlets flammt vor Erasmus' innerem Blick auf, wo der Prinz sich versagt, seinen betenden Oheim meuchlings niederzustechen. Hier ist der Rachegeist des erzürnten Heros in seiner ganzen Kraft ganz in ihm gegenwärtig, hier zum ersten- und letztenmal. »Nun ist die wahre Spükezeit der Nacht, wo Grüfte gähnen und die Hölle selbst Pest haucht in diese Welt.« Schlechthin dem Mörder den Tod zu geben, genügt ihm nicht. Es soll geschehen, wenn er schäumt vor Wut, Blutschande mit der Mutter treibt, kurz, etwas tut, das keine Spur des Heiles an sich trägt. Ob wohl jemand, außer Erasmus, in dem inneren Nachleben des dramatischen Mysteriums das beinahe sichtbare Hervortreten des racheschnaubenden Halbgottes an dieser Stelle erkannt haben mochte?

»Der Rest ist Schweigen«, sind Hamlets letzte Worte. Der Rest ist Schweigen, denkt Erasmus, auch bei mir. Muß ich, auf dem Wege zur Gärtnerei, als Lohn dafür, die gewaltige Psychomachie sozusagen durch eine Transfusion meines Blutes ins Leben gerufen zu haben, nichts als diese Erkenntnis davontragen und darüber hinaus höchstens noch einen penetranten Gruft- und Modergeruch?

Warum verfolgt mich das Spatenknirschen der zwiebelfressenden, schnapssaufenden und rülpsenden Totengräber und die Vision der kollernden Totenschädel, die sie nacheinander der Erdoberfläche zurückgeben, wo sie doch nichts mehr zu suchen haben? Warum erscheint mir jedes geöffnete Fenster mit dem Dunkel des Raums dahinter so gräberhaft grausig, so fürchterlich? Habe ich Fieber? Bin ich krank? Starre ich überall in die eigene Gruft?

Unwillkürlich hatte Erasmus mit der Rechten den Puls seiner Linken gefaßt. Er fühlte ihn förmlich dahinjagen. Plötzlich – es war auf dem Zirkusplatz – stieß er auf den fürstlichen Leibarzt Doktor Thurneyßer. Thurneyßer grüßte, er hatte die Probe mitgemacht. »Sie haben uns einen unvergeßlichen, ganz gewaltigen Eindruck vermittelt«, so redete er den jungen Spielleiter an.

»Es hat mich ein bißchen mitgenommen, Herr Doktor.«

Der Leibarzt sagte unaufgefordert: »Ich gehe zu Walter ins Alumnat. Der Junge ist mir heut morgen leider bedenklich krank geworden. Aber bitte: Schweigen! Zu niemand ein Wort davon!«

Walter krank, was bedeutete das?

Zwei Minuten später stand Erasmus am Telephon.

Kitty war im Augenblick da und wollte wissen, wie alles verlaufen wäre.

Alles sei ausgezeichnet verlaufen, großer Beifall sei mehrmals losgebrochen, nach Schluß des Ganzen jedoch und den nötigen Besprechungen mit den Darstellern habe er sich gewissermaßen auf Schleichwegen eilig davongemacht. Es sei also nun, fügte er an, ein Gartenfest und Picknick auf der Schloßterrasse im Gang, und dort werde sich ja Gelegenheit bieten, zu erfahren, in welchem Sinne das ganze Spektakel gewirkt habe.

Er brauche sich, erklärte ihm Kitty, durch keine Besorgnis, etwa um ihr Wohlbefinden, irgendwie in seinen gesellschaftlichen Obliegenheiten stören lassen. Tante Mathilde sei eingetroffen. Sie hätte es sich nicht versagen können, dem Triumph des Neffen beizuwohnen. Sie selber, Kitty, fühle sich wieder frisch und gesund. Ob sie zur Vorstellung kommen könne, wisse sie allerdings noch nicht. Eintrittskarten brauche sie nicht: sie seien von Doktor Oberdieck, den der Fürst einmal als Arzt zugezogen habe, besorgt worden.

Als Erasmus den Hörer anhängte, schaute er tief beschämt auf den wiederum leeren Ringfinger.

Das Telephonat mit seiner Frau und das Bewußtsein, sie werde von der klugen, heiteren und liebenswerten Tante Mathilde betreut, hatte sein Gemüt erhellt. Auch lag nun mit einemmal die ganze Hamlet-Welt hinter ihm. So beschwert eine reife Frucht, wenn sie abgefallen ist, den Zweig nicht mehr. Das Werk war geboren, erlöst und entlastet kehrte Erasmus zu sich selbst zurück. Meinethalben, mein Puls geht zu schnell, mein Atem ist hörbar und kurz, ich mag Fieber haben, aber krank zu sein, habe ich zunächst keine Zeit. Morgen mehr davon. Heute muß ich den Kelch, Pokal oder Humpen von Granitz bis zur Neige austrinken.

