Gerhart Hauptmann
Im Wirbel der Berufung
Gerhart Hauptmann

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Siebentes Buch

Kittys Erscheinung hatte Stil. Die junge Frau liebte Schleier. Der schwarze Crêpe, den sie in Trauer um ihre Schwester trug, war nun über ein schwarzes Barett von feinem Stroh zurückgeschlagen. Zwei dunkle Augen standen feurig in dem weichen Oval des Gesichts, dem sich Erasmus zum Kusse näherte.

Das ist eine Fremde, dachten die Leute, die sie überall, wo sie auftauchte, anstarrten, und vermuteten amerikanische Reichtümer.

Nach einigen Augenblicken konnte Erasmus sich mit gelindem Erstaunen sagen, daß er den Ton von Anfang an richtig gegriffen hatte. Er war naturgemäß auf Eile, ja Hast gestellt, da der Beginn einer ersten Generalprobe zu Granitz in der Tat auf ihn wartete. Kitty wunderte sich nicht über diese Geschäftigkeit, die sie voraussetzte.

In eiliger Wechselrede wurden übliche Fragen und Antworten abgemacht, die sich auf den Haushalt, das Ergehen der Kinder, die letzten Tage und Stunden der Schwester sowie auf Tante Mathilde bezogen. Erasmus meinte, sie werde ihm böse sein, da er ihr lange nicht mehr geschrieben habe, er sei daran aber wirklich unschuldig, denn die Arbeitsüberhäufung ließe ihm keine Zeit.

Wieder und wieder betonte der junge Gatte instinktiv diesen Punkt. Er werde Kitty, ließ er einfließen, auch diesen Morgen wieder vorübergehend verlassen müssen, da er fünf bis sechs Stunden auf der Probe beschäftigt sei. Die kurze Bahnfahrt bedeute wenig; sobald er sich losmachen könne, etwa des Nachmittags gegen sechs, kehre er auf den Flügeln der Liebe, wie er etwas krampfhaft scherzend sagte, zu ihr zurück. Daß sie zunächst hier in Stralsund bleiben, also nicht mit ihm nach Granitz sollte, befremdete Kitty zunächst noch nicht, um so weniger, als er verständliche Gründe anführte.

»Alle diese Menschen da drüben, Leute von sehr verschiedener Art«, sagte er, »sind dir fremd, Kitty. Ich selber werde von der Bühnenarbeit vollständig absorbiert. Sie schluckt mich ein, sie saugt mich auf. Kaum mit einem Blick vermöchte ich mich um dich zu kümmern. In dieser Beziehung ist sogar der Augenblick deines Kommens nicht besonders gut gewählt. Aber es macht nichts. Ich werde die Sache schon einrichten.«

Kitty bemerkte an Erasmus eine große Wesensveränderung, für die sie aber die naheliegende Erklärung fand: er habe Pflichten. Kitty hatte ihm diesen neuen Zustand ja immer gewünscht, ungeachtet des Opfers, das sie dabei bringen mußte.

Der einzige Gasthof am Markt dieser kleinen Stadt wurde aufgesucht und ein hübsches Zimmer darin genommen. Kitty zeigte die beste Laune. Sie konnte sich an dem altertümlichen Platz unter den Fenstern nicht satt sehen. Es war schon ein dramatisches Ereignis, wenn eine Droschke donnernd über die Katzenköpfe der Pflasterung hinwegrollte. Zum Überfluß wurde noch ein Stromer durch einen städtischen Polizisten auf die Wache gebracht.

Gegenüber dem kleinen Hotel, jenseit des Platzes, erhob sich der Ziergiebel des Rathauses und dahinter ein roter Backsteinbau, das ungeheure Massiv einer gotischen Kirche. Alles das zog Kitty lebhaft an, so daß der Augenblick des Alleinseins mit ihr zunächst nicht besondere Anforderungen an das Heuchlertalent des Gatten stellte.

