Gerhart Hauptmann
Im Wirbel der Berufung
Gerhart Hauptmann

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Viertes Buch

Die Langeweile ist eine Krankheit, an der vor allem auch kleine Höfe leiden. Der regierende Herr zu Granitz war im allgemeinen nicht gar so arg geplagt damit. Er schaffte sich Abwechslung durch seine Bücher und andere Sammlungen und verschmähte auch eine Flasche Champagner zu gelegener Stunde nicht. Trotz seines Leidens lachte er gern: so wurde es für seine Umgebung zur wichtigen Obliegenheit, nach amüsanten Geschichten Ausschau zu halten.

Die Theaterrevolte in Granitz war ein Glücksfall auf diesem Gebiet, den man weidlich ausschlachten konnte. Immer wieder erkundigte sich der Fürst mit zähem Interesse nach jeder Einzelheit: »Wie? Was? Was sagte die Pepi, was machte sie? Sie rutschte auf den Knien zu Gotter? – Wie? Was? Champagner wurde getrunken, lieber Ollantag? Wieviel Champagner wurde getrunken? – Und Georgi, dem ich die Kappe gewaschen habe? Was hat er gemacht? Hat er sich nun mit Gotter vertragen? Umarmt? Wie? Was? Ans Herz gedrückt? Ihm die Wange getätschelt?«

Und so ging es halbe Stunden lang, alles in Lachen und Lachlust getaucht.

Dann ließ sich der Fürst in die Gärtnerei fahren. Es war Sonntag, die Glocken von Granitz läuteten.

»Wie geht's unserm Prinzen Hamlet, Frau Herbst?« Es waren die ersten Worte, die der Fürst an die Gärtnerswitwe richtete.

Diese schien überhört zu haben.

»Wie, schläft er noch? Wie? Was? Er schläft noch? Wie?« drängte der Fürst.

»Es scheint«, sagte Frau Herbst errötend.

Walter mußte dem Fürsten wie immer Gesellschaft leisten. Eine schwarze Mantille der Mutter umgehängt, spielte er ihm nicht ohne Geschick einige Szenen aus »Hamlet« vor, sie gipfelten in jener makabren, weltbekannten, ohne die Hamlet nicht zu denken ist: wo er den Schädel Yoricks in der Rechten hält.

Der seltsame Junge bestand darauf, den echten Schädel aus seiner osteologischen Sammlung dabei zu verwenden, trotzdem der Fürst das durchaus nicht für nötig hielt, ja eine so weitgehende Realistik, wenn auch lachend, doch recht energisch ablehnte. Ebensowenig konnte der robuste, übrigens nicht ungebildete Pfleger Goldmesser es ablehnen, den ersten Totengräber zu lesen und dessen Gesang, während er Opheliens Grab gräbt, daherzumurmeln.

»Hat dieser Kerl kein Gefühl von seinem Geschäft?« fragt Walter-Hamlet. »Er gräbt ein Grab und singt dazu.« Und er fährt fort: »Der Schädel hatte einmal eine Zunge und konnte singen. Wie ihn der Schuft auf den Boden schleudert! . . . Das ist mir eine schöne Verwandlung!« – Ein neuer Schädel wird ausgeworfen. »Da ist wieder einer! . . . Wie lange liegt wohl einer in der Erde, eh er verfault?« – »Mein Treu!« mußte Pfleger Goldmesser sagen, »wenn er nicht schon vor dem Tode verfault ist, wie wir denn heutzutage viele lustsieche Leichen haben.«

»Hör auf, Junge, um Gottes und Himmels willen«, lachte der Fürst, »ich bitte dich!«

»Aber nein, aber nein, Onkel Durchlaucht!« sagte eigensinnig Walter Herbst. »Jetzt kommt erst Yoricks Schädel, des Spaßmachers Schädel, und das ist die Hauptsache.«

»Ich danke für deinen Spaßmacher!« – »Er hat mich tausendmal auf dem Rücken getragen«: damit wollte der Knabe Walter seine Rolle durchsetzen. – »Laß dich auf dem Rücken tragen, solange er lebt, aber von solchen leeren Knochengehäusen will ich nichts wissen. Solche Spaßmacher hören auf, mir oder irgendwem Spaß zu machen. Sie gehören unter die Erde, nicht über die Erde. Wirf ihn fort!«

Jetzt kam Frau Herbst und machte dem Schauspiel ein Ende.

Als der Fürst nach einer Stunde den Garten verließ, war Erasmus noch nicht erwacht.

»Na ja, natürlich! Der Skandal, der Ärger! Und man war ja voll des süßen Weins. Die Kneiperei hat ja wohl bis in den Morgen gedauert. Er muß sich ausschlafen, ganz gewiß.«

 

Wissen Sie«, sagte der Fürst, ins Schloß zurückgekehrt, zu Ollantag, »wissen Sie, diese Kirchhofsszene im ›Hamlet‹ ist abstoßend.

Und doch, spricht man den Namen Hamlet aus und tritt er einem dabei vor die Seele, so hat er sicherlich auch den Totenschädel in der Hand. Man denkt vielleicht nicht immer daran, daß es Yoricks, des Spaßmachers, Schädel ist, aber man sollte immer daran denken.

Wissen Sie, wenn ein moderner Dramatiker diese Totengräber auf die Bühne brächte, die ein Grab auswerfen, dabei gemeine Lieder grölen und Schnaps saufen: das Theater würde unruhig werden. Wenn der erste, der zweite, der dritte Schädel ausgegrabener Gebeine auf die Bühne flöge und die Erklärung über die lustsiechen Leichen dazukäme, würde ein Teil der Damen ohnmächtig werden, andere Zuschauer würden sich erbrechen, andere fluchtartig das Theater verlassen, die übrigen würden pfeifen, johlen, die Sperrsitze kurz und klein schlagen und die Trümmer auf die Bühne schleudern.«

»Das gebe ich zu«, sagte Ollantag.

»Und warum geschieht es heute nicht?« fragte der Fürst.

»Ein Bild, das man wieder und wieder sieht, behält die Kraft seiner ersten Wirkung nicht. ›Die Gewohnheit hat ihm sein Geschäft zu einer leichten Sache gemacht‹, sagt Horatio von einem der Totengräber. Dieselbe Gewohnheit verhindert, daß wir in dieser Friedhofsszene die volle, widerwärtige, verwesungsduftende, scheußliche Realität empfinden. Und überhaupt, Messer werden stumpf, Blumen werden welk, entkorkter Champagner schalt aus. In der Kunst gibt es viele abgestandene, irgendwie stumpfe und schale Dinge. Oder meint man, Dante wirke heute so furchtbar unmittelbar wie damals, als sich die Nachricht verbreitete, er sei wie Jesus Christus in die Hölle gefahren und wieder auferstanden? Oder, im rechten Abstand genommen: wie wirken Rousseaus Bekenntnisse heut, und wie wirkten sie zu seiner Zeit? oder ›Werthers Leiden‹ von Goethe, ein Buch, das die ganze Welt bis nach China in tiefe Schwermut, ja in Selbstmordparoxysmus versetzte? Werke der Kunst sterben freilich auf eine besondere Art. Sie mumifizieren sich selbständig, ich möchte sagen lebensgetreu, und werden als Lebende weitergeführt. Man könnte auch an Herbarien denken. Aber daß sie sterben, die Kunstwerke, und in einem gewissen Sinne tot sind, obgleich sie in einem andern Sinne leben, davon bin ich persönlich überzeugt.«

»Meinen Sie nicht, wie?, was?, daß wir vielfach, um sie lebendig zu machen, unser eigenes Leben in sie hineintragen?«

»Ganz gewiß«, sagte Ollantag, »die Bücher, die Mitglieder und Instrumente jedes Orchesters, das die tote Partitur lebendig macht, und besonders das Theater und seine Schauspieler beweisen es.«

»Und wissen Sie was, Ollantag! Mitunter, wenn ich von ungefähr die Augen dieses Erasmus Gotter streife, die manchmal wie in tränenloser Verzweiflung in das Grab aller seiner Hoffnungen zu blicken scheinen, so sehe ich, nicht anders als bei Hamlet, den Totenschädel in seiner Hand.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, Durchlaucht, wollen Sie sagen: er sei vom gleichen Blute wie der Dänenprinz, ein Doppelgänger von ihm, sozusagen, und darum wie keiner geeignet, diesen Toten lebendig zu machen. Ich war dieser Meinung von Anfang an.«

 

Frau Herbst glaubte gut zu tun, wenn sie an diesem Sonntagmorgen allen Besuchern verschwieg, daß der junge Doktor seit gestern morgen, als er sich nach dem Frühstück zur Hamlet-Probe begeben hatte, bis jetzt ausgeblieben war. Der gestrige Vorfall schien besonders auch bei zwei Persönlichkeiten des Hofes das Interesse an ihm gesteigert zu haben. So hatte Prinzessin Ditta sich seltsamerweise schon sehr früh eingefunden und nach Erasmus Gotter gefragt. Um Mittag erschien Prinzessin Mafalda mit ihrer Meerkatze. Nach den Berichten Paulinens und ihrer Mutter an beide Damen lag er in einem todesähnlichen Schlaf.

Selbst als der junge Sommergast bis drei Uhr, vier Uhr, fünf Uhr nachmittags noch nicht erschienen war, wurde diese Fiktion von Frau Herbst aufrechterhalten. Sie sorgte sich wie eine echte Mutter um ihn und glaubte, um häßlichen Gerüchten vorzubeugen, ihm diese kleine Notlüge schuldig zu sein.

Sie ahnte nicht, was geschehen war, aber doch die Gefahren, in denen er schwebte, was ja ihr ganzes Verhalten, seit er das große Glück bei Hofe gemacht, bewies. Und nach allen Berichten, die sie empfing, hatten sich diese Gefahren einem Gewitter gleich gestern um ihn zusammengezogen mit Entladungen aller Art, deren Wirkung auf ihn, noch unerwiesen, ihr bange machte.

»Ich schieße ihn nieder, wo ich ihn treffe!« sollte Syrowatky gesagt haben. Gerüchtweise drang es dann in die Gärtnerei, als ob sich Oberhofmeister Bourtier über eine Züchtigung Gotters mit der Reitpeitsche laut und vor Zeugen geäußert habe.

Er konnte in die Schlingen Irinas gefallen sein. Aber dagegen sprachen Gott sei Dank drei Briefchen, adressiert von ihrer Hand, die ein Knabe in Abständen von ungefähr einer Stunde gebracht hatte.

Kittys Handschrift kannte Frau Herbst natürlich genau, und so wußte sie, daß oben auf dem Tisch im Giebelzimmer ein Brief auch von Kitty auf Erasmus wartete.

Gegen fünf Uhr trat er ins Haus.

Beide, Frau Herbst und Pauline, belauerten ihn, jede von einem anderen Verstecke aus.

Er drehte den Schlüssel zweimal herum, nachdem er in seinem Zimmer verschwunden war. Man hörte ihn Kleidungsstücke wegwerfen, hörte, wie er auf seine Bettstelle fiel, sich wieder erhob, das Fenster öffnete und erst dann, wie es schien, die Briefe entdeckte, was eine längere Stille verriet. Nacheinander wurden sie aufgerissen, worauf dann abermals alles lautlos blieb. Dann aber hatte Frau Herbst ein Gefühl, als würde ihr ein brennend kaltes Eisen über Scheitel und Rücken heruntergezogen. Jemand weinte, unterdrückt, aber doch mit einer Unaufhaltsamkeit, die bei Kindern gewöhnlich, bei Erwachsenen kaum zu beobachten ist. Sollte das der streng beherrschte Doktor Erasmus sein, der von diesem krampfigen Röcheln, Winseln und Heulen befallen wurde?

 

Diesen nervösen Ausbruch und Zusammenbruch hatte der Brief seiner Frau ausgelöst.

Kitty teilte mit, daß die Schwester Frieda gestorben war. Sie berichtete auch die näheren Umstände. Dann wandte sie sich dem Leben, und zwar, buchstäblich genommen, dem neuen Leben zu.

Zum dritten Male, wie sie schrieb, sei Familienzuwachs zu erwarten. Sie habe das nicht immer, wie Erasmus, mit Freude begrüßt, aber sie sei, vielleicht durch das läuternde Erlebnis am Kranken- und Sterbebette der Schwester, andern Sinnes geworden. Sie habe die Macht des Todes gefühlt und fühle dagegen, zum ersten Male, mit innerem Stolze die im Weibe wirksame Macht des Lebens: der Welt einen lebenden Menschen schenken zu können, bedeute viel.

»Ich habe meine Lage, meinen Frauenberuf, meine Pflichten gegen Dich, Geliebter, nicht richtig aufgefaßt. Es war unrecht und schließlich unverzeihlich von mir, mich manchmal gegen das zu sträuben, was doch der hauptsächlichste Sinn und Zweck einer Ehe ist. Du hast es mir freilich oft gesagt. Die Erkenntnis ist mir nun selbst gekommen.

Ich freue mich auf das dritte Kind! Es heißt ja: aller guten Dinge sind drei. Das bißchen Sorge und Mühe ist wirklich nichts, wie Du sagst, wenn man die Freude, die Verjüngung, die uns Kinder bringen, in Rechnung zieht.

Ich weiß, was ich sage. Glaube mir!

Du wirst eine andere Kitty finden, wenn Dich Dein Weg erst wieder zu mir und den Kindern führt. Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Es wäre wahrhaftig kein Wunder gewesen, wenn Du mit einer so unberechenbaren, so launischen, so verblendeten Frau überhaupt nicht mehr hättest auskommen können. Meine Schuld sehe ich sonnenklar. Ich bin sogar überzeugt, daß Deine Angst vor dem Bluthusten mit meinem unglückseligen Wesen und den Aufregungen, die ich Dir machte, zusammenhing.

Das alles ist aus, ein für allemal aus, Geliebter!

Bleibe, so lange Du mußt oder willst, Erasmus. Wo Du immer auch bist, ich bin bei Dir und gehöre Dir. Du aber sollst Dich von jetzt ab frei fühlen. Du bist noch viel jünger als ich als Frau, obgleich ich nur ein Jahr älter bin. Deine Gaben, an die ich ja immer, obgleich ich Dich oft mit Zweifeln quälte, unverbrüchlich geglaubt habe, vertragen nicht die beengende Klemme häuslicher Sklaverei.

Aber wenn Du doch zu Deiner von Sehnsucht verzehrten Kitty kommst, zu den Kindern, die täglich nach Dir rufen, so wirst Du im Augenblick erkennen, daß nichts mehr von dem alten Druck der schwülen Luft im Hause ist, die von dem herrührte, was Du manchmal als meine Hysterie bezeichnetest.

Nichts empörte mich so wie grade dies Wort. Heute, wo ich frei und selbstbewußt geworden bin, kann ich es ohne Erregung anhören.