Als Erasmus, nachdem er sich eilig umgekleidet und ein wenig mit kaltem Wasser erfrischt hatte, zur Fête champêtre aufbrechen wollte, gab es noch einen Zwischenfall.

Er traf auf Frau Herbst, die ihn aus tiefen, entsetzten Augen anstarrte.

»Wie vermögen Sie so etwas auszusinnen und auszubauen«, sagte sie. »Woher kommt Ihnen diese Wissenschaft?«

Sie hatte die Generalprobe mitgemacht.

Wie sie das meine, fragte Erasmus.

»Sie haben in diesem gewaltigsten aller Geister- und Gespensterdramen gleichsam das Schicksal selber gespielt. Hätte ich gewußt, mit welchen Gewalten Sie auf uns einstürmen würden, ich wäre dem Schauspiel ferngeblieben.«

»Also empfinden Sie nicht jene Katharsis, jene Läuterung, welche die Tragödie mit sich bringen soll, wie es heißt?«

»Nein, ich fühle mich gar nicht geläutert«, sagte sie, »nur im höchsten Grade erschreckt und geängstigt fühle ich mich. Die Spukhaftigkeiten des Stückes sind mir zu Wirklichkeiten geworden. Sie sind da, ich vermag sie nicht abzuschütteln. Ich möchte den Namen Gertrud ablegen, Gertrud heißt ja die Königin.«

Frau Herbst trug ein schwarzes, knapp anliegendes Kleid, das schlanke weibliche Formen zur Geltung brachte. Ihre Lippen bebten. Sie war sehr bleich.

»Doktor Gotter, Sie mögen mich auslachen: ich habe beinahe das Gefühl, nur Sie allein, der die unterirdischen Mächte entfesselt hat, können sie wieder in ihre Gräber zurückscheuchen. Seien Sie gut zu Ihrer Frau. Versprechen Sie mir, ihr nicht untreu zu werden. Glauben Sie mir: die Folgen sind fürchterlich. Oh«, schloß sie, »ich habe viel durchgemacht!« Und Tränen rollten ihr über die Wangen. »Als mein Mann gestorben war, erkrankte Fürst Aloysius. Meine Mutter, mein Vater kamen bei einem Eisenbahnunglück ums Leben . . .« Frau Herbst vermochte nicht weiterzusprechen. Nach einer Pause schloß sie: »O Gott, warum rede ich!

Sind Sie übrigens der Ansicht, daß Tote, denen ein ähnliches Unrecht wie König Hamlet geschehen ist, keine Ruhe im Grabe finden, wenn sie nicht irgendwie versöhnt werden?«

»Nein, in unsern Tagen nicht. Alles, sagt der Inder, unterliegt der Veränderung. Alles und alles ist vergänglich. So sind auch wohl die Beziehungen zwischen hüben und drüben andre geworden.

Kommen Sie mit zur Fête champêtre, Frau Herbst! Man muß diese Art der Verfinsterung durchaus von sich abstreifen.«

Nein, unmöglich, sie könne nicht mitkommen.

Und sie fügte zuletzt noch an: »Wissen Sie, daß der Weltkörper Sonne in Ihrem Stück überhaupt nicht vorhanden ist? Es hat mir die wirkliche Sonne auf lange verfinstert.«

Erasmus Gotter wollte ablenken: »Es ist bei Walter«, sagte er, »hoffentlich nur eine kleine Unpäßlichkeit?«

»Walter? Walter? Was ist mit Walter?«

Und Erasmus berichtete ihr von seiner Erkrankung. Er hatte die Nachricht des Leibarztes nur eben flüchtig aufgefaßt.

»Walter krank? Um Gottes willen . . .!« Und eilig, im Augenblick, brach sie auf und war bereits hinter den Hecken verschwunden, als Erasmus sich nach dem Schloß auf den Weg machte.

 

Auf der Schloßterrasse empfing ihn ein allgemeines Händeklatschen und Hochrufen. Diese Beifallsbezeugung war echt, obgleich man noch eben über allerlei Für und Wider verhandelt hatte. Zweifellos, ein Erfolg war da, das war an jedem Wort zu erkennen, das an Erasmus gerichtet wurde. Er ward zuerst zum Fürsten geführt, der ihm unter allgemeiner Stille, in die der Brunftschrei des großen Hirsches drang, seinen Dank und seine Bewunderung ausdrückte und ihm seltsamerweise durch Oberhofmeister Bourtier eine Brillantnadel in den Schlips stecken ließ. Daraufhin brach wiederum allgemeiner Beifall los, und nun ging es ans Gratulieren.

Die Hand tat dem jungen Gefeierten weh vom Handschütteln. Das Reservoir seines Selbstbewußtseins war zu klein, um alle die Lobeserhebungen aufzunehmen, obgleich die meisten schon vor den viel zu engen Eingängen des Gehörs zu Boden fielen. Doktor Ollantag hob sein Glas empor und rief: »Es lebe Hamnet, Shakespeares Sohn!«, ein Ruf, in den die heitere Gebelaune der festlich erregten Gäste einstimmte.