Kitty strahlte bräutliches Glück und eine neue Jungfräulichkeit. Die Verwandlung, von der sie geschrieben, war in der Tat in ihr vorgegangen. Es lag ein gewisser Stolz über ihr, als ob sie mit allem, was sie sei und bedeute, dem Gatten ein Geschenk bringe. Wie nie zuvor, schien sie mit sich selbst, ihrem Lose und mit Erasmus zufrieden zu sein.

Dies alles mußte Erasmus aufgehen. Die Seele, von anderen Dingen bewegt und erfüllt, konnte doch dem entschleierten Bilde eines gleichsam wiedergeborenen Weibes nicht in Kälte und Fremdheit standhalten. Überall neue Menschen, blitzte es ihm durch den Kopf. Irina da, die Prinzessin dort, und hier ebenfalls eine völlig neue, eine schöne, in sich vollendete Frau, die, als moralische Schöpfung ihrer selbst, jenen beiden andern weit überlegen schien.

Erasmus trat an Kitty heran und strich ihr über das blauschwarze Haar, das die Ohrmuschel bis an die Läppchen bedeckte. Nach orientalischer Weise hingen dicke goldene Ringe daran, die bis unter den Ansatz des Kiefers herunterreichten. Und so – die Gatten standen Auge in Auge, die ihren schwarz, die seinen hell! – erzählte Kitty mit Drolerie, wie man sie auf der Reise allenthalben verwöhnt habe. Ein Gepäckträger habe gefragt: »Sie sind wohl Brasilianerin?« – »Sie kommen wohl von weit her?« ein Bahnschaffner. Und dieser Bahnschaffner hielt sie während der Fahrt geradezu eifersüchtig wie ein Sultan seine Haremsfrauen und ließ niemand, alt oder jung, Mann oder Weib, in ihrem Kupee Platz nehmen.

Sie hatte mit ihren Plaudereien bereits eine gute Weile aufgehört, als Erasmus sie immer noch anblickte. Es schien, er verlor sich förmlich in ihr, als ob seine Seele durch seine und ihre Augen in Kitty hinabtauchte. Um sich zu baden? Er hätte es selber nicht sagen können. Sicher ist, daß ihm alles seit der Trennung Erlebte durch sein Inneres ging, nicht aber qualvoll grüblerisch, sondern als eine gottgewollte, nicht finstere, sondern eher lichte Nachdenklichkeit. Er hätte sich nicht verwundert, wenn sie ein und dasselbe gewesen wäre mit den Vorgängen hinter Kittys Stirn. Ja, er würde die Einheit innig gewünscht haben.

In diesem Zustand erlitten Irina und Prinzessin Ditta ihren Untergang, mit ihnen zugleich auch das ganze Granitz. Restlos sank es, Zirkusplatz, Schloß und Park, Schuldirektor, Fürst, Mafalda, Gärtnerei mit Frau Herbst, Sommertheater, Georgi, Syrowatky, Jetro mit allem, was in ihm war, in das Erdinnere oder in eine steigende Flut wachsender Seligkeit, auf deren Oberfläche nur Erasmus, Kitty und die Kinder, übriggeblieben, in einem goldenen Nachen dahinglitten.

Dies war die Lage, als Kitty mit einem Male auf eine unnatürliche Weise erbleichte, während ein handtellergroßer Fleck ihr am Hals bis zum Ohr, dunkel umrissen, zu glühen begann.

Erst diese Veränderung brachte Erasmus zum Aufwachen.

»Was hast du? Was ist geschehen?« fragte er bestürzt, denn er wußte, wie sehr seine Frau durch einen organischen Fehler am Herzen gefährdet war. Sie hatte damit allerdings Geburten überstanden und konnte, wie die Ärzte erklärten, alt werden, aber es war nicht leicht zu nehmen, wenn ein Anfall von Herzschwäche sich ohne äußeren Anlaß einstellte. Erasmus dachte flüchtig daran, die Freude des Wiedersehens verantwortlich zu machen. Aber nein, das war es nicht. Es sei überhaupt nichts, erklärte Kitty, es sei eine nicht bedeutende Kleinigkeit, die Erasmus die Laune nicht trüben solle. So kehrte denn auch in der Tat die natürliche Farbe sehr bald in das Antlitz Kittys zurück.