Schreibe rechtzeitig, wann Du kommst: Inniggeliebter, es soll ein Fest werden! Du hast mir viel zu vergeben. Aber, verzeih mir! verzeihe mir!

Ein schönes, ein andres Leben soll anfangen und von nun an ein ganz glückliches.

Frieda hat mich noch in den letzten Stunden ermahnt: Habe das Leben lieb, Kitty! Danke Gott täglich für das süße, herrliche Leben! Versündige dich nie gegen das Leben! beschwor sie mich.

Kommst Du bald, oder bist Du noch lange gebunden? Wenn Du etwa meinst, es gäbe in Deiner Nähe für mich und die Kinder einen Unterschlupf, schreib es mir. Ist keine Aussicht, so macht es nichts. Wir warten ganz geduldig auf Dich.«

 

»Oh, schmölze doch dies allzu feste Fleisch!«

Es war ein boshafter Yorick, der dem willenlos aufgelösten Erasmus diese Worte der Hamlet-Rolle ins Ohr deklamierte. Wollte der Dämon sie als hohle Pathetik anprangern? Das waren sie nicht. Aber, daß es sich in einen Tau auflösen sollte, das keineswegs allzu feste Fleisch, ließ dem Erschütterten, völlig Gebrochenen die weitere Dialektik als hohl erscheinen. Mit Verachtung warf er sie innerlich weg.

Es gab eine kleine Schelle am Gartenpförtchen der Gärtnerei, die nun zum Schrecken des jungen Menschen gezogen wurde. Er rief nach Frau Herbst, so verweint er war. Die Gärtnerswitwe war gleich zur Stelle: sie solle ihm jeden Besuch unbedingt fernhalten. Er rief ihr nach: Jetro mache die einzige Ausnahme.

Es verfloß eine Viertelstunde, ehe sie wiederkam. Sie sagte, daß es nicht Jetro gewesen sei. Erasmus fragte: »Wer ist es gewesen?« – Das sei wohl gleichgültig, sagte sie. Er fragte wieder, sie blieb dabei.

Da wußte Erasmus, wer es war und daß diese Gärtnersfrau ihn durchschaut hatte.

Sie zögerte, als sie das Zimmer verlassen wollte. »Werden Sie schlafen können, Herr Doktor?« fragte sie und setzte hinzu, als er sie wild und befremdet anstarrte: »Pauline ist nach Jetro gegangen. Ich habe den Tisch in der Laube zurechtgemacht und halte es auch für besser, wenn Sie sich, statt unnütze Schlafversuche zu machen, mit dem Freunde beim Kaffee ein bißchen aussprechen.«

Wie seltsam, dachte Erasmus, als er in der Laube saß, sie liest mich wie ein offenes Buch. Immer spürte ich schon ihre mich umhegende Sorglichkeit. Es ist beinahe, als wollte sie doch noch trotz aller gegenwirkenden Mächte den Erholungs- und Genesungsfrieden verwirklichen, um dessentwillen ich das Versteck ihres Hauses aufsuchte. Ich bin gewiß, niemand, nicht einmal der Fürst, würde heute, ungerufen, zu mir durchdringen: so entschlossen wird von Pauline und ihr der Zugang zur Gärtnerei bewacht.

In seiner Laube gedankenlos vor sich hindämmernd, konnte Erasmus feststellen, wie Frau Herbst ihre ausschließende Strenge sogar auf ihren Sohn ausdehnte. Er wollte den Hausgast sehen und sprechen, wohl wiederum mit dem Gedanken, ihm die Kirchhofsszene des »Hamlet« vorzuspielen. Sie wies ihn mit Entschiedenheit aus dem ganzen Bereich der Gärtnerei.

 

Jetro hatte viel zu erzählen, als er eine halbe Stunde später in die Laube trat. Erasmus, der noch immer ausschließlich von dem grundstürzenden Erlebnis der letzten vierundzwanzig Stunden erzitterte und unwillkürlich voraussetzte, daß es alle Gemüter, wie das seine, beherrschen müsse, fühlte sich plötzlich von diesem Irrtum befreit und in die bekannte heiter-alltägliche Sphäre hineingewirbelt. Es schien, daß nichts, aber auch gar nichts von seinem nächtlichen Abenteuer bekannt geworden war oder doch nichts aus ihm gemacht wurde. Das oberflächliche Leben setzte sich fort, es hatte nicht Zeit, sich mit Kleinigkeiten aufzuhalten. Unzweifelhaft brachte der frische Wind banaler Alltäglichkeit Erasmus, im Verhältnis zu sich selbst und seinen Konflikten, eine große Erleichterung.

Jetro berichtete mit Humor: der Alte – Georgi war gemeint – habe mit Syrowatky auf offener Bühne einen fürchterlichen Krach gehabt. Weder Syrowatky noch der Alte hätte je eine ähnlich packende Szene gespielt. Wut, Haß, beleidigte Eitelkeit machten beide zu großen Schauspielern. Der Alte schrie: »Sie haben die Bühne, haben das Theater zu verlassen, sage ich!« Syrowatky dagegen: »Ihre erbärmliche Schmiere zu verlassen, kann niemand schwerfallen. Aber Sie sind nicht der Mann, der mich hier vor die Tür setzen könnte.« – »Ich bin der Mann!« gab der Alte zur Antwort. – »Nein! Sie sind keineswegs der Mann! Ich habe Ihnen den Hamlet bezahlt! Ich habe Ihnen die Rolle für dreihundert Mark abgekauft! Sie haben einen Vorschuß von zweihundert Mark auf den Karl Moor von mir! Macht im ganzen fünfhundert Mark!« – »Sie sollen den Mammon wiederhaben! Daß Sie den Hamlet nicht spielen, liegt nicht an mir. Es liegt daran, daß Sie dazu unfähig sind! Die Umbesetzung macht riesige Unkosten!« – »Den Hamlet zu spielen bin ich unfähig?! Wenn Sie solchen Unsinn behaupten, glauben Sie der Rückgabe meines Geldes enthoben zu sein –, wozu Sie vielleicht in der Tat unfähig sind! So handelt ein Gauner, ein Halsabschneider! Oder geben Sie sich der Täuschung hin, daß Sie weder ein Gauner noch Halsabschneider sind?« – »Und Sie sind ein dummer Lausejunge, den man entsprechend mit Maulschellen rechts und links behandeln muß! – »Das wäre mir interessant zu erleben!« – »Was?! Erleben wollen Sie das?! Wenn man die Ohrfeigen, die Sie bis diesen Tag mit Recht verabreicht erhalten haben, auf einmal schallen hörte, so würde das dem fünf Minuten lang rasenden Händeklatschen eines ausverkauften Hauses gleichkommen!« – »Sie sind ein Schuft! Ich bringe Sie vor den Staatsanwalt!« – »Und Sie der meist gebackpfeifte Einfaltspinsel, den es jemals gegeben hat.«

Nun ging etwas vor, das wirklich nicht so einfach zu schildern ist. Der Direktor und Syrowatky spielten die Szene, als Hamlet zu Laertes oder Laertes zu Hamlet in Opheliens Grab gesprungen ist. Sie rissen einander die Hemdkragen los und fuhren einander in die Haare. »Und ich schwöre Ihnen, Doktor, ich denke, ich höre nicht recht. Syrowatky fällt in die Hamlet-Rolle, er schreit: ›Du betest schlecht. Ich bitt' dich, laß die Hand von meiner Gurgel, denn ob ich schon nicht jäh und heftig bin, so ist doch was Gefährliches in mir, das ich zu scheun dir rate. Weg die Hand!‹«

Erasmus, von der Tragikomik dieser Erzählung hingerissen, brach in ein schallendes Gelächter aus.

Allein Syrowatky tat ihm leid. Schließlich, wenn er auch intrigiert habe, eine Leidenschaft zum Theater, einen gewissermaßen reinen Idealismus könne man ihm nicht absprechen. »Am liebsten«, schloß er, »sähe ich den ganzen Handel beigelegt.«

»Oh, deshalb nur keine Angst, lieber Doktor. Sie mögen es glauben oder nicht: Syrowatky hat den Alten für heut abend in den ›Kranich‹ zu einer Flasche Sekt eingeladen. Vor und während der Prügelei glaubten die beiden auf der Bühne allein zu sein. Ich schlich mich aus dem Parkett, nachdem sie sich in den Armen gelegen und hernach beim Ordnen der Kleider gegenseitig geholfen hatten.«

»So ist es mir lieber«, sagte Erasmus, und mit den Worten des Dänenprinzen fügte er an: »›Der Launige soll seine Rolle in Frieden endigen. Der Narr soll den lachen machen, der ein kitzliges Zwerchfell hat.‹ Ich dagegen werde in den vorigen Stand eines unbeachteten literarischen Grillenfängers zurücktreten. Einen Zweifel gibt es in dieser Frage nicht. Nur über das ›Wie?‹ bin ich noch nicht im reinen.« – »Wir werden es uns nochmals beschlafen«, sagte Jetro, dann brachte er weitere Neuigkeiten:

»Sie wissen, welcher Partei ich bin, was die kleine Irina betrifft. Ich lasse grundsätzlich kein Mittel unbenutzt, um Ihnen über diesen Racker die Augen zu öffnen. Meinetwegen, es ist eine Pferdekur. Aber als Operateur versenke ich kaltblütig hiermit mein Messer in Ihre Brust. Also: Irina ist heute morgen um fünf Uhr in einem kleinen Bauernwägelchen – bitte! um Punkt fünf Uhr heute morgen – von einer höchst interessanten Landpartie zurückgekehrt. Etwas später, um sechs Uhr, dann der Oberhofmeister, der gestern abend, im geschlossenen Wagen, mit verhängten Fenstern – huhu! – bei Nacht und Nebel mit einer verschleierten Dame auf Jagdschloß Rehheide eingetroffen ist. Das schwör' ich Ihnen bei Uhu, Schuhu und Fledermaus!«

Nicht ohne Stolz, ja nicht ohne Triumph war das stille sardonische Lächeln, mit dem der junge Dramaturg, Dichter und Doktor diese Nachricht begleitete.

 

Zu früher Stunde am nächsten Tag erschien Ollantag mit dem Maler-Baron Cramm. Die neuen Kostüme, die der Künstler entworfen und auf Kosten des Fürsten hatte ausführen lassen, waren abgeliefert worden und in einer der Galerien des Schlosses aufgestellt. Ollantag schien aufs tiefste erschreckt und wurde sehr ernst, als Erasmus ihm mitteilte, er werde zu seinem Leidwesen von dem ganzen schönen Handel zurücktreten müssen. »Lieber Baron«, sagte der Bibliothekar, »wie wär's, wenn Sie unten in der Blumengärtnerei inzwischen einige Farbenstudien machten, indessen ich mit dem Doktor ein ernstes Wort rede.«

Allein mit Erasmus, putzte er lange sein Pincenez, bevor er es hinter der goldenen Brille aufsetzte. In einem Tone noch tieferen Ernstes und einer an Entfremdung streifenden Nüchternheit gab er ihm etwa dies zu bedenken:

»Können Sie eigentlich noch zurücktreten? Erwägen Sie: Wer hat den ganzen Handel, wie Sie es nennen, angeregt? Von wem ist die Initiative zu dieser außergewöhnlich hübschen Unternehmung ausgegangen? Von ebendem jungen Manne, der sich jetzt davon zurückziehen will. Wollen Sie, bitte, einen Blick auf Ihr Verhältnis zu unserm allverehrten Fürsten werfen, sich klarmachen, mit welchem unentwegten, gläubigen Enthusiasmus er hinter Ihnen steht! Wie sollen wir ihm, wenn Sie zurücktreten, Ihr Verhalten verständlich machen?«

»Diese Aufgabe bliebe mir.«

»Nun, ich habe mich für die Ihrige, wie Sie mir zugeben werden, rückhaltlos eingesetzt, Ihre Hamlet-Idee aus drei Gründen gefördert: Der Fürst sehnt sich nach einem bißchen Geistigkeit, und sie war dem sonst recht öden Hofleben zuzuführen. Die Idee selbst, Ihre Hamlet-Idee, verdient dann als vielleicht wichtigste Ursache Förderung – und, last but not least, als drittes, Herr Doktor, Sie selber.

Und nun wollen Sie mich in der Patsche sitzen lassen?

Sie reisen ab. Morgen sind Sie vielleicht über alle Berge. Ich habe den Ansturm auszustehen, wenn Sie den Kladderadatsch zur Tatsache machen. Mein unentwegter Glaube an Sie verspricht den Leuten einen erlesenen Schmaus. Die Küche wird zur Verfügung gestellt. Sie sind der Chef, keine Kosten werden gescheut. Und plötzlich, eh noch alles zur Hälfte fertig ist, wenn aber bereits das Wasser den Leuten im Munde zusammenläuft, läuft leider auch der Koch aus der Küche. Die Gäste kommen, wollen an der Tafel Platz nehmen, und ich habe das Amt, das höchst undankbare Amt, ihnen das Geschehene mitzuteilen. Bei Gott, ich verlange außer dem versprochenen Schmaus keinerlei andere Dankbarkeit. Nur stellen Sie mir, der ich Ihre Aufgabe nach Kräften zu fördern mich bemüht habe, nicht eine andre Aufgabe, an der ich mir möglicherweise, ja höchst wahrscheinlich, die Zähne ausbeiße.«

 

Erasmus war an diesem Morgen ziemlich gestärkt aufgewacht. Mit einem tiefen, traumlosen Schlaf hatte die Natur ihr Recht genommen. Es ist ja schließlich dafür gesorgt, daß der Leibeigene und Fröner des Lebens sein großes Pensum nicht ohne Ruhepausen hinter sich bringen muß. Überall gibt es solche Pausen. Eine ist Tiefschlaf für Körper und Geist. Aber sie finden sich auch im Wachen. Körperleistungen, bis zur Ermüdung geführt, werden eine von der andern nach dazwischengesetzter Pause abgelöst. Ebenso ist es mit geistigen Leistungen. Jeder Affekt, bis zum Gipfel geführt, geht in Ruhe über. Tiefste Trauer wird gelegentlich immer wieder von einem heiteren Vergessen bedeckt. Eine Schicht, von Augenblicksreizen belebt, überzieht immer wieder, sei es den allzu starken Liebes-, Entsagungs- oder Trennungsschmerz. Unmöglich wären die Kämpfe der Seele so lange zu ertragen und fortzuführen, wenn nicht das äußerlich tätige Leben sie regelmäßig und täglich auf Zeiten stillegte.