Direktor Trautvetter hatte als Geist einen ganz besondren Erfolg gehabt. Das räumte Widerstände hinweg und machte den Schulmann aufgeschlossen. »Nun, das steht fest: Sie sind wirklich wer!« Er legte nach diesem Bekenntnis den Arm um Erasmus und kniff ihn jovial in die Schulter.

Vater Miller, der Komiker und Darsteller des Polonius, hatte sich eine Extranummer ausgedacht. Er nannte sich schlechtweg einen Heuochsen, dabei schlug er sich mit der Faust vor die Stirn. »Meister!« rief er – die befeuernden Gläser Sekt trugen für diese Titulatur die Verantwortung –, »Meister! Meister Gotter! Meister Erasmus! Erinnern Sie sich, wie schnöde ich damals beim Syrowatky-Tee im ›Fürstenhof‹ Ihre Eignung zum Regisseur bestritten habe?« Von seinem Verhalten beim Theaterputsch sprach er nicht. »Aber Hochmut kommt vor dem Fall! Prosit! Ich steige in die Kanne!«

Erasmus Gotter tupfte die Stirn. Er wehrte ab und erklärte den Nächststehenden, daß er im Leben niemals mehr etwas Ähnliches unternehmen werde. So wie er dergleichen Aufgaben ansähe, gingen sie über seine Kraft. Des weiteren wälzte er den Löwenanteil am Gelingen des Ganzen auf Professor Trautvetter, der ihm die Augen über den Geist im »Hamlet« geöffnet habe.

Im nächsten Augenblick standen einträchtig wie zwei herrliche Götterboten Prinzessin Apoll – so hatte Erasmus Ditta getauft – und Irina Bell vor ihm, jede eine Schale Champagner kredenzend. Er nahm, und löste damit die Rangfrage, jede von beiden mit einer Hand. Als der diese Handlung begleitende Beifall vorüber war, rief Erasmus in die Stille: »Ich widme die eine dieser, von schönen Händen kredenzten Schalen dem Wohlergehen unsres großen Mäzens« des Fürsten Aloysius – einige Tropfen den Unterirdischen! – sie fielen vom Rand des Gefäßes zur Erde, worauf Erasmus den Wein in einem Zuge hinuntergoß. Es überkam ihn, und er warf das Glas, mit Wucht, gegen einen Baum zu Scherben. Dann erhob er das zweite Glas: »Ich leere diese Schale, die zweite von zwei heiligen Schalen, auf das Wohlergehen der hohen Fürstin und Landesmutter! – wiederum einige Tropfen den Unterirdischen!« Sie netzten den Boden. Auch dieses Gefäß ging in Trümmer, damit es wie das erste nie von profanen Lippen entweiht würde.

Der Eindruck, den diese Handlung machte, grenzte an Erschütterung. Der Fürst und die Fürstin streichelten des jungen Dichters Haupt, als er beiden darauf die Hand küßte.

»Aber nun laßt ihn zufrieden«, rief der Fürst, »er soll nun mal essen und trinken zuvörderst!«

 

Jetzt wurde der Gefeierte an die lange, auf der Marmorterrasse gedeckte Tafel geführt, die unter der Last ihrer Eßbarkeiten und Trinkbarkeiten brechen wollte. Damit er sich ungeniert stärken könne, bildete man eine Mauer um ihn. Beinahe unzählige Hände bedienten ihn, so daß er im Nu eine Häufung von Kaviar, Hummer, Austern, Roastbeef, gekochtem Schinken, Kartoffelsalat und wer weiß noch was auf dem Teller hatte. Auf einer Menge anderer Platten hielt man ihm Sardinen, russische Eier, Räucherlachs, Ochsenmaulsalat, Wildschweinpastete mit Sauce Cumberland und auserlesene Delikatessen in Menge hin, zu deren Vertilgung mindestens ein Dutzend ausgehungerter Grenadiere nötig gewesen wäre. Hätte Prinzessin Mafalda mit ihrer Energie sich nicht eingemischt und ihn sozusagen herausgehauen, fast mit der Reitpeitsche, so wäre es ihm nicht möglich geworden, auch nur einen Bissen zu sich zu nehmen, mitten im Überfluß. Sie brachte ihn in das sogenannte chinesische Kabinett, zu dem sie niemand, außer einigen Freunden, den Zugang gestattete.

Hier aber sagte sie dieses zu ihm: »Wahrhaftig, Sie haben uns gründlich gerüttelt, geschüttelt und durchgebeutelt. Ich habe gutes Theater in Wien, Paris und Florenz gesehen, aber ich sage ehrlich: kein besseres. Sie haben uns zittern und beben lassen und in Schrecken nie gefühlter Art gesetzt. Sie haben uns ächzen und seufzen gemacht. Manchmal war ich nahe am Aufschreien. Sie haben uns gespannt, manchmal auf die Folter gespannt, bis zur Unerträglichkeit. Aber denken Sie sich, die Wirkung am Schluß ist eine erlösende, eine befreiende. Wie neugeboren fühlte ich mich. Man kommt sich vor wie im Feuer geläutert.«

Erasmus mußte an Frau Herbst denken.