Als man jedoch auf andre Dinge gekommen war und kurze Zeit von diesem und jenem geredet hatte, nahm Kitty plötzlich Erasmus beim rechten Handgelenk, hob ihm die Hand vor das eigene Auge und sah ihn mit einem sich wiederum völlig entstellenden Antlitz an. Und nun wußte Erasmus mit einemmal – ein heftiger Stich durch sein eigenes Herz war mit diesem jähen Begreifen verbunden –, was Kittys Wesen so plötzlich vergiftet hatte. Er hatte vergessen, eine Erbärmlichkeit zu vertuschen, die ihn im Parkett des Theaters zu Granitz eines Tages bewogen hatte, seinen Ehering in die Tasche zu stecken.

Er fehlte an seiner rechten Hand.

Das erste, was Erasmus zur Erklärung vorbrachte, war nicht von der Art, um die junge Frau sogleich zu beruhigen. Es gäbe in Granitz keinen Menschen, sagte er, der nicht wisse, daß er verheiratet sei und außerdem zwei Kinderchen habe. In der aufgescheuchten Seele Kittys gebar sich sogleich der feine Spürsinn der Eifersucht. Ein junger Ehemann konnte Grund haben, sich durch die immerwährende Betonung seiner Gebundenheit, selbst wenn man sie kannte, im Verkehr mit Frauen gestört zu sehen. Selbst nur vorübergehend beiseite gestellt zu werden, litt der Stolz seines Weibes nicht. Was er auch für Worte verschwendete, sie vermochten Kittys Antlitz nicht aufzuhellen.

Sie stand, sie sah ihn an und schwieg. Als sie dann einen Augenblick lang ihre funkelnd beringte weiche Hand auf die Augen gelegt hatte, wendete sie sich von ihm ab und trat, immer noch schweigend, an ein Fenster. Als er ihr dann begütigend von rückwärts die nun wieder mit dem Ringe versehene Rechte über die Schulter vor Augen hielt, trat sie unvermittelt durch eine halb geöffnete Glastür auf den Balkon, der zu den niedrigen Zimmern gehörte. Erasmus, beschämt aufs tiefste, folgte ihr nicht.

Auf den knarrenden Dielenbrettern auf und ab schreitend, biß er die Lippen und sann, wie er die drohende Wendung zum Schlimmen in dieser Begegnung aufhalten könnte. Ein einziger Augenblick hatte alle Zuversicht, alles Vertrauen, alle Sicherheit, alles Glück aus dem Wesen Kittys hinweggefegt. So stand sie draußen auf dem Balkon, der nun die Augen der Passanten auf sich zog, im schwarzen, eng anliegenden Kleid, nun erst der Trauer wahres Bild.

Wie dieses Schwarz doch Kitty kleidet, hatte Erasmus sich überrascht bei ihrem ersten Anblick gesagt und dabei ihren weichen und schlanken Wuchs bewundert. Ein still gezogener Vergleich mit Granitz zwang ihn zu gestehen, daß ihm dort eine so aristokratisch feine Erscheinung nicht begegnet war.

Minute auf Minute verging, während er vergeblich auf die Rückkehr Kittys ins Zimmer wartete. Sie stand, den Rücken ihm zugekehrt, und er konnte nur ihr verlorenes Profil sehen, wenn sie den Kopf ein wenig wendete. Gelegentlich einer solchen Bewegung sah er, daß ihre Wange von Tränen befeuchtet war und sie also Zeit gewinnen, sich fassen wollte.

Oder waren es andere Gedanken, die auf sie eindrangen und mit denen sie fertig zu werden wünschte, ehe sie wieder vor den Gatten trat?