Da liegen nun alle die Hamlet-Kostüme, wollte Doktor Ollantag fortfahren. Es tat nicht not. Denn gerade diese Kostüme hatten ihre Wirkung auf Erasmus bereits getan, in einem fesselnden Sinne. Und während Gram, Verbitterung, Mißmut und Reue nur noch einen kaum vernehmlichen Unterton bildeten, trat der Marschschritt des tätigen Lebens seine Herrschaft an.

 

Auf dem Wege zum Schloß, im Park, traf man auf Syrowatky, diesen nun im eigentlichen Sinne um seine Herrschaft betrogenen Dänenprinzen, der, beängstigende Blässe in seinem nicht unedlen Angesicht, den Gruß des Bibliothekars erwiderte und geflissentlich Doktor Gotter schnitt. »Soll ich ihm nachgehen?« fragte dieser. »Im Grunde tut er mir schrecklich leid.«

»Sie meinen, er gäbe jetzt vielleicht einen besseren Hamlet ab, nachdem er durch eigene Schuld diese bittere Pille hat schlucken müssen?« Lächelnd sagte es Doktor Ollantag und fügte hinzu: »Übrigens hat jedes Ding zwei Seiten, Herr Doktor. Mitleidige Herzen gibt es genug. Wer unterliegt, findet wohl auch gelegentlich auf unerwartete und überraschende Weise seinen Tröster. Zum Beispiel hat dieser Hamlet bei seiner und Ihrer Ophelia bisher kein Glück gehabt. Heute morgen aber sind beide gesehen worden, notabene gestern morgen gegen fünf, Syrowatky nämlich und Irina Bell, bei der Rückkehr von einer Landpartie.«

»Was Tausend!« sagte Erasmus und lächelte.

Baron Cramm, der Maler, hatte ein Knabengesicht, das sich oft plötzlich mit einer breiten Belustigung überzog. Schon bei der ersten Besprechung über die Ausgestaltung der Hamlet-Bühne faßte Erasmus Neigung zu ihm. Weit mehr Künstler als Aristokrat, schätzte und liebte er die Boheme und betrachtete die damit verbundene Libertinage sowohl mit Humor als mit Weitherzigkeit:

»Die Kleine hat ihre Meriten, Teufel nochmal! Ich weiß wirklich nicht, ob ich nicht die Hamlet-Rolle mit Vergnügen ausliefern würde für das, was sie Syrowatky gegeben hat.« Man lachte zu dreien, aber Erasmus nicht über das gleiche, was den beiden andern Lachreiz verursachte.

Die Sonne schien durch die bunten gotischen Fenster auf die alten Tapisserien der Galerie, wo auf altertümlichen Truhen und Lehnstühlen Kostüme und Requisiten ausgebreitet waren. Kaum hatte man sich auf oberflächliche Weise ein wenig mit ihnen beschäftigt, als am Ende des langen Ganges der Rollstuhl erschien, aus dem im Näherkommen der fürstliche Insasse lebhaft mit der Hand winkte.

»Schön, daß Sie da sind«, sagte er. »Wie? Also ist die Revolution beigelegt? Was? Die Kostüme sind hier? Wo? Doktor Gotter, erzählen Sie doch: was hat sie gesagt? Was sagte die Rößler? Was sagt sie über den Oberhofmeister? Ein bißchen frech, wie? Aber sie hat ganz auffallend recht, Ollantag. Der Schuldirektor besoffen vor der Destille? Ausgezeichnet! Wirklich zum Lachen! Wirklich ausgezeichnet ist diese Vorstellung!«

Man zeigte dem Fürsten das Hamlet-Kostüm. »Durchlaucht geruhten zu fragen, warum so dunkel. Wollen Durchlaucht sich gütigst erinnern, daß Hamlets Vater gestorben ist.« – »Aber man hat damals vielleicht in Weiß getrauert?« – »Wollen Durchlaucht erwägen«, bemerkte Ollantag, »daß Hamlet selbst seine Tracht schildert. Er sagt zur Mutter: ›Nicht bloß mein düsterer Mantel, gute Mutter, noch die gewohnte Tracht von ernstem Schwarz‹« – »Richtig, ja, das hatt' ich vergessen! Aber wer wird nun den Hamlet spielen, wenn Syrowatky ausgeschieden ist? Doktor Gotter, Sie sollten ihn spielen!«

Erasmus betrachtete gerade einen der beiden altertümlichen Stoßdegen, die man über Hamlets Mantel gelegt hatte. Ihr Anblick, die schöne Galerie, die Gegenwart des Fürsten, verbunden mit dem Hamlet-Gedanken, dies alles entrückte ihn. Er war bereits, ehe der Fürst es wünschte, insgeheim zu Hamlet geworden. In einem Nu stand der Inhalt des ganzen Werkes, stand das ganze Gedicht vor seiner Seele, die ganze zeitliche Reihe zeitlos oder wenigstens in einem einzigen Augenblick und ebenso auch die ganze räumliche Welt des Hamlet: alle Gestalten und alle Bewegungen als eine Gestalt und eine Bewegung, lebendige Einheit und Gegenwart.

Unversehens fand sich Erasmus eingehüllt in jene Verzauberung, welche das Theater mit sich bringt.

Es bedurfte somit nur weniger Worte, um ihn zu veranlassen, das Hamlet-Kostüm anzulegen. In einem anstoßenden Kabinett ward er von dem Maler-Baron, dessen Augen, weit und eifrig aufgetan, eine Art boshafter Überrumpelungsfreude nicht verbergen konnten, eilig und gleichsam trumphierend ausstaffiert. Alle zeigten sich sehr befriedigt, als er wieder sichtbar ward.

Die Gesellschaft hatte sich um einige Personen, unter denen auch Prinzessin Ditta und eine Hofdame waren, vermehrt. Der Maler ging sofort auf sie zu und bewog sie auf die Art, die er Erasmus gegenüber soeben erfolgreich ausgeübt hatte, sich in eines der Ophelien-Kostüme kleiden zu lassen. Und nun konnte man merken, worauf es abgesehen war: wie durch Zufall eine Szene herbeizuführen.

 

Äußerst angeregt, belustigt und gespannt, hatte der Fürst ein winziges Einglas vor sein rechtes Auge gebracht und sagte in einem fort: »Sehr gut! Ausgezeichnet! Famos! Die Prinzessin sieht prächtig aus, wie? Ollantag! Und, wie? Jeder Zoll ein Prinz, nicht? Dieser junge Mann, Hamlet, Prinz von Dänemark! Hamlet, Prinz von Dänemark!« wiederholte er mehrmals, gleichsam bestätigend.

Hamlet hatte eine Perücke aufgesetzt, bis zur Schulter reichendes, dort ringsum gerade abgeschnittenes blondes Haar, wie es die englischen Porträts des jüngeren Holbein aufweisen. Die ganze Verkleidung und besonders dieser Umstand wirkten verändernd auf des jungen Menschen ganze Wesenheit. Ohne weiteres war er bereit, auf den Vorschlag Ollantags einzugehen und die schöne Schloßgalerie zum Schauplatz jener weltberühmten Szene zu machen, die zwischen Hamlet und Ophelien sich begibt, ebenfalls in einer Galerie, der des Schlosses zu Helsingör. Hoch errötend ward Ditta seine Partnerin.

In der Galerie wurde ein Raum für die Spieler freigemacht. Hamlet zog sich vorerst an das Ende des langen Ganges zurück, um von da langsam, langsam heranzuwandeln. Ollantag übernahm es, die wenigen Worte zu lesen, mit denen Polonius die Szene einleitet:

Geht hier umher, Ophelia. – Gnädigster,
laßt Platz uns nehmen. –
    Zu Ophelia                       Lest in diesem Buch,
daß solcher Übung Schein die Einsamkeit
bemäntle. Wir sind oft hierin zu tadeln –
mit frommem Wesen überzuckern wir
den Teufel selbst . . .
Ich hör' ihn kommen. Ziehn wir uns zurück.

Hamlet, denkt Erasmus, ist dazu verurteilt, in seinem Gemüt eine Waage zu beherbergen, welche selbsttätig auf die allerkleinsten Wägbarkeiten, im Moralischen ganz besonders, reagiert. Sinnlich unbemerkbar kleine Partikelchen setzen sie außer Gleichgewicht. Geringste Störungen aber ihres Gleichgewichts sind mit Schmerzen verbunden. Hamlet zeichnet eine Sehergabe aus von einer fürchterlichen Art. Wenn er von Dingen spricht, die er durch ihre Vermittlung sieht, weiß seine blinde Umgebung nicht, wovon die Rede ist. Die Welt, in welcher Prinz Hamlet lebt, ist eine andre als die, in welcher seine Umgebung lebt. Sie legt ihm drückende und pressende Lasten auf. Er muß mit den Bitterkeiten seiner Dialektik und jeder Abwehr des Geistes dawider angehen, wenn er nicht unter Ängsten, Schaudern des Grausens sowie unter jeder Art Ekel und Protest ersticken will. Warum sich übrigens deutlich ausdrücken, da ja auch Deutlichkeit fast unbedingt und überall mißverständlich ist? Verhüllen wir also noch das Schwerverständliche! So grübelnd, schreitet Hamlet-Erasmus eine Weile in der Galerie hin und her, steht zuweilen still und blickt, ohne eigentlich anders als nach innen zu sehen, durch eine Klappe der bemalten Fenster ins Freie. Er bemerkt nicht, daß Ophelia ihm entgegenkommt:

Mein Prinz, wie geht es Euch seit so viel Tagen?

Die Art, wie Ditta diese Worte hervorbrachte, war durch Zufall musterhaft und verriet Opheliens ganze Lage. Die natürliche Ängstlichkeit der Prinzessin, auf deren köstlich goldenem Scheitel die Sonne lag, schien Gewissen zu sein. Sie wußte, daß sie zu einem Zweck, der sich wider ihren Geliebten kehrte, benützt und mißbraucht wurde. Schlecht, ja geradezu grundschlecht war die Rolle, wie sie jetzt erst fühlte, die man ihr aufgedrungen hatte und die sie hätte ablehnen müssen, was ihre Weigerung, sie zu spielen, auch immer an Unannehmlichkeiten für sie nach sich gezogen hätte.

Mein Prinz, wie geht es Euch seit so viel Tagen? –

Und Hamlet gibt zur Antwort:

Ich dank' Euch untertänig: wohl!

Bevor Erasmus nach langem Schweigen, während er Ophelien betrachtete, diese Worte sprach, entwich jeder Blutstropfen seinem Gesicht, so ersichtlich, daß selbst der nervenlose Oberhofmeister, der sich inzwischen im Hintergrund aufgepflanzt hatte, davon betroffen ward. Irina war mit ihm eingetreten. Niemand außer Erasmus wußte, daß allein dies die Ursache seines Erblassens war. Als sein Auge, aufgescheucht und angstvoll-mißtrauisch, forschend die Galerie abgesucht und sich dann zurückgefunden hatte, durchbohrte es, gleichsam weiterforschend, Ophelien, und Zweifel darüber konnte fortan nicht weiter bestehen, daß er das abgekartete Spiel durchschaut hatte. Er wird durch Opheliens nächste Worte für einen Augenblick außer Fassung gesetzt:

Mein Prinz, ich hab' von Euch noch Angedenken,
die ich schon längst begehrt, zurückzugeben.
Ich bitt' Euch, nehmt sie jetzo.

Das ging zu weit, er hatte es nicht erwartet. Wie wenn er eine Otter berührt hätte, schreckt er zurück, verwirrt er sich:

                                                  Nein, ich nicht!
Ich gab Euch niemals was.

Ophelia
Mein teurer Prinz, Ihr wißt gar wohl, Ihr tatet's,
und Worte süßen Hauchs dabei, die reicher
die Dinge machten. Da ihr Duft dahin,
nehmt dies zurück. Dem edleren Gemüte
verarmt die Gabe mit des Gebers Güte.
Hier, gnäd'ger Herr.

Was ging nach diesen heuchlerischen und durchaus erlogenen Worten in der Seele Erasmus-Hamlets vor? Er blickt sie an, durchblickt sie und lacht bitter:

Haha, seid Ihr tugendhaft?

Er legt den Ton dabei auf das »Ihr«. Nämlich so ist sein Gedankengang: Ich selbst betrachte mich als durchaus nicht tugendhaft, vielmehr als einen Inbegriff aller Schwächen und vieler Laster. Ich könnte mich, wird er später sagen – und erwägt er jetzt – solcher Dinge anklagen, daß es besser wäre, meine Mutter hätte mich nie geboren. Ich bin sehr stolz, rachsüchtig, ehrgeizig. Mir stehen mehr Vergehungen zu Gebot, als ich Gedanken habe, sie zu hegen, Einbildungskraft, ihnen Gestalt zu geben, oder Zeit, sie auszuführen. Aber, so schließt er innerlich: Ihr, die scheinbare Blume der Unschuld, seid nicht besser als ich:

Haha, seid Ihr tugendhaft?

Ophelia
Gnäd'ger Herr? . . .

und wiederum:

Hamlet
Seid Ihr schön?

mit der Betonung auf dem »Ihr«.

Ophelia
Was meint Eure Hoheit?

Er meint, Ophelia sei in diesem Augenblick weder tugendhaft noch schön, ebensowenig tugendhaft, ebensowenig schön wie er selbst, und indes ihm diese Erkenntnis sich aufdränge, liebe er sie nicht mehr.

 

Auf eine von keinem der Hörer und Zuschauer geahnte Weise wirkte das persönliche Schicksal des jungen Erasmus in das dargestellte Hamlets hinein, ward eins mit ihm und gab ihm, wie Ollantag später sagte, eine Wahrhaftigkeit, die unheimlich anmutete. Unter dem Blicke Irinas, der ihn förmlich vor aller Welt bloßstellte, während er sich, allein durch ihre Gegenwart, schon für einen Überführten hielt, dem Hohn, der Verachtung, der Abneigung, ja dem Ekel der Zuschauer preisgegeben, lehnte sich Erasmus mit den Worten Hamlets und im Anblick der lügenhaften Unschuld dawider auf. Wie weit entfernt war diese edelgeistige Welt von der Wirklichkeit des tierischen Triebes! Das Kornfeld, in dem er mit Irina gelegen, tauchte auf. Eine Verbindung zwischen dort und hier gab es nicht. Hier wurde das Tier völlig abgeleugnet: Mensch, Sprache, Dichtung, Geist, Kostüm, Übereinkunft in Lüge war es, was an seine Stelle trat. Das Tier war da, aber unterirdisch und maulwurfshaft. Aufgetaucht, aus dem Grunde aufgestoßen, hatte es hier keine andere Möglichkeit, als schmachbedeckt sich selbst zu vernichten. Und Prinz Hamlet: er litt wie kein anderer unter der Tatsache »Tier«. Der Mensch, der Halbgott, der Heros schwebte ihm vor. Sein Wesen war in zwei Teile gespalten, nicht ein Ganzes, wie jenes des Oberhofmeisters. Er verzehrte Irina mit brennenden Augen. Und dieses parfümierte und kostümierte Tier durfte ungestraft auftauchen. Es schritt in der gebotenen, fadenscheinigen Maskerade umher, als wenn sich ein Ochse die Hörner hätte vergolden und Manschetten über die gespaltenen Vorderhufe streifen lassen. Ein Fasching, denkt Hamlet, ein Karneval! Aber ich bin diesem Fasching nicht gewachsen. In solchen Augenblicken verleugnet mein ganzes Wesen das Tier. Ich habe es draußen im Kornfeld gelassen. Dies ist mein Geheimnis. Auch nur dieses Geheimnis preisgeben, hieße für mich, ganz anders als für den Oberhofmeister, in diesem Kreise mir selbst unmöglich sein.