Die Theaterkapelle konzertierte im Park. Aber nach einigen Produktionen ernster Musik wurde nur noch zum Tanz aufgespielt, und gerade jetzt, als Erasmus gekommen war und sich stärkte, ging man zum Wiener Walzer über. Auf die Tragödie folgte bei den Alten das Satyrspiel, das die sonnenbeschienene sogenannte heitere Seite des Daseins, gegenüber der sonnenabgekehrten, von chthonischen Schatten bedrückten, zum Siege brachte. Auch nach der Dämmerwelt des »Hamlet« fand sich das Satyrspiel unbeabsichtigt ein, wobei das Schattenreich sich nur im Reflex der smaragdenen Baumwipfel und in den bunten Kleidern der Damen farbig ausdrückte.

»Morgen also wird nun dieser ganze finstere Schatten noch einmal dunkeln«, sagte Erasmus zu Doktor Ollantag, dem Mafalda den Eintritt in das chinesische Kabinett gestattet hatte, »morgen noch einmal, und dann werden Sie ihn und mich auf lange los.«

»Höchstens doch bis zum nächsten Sommer, was Sie betrifft«, gab der Gelehrte bedeutsam zurück, »wo wir dann allerdings keinen Shakespeare, sondern ein Originalwerk von Gotter aufführen werden.«

»Ich fürchte, die hohen Herrschaften würden erschrecken und Sie auch, wenn ich mit einem eigenen Opus anrückte. Wer weiß, ob Sie es nach reiflicher Überlegung und ehrlicher Überzeugung auf der fürstlichen Bühne zulassen könnten.«

»Sie wollten ins Volk hinuntersteigen.«

»Oder vielleicht hinauf, Doktor Ollantag.«

Eine Stimme rief: »Schluß mit diesen Dingen, die, wenn man nichts Besseres hat, höchstens einmal die Langweile vertreiben können.« Mit diesen Worten holte Irina Bell, im hellen Rokokokleidchen einer Schäferin – der Gainsborough-Hut hing ihr zur Seite – Erasmus ohne Federlesens zum Tanze ab.

Es war ihm recht, der Champagner belebte ihn. Den mädchenhaften zarten Körper an sich gedrückt, walzte er mit Irina herum. Er wußte nicht, aber es war nicht ausgeschlossen, daß er während des Tanzes, verführt durch die Nähe des süßen Gesichts, sie auf Scheitel, Wange und Mund geküßt hatte.

»Wie der Oberhofmeister wütend glubscht«, sagte Irina-Ophelia mit satanischem Rümpfen der Oberlippe.

Sie hatte recht: Bourtier verwandte kaum einen Blick von ihr.

Er war in der Tat beherrscht von Eifersucht.

Sein Spürsinn, durch den Wunsch Erasmus zu schaden geschärft, legte ihm auch den Schritt der exzentrischen Ditta zur Last, jenen Besuch, den sie ihm in der Gärtnerwohnung abgestattet hatte. Allzu wichtig nahm er ihn nicht, da sie dergleichen Sprünge schon öfters gemacht hatte. Trotzdem, der dennoch vorhandene, unverschämte Doppelerfolg erhöhte Bourtiers Reizbarkeit.

Er sagte zu Irina, als sie echauffiert, um ein Glas Limonade zu trinken, mit Erasmus vorüberkam: »Sie möchten und könnten nicht tanzen, sagten Sie mir, und ich habe gesehen, wie recht Sie hatten.«

»Zweifeln Sie also nicht mehr«, rief sie heiter, »wie es Ihre Gewohnheit ist, an meiner Wahrhaftigkeit.«

Prinzessin Ditta war schlendernderweise herangekommen, sie faßte Erasmus unterm Arm und ging mit ihm, einen verächtlichen Blick auf Bourtier werfend, davon.

Gleich darauf sah man das schönste Paar, von Beifall begleitet, dem Reigen der Tänzer eingeordnet. Was die Prinzessin während des Tanzes sprach, war von der Art, daß Erasmus, aufs tiefste betroffen, immer nur forttanzen mußte.

»Was ist geschehen? Wo sind Sie gewesen? Wo waren Sie gestern?«

Erasmus erzählte von Reimann, dem kleinen Regierungsdampfer und der Insel Oie, wo er gewesen war.