Und in der Tat, als es später geschah, war sie der Tränen noch keineswegs Herr geworden, aber es schien in ihr ein Entschluß gereift zu sein. Erasmus wollte sie in den Arm nehmen, was sie abwehrte. Sie solle eine Nichtigkeit, der, wie er log, nicht die geringste Bedeutung zukomme, nicht zu widersinniger Tragik aufbauschen. Er wußte selbst nicht, wie es ihm über die Lippen kam, als er sie nun zu bewegen versuchte, statt hier zu warten, sogleich die Fahrt nach Granitz anzutreten, um sich der völligen Harmlosigkeit aller dortigen Umstände zu vergewissern.

Nein, nach Granitz, gab sie zur Antwort, gehe sie nicht, sie werde allerdings auch nicht hierbleiben. Indem sie sich von ihren Kindern getrennt habe, die den höchsten Anspruch auf die Mutter hätten und die ja doch ihr ein und alles auf Erden seien, habe sie töricht gehandelt und die Pflicht verletzt. Sie werde noch heute nach Hause zurückkehren. –

Hatte der abgestreifte Ehering eine schmerzliche Entzweiung bewirkt, so sollte ein anderer Unstern diese noch vertiefen und die Wiedersehensstunde zu einer der peinlichsten im Leben der jungen Gatten machen.

 

Kitty hatte sich ausgeweint. Dem innigen Verschlungensein mit Erasmus konnte zuletzt im Gemüt der liebenden Frau nur ein weiches und hingegebenes Schmollen standhalten. Von Zeit zu Zeit zu Erasmus aufblickend, zog sie ihm selbst den Ring vom Ringfinger, gleichsam spielend und gedankenvoll, und steckte ihn zu dem eigenen auf die Hand. So drückte sie aus, wie ein Mann für seine Frau gestorben sei, sie zur Witwe gemacht habe. Im gleichen zärtlich ernsten Spiel, das mit Küssen der Inbrunst endete, wanderte der Ring auf den Finger des Geliebten zurück.

Aber der Gatte mußte sich losreißen, wenn er nicht die abendliche Probe versäumen wollte. Sie zu verwünschen und damit seinen ganzen aufgehalsten Pflichtenkreis, war ihm leicht. So versäumte er nicht, von einem Sturme wahrer Gefühle lügenhaften Gebrauch zu machen.

Die arme Kitty tröstete ihn.

Nein, sie wolle nicht mit nach Granitz, sie komme bestimmt erst zur Aufführung, wo man unter dem Publikum verschwinden könne. Er möge sich um sie nicht sorgen, zumal da sie, wie er wisse, zu denen gehöre, die sich niemals langweilen. Auch habe sie ja als Feld für Entdeckungsreisen die alte, in ihrem Reisebuch so verlockend geschilderte Stadt. »Nicht allzusehr habe ich mich bewährt in dem, was ich versprochen habe«, sagte sie dann, »aber, bitte, gib die Hoffnung nicht auf. Ich weiß es, ich bin zu empfindsam und habe vielleicht noch hie und da Rückfälle: jedes kleine Wölkchen am Himmel seh' ich als künftiges schweres Gewitter an. Ich habe mich schon gebessert darin, muß mich aber noch mehr bessern. Verliere nur deinen Glauben nicht, so wirst du noch einmal eine leidlich gute, leidlich verständige Frau haben.«

Als sie unter solchem Geplauder ihm in den grauen Regenmantel half, wuchs in Erasmus Liebe zu Bewunderung, und es war, als ob ihn sein Weib mit einer neuen Rüstung ausgestattet habe. So bewehrt, denkt er, werde ich doch schließlich noch unversehrt aus dem Granitzer Fegefeuer hervortreten.

Da will es der Dämon, daß er in den Taschen des Jacketts und des Regenrocks vergeblich nach einem Schnupftuch greift. Kitty, die seine Zerstreutheit kennt, unterstützt ihn dabei und hilft ihm suchen, sie zieht aus der linken Manteltasche einen gebrauchten, duftigen, weißen Damenhandschuh heraus – aber schon hat sie ihn wieder darin verborgen.