 

Was war das nun wieder, denkt es in Erasmus, nachdem er den schwarzen Mantel abgelegt hatte und, nicht gerade geistesgegenwärtig, Einzellob des Fürsten und des übrigen kleinen Publikums einheimste. Durch eine überraschende Wendung überkam mich zum ersten Male das gesamte innere Wunder der Schauspielkunst. Das gestand er sich ein, dem dachte er nach. Irgendwie lag Erneuerung, lag Befreiung, lag Entrückung darin.

Schon die Hülle des schwarzen Mantels umgab ihn gleichsam mit einer Welttrauer, in der seine vereinzelte unterging. Imagination und Exaltation, verbunden zu einer kunstvollen Gegenwartsaktion, brachten ein Mirakel zustande, wie wenn ein Ertrinkender plötzlich die Fähigkeit erhielte, trockenen Fußes über die Oberfläche des Wassers dahinzuschreiten. Die Beherrschung des Schicksals in dieser Kunst mag scheinbar sein, aber sie hilft dem, der sie wahrhaft ausübt, es irgendwie leichter ertragen und überwinden.

Mit dieser Erkenntnis saugte das Theater Erasmus auf besondere Weise wiederum an, und er fühlte sich neu seiner Magie verfallen.

Auch Kandidat Luckner war zugegen. Man kann nicht sagen, daß er aufdringlich war, aber seine konziliante Art und gesellschaftliche Sicherheit öffneten ihm die Türen. Er drückte seine Bewunderung nicht Erasmus, sondern der Prinzessin aus und schwieg geflissentlich, als diesen das allgemeine Lob umbrandete. Was er Cramm, Bourtier und auch Ollantag ins Ohr tuschelte, betraf seine eigene Auffassung dieser Hamlet-Szene, die sich durchaus von der eben gehörten und gesehenen unterschied. Das ganze Ereignis, improvisiert und wohl ungewöhnlich geglückt, äußerlich aber anspruchslos, war für Erasmus, ohne daß es jemand, vielleicht Prinzessin Ditta ausgenommen, ahnen konnte, von schicksalhafter Bedeutsamkeit. Nun während des Spiels hatte er zum ersten Male seit dem Vortrag im Marmorsaal die Prinzessin wieder mit dem göttlichen Auge von damals gesehen: und es ging ein Licht von ihr aus, ein golden-sonnenhaft-apollinisches, das die Erscheinung Irinas verblassen machte. Noch nicht zweimal vierundzwanzig Stunden nach dem Niederbruch seines ganzen Wissens von sich im unwiderstehlichen Sturme einer Leidenschaft fand er das dämonische Bild durch ein anderes vernichtet, dessen Holdheit und Hoheit nur durch eine Herkunft von Göttern erklärbar schien.

Was für ein Grad von Zuverlässigkeit ist noch in mir, wenn ich mich unwillkürlich so gründlich verwandeln kann? Auf was kann ich bauen, was hab' ich von mir noch fest in der Hand?

Er wollte sich gar nicht mehr in der Hand haben. Der niedrige Eros war von dem hohen abgelöst. Nicht einmal an Kitty dachte er mehr, als diese Ophelia ihm mit jedem Atemzug, jedem bebenden Wort, jedem kindlich verlegenen Stocken der Rede, gerade unter dem Zwange zu heucheln, ihre Liebe verriet. Und was erschlossen nicht diese Augen mit den langen goldigen Wimpern, die eine besondere Sprache führten, über alle Worte hinaus!

Und doch, wie wunderlich war sie wiederum und wie rätselhaft. Während Luckner sie mit Äußerungen der Begeisterung gleichsam überschwemmte, inhalierte sie, scheinbar gleichgültig in ein Fauteuil gelehnt, Zigarettenrauch und hüllte sich in graue Gewölke. Ob sie zuhörte, wußte man nicht, keinesfalls war der Ausdruck ihres Gesichtes – blasiert, fast böse! – irgendwie dem ähnlich, den sie Erasmus im Spiel gezeigt hatte.

»Der Fürst«, sagte Doktor Ollantag, »hat eben einen Vorschlag gemacht: Wie wäre es, wenn die Paare alternierten und meinethalben bei der ersten Vorstellung Syrowatky und Irina Bell Hamlet und Ophelia, bei der zweiten Doktor Gotter und die Prinzessin das gleiche Paar darstellten – oder umgekehrt?

Wenn Ihre Durchlaucht, die Prinzessin, die Gnade haben, um des Geburtstags Seiner Durchlaucht willen, sich herbeizulassen, die Ophelia darzustellen, kann dies natürlich nur am ersten Tage sein. Es geht nicht anders, so sehr ich an sich den schweren Verzicht zu würdigen weiß, den wir unserer kleinen Irina Bell zumuten. Trotzdem bin ich gewiß, daß sie in einem solchen Fall gern zurücktreten wird.«

»Ich mache mir aus der ganzen Rolle nichts«, hörte Erasmus Irina sagen: er gab sich keinem Zweifel darüber hin, daß dies eine schmerzliche Lüge bedeutete.

»Was mich betrifft«, sagte die Prinzessin hart, »wollen Sie, bitte, keine Angst haben. Mein Komödiantenehrgeiz ist ebenso stark wie meine Neigung, Steine zu klopfen.«

Das war eine diabolisch häßliche Äußerung, die als solche von allen empfunden und stillschweigend mißbilligt wurde.

Als Erasmus nach der Kostümprobe mit dem seltsamen Ausgang zum Mittagessen ging, kam ihm Syrowatky entgegen und schritt ohne Gruß an ihm vorbei. Erasmus hatte sich innerlich mit ihm ausgesöhnt, fand aber doch, daß er nach dem, was vorgefallen war, nicht die Möglichkeit hatte, zuerst zu grüßen.

Statt gegen sein Ziel, das Hotel Bellevue, bog er nach dieser Begegnung mehr in das Innere des Parkes ein, um über die Behandlung des Falles Syrowatky womöglich zu einem Entschluß zu kommen.

Da nun einmal das angefangene Werk fortgeführt werden mußte und der fürstliche Geburtstagstermin nicht verschiebbar war, galt es, wohl oder übel, auf dem bereits Vorhandenen weiterzubauen. Schon äußerlich brachte Syrowatky dies und das für die Hamlet-Rolle mit, vor allem aber die Leidenschaft, sie zu verkörpern, in einer Stärke, die von niemand zu überbieten war. Erasmus setzte mit Recht voraus, daß er mit ihm sowie mit dem ganzen Ensemble nach dem mißglückten Putsch, was die Geltendmachung seiner Ideen betraf, keine Schwierigkeiten mehr haben würde.

Um aber bei der morgigen Probe sogleich mit dem Anfang beginnen zu können, statt mit dem Für und Wider von Umbesetzungsfragen disputierenderweise Zeit zu vergeuden, beschloß er, den Stier bei den Hörnern zu packen und Syrowatky in seinem Hotel aufzusuchen.

Das Erstaunen des doch recht dünkelhaften Mimen war grenzenlos, als Doktor Gotter gemeldet wurde und eine Minute später ins Zimmer trat.

Als er indessen den versöhnlichen Worten des jungen Dramaturgen in dem Gedanken, er sei unentbehrlich und man brauche ihn, mit einem Stich ins Hochfahrende glaubte begegnen zu können, wurde ihm klar, daß er sich getäuscht hatte.

»Ich komme zu Ihnen«, sagte Erasmus, »weil Sie in das Triumvirat hineingehören, ohne das die ganze doch sehr hübsche Unternehmung nicht vorhanden wäre. Schließlich haben ja Sie, Jetro und meine Wenigkeit gemeinsam die Sache in Schwung gebracht. Der eigentliche Keim steckte in meinem Hamlet-Büchelchen, das die Jelängerjelieber-Laube wie die Glucke das Ei bebrütete. Das ungesuchte Zusammentreffen aller Faktoren in diesem Granitz zur Entwicklung des Keimes war unbedingt schicksalhaft. Es widerstrebt mir zunächst, aus dem nun einmal gegebenen organischen Zusammenschluß lebendiges Gewebe operativ herauszuschneiden, es sei denn, daß Sie mir sagen oder beweisen, daß es geschehen muß.

Sie werden selbst nicht glauben, daß jemand, Sie oder ich, unersetzlich ist. Mit dem oder jenem der hiesigen Schauspieler, vielleicht sogar mit dem Kandidaten Luckner, würde ich mich getrauen, das Hamlet-Drama flottzumachen. Wären Sie heute in der Schloßgalerie gewesen, Sie hätten eine wunderbare Ophelia kennengelernt: Prinzessin Ditta, die nie auf der Bühne gestanden hat. Freunde, sogar der Fürst, die mich dabei allerdings stark überschätzten, verlangen sogar den Hamlet von mir.

Nein! So töricht, zu glauben, ich könne die Rolle schauspieltechnisch bewältigen, bin ich nicht, wenn sie auch geistig mir ganz und gar geläufig ist. In dem, was mir fehlt, im Technischen, das eine Gestalt durch drei Stunden und länger vor den Augen des Publikums sich bewegen, handeln, kämpfen und sich mitteilen läßt, sind mir die meisten Berufsmimen über. Und selbstverständlich auch Sie, werter Herr Syrowatky, der Sie in meinen Augen ein vollwertiger Berufsschauspieler sind; außerdem habe ich diesmal anderes zu tun auf der Bühne.

Das Lange und Kurze von dem, was ich sagen will, wäre der Wunsch, daß Sie mit Ja oder Nein erklären, ob sie von der Partie sind oder nicht. Wo nicht, so brauchen Sie sich keinesfalls – ich kann Sie hierin durchaus beruhigen – den Vorwurf machen, Sie hätten die Sache zum Scheitern gebracht.«

Als der junge, schöne und reiche Mensch und Theaternarr den Amateurdramaturgen nach dem Kalabreser greifen sah, den er seltsamerweise trug, brach er auf klägliche Weise zusammen. Und als Erasmus Zeuge dieses völlig hemmungslosen Weinens und Schluchzens war, wollte er vor sich selbst den kürzlich erlittenen, gleichen, unmännlichen Paroxysmus nicht wahrhaben. Es half nichts. Und während er mit der Scham kämpfte, stieg ein starrer Entschluß zugleich in ihm auf: den Wechselfällen des Lebens niemals wieder als kläglicher Unmann gegenüberzustehen.

Nachdem Syrowatky sein Verhalten in der Revolte mit Weinen und Schluchzen teils entschuldigt, teils anderen zur Last gelegt hatte, schlug Erasmus vor, das Ganze als ungeschehen zu betrachten. Und mit diesem Vorschlag ward in der Tat alles wieder auf den Status quo ante zurückversetzt.

 

In einer geradezu musterhaften Harmonie wurden am folgenden Tage die Hamlet-Proben wieder aufgenommen und durchgeführt. Erst jetzt, so schien es allen, war der echte Geist in die Sache gekommen. Man fühlte, daß man inmitten jener fruchtbaren Spannung arbeitete, die alles in sich beschloß und vorwärtstrieb.

Die Erfahrung, die sich indessen im Laufe der Arbeit Erasmus aufdrängte, offenbarte ihm zum erstenmal eine Seite des Bühnenmysteriums.

Die Vorgänge des gespielten Gedichtes lösten sich mehr und mehr vom Texte los und gewannen ihr eigenes Leben, dessen gebieterischer Fluß den Text in sich auflöste, wie die Kerzenflamme das Wachs. Dieser Prozeß war, wie Erasmus mit Entdeckerfreude erkannte, wesentlich schöpferisch. Wenn er seinen Anfang nimmt, beginnt das geschriebene Werk in das gesprochene und agierte hineinzusterben, um, verwandelt wie die verlarvte Raupe, in einem Schmetterling Auferstehung zu feiern.

Die Damen agierten in hellen Sommerkleidchen, die Herren in weißen Hosen und Sporthemden; trotzdem belud sich szenenweise die Luft des dämmrigen Theaterraumes mit dem Alp der hamletischen Psychomachie und löste bereits jene eisigen Schauer aus, die geahnter Mord und Blutdunst mit sich führen.

Erasmus erschrak, wenn er auf das Büchlein herunterblickte, aus dem die Dame im Souffleurkasten dem Gedächtnis der Darsteller nachzuhelfen hatte: es enthielt seine Hamlet-Bearbeitung. Nun, heute, wie sah das Textbuch aus! Dermaßen hatte darin der Rotstift gewütet, daß es schien, als könne von den Worten der Dichtung nichts mehr übriggeblieben sein. Er selbst hatte dem Werke alle diese unzähligen Wunden gemacht, und so war er, der es aus dem zerstückelten, zusammenhanglosen und geschrumpften Zustand wiedererstehen lassen wollte, selbst im Handumdrehen zum Werkzeug der Zerstörung geworden.

Was war von diesem Verfahren zu halten? fragte er sich. War es in jedem Fall eine Unumgänglichkeit oder nur in der Mehrzahl von Fällen, wo mit einem zu kleinen Rahmen des praktischen Theaters gerechnet werden muß? Natürlich allein in diesen Fällen. Aber die letzte, die höchste Verkörperung der dramatischen Idee blieb doch ein Glücksfall von äußerster Seltenheit. Es mußten dabei, schon was den Aufbau betraf, eine Fülle schwer zu vereinender Faktoren zusammenwirken. Wahrscheinlich würden die Stücke vergessen werden, die Theater leerstehen, wenn man nur auf einen dergleichen göttlichen Zufall warten wollte.

Die Zerstümmelung und Zersetzung des originalen Hamlet-Werkes würde demnach als eine natürliche, ja legitime zu erachten sein. Sie hätte aber den schlimmen Effekt nicht erreichen können, wenn ein unantastbarer Grundtext irgendwo niedergelegt worden wäre, ein Verfahren, das bei neueren Werken, durch die Gepflogenheit gedruckter Ausgaben, selbstverständlich ist.