»Man hat Sie aber in Stralsund gesehen, wo Sie einen gewissen jemand abholten.«

»Werde ich denn so genau beobachtet?«

»Ja, Sie werden genau beobachtet. Sie können nichts tun, weder bei Tag noch bei Nacht, wovon ich nicht unterrichtet bin.«

»Was für entschlossene Worte sind das!«

»Haben Sie die Mondnacht vergessen, in der wir einig geworden sind?«

»Prinzessin, machen wir jetzt kein Aufsehen!«

»Das geniert mich nicht. Ganz im Gegenteil. Bist du entschlossen wie ich, so haben alle diese sogenannten Menschen in zwei Minuten das Nachsehen. Es gibt Knoten, die man zerhauen muß. Ich geh' mit dir, wohin du willst: Kongo, Südafrika, Sansibar. Mein Vermögen liegt auf der Londoner Bank: ist es zu Ende, so stehlen wir Hühner.«

»Ihr Mut, Prinzessin, erschüttert mich, aber ich kann Ihre Worte nicht schlechthin ernst nehmen. Schließlich wird jeder von uns an seinem Ort und in unzerreißbaren Netzen festgehalten.«

»Ich brauche dich, und du brauchst mich. Wir sind füreinander geboren.

Du bist eine männliche Hamlet-Natur. Ich fühle, Erasmus, was in dir steckt. Der Hamlet in dir muß zum Throne gelangen. Also nimm mich jetzt bei der Hand und führe mich einfach mit dir fort!«

Das tat Erasmus, aber es war, Gott sei Dank, nicht der folgenschwere Schritt. Zum Glück hatte sich die allgemeine Aufmerksamkeit grad in diesem Augenblick dem Schauspieler Leopold Miller zugewandt. Er wurde mit großem Beifall begrüßt und war im Begriff, eine seiner berühmten humoristischen Nummern zum besten zu geben.

Der Park von Granitz hatte eine Menge Schlupfwinkel; auch Lauben, eine unterirdische Grotte und ein marmorner Gartentempel waren da, die heimliche Schäferstündchen recht wohl ermöglichten. Es war wiederum Bourtier, der die Abwesenheit der Prinzessin mit Erasmus zuerst bemerkt hatte.

Der Gesellschaft bemächtigte sich eine immer wachsende Lustigkeit, während der nun von Zeit zu Zeit einige der erwarteten hohen Geburtstagsgäste vom Bahnhof eintrafen. Sie sammelten sich zunächst mit einer gewissen Kühle, allerlei reservierte Damen und Herren, um den Rollstuhl des Fürsten her, wurden aber sehr schnell in den grünen und heißen Julitaumel der Freude hineingerissen.

Spät geht die Sonne unter in dieser Hochsommerzeit, doch hatte das Fest bei Sonnenuntergang noch kein Ende gefunden. Die Terrassen, der Schwanenteich und ein Teil des Parkes ringsherum waren durch Lampions aufgehellt. Aus unerschöpflichen, geradezu gewaltigen gläsernen Bowlegefäßen verteilte man immer weiter Getränke. Die Kapelle konzertierte fort, Tanzweise folgte auf Tanzweise. Auch die Musikanten bekamen von allen guten Dingen der fürstlichen Küche und des fürstlichen Kellers das Ihre ab.

Den Schauspielern war von Erasmus sowohl als von Georgi dringend empfohlen worden, zeitig zur Ruhe zu gehen. Sie vertraten die Ansicht, die große Gartenbelustigung wäre am Abend nach der Premiere besser am Platze gewesen. Der Hof aber brauchte für den eigentlichen Geburtstag das Schloß und die Schloßterrassen für sich. Aber die jungen Schauspieler und Schauspielerinnen – auch die alten bleiben in diesem Stande jung –, sie, sowie die mitwirkenden Studenten, dachten kaum mehr an den erteilten Rat, als die Mitternacht nahe, als die Mitternacht schon vorüber war. Die Kapelle schwieg, aber nun erst erblühten die musikalischen Künste der Schauspieler. Der eine glänzte auf dem sogenannten Schifferklavier, Hamlet-Syrowatky erwies sich als Sänger und Lautenspieler. Man hörte ihm hingerissen zu.

Im Dunkel des Parkes waren Pärchen verteilt, von denen eines bis dahin vorgedrungen war, wo das hohe, silbrige Getreide leise rieselnd brandete.

»Wir müssen zurück, man vermißt uns, Irina«, sagte der Oberhofmeister Bourtier, der von der Angeredeten gleichsam mit sich gezogen wurde. Sie erwiderte heftig: »Ich breche mit Ihnen, wenn Sie mir diesen Verräter nicht suchen helfen.«

»Was geht mich denn dein Verräter an, kleine Kreuzotter! Ich gehe nicht weiter, oder aber du zahlst mir den Lohn im voraus dafür.«

»So blöd! Aber sei nicht so blöd!« gab Irina zur Antwort.

Die Entfernung Erasmus Gotters und der Prinzessin hatte sie furchtbar aufgeregt.

 

Am Rain jenseit des weitgedehnten Weizenfeldes waren zwei Menschen hervorgetreten und bewegten sich Hand in Hand. Wer die Ährenflut von oben erblickt hätte, würde in ihr etwas wie die Bahn eines Nachens auf einer Wasserfläche erblickt haben.

Es tut nichts zur Sache, zu wissen, wer die beiden schweigenden Gestalten gewesen sind.

Als Erasmus gegen zwei Uhr morgens bei beginnender Helle der Gärtnerei zustrebte, sah er sich am Zirkusplatz plötzlich angehalten. Es war Reimann, der erklärte, daß er im glücklichen Besitz einer Karte für den kommenden Abend sei.