Dies war blitzschnell und unbemerkt von Erasmus geschehen. So kam nur ein ratloser Schrecken über ihn, als er Kitty sich wieder, und zwar bis in ein bleiernes Grau, verfärben sah. Es war ein Anfall schwerster Art, erkannte er, wie er ihn an ihr nur einmal erlebt hatte. Sie rang nach Luft, es gingen beim verzweifelten krampfhaften Einatmen röchelnde Laute aus ihrer Luftröhre, und er dachte nicht anders, als daß sie im nächsten Augenblick den Erstickungstod erleiden müsse.

Gott sei Dank war der Arzt, da er gegenüber wohnte, sofort zur Stelle, und es gelang ihm den Krampf zu stillen, so daß ein tiefer Schlummer ihn ablöste.

Seltsamerweise traf Erasmus, selber fast zerschlagen, außer dem Arzte auch dessen Frau im Nebenzimmer. Beide hatten ein überraschend mondänes Aussehen. Erasmus war nicht grade behaglich in ihrer Gegenwart, da sie, so schien ihm, über ihn förmlich hinwegsahen. »Sie ist es«, sagte die Arztfrau, »ganz ohne Zweifel.« – »Nun gut«, darauf mit Bestimmtheit ihr Mann, »dann bleibst du jetzt hier, bis Schwester Josefa dich ablösen kommt.«

Erasmus erklärte dem Arzt obenhin die Verpflichtungen, die ihm oblagen, und wollte wissen, ob er überhaupt Kitty verlassen könne, um ihnen nachzukommen. »Sie sind hier ganz unnütz«, antwortete ihm in einer recht wenig respektvollen Weise der Arzt. »Es steht nichts im Wege, wenn Sie sich auf und davon machen.«

Erasmus hielt an sich, wenn auch verdutzt, und wollte wissen, ob etwa Lebensgefahr für Kitty bestünde. Nein, Lebensgefahr bestünde nicht, außer etwa, falls er dabliebe und die Erregungen, deren Ursache er ja sei, einen neuen Anfall hervorriefen.

»Mit welchem Recht gebrauchen Sie diesen Ton gegen mich?«

»Weil diese Dame, die aus einer ersten Familie stammt, eine Schul- und Pensionsfreundin meiner Gattin ist und ich mit ihr die menschliche und ärztliche Betreuung in die Hand nehme.«

»Was nehmen Sie in die Hand, wenn ich fragen darf?«

»Wenn Sie das genauer wissen wollen, kommen Sie mit mir über die Straße, ich wohne ja nur zwei Schritte von hier. Ich treffe dort meine weiteren Maßnahmen. Gegenüber jungen Menschen Ihresgleichen ein Blatt vor den Mund zu nehmen, liegt mir nicht. Was Sie mit Fug zu wissen wünschen, wird man Ihnen nicht vorenthalten. Hier aber ist nicht der Ort dazu.«

Erasmus wußte selbst kaum, wie er über die Straße und in das Konsultationszimmer des Arztes gekommen war. Der gänzlich unprovinzielle, elegante Mann telephonierte zunächst die Pflegeschwester heran. Dann schien ihn, nach einem gedankenlosen Blick auf Erasmus, der ärztliche Automatismus zu überfallen. »Dort ist der Diwan, es genügt, wenn Sie sich bis zur Hüfte ausziehen.«

»Ich bin nicht meinetwegen hier, ich habe nicht die geringste Neigung und keinerlei Absicht, mich untersuchen zu lassen.« – »Warten Sie einen Augenblick.«

Hatte der Arzt sich anders besonnen? An seinem Schilde stand: Dr. Oberdieck, Nasen-, Kehlkopf- und Lungenspezialist. Oder was schoß ihm sonst durch den Kopf? Der verwirrte Erasmus konnte daraus nicht klug werden.