Das Erlaubte und Gebotene bei der Bühneneinrichtung wird leider meist vom Unerlaubten und Verbotenen begleitet. Wo rütteln wohl Stürme mehr und wilder an einem Baum, als an einem Bühnenwerk durch die Jahrzehnte, geschweige die Jahrhunderte gerüttelt wird? Man hält es für einen Verjüngungsprozeß, wenn man den Körper eines Werkes, wie den alten Menschen im Märchen, in Stücke schneidet und im Kessel kocht, und betrachtet den Erfolg mit der gleichen Genugtuung, als wenn er dadurch, wie der Greis im Märchen, wieder in den Vollbesitz seiner frischesten Jugend gelangt wäre.

Was ist jedermanns Dünkel, jedermanns Willkür, jedermanns Brutalität so ausgeliefert wie ein Theaterstück! Erasmus erinnerte sich, welche kläglichen Torsen große Schauspielvirtuosen aus Stücken wie »Kaufmann von Venedig«, »König Lear« und anderen gemacht hatten. Auch kleine Schauspieler wüten hier im Papier wie Heuschrecken, vor allem jedoch tut das der Bearbeiter, der sich jedesmal den zweiten, den besseren Dichter dünkt und den Urheber mit gewissenlos schludriger Hand korrigiert. Und ich? Tue ich etwa auch dergleichen?

Und doch liegt in alledem, dachte Erasmus, nur Entartung einer Berechtigung. Nie geht es im einzelnen Falle ohne jenes Mysterium, in dem das lodernde Opferfeuer der Bühne ein Textbuch zu Asche verbrennt. In dieser Vernichtung liegt sein höheres Leben. Grad und Umfang aber der Flamme und des Lichts hängen, wie gesagt, von der gegebenen Feuerstelle ab, und man wird nur so viel Brennstoff des Werkes verbrauchen, als der Ofen vertragen kann, ohne zu zerspringen oder selbst zu verbrennen.

Beim Nachdenken über ein rätselhaftes Bühnenproblem rückte sich die Hamlet-Verstümmelung vor dem geistigen Auge des Dramaturgen in ein besonderes, neues Licht. Sie stellte sich eben auch als eine natürliche, mit seinem wahren Beruf verknüpfte Zersetzung und Verwitterung des Textes dar. Dieser war unzählige Male verkohlt, und ein abseitsgehaltenes, unverbrennbares, unantastbares Original gab es nicht.

 

Je weiter die Proben fortschritten, desto mehr entwickelte sich in Erasmus die Bildnerleidenschaft. Die Worte, die Bewegungen der Schauspieler auf der Bühne wurden von ihm in seiner Seele gleichzeitig ausgeführt und ihre Empfindungen gleichzeitig durchlebt. Aber diese immaterielle Wiedergeburt vervollkommnete und setzte fort, was der Schauspieler verfehlte oder unvollkommen ließ, und wirkte so fördernd auf die Bühne zurück. Unzählige Male sprang der junge Dirigent gleichsam lodernd vor Leidenschaft über den kleinen Holzsteg auf die weltbedeutenden Bretter, um eine Idee, eine Intuition, einen Gedanken für den Schauspieler fruchtbar zu machen und damit in Wirklichkeit umzusetzen. Er unterbrach oder feuerte an, er drängte auf Vertiefung des Erlebens, Verinnerlichung des Wortes und jene Wahrheit im Ausdruck, die zugleich so licht und überzeugend ist. Obgleich das, was er machte, Theaterarbeit war, hörte man ihn doch immer wieder mit entsetzter Mißbilligung »Das ist Theater! Das ist Theater!« rufen, weil die Schauspieler in die schauderhafte Unnatur einer süßlichen und geschraubten Sprechweise zurückfielen, die leider noch heut bei Bühnen üblich ist. Überhaupt bekämpfte er so ziemlich alles, was die Darsteller bis dahin gewohnt waren. Besonders das Laute, das Schreien mußten sie ablegen. Andererseits sprachen sie gelegentlich so leise, daß es schien, als ob sie stumm wären. Erasmus hatte ein sicheres akustisches Gefühl. Er wußte, wie weit sein Arm, und er wußte, wie weit seine Stimme reichte. Wie er seine Hand überallhin in ihrem Bereiche präzise lenkte, so konnte er das mit seiner Stimme, eine Fähigkeit, die, wie er mit Staunen sah, bei den meisten Schauspielern nicht genügend entwickelt war.

Es kommt auf der Bühne auf den beseelten Ausdruck des ganzen Körpers an. Hier mußte Erasmus besonders nachhelfen. Die Körper der meisten Darsteller hatten nichts mit den Regungen ihres Bewußtseins zu tun. Ihre Hände hatten nichts Sprechendes. Sie wußten nicht, daß selbst in den Bewegungen der Beine und der Füße Denken, Fühlen, Fürchten, Hoffen und Vollbringen, kurz, jede Regung der Seele spürbar ist. Was hatte Erasmus nicht für Mühe und Not, die Darsteller vom Souffleurkasten wegzubringen, um den sie sich drängten, nicht etwa, weil sie ihre Rolle nicht gut gelernt hatten, sondern weil sie dort, nahe und allseitig sichtbar, dem Publikum sich und ihre Tiraden servieren wollten. Kein Zweifel, daß sich jeder einzelne Darsteller dessen vor allen würdig hielt und es in seiner Eitelkeit als einen Raub an sich und dem Zuschauer betrachtete, wenn er wohl gar einmal auf den Wunsch des Regisseurs dem Parkett den Rücken zuwenden mußte.

Erasmus wollte nicht Teile, noch so reizvoll und bestechend, sondern ein Ganzes mit seinem »Hamlet« hinstellen. Er hat »die Teile in seiner Hand, fehlt leider nur das geistige Band«: mit diesen Worten charakterisierten sich alle Hamlet-Vorstellungen, die er gesehen hatte. Drama ist Kampf: in diesem stehen sich nicht etwa ein entschlossener und ein unentschlossener Kämpfer gegenüber, sondern Prinz Hamlet und sein Oheim Claudius, die beide, im Anfang nur bedingt zum Kampf entschlossen, später Gegner auf Tod und Leben sind.

Ohne Hamlet kein König Claudius, kein Hamlet ohne König Claudius. Es ging nicht an – nach der Meinung des jungen Spielleiters –, einen von beiden zu vernachlässigen und den anderen auf Kosten des Vernachlässigten herauszuheben. Bisher war dies immer mit Hamlet geschehen, und Claudius wurde zur Beiläufigkeit. Auf zwei starken Säulen jedoch ruht das Stück: Hamlet und Claudius. Diese zwei mächtigen Gegner, wie Hamlet sagt, treten in ihm zum Zweikampf an, und das Werk ist voll vom Funkengestiebe, das von ihren Degen spritzt. Fort mit dieser verdammten Sentimentalität, diesem mißverstandenen Werther-Erbe, die aus Hamlet einen ariensingenden Solisten macht, einen Flenner und Winsler. Nein, es sind zwei vollbürtige Gegner und Hasser da, und es geht hart auf hart. Vom furchtbaren Kampf erschöpft, apathisch und gleichgültig, tritt Hamlet am Schluß in den scheinbar spielerischen, wirklichen Zweikampf mit Laertes ein. Und an diesem Possenspiel nach dem Ernst muß er sterben. Der Gegner hat ihm die Schlinge gelegt, in der Apathie seiner Erschöpfung ist er achtlos hineingetreten. Der schurkische Claudius hat gesiegt; denn da er diesen Edelmenschen, diesen Prinzen aus Genieland und wahren Thronerben eines Königtums, diesen werdenden, vielleicht höchsten Ruhm des Dänenreiches zu Fall gebracht hat, wen soll es befriedigen oder auch nur trösten, daß er selber dabei zugrunde ging?!

Diesen Zweikampf also arbeitete Erasmus zunächst mit allen Mühen und allen Mitteln heraus, so daß die meist vernachlässigte Rolle des Königs Claudius eine höllische Größe gewann. So sah man bald die fast bewegungslos brütende Gewissensangst und Tücke dem schnellfüßigen, zähen, jugendlichen Rächergeiste obsiegen, bald diesen gedankenschnell seinen Vorteil wahrnehmen, seinen Stoß anbringen und den Gegner auf den Tod verwunden.

 

Der leidenschaftliche Zustand, in den Erasmus seine Liebe und seine Sünde gestürzt hatte, wurde in diesen Tagen durch den Arbeitseifer übertäubt, der, je näher er sich der Lösung seiner Aufgabe sah, um so stärker wurde. Glücklicherweise stellte Ophelia-Irina seine Zurückhaltung nicht auf allzu schwere Proben und entfachte kaum seine Eifersucht. Anders war es mit dem, was hinter der Szene geschah und was man vermuten oder befürchten mußte.

Keine Probe, der Prinzessin Ditta nicht beiwohnte.

Während Ditta neben Erasmus saß, Zigaretten rauchte und die Flügel ihrer leicht gewippten Nase blähte, rief sie zuweilen ganz ungeniert: »Um Himmels willen, mit der Bell, das wird ja nichts! Ophelia ist ja doch keine Gans und Hamlet, Prinz von Dänemark, kein Gänserich. Sehen Sie doch, wie dumm und gänsig sie blickt, und wie der Mensch förmlich mit waagrechtem Halse zischt! Jetzt macht er ihn hoch, jetzt macht er ihn lang. O Gott, und jetzt gehen ihm förmlich vor Selbstbewunderung die Augen über! Sehen Sie doch: jetzt schaut er sich um, ob seine Gänserichhaltung auch die gebührende allgemeine Bewunderung nicht vermissen muß!«

Erasmus empfand die Rivalität. Das Auge der Prinzessin versprach ihm Dinge, an deren Möglichkeit zu denken er bis vor kurzem für hellen Wahnsinn gehalten hätte. »Sie sind der beneidenswerteste Mensch, den ich kenne!« sagte Jetro. »Ich bin stolz darauf, der erste gewesen zu sein, der es erkannte, was Sie und wer Sie sind. Es ist mein Verdienst, Sie nach Granitz gebracht zu haben. Ich habe aber ganz gewiß nicht entfernt geahnt, wie recht ich hatte, das zu tun, und welche Folgen es haben würde. Nicht nur machen Sie hier Theatergeschichte, nicht nur haben Sie mir nichts, dir nichts den Fürsten samt seinem ganzen Hof an Ihren Thespiskarren gespannt: Sie brauchen nur mit dem Kopf zu nicken, und die allerschönste Prinzessin, abgesehen von allen anderen Weiblichkeiten, fliegt Ihnen an den Hals.«

 

Und wirklich, ich hätte es nie für möglich gehalten, aber es ist ein Gereiß um meine Seele, dachte Erasmus. Während der Proben – unstet ist der innere Sinn, sagt die Gîta, dessen Zügelung überaus schwer, ebenso wie die des Windes –, also während der Proben irrte dieser innere Sinn des jungen Dichterregisseurs bald nach Klotzsche zu seinem Weib Kitty ab, das ihm das »süße Geheimnis« jüngst mitgeteilt hatte. Unwillkürlich sprach es da in ihm: »Adieu mitsam'!« – so sagt man in Köln zu einer Schwangeren. Während es aber in ihm dies »Adieu!« sagte, konnte er nicht verhindern, daß er einen starken psychischen Schmerz empfand und unwillkürlich die Hand in die Gegend des Herzens führte. »Herr Doktor, Sie überanstrengen sich!« sagte dann wohl leicht erschreckt die Prinzessin, worauf er etwa lustig witzelnd mit dem Hamlet-Zitat »O schmölze doch dies allzu feste Fleisch!« antwortete. Damit war seine Seele schon wieder mit ihrer zweiten Feindin, die nach ihr griff und an ihr riß, handgemein geworden. Und dort oben stand Irina, und es brach in Erasmus ein wilder Hunger, ein Durst, ein Lechzen auf, und er sah nicht mehr, wo er war, sondern öffnete die Tür eines kleinen Kramladens, deren blecherne Schelle hörbar ward, fand den Weg in ein niedriges Zimmerchen, dessen Decke zwei rotkarierte Federbetten fast erreichten, und dort war der Quell, wo sein Durst gestillt werden konnte. Dies war der Raum, für den er in einem solchen Augenblick alle Theater, alle Schlösser, allen Reichtum der Welt hingegeben haben würde, aber auch alle Versprechungen und Anwartschaften auf jedes kommende Paradies.

»In Ihrem ›Hamlet‹ geht es ein wenig lebhaft zu«, sagte, nachdem er einmal mehreren Akten beigewohnt hatte, Doktor Ollantag. Erasmus erwiderte, das wäre natürlich, da Hamlet in dieser Darstellung nicht mehr Selbstzweck sei, auch das Elegische sich nicht mehr in stillstehenden Weihern und Wasserlachen, die nur die Spiegelung eines trüben Himmels belebe, breitmachen könne. Hier vollziehe sich eben ein wilder, je nachdem lauter oder stiller Kampf, der nie aussetze und in dem beide Gegner sich, durch den gegebenen Rahmen, im Zustande allerhöchster Spannung befänden: »Das Charakteristikum jener Vorstellungen, die ich gesehen habe«, sagte Erasmus, »war Schläfrigkeit. Drama aber ist alles andere, nur nicht Schläfrigkeit. Eher ist ihm die Schlaflosigkeit des Lebensfiebers, die Schlaflosigkeit einer schweren Krankheit, der Paroxysmus höchster Gluthitze und der Agonie in den Nächten und Stunden kurz vor dem Tode zuzuschreiben. Es gibt und darf in diesem Hamlet-Drama nicht geben: eine Minute oder gar eine halbe Stunde bloßer losgelöster Meditation oder gar Behaglichkeit. Oder will man etwa die Szene der beiden Freunde Hamlet und Horatio am Grabe Yoricks als solche ansprechen? Die Erde wirft ihre Toten aus. Yorick, der Narr des ermordeten Königs, muß seine Lagerstätte verlassen und sie Ophelien, einer Närrin von höherem Stande, einräumen. Sein Schädel kollert vor Hamlets Füße, die Füße dessen, der so gerne den Narren spielt. Wie würde man ein solches Notturno, einen so beziehungsreichen, drohend-fürchterlichen Gruß und Hohn des Todes musikalisch ausdrücken? Es ist, wie wenn am hellen Tage das schwerste Gewitter die Nacht des Grabes über die Erde breitete. Hamlet blickt in sein eigenes Grab. Nie ist, soweit wir Belege haben, je eine so fürchterliche Szene geschrieben worden. Der Todgeweihte blickt in das grausig modrige Loch. Es wird ihm zu einem skurrilen Spiegel. Der Spaßmacher Yorick, der Hanswurst, der Platz machen muß, springt gleichsam mit einem Witz heraus, mit den Worten etwa: Ich bitte, geneigtest Platz zu nehmen. Das Schaudern, das Hamlet empfindet, hat nicht nur mit Alexander dem Großen zu tun, als er in seltsamer Neugier den Schädel des Possenreißers betrachtete. Ob Alexanders Schädel so aussah und so roch, ist ihm gleichgültig. Woran er denkt, ist sein eigenes, lockenumwalltes, vergrämtes Haupt.