»Bist du es wirklich?« sagte Erasmus. »Ich halte das für eine Fügung des Himmels, glaub mir, denn du mußt mich im Augenblick von hier fortbringen.«

»Aber wieso? Was bedeutet das?«

»Ich weiß nicht. Ich könnte den Grund nicht sagen. Ich weiß nur, daß ich am Rande dessen stehe, was hier zu verrichten und zu erleben mein Schicksal gewesen ist.«

»Wo meinst du aber, daß wir hingehen?«

»Wo meinst du aber, daß wir hingehen?« wiederholte Erasmus die Frage, die Reimann getan hatte. »Ja, lieber Reimann, das frage ich dich. – Vor allem fort! Bringe mich fort, Reimann!«

Eine Lohnfuhre kam vorbei, die irgend jemanden nach Hause gebracht hatte.

»Fahren Sie uns nach Altefähr«, sagte Erasmus und drückte dem Kutscher Geld in die Hand.

Die Freunde hörten noch, wie zwei Männer laut sprechend über den Platz schritten. Es war Doktor Ollantag und Direktor Trautvetter.

»Nein«, sagte Trautvetter, »an den Aufstand Hamlets glaube ich nicht.«

»Und ich nicht an den des eleganten Kammerjunkers Laertes! ›So folgsam ist kaum das Blut wie ein Höfling dem König‹, heißt es in ›Cymbeline‹. Und wozu? wozu?«

Die Stimmen schallten über den stillen Markt und ebenso der eiserne Schlüssel, den Doktor Trautvetter im eisernen Schloß der Haustür des Gymnasiums umdrehte, des Alumnats, in dem der erkrankte Walter lag.

Bald darauf waren die Freunde nach Altefähr unterwegs. Das letzte, was Erasmus von Granitz vernahm, war das Röhren Sultans, des Sechzehnenders.

Man sprach fast nichts, und Reimann empfand, daß Erasmus von einer schweren Krisis bedroht sein mußte. Sie waren bereits in Altefähr, von wo man über den Bodden nach Stralsund übersetzt, als der Wasserpolizeioffizier Erasmus, den er eingeschlafen glaubte, röcheln hörte. Er faßte ihn, um den in sich Gesunkenen zurechtzurücken und fühlte: er war durchnäßt vor der Brust.

Dann lag der von einem Blutsturz betroffene junge Modeliebling von Granitz auf einem Bett unter niedriger Zimmerdecke in einem kleinen Gasthof zu Altefähr und gab mit schwacher Stimme Auftrag, daß man einen gewissen Doktor Oberdieck herbeirufen solle.

Der Bodden ist ziemlich eng zwischen Stralsund und Altefähr, und so stand in der Tat Doktor Oberdieck in weniger als einer Stunde am Lager des Kranken.

Die Hofgesellschaft bekam Erasmus nicht mehr zu sehen. Doktor Oberdieck hatte ihn in einem Krankenhaus untergebracht und hielt jeden Besuch von ihm fern.

Zu Ende Januar des nächstfolgenden Jahres erhielt Doktor Ollantag von Erasmus, und zwar aus Davos, diesen Brief:

Lieber Doktor und Freund Ollantag,

Sie werden sicherlich mehr von mir wissen, als Sie durch mich selbst erfahren haben. Denn dieser ist ja der erste Brief, den ich an irgend jemand in Granitz richte. Werden Sie ihn in alter Gesinnung freundlich entgegennehmen oder in den Papierkorb werfen, mit jenem leisen Achselzucken, das bei Ihnen, unabänderlichen Dingen gegenüber, gebräuchlich ist?

Sie müssen es wissen: mein plötzliches Verschwinden unmittelbar vor dem großen Tage aus dem Gesichtskreis des Hofes war keineswegs Fahnenflucht. Mag es Ihnen der Poststempel auf dem Couvert bestätigen. Immer noch bin ich in Davos und muß bis zum Frühling hier aushalten.

Man hat mir berichtet, daß Walter Herbst kürzlich gestorben ist. Denk' ich an ihn und an das Granitzer Gärtnerhaus, so ist mir natürlich sogleich der ganze Hamlet-Komplex und sein rächender Heros gegenwärtig. Oh, diese Erfindung des Schulmanns Trautvetter!

Ahnt wohl der Ahnungslose, welche Macht er damit berührt, geweckt und entfesselt hat? Je weiter ich mich von dem Spuk im Sommertheater entferne, je mehr will mir scheinen, daß die Racherasereien des ermordeten Dänenkönigs noch immer nicht gesättigt sind. Es war gefährlich, ihn aufzurufen, mit unserem Totenspiel lebendig zu machen und uns in das Bereich seines Grimmes hineinzuwagen: wenig fehlte, so hätte selbst ich, der harmlose Spielleiter, wie die Hauptpersonen des Dramas, meinen Fürwitz mit dem Leben gebüßt.