»Meines Erachtens habe ich Sie schon einmal gesehen. Wo es gewesen sein kann, weiß ich im Augenblick nicht. Es ist vielleicht auf der Jagd gewesen. Ja, ja, nun besinne ich mich, es war vor ungefähr vierzehn Tagen. Ich ging am Rand eines Kornfeldes hin, und nach gewissen Anzeichen in der Bewegung der Halme und Ähren nahm ich an, es stünde ein äsender Rehbock darin. Sie werden rot, Sie scheinen zu wissen, worauf ich hinziele.«

»Weder werde ich rot, noch interessiert es mich überhaupt in diesem für mich tief sorgenvollen Augenblick, was Sie, Herr Doktor, auf der Jagd erlebt haben. Auch weiß ich durchaus nicht, warum Sie mich dieser Erzählung würdigen.«

Ganz unbeirrt, seinem sprunghaften Wesen anheimgegeben, sagte darauf der ärztliche Gentleman: »Halt, Sie sind Schmierenkomödiant. Als Sie sich nämlich mit einem hübschen, blutjungen Mädchen aus dem Kornfeld herausdrückten, habe ich Sie sehr lange verfolgt. Hernach sind Sie mit ihr, was mir imponierte, durch einen Seitenarm des Boddens gegangen. Ich kam zwei Stunden später vor dem Kramladen einer Fischerwitwe an, wo ich manchmal zu nächtigen pflege, fand aber, da Sie und Ihre Dulzinea mir zuvorgekommen waren, keine Unterkunft. Ich konnte nur noch in der Wohnstube einige Gläser heißen Grog trinken.«

»Warum Sie mir diese recht romantische Geschichte erzählen, begreife ich nicht.«

»Romantisch ist eigentlich die Geschichte nicht, ebensowenig wie die heutige. Begreife der Teufel, warum die Frauenzimmer auf solche verkrachten Existenzen, solche sittenlosen Komödianten versessen sind! Sie können einem wahrhaft leid tun. Schließlich aber bin ich Arzt, und alle diese verkommenen Halbgenies, die manchmal einen edlen Kern haben und nur durch schlechte Gesellschaft korrumpiert worden sind, machen mir auch wohl mal Kopfzerbrechen. Durch die Weiber ruiniert, gehen sie ja doch schockweise vor die Hunde. – Aber wie kann eine Dame, ein Fräulein wie die gediegene, schöne und reiche Freundin meiner Frau, sich mit jemand aus diesem Lager einlassen?!«

Kaum wußte Erasmus, wie er sich diesem burlesken Vorgang gegenüber verhalten, ob er lachen oder wüten sollte. »Verzeihen Sie«, sagte er, »ich bestreite ganz entschieden die Treffsicherheit Ihrer Psychologie. Die Kornfeldgeschichte beiseite gelassen, von der Sie wohl nicht verlangen, daß ich sie irgendwie auf mich selbst deute, diene Ihnen folgendes zur Berichtigung: Ich habe Philosophie studiert und bin nicht Schauspieler. Bei allem Respekt vor den Anrechten Ihrer Frau als Jugendfreundin der leidenden Dame drüben habe ich doch noch größere Anrechte, da diese Dame Frau Gotter heißt, also meinen Namen trägt, und aus meiner Ehe mit ihr bereits zwei Kinder hervorgingen. – Haben Sie nun also die Güte, Herr Doktor, nicht ferner auf meine geringe und hier nebensächliche Person abzuschweifen und mir zu sagen, ob ich gewissen unumgänglichen Anforderungen in Granitz und zugleich den Ansprüchen meiner leidenden Frau an mich gerecht werden kann?«

Der Arzt veränderte seinen Ton.

»Trotzdem sind Sie der Mann aus dem Kornfeld«, sagte er, »ich schweige darüber zu jedermann, lasse mich aber davon nicht abbringen. Eine Erscheinung wie die Ihre, ein Gesicht wie das Ihre prägt sich ein. – Die neue, allerdings nicht leicht zu begreifende Tatsache schafft für mich aber eine doppelte Verantwortung. Sie sind mir nun mal in den Wurf gelaufen. Ehezwiste in jungen Ehen bedeuten ja zunächst weiter nichts, man braucht auch die Liebe nicht allzu genau zu nehmen. Dafür aber die Gesundheit, mein Sohn.