Worte, die ihm dies alles entpreßt, sind ganz gewiß nicht bloße kühle Meditation.«

 

Prinzessin Mafalda hatte den jungen Dramaturgen nach der Theaterrevolte in der Gärtnerei in Begleitung ihrer Meerkatze aufgesucht. Einer ihrer Gründe dazu war, Erasmus ihrer Ergebenheit zu versichern, ein tiefer liegender, anderer Grund, den hochwillkommenen Anlaß nicht ungenützt vorübergehen zu lassen, um mit einem ihrer beliebten Steckenpferde einen Ritt zu tun.

Mafalda dachte nicht gut von den Menschen. Sie war eine überaus kluge Frau, zugleich aber von einer in die Augen fallenden charakteristischen Häßlichkeit. War es eigentlich Häßlichkeit? Vielleicht nur dann, wenn man den Geist nicht empfand, der in jedem Augenblick ihre Mannweibzüge belebte.

Erasmus fühlte sich nicht von ihr angezogen. Die Art, wie sie Welt und Menschen spiegelte, einer alten, bösen, abgesetzten Norne gleich, machte Granitz, den kleinen Hof und sein Drum und Dran mit Theater und dergleichen, zu einer Geringfügigkeit. Sie entkleidete alles dieses seines idyllischen Lebensrechtes und stellte es nackt und klein in das allgemeine Weltgeschehen, dem sie ruhelosen Geistes immer verbunden war.

Mit solcher Betrachtungsart, die sie bei Erasmus ebenfalls voraussetzte, war aber diesem nicht gedient. Er wollte und brauchte die Illusion und hatte, schon um sie vor sich selbst zu schützen, genug zu tun. Er wußte zunächst nicht, wie man sich mit dieser neuen Erscheinung abfinden könne, die ganz und gar aus dem Rahmen fiel.

Der Fürst, die Fürstin und der ganze Hof fürchteten sie, hegten aber zugleich für sie Respekt, ja Bewunderung. Ihr kleines Palais, in dem sie, wie bereits mitgeteilt, allerlei seltsames Getier beherbergte, war auch in andren Beziehungen merkwürdig. Der kleine Garten, in dem es, ziemlich abseits, lag, wurde von zwanzig geschulten Gärtnern betreut, die eine Fülle exotischer Pflanzen in Warmhäusern und im Freien zu pflegen hatten. Die Dame war ungeheuer reich, zog aber den Luxus, den sie trieb, auf die denkbar kleinste Fläche zusammen, wodurch der Garten und auch das Haus eine staunenerregende Besonderheit erhielten.

Prinzessin Mafalda war eine gute Malerin. Sie war mit Carmen Sylva befreundet, der königlichen Dichterin. Dies ist nicht mehr Granitz, sagte Erasmus zu sich selbst, als er, nicht ohne ein gelindes Unbehagen, das erstemal seinen Fuß in die Welt Mafaldas gesetzt hatte.

Länger als ein Jahrzehnt war sie zu Wasser und zu Lande herumgereist. Ohne daß sie damit renommierte, überzeugte Erasmus sich bald, daß man nicht leicht einen bekannten Ort nennen konnte, wo sie nicht gewesen. Sie sprach von Ceylon, von Siam, von Benares wie Deutsche von Berlin oder Breslau. Paris und London waren ihr kleine Ausflüge. Sie machte Bemerkungen aus persönlichem Erleben über die französische Kultur in Kanada, über die Franziskaner in Kalifornien, über die Schönheit und die Schlangen von Rio, über Kapstadt, über den Kongo, ja über den Hof des Negus von Abessinien, bis wohin sie gedrungen war.

Eine Woche etwa nach dem internen Theaterskandal wurde von Prinzessin Mafalda ein Tee zu Ehren Erasmus Gotters veranstaltet. Der Maler-Baron, der täglich bei der Prinzessin verkehrte, klärte Erasmus darüber auf, daß dieser Umstand die Besiegelung seines persönlichen Erfolges in Granitz sei. Eine neue Erscheinung, sagte er, sei nur dann endgültig durchgesetzt, wenn Palais Mafalda sein Placet erteilt habe.

Es war wesentlich Jugend, was die alte Dame bei diesem Tee um sich versammelte. »Ich habe selbst meinem Vetter«, erklärte sie – gemeint war der Fürst –, »abgeraten, von der Partie zu sein. Er stört, es kann ja nicht anders sein in einer zusammengesetzten Geselligkeit, wo Zwanglosigkeit geboten ist. Von der Fürstin gar nicht zu reden: sie ist eine brave, schlichte Frau.«

Dies ungefähr waren die Worte, die sie gleich beim Erscheinen des jungen Gotter an ihn richtete. Sie ging dann im einzelnen die Personen durch, die sich bereits in den Räumen umherbewegten. Um seine beiden Verehrerinnen Ditta und Irina wäre nicht herumzukommen gewesen, versicherte sie. Er wäre wohl gern einmal, wie sie annehme, eine Stunde ohne sie ausgekommen.

Und in der Tat: der Apoll war da, und Irina war da. Außerdem waren Syrowatky und Jetro da, sonst aber keiner von den Schauspielern.

Kandidat Luckner galt hier nur in seiner germanistischen Eigenschaft.

»Sie kennen ja doch den Rektor unseres Pädagogiums. Ich möchte bezweifeln, daß er ausgesprochenermaßen eine Persönlichkeit nach Ihrem Herzen sei, aber er ist ein klassischer Philologe von gediegenen Kenntnissen, von dem man sehr viel lernen kann. Er trägt sehr gut vor. Wir lesen zusammen Homer in der Ursprache. – Würden Sie uns am Ende wohl auch etwas vortragen?«

Ein gewisser Schauspielerehrgeiz, den er vor sich selbst nicht ableugnete, ließ ihn erbleichen, als er, überrascht, die Frage begriffen hatte. »Darauf bin ich durchaus nicht vorbereitet.« Und doch hätte er auf der Stelle mit dem Vortrag von Bürgers »Lenore« oder der Rede des Marc Anton an Cäsars Leiche die Gesellschaft verblüffen können.

»Herr Jetro behauptet, er kenne niemand, der so hinreißend wie Sie, Herr Doktor, eine Ballade oder dergleichen vorzutragen fähig sei.«

Und schon war Jetro selbst, die Teetasse kunstgerecht balancierend, herangetreten, um die eigene Behauptung zu bekräftigen.

»Tragen Sie nichts vor«, sagte Prinzessin Ditta in einem Sessel liegend, Zigarettenrauch in Gewölken ausstoßend, als die Gruppe sich zögernd vorbeibewegte.

»Warum sagst du das? Ich verstehe dich nicht?« fragte Mafalda, die es gehört hatte. Aber mehr als ein wegwerfendes Achselzucken erhielt sie von Ditta nicht zur Antwort.

Eine Menge hübscher junger Mädchen aus den Kreisen des Landadels hatte Prinzessin Mafalda aufgeboten. Sie wurden von Ditta als Jungvieh bezeichnet. Sie meinte böse, sie würden bei einem Tanz auf der Scheunentenne oder bei einem Schweineschlachten am Platze sein.

Vier Geiger stimmten die Instrumente. »Sie wollen Ihnen, Ihnen speziell, und auch ich will Ihnen, Ihnen speziell, mit einem Quartett von Beethoven eine Freude machen«, sagte Mafalda.

»Wer bin ich denn«, gab Erasmus zur Antwort, »daß ich auf einmal so viele freundliche Huldigungen verdienen sollte.«

»Ganz genau vermöchte ich Ihnen nicht zu sagen, wer Sie sind«, antwortete Mafalda. »Man ist alles und nichts in Ihrer Lage. Jedenfalls betrachte ich Sie wie eines von jenen exotischen Gewächsen, die ich in meinem Garten habe: in unserm Klima und Lande fremd, bedürfen sie einer unermüdlichen Pflege, wenn ihre Eigenart sich entfalten soll. Wenn Sie wollen, betrachte ich Sie, lieber Doktor, als einen Fremdling unter Menschen. Übrigens habe ich, ebenso viel als vergeblich, über das Wesen des Genies nachgedacht. Das Genie ist zart, so viel ist gewiß. Es hat ein labiles Gleichgewicht, unter Umständen ist sein Lebenslicht wie das eines tropischen Vogels mit einem Hauch auszublasen. Trauen Sie einer alten Frau: ein rohes Ei ist nichts gegen Sie an Gebrechlichkeit. Sie müssen mit sich sehr vorsichtig umgehen.«

»Wenn man ein rohes Ei aufrecht stellt«, lachte Erasmus, »und zwischen der unteren und oberen Spitze zusammenzuquetschen versucht, so ist das kaum einem Athleten möglich.«

Mafalda stimmte lachend ein: »Das ist es ja eben, daß das Genie eine Einheit unzähliger Gegensätze ist. Stärke und Schwäche, Weisheit und Torheit, Tugend und Laster, Scheu und Verwegenheit, Schamlosigkeit und Empfindsamkeit, Haß und Liebe, Stumpfsinn und Scharfsinn geben sich in ihm ein Rendezvous.«

So wurde Mafalda fast aggressiv, und Erasmus ward dadurch angereizt, in einem verwandten Sinne zu antworten.

»Wir wollen«, sagte er, »den bekannten Streit über das Wesenhafte des Genies gegenüber dem Talent und auch an sich selbst nicht fortsetzen. Wenn wir noch so viele Gedanken darüber improvisieren würden, etwas Neues, nicht schon in Büchern Niedergelegtes würde dabei kaum herauskommen. Genug, daß die Welt voller Talente ist, aber keineswegs voller Genies. Das Genie ist rar, es ist eine Seltenheit, und Sie werden nicht glauben, ich sei albern genug, mich unter diesen Begriff einzureihen.

Albernheit ist keine geniale Eigenschaft, wie gnädige Prinzessin zu glauben scheinen. Jeder von uns kann albern sein, aber das hat mit Genie nichts zu tun.

Natürlich kennt Shakespeare, wie alles Menschliche, auch die Albernheit. Wie er sie gestaltend lebendig macht, ist genial. Die Narren Shakespeares dagegen sind Weise und werden von der gleichen Genialität gespeist und lebendig gemacht.

Ein Talent ist immer rund, fertig, komplett. Genie ist offene, grenzenlose, sich im Persönlichen nie vollendende Naturgewalt.«

Er wandte sich an Prinzessin Ditta: »Warum sind Sie der Meinung, Durchlaucht, ich solle nichts vortragen?«

»Weil die Mehrzahl der Menschen Idioten sind.«

»O pfui!« sagte Mafalda. »In unserm erlesenen Kreise?«

»Die meisten, die von Kunst sprechen, von Dichtkunst, bildender Kunst und Musik, wissen doch, wie sehr sie sich auch aufspielen, ebensowenig davon wie Lehnstühle. Wenn sie lieber bescheiden wären und offen erklärten, daß sie einen zu dummen Grips haben!«

»Auf Grund welcher eigenen Überlegenheit gehen Sie mit uns so ins Gericht?«

»Wenn Sie wollen«, erwiderte Ditta, »gebe ich gern die Erklärung ab: auch ich habe einen zu dummen Grips. Dann ist das wenigstens eine Erkenntnis, die ich vor den andern voraushabe.

Ein Dichtwerk muß ja schließlich erlebt werden. Mit ein bißchen aufgeputschter Phantasie wird man der Sache nicht gerecht. So viel«, fuhr Ditta fort, Erasmus bedeutsam mit einem Aufblick streifend, »ist mir bei den Bühnenproben bereits klargeworden. Sehen Sie doch, mit welcher zähen Mühe, Aufopferung und Leidenschaft die Schauspieler ihre Partien zu durchdringen versuchen, und – nun ja, den Versuch einer unermüdlich genial durchdringenden Arbeit des Spielleiters. Das braucht zum Beispiel, um alles trotzdem besser zu wissen«, schloß sie, »Rektor Trautvetter nicht.«

Der Genannte stand mit der Teetasse in der Nähe. Er schüttelte seinen Dionysoskopf.

»Ich bin untröstlich, Prinzessin Ditta, weil Sie mir immer wieder zu verstehen geben, daß Sie mit meiner geringen Person unzufrieden sind. Wodurch verdiene ich wohl Ihre Ungnade? Weil ich in mancher Beziehung andrer Meinung als mancher andre bin? der Shakespeare-Gesellschaft angehöre und neulich in Weimar vor dreißig berufenen Shakespeare-Forschern unter warmem Beifall einen Vortrag über Hamlet gehalten habe?«

Rektor Trautvetter hatte sich in die kühle Reserve und eisige Opposition gegen die kühnen Hamlet-Hypothesen des Hoffavoriten hineingelebt. Überhaupt, betonte er, er habe sich in der heiligen Stille seines Studierzimmers seinen Shakespeare in so unnachahmlicher Weise lebendig gemacht, daß ihn jede Bühne enttäuschen müsse und jeder noch so berühmte Schauspieler.

»So kommt man durchaus nicht weiter«, sagte Erasmus. »Dem lebendigen Theater ist mit solchen prätentiösen Behauptungen nicht gedient. Gewiß wird beim Lesen einer Shakespearischen Dichtung die Phantasie mächtig angeregt, aber diese Erregung der Phantasie, ohne die ja Dichtung nicht Dichtung sein würde, wenn sie den Leser bei der einsamen Lampe befällt, ist bei Dramen, die für das Theater gedacht sind, nur eine Vorstufe. Der Einsiedler, Stubengelehrte, kurz der Abseitige, wie Famulus Wagner in sein Museum gebannt, fühlt und hat auch keine Verpflichtung darüber hinaus. Der Fehler beginnt, wenn er eine Verpflichtung darüber hinaus leugnet und dem Theater, das die Verwirklichung einer solchen Verpflichtung ist, mit eingebildeter Überlegenheit mißgünstig gegenübersteht.

Shakespeare hat seine Stücke für das Theater gedacht, sich und den Schauspielern auf den Leib geschrieben und, wahrscheinlich schon im Werden, auf die Bühne gestellt. Mag selbst Goethe dazu neigen, anzunehmen, man genieße Shakespeare mehr beim Lesen als auf der Bühne, so heißt das doch im Grunde ihn kränken, die Bestimmung seiner Stücke und seine theatralische Meisterschaft ableugnen. Dies bleibt bestehen, wenn auch der Leser Goethe nicht als Stubengelehrter anzusprechen ist.