Mich faßt ein Grauen, wenn ich daran zurückdenke.

Streichen Sie diese Sätze aus, Doktor Ollantag! Sie sind aus meiner Bluttemperatur zu erklären, die noch immer nicht eine ganz normale ist.

Wollen Sie Seine Durchlaucht, den Fürsten, ehrerbietigst von mir grüßen? Ich würde es verstehen, wenn er, veranlaßt durch den schlechten Nachgeschmack seines an mir geübten Mäzenatentums, auch nur meinen Namen zu hören ablehnte, zumal mein Leumund in den Monaten meiner Abwesenheit durch den unablässigen Spürsinn der Fama wohl einen etwas komplizierten Charakter angenommen hat.

Ist Prinzessin Ditta wirklich verheiratet? Man habe sie, wie es heißt, einem englischen Prinzen angetraut.

Wenn ich auch den Granitzer Wochen gänzlich entfremdet bin, so hat mich dagegen das Hamlet-Problem noch immer nicht losgelassen. Ich erfuhr zum Beispiel von einem »Ur-Hamlet«, den es vor Shakespeare bereits gegeben hat. Er stammt von dem Dichter Kyd und ist mit Erfolg gespielt worden. Aber auch schon früher weiß man von Bearbeitungen und Entstellungen des Stoffes der allerverschiedensten Art. Einen Originaltext, auch des heutigen »Hamlet«, gibt es nicht. Einem Zweifler würden Gründe genug zur Seite stehen, um selbst die Autorschaft Shakespeares zu leugnen, ist doch der »Hamlet« bei einer Aufzählung Shakespearescher Stücke, von einem gewissen Meres, im Jahre 1598 nicht genannt.

Die Entstellungen, sagt die Shakespeare-Forschung, die endlos über dieses Werk hereingebrochen sind, haben es nicht vernichten können. Dies Wunder, setzt sie hinzu, sei ein Hauptbeweis seiner unsterblichen Größe.

Aber das Ganze des »Hamlet«, von dem wir Trümmer besitzen, war von Shakespeare, unzweifelhaft! Auf unzählige Weisen ist das Original verstümmelt worden: durch gekürzte Aufführungen, durch Bearbeitungen, durch Vermischung verschiedener Stücke, Umstellung der Szenen, Veränderung der Namen, durch dilettantische und respektlose Verkleisterung entstandener Lücken, schauspielerische Zusätze und Eigenmächtigkeiten, und so fort und so fort. Das einzige, was für Shakespeare und seine Autorschaft am »Hamlet« spricht, ist der unverbrüchlich echte Stempel seines Genius.

Wäre der »Hamlet« Kyds nicht verlorengegangen, wir hätten vielleicht den klarsten Beleg für den Aufstand des Prinzen in Händen, den nur fahrige Stupidität einem Laertes zuschieben konnte.

Und wenn Sie die Hamlet-Quellen einsehen, lieber Freund, »History of Hamblet«, den Saxo Grammaticus und »Die tragischen Geschichten« von Belleforest, so werden Sie einen Hamlet finden, der sich verrückt stellt, um unschädlich zu erscheinen und so den mörderischen Netzen dessen zu entgehen, der die gleichen Absichten gegen ihn hegt wie gegen seinen Vater: einen Hamlet, den der Rachedurst gegen Claudius ebenso verzehrt wie der Gedanke, das gestohlene Erbe wiederzuerlangen.

Nach England geschickt, um abgeschlachtet zu werden, ist er plötzlich in Dänemark zurück und tritt in den Saal, wo unter großen Schlemmereien von König Fengo (Claudius) seine Leichenfeier abgehalten wird. »Der wahre Erbe von Jütland«, wie es heißt.

Viele hatten über seinen Untergang gejauchzt, nun jauchzen sie, Humpen schwingend, über seine Erhaltung.

»Ich werde Claudius bestrafen wie einen Untertan«, hatte Hamlet früher gesagt. Bevor er ihm jetzt das Haupt abschlägt, spricht er zu ihm: »Du siehst Hamlet vor dir, bewaffnet mit den Speeren, die er vor Zeiten spitzte.« Deutet dies nicht auf einen heimlich vorbereiteten Aufstand hin?

Und eine Gestalt, die dem Laertes und seinem Putsch zum Vorbild gedient haben könnte, gibt es weder in der »History of Hamblet« noch bei François Belleforest und im Saxo Grammaticus.

Das Helsingör der »History of Hamblet« läßt der Prinz in Feuer aufgehen.

Ich breche ab, sonst erhalten Sie statt eines freundschaftlichen Briefes eine Abhandlung. –

Grüßen Sie, bitte, Rektor Trautvetter!

Als ich, nicht mehr ich selbst, meinen Freund Reimann an der Seite, dem letzten Sommernachtstraum von Granitz Lebewohl sagte, hörte ich noch seine entschiedenen Worte über den Markt schallen: »Der Aufstand des Laertes hat dennoch seine Richtigkeit! – Und übrigens«, fügte der von mir verehrte Schulmann hinzu, »man trennt sich nicht gern von einer liebgewordenen Vorstellung.«

Ich füge an: Irrtümer haben das zäheste Leben.