Glauben Sie nur nicht, daß ich ein Patientenjäger bin, auch ohne Praxis reicht das Vermögen meiner irischen Frau zu einem standesgemäßen Leben. Ihre Ehehälfte ist morgen früh wieder auf dem Damm. Wenn sie sich schont, kann sie hundert Jahre leben. Aber was Sie selber betrifft, Sie müssen ein neues Leben anfangen, und zwar, sage ich Ihnen, im Augenblick, wenn Sie nicht binnen ein, zwei Jahren den Weg alles Fleisches gehen wollen.«

Nach Verlauf einer kleinen halben Stunde hatte die ärztliche Generaluntersuchung stattgefunden. Doktor Oberdieck bedeutete ihm, er möge sich anziehen. »Sie können von Glück sagen«, fuhr er dann fort, »daß Sie an mich geraten sind. Es ist alles noch ärger, als ich gedacht habe. Fisimatenten mit Leuten wie Sie, die ohne alle Vernunft in ihre Gesundheit hineinwüten –, Fisimatenten macht man da nicht. Wenn man ihnen nicht rücksichtslos mit der ganzen Wahrheit auf die Zehen tritt, kann man bei solchen Naturen nichts ausrichten. Also zunächst mal: Sie haben 37,6 Temperatur, Ihre beiden Lungenspitzen sind angegangen. An der rechten Lunge sind außerdem andere bedenkliche Stellen. Ihre Herztöne sind nicht rein. Wenn Sie sich Ihrer Frau, Ihren Kindern erhalten wollen, so gibt es nur eine Parole für Sie: Sie müssen, und zwar sofort, nach Davos.«

Erasmus dachte: Was da alles im Augenblick über mich kommt, wäre immer noch reichlich genug, wenn es sich auf Jahre verteilte. Aber man soll den Teufel nicht an die Wand malen. Schwebte mir nicht noch auf dem Dampfer der Wasserpolizei etwas wie Flucht in die Krankheit vor, und nun sie sich mir aufzwingt, wie mir scheint, würde ich gern darauf verzichten.

»Knall und Fall nach Davos reisen«, sagte er, »kann ich nicht, wenigstens nicht, ehe ich meine Granitzer Aufgabe gelöst und mich aus allen Verpflichtungen dort herausgewickelt habe.«

»Andere Verpflichtungen, andere Aufgaben, als gesund zu werden«, beharrte der Arzt, »kann es für Sie nicht mehr geben und gibt es nicht.«

Es blieb Erasmus nun nichts übrig, als diesen despotischen Menschen und Arzt in die ganze theatralische Hamlet-Affäre am Hofe des Fürsten einzuweihen.

»Es ist mir nicht recht«, hieß es darauf wiederum, »doch ich sehe freilich: Sie müssen durchhalten. Morgen also ist Generalprobe, übermorgen die Vorstellung. Überübermorgen, also Dienstag, können Sie alles Weitere abwickeln. Mittwoch früh erscheinen Sie wieder bei mir, und ich habe dann alles, was notwendig ist, mit Ihrer Frau durchgesprochen.«

»Ich soll also meine Frau hier allein lassen?«

»Ich würde es Ihnen, selbst wenn Sie hier blieben, nicht erlauben, zu ihr zu gehen. Meine Frau, ihre Freundin, ist gerade die rechte Gesellschaft für sie. Ihr wird sie ja wohl ihre Seele ausschütten, wobei sie sich dann plus vernünftigem Zuspruch meiner Frau beruhigen wird. Natürlich basiert der erlittene Nervenschock, wie immer in jungen Ehen, auf Eifersucht. Diese wird ganz von selber zurücktreten, wenn sie es einmal weiß, was mit Ihnen ist und geschehen muß.«

»Ich verlange von Ihnen«, erklärte Erasmus, »Offenheit.«

»Ich habe es nicht daran fehlen lassen.«

»Bin ich in Lebensgefahr oder nicht?«

»Das wird ganz allein von Ihnen abhängen. Ein Jahr in Davos kann Sie völlig gesund machen. Das Gegenteil kann geschehen, und für den Ausgang kann niemand gutsagen, wenn Sie irgendwie über die Schnur hauen.«

 


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