Die Schaubühne ist die Welt, in die Shakespeares Gestalten hineingeboren sind. Nur als Rollenfetzen rettete man die Manuskripte. Die Texte, soweit sie vorhanden sind, holten Nachschreiber, die im Parkett saßen, vom Munde der agierenden Schauspieler. Die Bühne in Ehren, die im Haupte Shakespeares aufgeschlagen war, und so auch die Ihre in Ihrem, Herr Professor Trautvetter: aber, wenn diese Bühne des großen Genies ihm selbst nicht genügen konnte, wieviel weniger, sollte man denken, die Ihre Ihnen.

Und wenn Shakespeare den Weg von der inneren Bühne zur äußeren ging, warum sollten Sie sich dawider sperren wollen?

Wollte Shakespeare seine innere Bühne auf der äußeren wiederfinden? Ja und nein. Für dieses Nein aber steht die dicke Realität der äußeren Bühne, noch zu Shakespeares Zeit ein Gebilde derbster Volkstümlichkeit: ein Brettergerüst, bald in Kirchen, bald in Scheunen oder auf offenem Markt aufgeschlagen; bemalte Lumpen, Wälder, Säle, Paläste vortäuschend; blecherne Kronen, Hermelin aus Kaninchenfell, falsche Perlen, gläserne Diamanten; Königsmäntel und Prunkgewänder aus zusammengebettelten Flicken; arme, verfemte Hungerleider die Schauspieler. Das ist der Rahmen, in den sich noch heute gelegentlich die größte dramatische Dichtung, will sie ihren wahren Beruf erfüllen, kleiden muß. Für diesen Rahmen hat Shakespeare geschrieben. Hieraus erhellt, wie man Bühnenwerke betrachten und nicht betrachten muß.

Ach, wenn in unsrer engen Zelle
die Lampe freundlich wieder brennt,
dann wird's in unserm Busen helle . . .

so ist es, wer zweifelt daran. Aber alles zu seiner Zeit! Die Imaginationen in der Studierstube berechtigen nicht dazu, sich über die sakrosankten Bemühungen der Hungerleider von Schauspielern, die Blechkronen und Kleiderlappen, die Talgfunseln der Rampe und so weiter aufzuhalten oder sie mit herablassender Geringschätzung zu betrachten. Was hier versucht und geboten wird, hat mit einem bloßen Phantasiebild nichts gemein und kann mit ihm nicht verglichen werden. Es erzeugt und fordert Illusion, es setzt voraus volles Bejahen und Wohlwollen. Blech muß zu Gold, ein paar Katzenfelle zu Hermelin, im Notfall eine alte geschminkte Funsel zum Gretchen werden in den Augen des wahren, des liebenden, echten Zuschauers.

Also, was das Buch in uns entfesselt, ist Imagination, was die Bühne entfesselt, Illusion: beide sind unvergleichlich, weil grundverschieden.«

Eine leichte Beifallsbezeugung durch Händeklatschen bewies, daß die kleine Auseinandersetzung des Ehrengastes Anklang gefunden hatte.

Trautvetter schwieg. Er zog sich mit einem nachsichtig milden Lächeln, den Tee mit dem Löffelchen rührend, in sich zurück.

Nach einem kurzen Gesprächsdurcheinander hörte man Syrowatky sich über die Anziehungskraft jenes Haufens Gerümpel ausbreiten, das man unter Umständen Theater nenne und von dem Erasmus gesprochen habe. Seine nicht ohne Humor vorgetragenen Erklärungen fanden eine heitere Teilnahme. »Bieten Sie mir den Palast und die hängenden Gärten der Semiramis, ich würde dafür die bemalten Leinwandkulissen nicht hergeben, die beides vortäuschen. Die Welt außerhalb der Bretter, die sie bedeuten, kommt mir – ich kann es nicht ändern – sinnlos vor. Sinnvoll allein die Welt unterm Schnürboden. Die dämmrige Staubluft des Theaters ist mir lieber als die von Sankt Moritz. Mensch werd' ich erst in meiner Garderobe, unter Kostümstücken, Schminke, Perücken und falschen Bärten. Es ist ein Passepartout für den Himmel, wenn ich eine gute Rolle fest in der Hand habe; und wenn ich mit der Souffleuse unten im Kasten, von oben herab, über Stichworte und sonstige Texthilfen verhandle, so gibt es nichts mehr, was meinen Neid erregt auf dem Erdenrund.

Woher habe ich diese Leidenschaft? Unter meinen Vorfahren ist kein Schauspieler. Mein verstorbener Vater achtete mich als verlorenen Sohn, meine Mutter – ich bin ihr Einziger – sucht sich nach Kräften hineinzufinden. Sie hofft, meine Liebe zur Bühne wird eines Tages, wie eine Kinderkrankheit, von mir abfallen. Dazu ist einstweilen noch keine Aussicht vorhanden. Ich bekomme Asthma, ich schnappe nach Luft an Orten, wo kein Theater ist. Bin ich in einer Theaterstadt, atme ich freier. Erst als Mitglied eines Ensembles wird mein normaler Zustand erreicht. Mit der Tätigkeit steigt er ins Rauschhaft-Beglückende. Der Theaterzettel an einem Plankenzaun stillt mir Zahnschmerzen, der meines eigenen Theaters macht mir, wenn ich davorstehe, und zwar bei zwanzig Grad Kälte, glühwarm. Steht nun aber mein Name unter den Mitspielern, so könnte mich das vom Tode erwecken, wenn ich einmal gestorben bin, man brauchte mir nur einen solchen Zettel auf die Brust zu legen.«

»Wir empfinden es allgemein, auch die Nichtschauspieler«, sagte Ollantag, »daß ein uraltes Mysterium in dem Bühnenwesen wirksam ist. Aus ihm ist das Drama, nicht umgekehrt die Bühne aus ihm, hervorgegangen. Darum bin ich auch der Meinung des Doktor Gotter, daß man es nicht von oben herab, sondern mit der gebührenden Ehrfurcht betrachten soll. Auch soll man ihm seinen Vorrang nicht rauben.

Die Vorstellung des dichterischen Textes, die der Spielleiter beim Lesen empfangen hat, wird nie ganz realisierbar sein. Er hat sie nach Maßgabe seiner Bühne und ihrer Mittel zu modifizieren. Schließlich wirft er sie weg und baut eine neue Vorstellung, die Theatervorstellung, auf Grund dieser Mittel und mit deren mysteriösen Möglichkeiten, nicht mehr für den Leser, sondern für Auge und Ohr des Zuschauers: so vollendet, besitzt sie gegenüber dem nur gelesenen Text Unvergleichlichkeit. Indessen darf sie an theatralischen Vorstellungen gleicher Art gemessen werden.«

 

Mit hellen, beinahe krampfhaft offenen Augen, als ob sie mehr als das Menschenmögliche sehen wollten, folgte der Maler-Baron den Gesprächen, beide Hände gleichsam zu einer Faust geballt. Nun schien auch er etwas sagen zu wollen, was Mafalda bemerkte. »Reden Sie, reden Sie, lieber Baron! Es ist nie ganz unoriginell, wenn Sie zu einem Thema beisteuern.«

Die Miene zu einem gespannten Ernst erstarrt, sprach der Baron:

»Ein Zauberkasten ist diese Rumpelkammer, die man Bühne nennt. Sie zieht nicht nur Menschen, sie zieht auch Dämonen an. Lemuren, Tote aus Gräbern, Geister aller Art und aller Zeiten geben sich in ihr ein Stelldichein. Heilige wie Teufel haben hier ihre Reverenz gemacht. Schauspieler waren ihre Medien, da sie ja, mit Verlaub, Herr Syrowatky, gleichsam von Beruf Besessene sind. Selbst die Seele des Heilands – siehe Oberammergau – hat sich immer wieder in der Wunderrumpelkammer materialisiert. Und so ist das Theater, inbegriffen die Zuschauer, der älteste und größte spiritistische Zirkel, den es geben kann. Was geht nicht alles zwischen den Brettern, Leisten und bemalten Lappen der Bühne um! Gespenster, Hexen, Kaiserinnen und Könige, die, seit Tausenden von Jahren gestorben, allein hier Besuch machen und einige Stunden lebendig sind!

Ich werde mir keineswegs anmaßen, die wahrhaft universelle Vielfalt des Theaters im Wort zu erschöpfen. Ich möchte nur noch die Sonderbarkeit hervorheben, daß, um es in allen Tiefen, Höhen und Weiten lebendig zu machen, das Auge und Herz eines Kindes notwendig ist, überhaupt das uralte, ewige, niemals alternde Kind.«

Lebhafter Beifall dankte dem Baron, und mancher dachte, daß der Sprecher etwas von dem uralten, ewigen, niemals alternden Kinde an sich trage.

Prinzessin Mafalda schien dieses Thema beschließen zu wollen. »Ich denke, es ist uns allen klar, und auch unser verehrter Rektor Trautvetter wird zugeben, was er wohl ernstlich überhaupt nie bestritten hat, daß man überall vor dem sich manchmal so dürftig gebenden Institut einen unbeirrbaren und besonderen Respekt haben muß.

Sie hatten aber noch etwas auf der Seele, lieber Baron. Ich glaube, Sie wollten etwas vorschlagen.«

»Wir sollten frisch daran, wie französische Falkeniere auf alles losfliegen, was uns vorkommt, frei nach Hamlet gesprochen: ›Gleich etwas vorgestellt!‹ Es wäre für alle der höchste Genuß, wenn Durchlaucht Prinzessin Ditta die Gnade hätte, mit Doktor Gotter die neulich im Schloß so herrlich exekutierte Ophelia-Hamlet-Szene zu wiederholen.«

»Lieber würde ich fünf Klafter Holz hacken«, sagte trocken die durchlauchtigste Ophelia, worauf Gelächter aller ihr antwortete.

»Wenn ich nun sagen würde: ich auch«, rief Erasmus, »so würde das zwar der Wahrheit entsprechen, aber weder originell noch höflich sein.«

Zum Erstaunen aller wandte sich Prinzessin Mafalda schnell und bestimmt an den Schuldirektor: »Professor, Sie sollten uns etwas vortragen. Sie lasen mir gestern abend das große Zwiegespräch zwischen Hamlet und seines Vaters Geist. Sie könnten den jungen Leuten damit beweisen, daß Sie der Bühne gar nicht so fern stehen. Sie sind ein Meister der Vortragskunst. Nie, auch nicht von der Bühne herunter, wo doch das Bild zum Worte kommt, habe ich von der Geisterszene einen so mächtigen Eindruck gehabt. Ihr verstorbener, begrabener Dänenkönig führt keine Gelehrtenstubenexistenz. Er ist auch, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, kein Bittsteller. Wort und Erscheinung dieses Begrabenen macht Hamlet vor Furcht und Entsetzen in die Knie knicken. Hier haben Sie meinen Hamlet-Band, der ja in diesen Wochen kaum mehr zur Ruhe kommt. Bitte, machen Sie Ihre Gegner verstummen.«

»Die Gelehrtenstubenexistenz ist doch an meiner Auffassung der Geisterszene nicht ganz unbeteiligt«, entgegnete Trautvetter. »Hat die Erscheinung in meinem Vortrag eine besondere Macht und Furchtbarkeit, so deshalb, weil ich sie und damit freilich das ganze Stück ins Mythische ausweite. Vielleicht nämlich gehört das ganze Stück unter den Begriff ›Totenkult‹. Dieser ist, scheint's, älter als Homer, und das gewaltigste uns bekannte Beispiel in der Ilias, die Leichenspiele für Patroklos nämlich, ist nur anachronistisch hineingeraten.

Statt Totenkult setze ich lieber gleich Heroenkult. Die Seele eines großen Toten muß, besonders wenn dieser durch Mord oder Meuchelmord ums Leben gekommen ist, versöhnt werden, da sein Zorn und die Macht, ihn durchzusetzen, sonst verheerend sind. Der Heros hat sofort nach dem Tode einen ähnlichen Rang- und Machtbereich wie die chthonischen, also unterirdischen Götter. Oft sind Heroen Höhlen- und Gräberbewohner. Wo sie gern sind, wo sie versöhnt sind, durch immerwährende Opfer befriedigt, dort bedeuten sie einem ganzen menschenreichen Gemeinwesen unüberwindlichen Schutz und Schirm. Einen Heros verehrte fast jede Stadt und Pflanzstadt im späteren, nachhomerischen Griechenland.

In diesem Shakespearischen ›Hamlet‹ steckt, unbewußt erstanden, seelenkultisch sozusagen erstanden, ein antik-heroisches Leichenspiel. Der furchtbare Geist des ermordeten Königs Hamlet, zum Heros geworden, fordert Sühne und Rache an seinem Feinde. Er ist in vollem Waffenschmuck und bereit, selbst sich an einem säumigen Rächer, wenn es sein muß, zu rächen. Was ihn einzig und allein versöhnt, ist Blut.

Von einem solchen mystischen Blickpunkt aus gesehen, wird der Heros, wenn unbefriedigt, zu einem gräßlichen, furchtbaren, unversöhnlichen, racheglühenden Geist, der Gut und Böse, Schuld und Unschuld in wahlloser Raserei vernichtet. Und so gesehen, gewinnt das Blutbad, durch das die Ehebrecherin, Hamlets Mutter, der Ehebrecher und Thronräuber Claudius, sein Werkzeug, sein Helfer Polonius, dessen Tochter Ophelia und Sohn Laertes, schließlich der säumige Prinz Hamlet vernichtet und gerichtet am Boden liegen, ein neues Aussehen. Der beleidigte Dämon zerstört und zertritt sein eigenes Haus. Und so wird er im Stück, in der Ökonomie dieses Leichenspiels, zur unterirdischen, schicksalbestimmenden Hauptsache.

Man könnte sogar in dem Schwarz der Hamlet-Tracht ebenfalls mehr als Zufall sehen. Schwarz mußten die Opfertiere sein, die man den Heroen darbrachte. So war wohl auch, nämlich schwarz, die Tracht der Priester, die mit den Sühnungen und Versöhnungen der Heroen durch Blut betraut waren.«

Hiernach ergriff der Professor das Buch und las.

Ein abgelegener Teil der Terrasse.
Der Geist und Hamlet kommen.

Hamlet
Wo führst du hin mich? Red, ich geh' nicht weiter!

Geist
Hör an!

Hamlet         Ich will's.

Geist                           Schon naht sich meine Stunde,
wo ich den schweflichten, qualvollen Flammen
mich übergeben muß.

Hamlet                               Ach, armer Geist!

Geist
Beklag mich nicht, doch leih dein ernst Gehör
dem, was ich kund will tun.

Hamlet                                       Sprich, mir ist's Pflicht, zu hören.

Geist
Zu rächen auch, sobald du hören wirst.

Hamlet
Was?