Sie waren sehr gut zu mir, Doktor Ollantag. Nächst Jetro wüßte ich niemand, der sich so selbstlos und gläubig mir gewidmet hätte, ausgenommen natürlich meine Frau. Aber Frauenliebe und Männerfreundschaft sind endlich doch sehr verschiedene Dinge.

Jetro ist tot. Er starb in dem schlesischen Lungenheilort Görbersdorf.

Sie würden erstaunt sein, mich zu sehn. Ich habe nicht fünf, nicht zehn, sondern dreißig Pfund zugenommen. Ich habe auf eine mir selber unbegreifliche Weise »ausgelegt«: mein Brustumfang hat um mehr als ein Drittel des bisherigen zugenommen. Ich selber empfinde das alles, sagen Sie es nicht weiter, trotz der Existenz meiner Kinder und aller weiteren Umstände, als Eintritt meiner eigentlichen Pubertät: Pubertas genommen als nicht nur körperlich genommene Mannbarkeit.

Zwischen dem fünfzehnten und dem fünfundzwanzigsten Jahre, also im Jünglingsalter, liegen die schwersten und gefährlichsten Krisen des Lebens.

Sie wollen etwas über mein Ergehen erfahren. Das beweisen Ihre drei Briefe, die, wie alle andern aus Granitz, ohne Antwort geblieben sind. Damit befolgte ich ein ehrenwörtliches Versprechen, das ich meinem Arzt, Doktor Oberdieck, bei meinem Zusammenbruch geben mußte. »Wenn Sie noch einmal fest auf den Beinen zu stehen hoffen, müssen Sie bis auf weiteres alle Fäden, die Sie mit Granitz verbinden, abschneiden. Der dünnste, der bleibt, vernichtet die Kur.«

Sie sehen, ich bin entmündigt worden.

Und in der Tat, nur dadurch vielleicht fuße ich heut auf einer festbegründeten Mündigkeit.

»Laß den grundlosen Willen die durch Leidenschaft hervorgerufenen Wollungen deines Wesens hinwegspülen, unterbinde die Blutgefäße, die von solchen Motiven ausgingen, oder vernichte diese selbst. Erzeuge und rufe vor allem eine neue, überstarke Willenserscheinung und ‑richtung aus dir hervor. Tu das und ordne ihr alles unter. Die Dreieinigkeit dieser neuen Willensrichtung heiße: Gesundheit! Arbeit! Unabhängigkeit!«

Diese Sätze schrieb ich eines Nachts im Gärtnerhaus auf meine Hamlet-Schreibtafel. Es wurde der Mark- und Grundstein meiner Vita nuova daraus.

Man mag dieses Resultat etwas dürftig finden, vielleicht erscheint es auch Ihnen so. Nun, ein Abenteurer, Flibustier, Brigant, Korsar oder etwas dergleichen bin ich nicht. Dazu gibt es für mich nicht genug Lockungen und ist überall die Falltür zu nah, die den ersten Schritt allenthalben zum letzten zu machen die Kraft besitzt.

Vielleicht möchten Sie wissen, wie und worin meine neue Willensrichtung sich auswirken wird. Hier verbietet sich mir beinahe das Wort. Doch weil Sie es sind, Doktor Ollantag, der mir einmal im Scherz den Namen von Shakespeares Sohn »Hamnet« gegeben hat, will ich Ihnen bekennen, daß ich in tiefer Demut den Weg meines Vaters zu gehen hoffe.

Mehr zu sagen, Sie auch nur auf ein Werk hinzuweisen, das unter meinen Händen im Entstehen begriffen ist, würde schon Überhebung sein. Paradox zu sagen: nur der Stumme ist hier wert der Begnadung.

Was macht Frau Herbst, und was macht Pauline? Sie, Pauline, das holzwurmtickende Gärtnerhaus, der Garten mit seinen weißen Jasminwolken und seiner Jelängerjelieber-Laube, alles zusammen ist zum festen Bestand meiner wachen und meiner nächtlichen Träume geworden. Ist es richtig, daß die Witwe wieder heiraten will und daß Pauline in Berlin eine Stellung als Verkäuferin innehat?

Ich kann Ihnen von Irina berichten: sie hat ein Engagement in Wien. Ich denke zuweilen heiter an sie. Sie ist ein poetischer Racker gewesen.

Aber noch mehr, weit mehr gedenke ich unseres Fürsten! Und zwar mit einer tiefen Verbundenheit, die, sollten wir uns auch nie wiedersehen, unverändert die gleiche bleibt.

Sie aber, verehrungswürdiger, lieber Freund und Doktor Ollantag, will ich im Sommer auf unserem neu erworbenen Landgute begrüßen, sobald Punkt eins des neuen Programmes, nämlich Gesundheit, bei mir ganz verwirklicht ist.

Treu ergeben

Erasmus Gotter

 


 


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