Geist         Ich bin deines Vaters Geist:
verdammt auf eine Zeitlang, nachts zu wandern
und tags gebannt zu fasten in der Glut,
bis die Verbrechen meiner Zeitlichkeit
hinweggeläutert sind. Wär' mir's nicht untersagt,
das Innre meines Kerkers zu enthüllen,
so höb' ich eine Kunde an, von der
das kleinste Wort die Seele dir zermalmte,
dein junges Blut erstarrte, deine Augen
wie Stern' aus ihren Kreisen schießen machte,
dir die verworrnen krausen Locken trennte
und sträubte jedes einzle Haar empor,
wie Nadeln an dem zorn'gen Stacheltier:
Doch diese ew'ge Offenbarung faßt
kein Ohr von Fleisch und Blut. – Horch, horch, o horch!
Wenn du je deinen teuren Vater liebtest –

Hamlet
O Himmel!

Geist
Räch seinen schnöden, unerhörten Mord!

Hamlet
Mord?

Geist
Ja, schnöder Mord, wie er aufs beste ist,
doch dieser unerhört und unnatürlich.

Hamlet
Eil, ihn zu melden, daß ich auf Schwingen, rasch
wie Andacht und des Liebenden Gedanken,
zur Rache stürmen mag.

Geist
Du scheinst mir willig:
auch wärst du träger als das feiste Kraut,
das ruhig Wurzel treibt an Lethes Bord,
erwachtest du nicht hier. Nun, Hamlet, höre:
Es heißt, daß, weil ich schlief in meinem Garten,
mich eine Schlange stach; so wird das Ohr des Reichs
durch den erlognen Hergang meines Todes
schmählich getäuscht; doch wisse, edler Jüngling,
die Schlang', die deines Vaters Leben stach,
trägt seine Krone jetzt.

Hamlet
O mein prophetisches Gemüt! Mein Oheim?

Geist
Ja, der blutschänderische Ehebrecher,
durch Witzes Zauber, durch Verrätergaben –
o arger Witz und Gaben, die imstand,
so zu verführen, sind! –, gewann den Willen
der scheinbar tugendsamen Königin
zu schnöder Lust. O Hamlet, welch ein Abfall
von mir, des Liebe von der Echtheit war,
daß Hand in Hand sie mit dem Schwure ging,
den ich bei der Vermählung tat; erniedert
zu einem Sünder, von Natur durchaus
armselig gegen mich!
Allein wie Tugend nie sich reizen läßt,
buhlt Unzucht auch um sie in Himmelsbildung,
so Lust, gepaart mit einem lichten Engel,
wird dennoch eines Götterbettes satt
und hascht nach Wegwurf. –
Doch still! Mich dünkt, ich wittre Morgenluft:
kurz laß mich sein. – Da ich im Garten schlief,
wie immer meine Sitte nachmittags,
beschlich dein Oheim meine sichre Stunde,
mit Saft verfluchten Bilsenkrauts im Fläschchen,
und träufelt' in den Eingang meines Ohrs
das schwärende Getränk, wovon die Wirkung
so mit des Menschen Blut in Feindschaft steht,
daß es durch die natürlichen Kanäle
des Körpers hurtig, wie Quecksilber, läuft
und wie ein saures Lab, in Milch getropft,
mit plötzlicher Gewalt gerinnen macht
das leichte, reine Blut. So tat es meinem,
und Aussatz schuppte sich mir augenblicklich,
wie einem Lazarus, mit ekler Rinde
ganz um den glatten Leib.
So ward ich schlafend und durch Bruderhand
um Leben, Krone, Weib mit eins gebracht,
in meiner Sünden Blüte hingerafft,
ohne Nachtmahl, ungebeichtet, ohne Ölung,
die Rechnung nicht geschlossen, ins Gericht
mit aller Schuld auf meinem Haupt gesandt.
O schaudervoll! O schaudervoll! Höchst schaudervoll!
Hast du Natur in dir, so leid' es nicht;
laß Dänmarks königliches Bett kein Lager
für Blutschand' und verruchte Wollust sein.
Doch, wie du immer diese Tat betreibst,
befleck dein Herz nicht. Dein Gemüt ersinne
nichts gegen deine Mutter; überlaß sie
dem Himmel und den Dornen, die im Busen
ihr stechend wohnen. Lebe wohl mit eins!
Der Glühwurm zeigt, daß sich die Frühe naht,
und sein unwirksam Feu'r beginnt zu blassen.
Ade! Ade! Hamlet, gedenke mein!

Der Vortrag des Professors wurde durch einen allgemein hervorbrechenden, ungekünstelten Beifall belohnt. Er war in der Tat von ungewöhnlicher Art, da überraschend mächtige Stimmittel, die einem übernatürlichen Wesen anzugehören schienen, den Sprecher auszeichneten. Mit dieses »Basses Grundgewalt« war ein Ton des Wehklagens nicht zu vereinen, und so ging es denn über die christlich infizierten Stellen der Anklage hinweg, sozusagen geharnischt und mit klirrendem Schritt. Die Leiden des irrenden Geistes schienen in Trautvetters Interpretation hauptsächlich verursacht durch peinigenden Rachedurst, über den hinaus sie nach den eigenen Worten des Geistes von jener Art waren, die kein Ohr von Fleisch und Blut fassen kann.

Als er dem Heros seine Stimme zu den Worten lieh:

Wenn du je deinen teuren Vater liebtest,
räch seinen schnöden, unerhörten Mord!

gab er diesem Befehl eine Gewalt, von der Erasmus die Hände abstarben, eine Furchtbarkeit, die mehrere Damen kurz aufschluchzen ließ, und bewirkte sekundenlang eine Illusion, als wäre der furchtbare Dämon beschworen worden und stünde, wenn auch nicht sichtbar, mitten im Raum.

Da schoß es Erasmus durch den Kopf, warum Hamlet im Anfang des Stückes nach Wittenberg zurückwollte. Allein er schwieg und schloß sich nur dem Begeisterungssturm der Gesellschaft an, der in dem allgemeinen Wunsche, Trautvetter möge den Geist spielen, gipfelte.

Der Schuldirektor sagte nicht nein. Der laute Vortrag aus Dichtwerken war seine Leidenschaft, weshalb er auch die Gelegenheit, die sich ihm hier geboten, sofort benützt hatte. Auch Erasmus konnte sich nach dem Gehörten dem allgemeinen Wunsch nur anschließen, wodurch ein gutes Verhältnis zwischen dem Gelehrten und ihm sogleich gestiftet ward.

»Sehen Sie, Doktor Gotter«, sagte er, »dieser Geist, nur zweimal sichtbar, immer aber und überall unsichtbar gegenwärtig, als die alles bewegende Macht mitten ins Stück gestellt, läßt allerlei Seltsamkeiten des Werkes verständlich werden. So am Anfang Hamlets versuchte Flucht zurück nach Wittenberg.«

Erasmus sagte: »Er will sich der Macht dieses überall unsichtbar gegenwärtigen, furchtbar bedrohlichen Dämons entziehen. Ich gebe zu, daß mir dieser Gedanke erst während Ihres Vortrags gekommen ist.«

»Sie haben recht, und wissen Sie auch, warum Sie recht haben? Weil der zürnende Heros nur im Bereich seines Grabes, seines Palastes, seines Landes, nicht aber außerhalb der Landesgrenze, nach dem Glauben der Alten und der ahnenden Seele Hamlets, Macht besitzt. Durch die Flucht in die Fremde hätte sich Hamlet gerettet. Denn, wissen Sie was: Hamlet ist der erste moderne Mensch, der sich für Blutrache durchaus nicht mehr interessiert: verstandesmäßig! In den gewaltigen Sälen und Gewölben aber des alten Schlosses zu Helsingör kann er sich ihrer Macht nicht entziehen. Was er fühlt, ist irrational, aber deshalb um so furchtbarer. Schon vor dreitausend Jahren gingen die Seelen der Getöteten, wie die des Dänenkönigs, ruhelos rachesuchend um. Qualvoll gepeinigt, muß er die Rache so schnell wie möglich eintreiben. Je länger er hierin erfolglos ist, um so verheerender wird zuletzt die gestaute Wut.

Einen solchen Heros und Dämon kann man nur fürchten, nicht lieben. Und so liebt auch Hamlet in dieser Verwandlung seinen Vater nicht. Überall spürt er den chthonischen Heros, seine schweigende, drohende, unerbittliche, sinnverwirrende, waffenklirrende Forderung. Hamlet weiß nicht, wieviel Blut er trinken will: nur das des Mörders? oder auch das von Hamlets Mutter, der Königin? Sah er nicht vielleicht, er, der zur Rache berufene Sohn, die Erinnys des ermordeten Vaters grausig wartend im Rücken seiner Mutter, die Erinnys, die lautlos sagt: ›Verstummen wirst du, alle Rede von dir spei'n, du mir genährtes, mir geweihtes Opfertier, das lebend mich noch laben wird mit seinem Blut‹? Und es war vielleicht diese Erinnys des ermordeten Königs und somit der Heros selbst, der seiner ehebrecherischen Gattin den Gedanken eingibt, Hamlet nicht nach Wittenberg zu entlassen, seinen Rächer an seinem Grabe und in Helsingör festzuhalten, und der diesen Rächer für seine Zwecke in halben Wahnwitz stürzt. Eine Menge meiner Kollegen nennen Hamlet wegen seines Schwankens im Dienst des unversöhnlichen Heros schwach, weil sie von der ganzen Grausigkeit eines solchen, in Blutwahnsinn stürzenden Dienstes keinen Begriff haben. Er führt in die tiefsten Tiefen unterirdischer Finsternis. Er hebt das Persönliche völlig auf und macht aus dem Freien einen Besessenen.«

Erasmus sagte zu sich, daß doch in diesem Schuldirektor wie in den meisten Menschen Belangvolles und Belangloses, oberflächliches Affektwesen und tief Durchdachtes, Törichtes und Bewunderungswürdiges nebeneinander zu finden sei. Und er sagte sich, der Schulmann sei gleichsam wider Willen durch die Proben befruchtet worden und sei nun in bestem Sinne hamlet- und theaterreif.

Man hatte die Instrumente gestimmt, man bat um Ruhe. Das Quartett begann.

Als die Musik zu Ende war, mehr oder weniger tief von den Hörern genossen, sprach Doktor Ollantag von ihrem Komponisten als von Beethoven-Luzifer. So geriet das allgemeine Gespräch, besonders von Erasmus genährt, auf das Luziferische.

»Es durchsetzt alles und steht dort sehr hoch, wo es bewußt empfunden wird.«

»Ob dies aber bei Ludwig van Beethoven der Fall war, ist zweifelhaft«, sagte Ollantag, »obgleich er durchaus und so deutlich wie kein zweiter der luziferische Meister ist. Es ist etwas von dem verdammten und verbannten Cherub und Liebling Gottes in ihm, dem eigenwilligen Demiurgen, in dem das Feuer Himmels und der Erde, schöpferisch vermählt, musikalische Welten wie Gewölke zusammenzieht.«

»In der Tat«, so ergänzte Erasmus, »was in Beethoven musiziert, ist der Gott, wenn auch nicht der gekreuzigte Gott, so doch ein leidender, der, wie dieser, ein Sohn des Allmächtigen ist.«

»Das Luziferische unsrer christlichen Zeit und Dichtung«, erklärte Professor Trautvetter, »wie es sich unter anderm in dem hohen protestantischen Geist Miltons manifestiert, ist wohl ein und dasselbe wie das Prometheische: wie denn der gekreuzigte Christus, mit seiner offenen Brustwunde, dem an den Felsen des Kaukasus geschmiedeten Prometheus überaus ähnlich sieht, an dessen Leber die Geier herumhacken.«

»Der Teufel, der Böse der christlichen Kirche, ist eine niedrige, plumpe, soweit er volkstümlich geworden ist, wenigstens grobianisch-drollige Karikatur.«

Diese Bemerkung machte Luckner, durch das gemeinsame Thema und das gemeinsame Denken angeregt. In der gleichen Richtung fortschreitend, kam er darauf, in Erwägung zu ziehen, ob nicht vielleicht der ganze Olymp mit seinen überaus zahlreichen, unendlich zerteilten Göttern, Halbgöttern, Dämonen, Nymphen, Najaden, Heroen und Heroinen durch Verkleidung, Vergewaltigung, Entmannung, Entwürdigung, Blutentziehung und vor allem Versklavung den widerwärtigen, den häßlichen, den verkrüppelten Pseudoolymp ausmache, der auf die gräßliche Vereinfachung des Universums in eine Stätte des Wohllebens, eine Stätte vorübergehender Quälerei, eine Stätte ewiger Martern scheußlichster Art hinauslaufe.

»Wir sollten uns an einem Abend der Woche zusammensetzen wie Mitglieder einer kleinen Akademie und Diskussionen über das Luziferische abhalten«, so der Maler Cramm. »Was ist es denn anderes als das Dramatische. Und eben durch das Dramatische ist es durchaus und überall in der uns bekannten Welt schöpferisch. Wo keine Lust ist, da ist kein Leid, und wo kein Leid ist, da ist keine Lust. Fehlt aber beides, so fehlt das Leben. Und so ist die Welt, ist das Leben im ganzen, scheint mir, insonderheit aber das Menschliche, die Schöpfung Luzifers. Und wenn Sie mir etwas zu sagen erlauben, Doktor Erasmus: Hamlet, lange vor Beethoven, ist sozusagen ein gefallener Erzengel. Und Beethoven, der sich – er kannte ja Shakespeare – als seinen Bruder versteht, ebenfalls.«

»Ja, es ist unbedingt richtig«, bestätigte Prinzessin Mafalda, »daß selbst im Himmel Lust ohne Leid nicht möglich ist.«

Wiederum nahm Erasmus das Wort:

»Wir sind also wieder beim Theater, einer Kultstätte, die von engstirnigen Zeloten, hiernach gewissermaßen mit Recht, als Teufelskirche verschrien ist. Und in der Tat versteht sie sich selbst als eine durchaus weltliche Institution und nicht wie die Kirche als eine über- und außerweltliche. Wenn aber die Organisation der Kirche als eine durchaus materielle Weltherrschaft unverkennbar ist und imaginierte Werte in Reichtum an Gebäuden, Kunstschätzen, gewaltigen Ländereien und Renten realisiert, so basiert zwar auch das Theater auf einem Schatten- und Scheinwesen, getragen durch einen Nachahmungstrieb, der aber das menschliche Leben zum Vorbild hat und sich voll zu diesem bekennt.

Darüber hinaus, ohne aber etwas Derartiges zu versprechen, führt es, unwillkürlich, allenthalben immateriell im Wesen, über das allgemeine Materielle in das Geisterreich hinaus. Und die höchste Verschmelzung von Himmel und Abgrund, ewigem Licht und ewiger Nacht ist nun einmal das Luziferische.«

 


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