Gerhart Hauptmann
Im Wirbel der Berufung
Gerhart Hauptmann

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Zweites Buch

Einige Tage nach den zuletzt berichteten Vorgängen war Erasmus mit einem ausgewählten Kreise von Theatermitgliedern zum Tee bei Mario Syrowatky im »Fürstenhof«. Der reiche Volontär wollte für seine fixe Idee, eine Hamlet-Vorstellung mit ihm selbst in der Hauptrolle, werben. In zwei etwas verstaubten Prunkräumchen des Hotels wurden Kaffee, Tee, Schokolade, Konditorgebäck, belegte Brötchen und Liköre serviert, wobei die Hamlet-Frage erörtert wurde. Es war ersichtlich, daß Syrowatky seine Kollegen für den Plan willig gestimmt hatte. Man brauchte über die Mittel sich den Kopf nicht zerbrechen, durch die das Wunder gelungen war. Man durfte es wohl als Wunder ansehen, wenn ein junger talentvoller Bursche wie Erich Sündermann, der auf die Rolle des Hamlet als Erster Liebhaber Anspruch hatte, sich mit Laertes begnügte.

Mario Syrowatky litt, außer in einer Beziehung, an Geiz, und die Ausnahme davon trat überall dort in Wirksamkeit, wo seine Spielwut in Frage kam. Hier warf er das Geld unbesehen hinaus. Nicht nur dem Direktor, auch den Schauspielern kaufte er Rollen und Abende ab, die er trotzdem erbetteln mußte. Für zwanzig Mark stellte der Darsteller des Karl Moor sich krank und ließ ihn als Ersatz einspringen. So schmarotzte er um das Theater herum und das Theater um ihn desgleichen.

Aber schließlich waren sie ja etwas Rührendes, diese Liebe zur Schauspielkunst und dieser unermüdliche Sturmlauf gegen die Pforten des Tempels Thaliens. Und Erasmus fragte sich oft, warum man es Syrowatky so schwermache, dessen Talent seiner Ansicht nach nicht geringer als das irgendeines der Mitglieder war.

In dieser Meinung vereinigten sich übrigens Erasmus, Armin Jetro, Baron von Cramm und der Bibliothekar des Fürsten, Doktor Ollantag. Oft hatten sie untereinander darüber gesprochen. Und da Jetro, Cramm und Ollantag auch zugegen waren, konnte man den Tee im »Fürstenhof« als eine Art Komplott hinter dem Rücken Georgis ansprechen.

Der Bibliothekar, ein überaus feines und kluges Männchen mit Brille und Zwicker, erzählte, den Zucker in der Teetasse umrührend, er habe beim Fürsten vorgefühlt und ihn der Idee einer Vorstellung des Shakespearischen Stückes an seinem Geburtstag geneigt gefunden. Man müsse ihn nunmehr so weit bringen, daß er die Besetzung der Rolle des Hamlet mit Syrowatky Direktor Georgi unter die Hand gebe. Auch das würde zu erreichen sein.

Jetro redete nun in einem beinah offiziellen Ton Erasmus an und fragte ihn, ob er, gemäß seiner vor etwa einer Woche geäußerten Idee, die Proben leiten, das Stück also inszenieren würde.

Leopold Miller, der Komiker, ein älterer Schauspieler, lachte nach diesen Worten in sich hinein. »Wenn schon der Hamlet kein Berufsschauspieler ist«, platzte er gleichsam heraus, »so wird man doch wohl um so mehr einen zünftigen Regisseur brauchen. Sonst stehen wir schließlich in Gefahr, uns bis auf die Knochen zu blamieren.

Sie entschuldigen freundlichst, Doktor Gotter, aber ohne Erfahrung, ohne erprobtes Können geht es nun einmal beim Theater nicht.«

»Ich gebe Ihnen das gern zu, Herr Miller, und ich habe auch keineswegs bis jetzt auf die Frage meines Freundes Jetro mit Ja geantwortet. Immerhin muß man zugeben, daß Talente mitunter angeboren sind.«

»Nach den Gesprächen, die wir geführt haben«, sagte Ollantag, »hätte ich volles Vertrauen zu Doktor Gotter. Man könnte ja aber die Sache so aufziehen, daß man sie vom Berufstheater als eine freie Huldigung für den Fürsten gänzlich loslöste, Georgi und seine Truppe blieben dann ohne alle Verantwortung.

Das würde dem Fürsten übrigens weit mehr schmeicheln und eine viel größere Freude sein als eine reguläre Theatervorstellung unter vielen.«

Vater Miller zuckte die Achseln.

Zwischen Erasmus und Jetro, Jetro und Syrowatky, Erasmus, Syrowatky und Ollantag hatten, wie man spürte, bereits Besprechungen stattgefunden.

»Selbst auf die Gefahr hin, Sie noch mehr zu erschrecken, lieber Miller, bitte ich jetzt Herrn Doktor Gotter, uns über seinen eigenen verbesserten Hamlet-Text zu berichten, den er, falls er die Vorstellung wirklich leiten sollte, zugrunde legen will.«

»Ich hab's ja immer gesagt«, rief etwas gezwungen lachend der Komiker, »daß dieser verdammte Pfuscher Shakespeare nun doch endlich einmal zurechtgerückt und verbessert werden muß. «

»Na! na! na! na!« sagte Syrowatky und klopfte ihm auf die Schulter, »seien Sie friedlich, wir werden uns einigen! Sollten auch alle Stränge reißen, ein realer Gewinn muß immer zurückbleiben.«

»Nun, wozu ist man denn Lustigmacher, Bajazzo, Hanswurst? Eine Hanswurstiade kann ich schon mitmachen.«

Ohne daß er durch das Verhalten Millers berührt erschien, erklärte Erasmus: »Es gibt eine Shakespeare-Forschung, wie man wissen muß, und man muß auch sozusagen ihr Abc kennen. Originale Texte von Shakespeares eigener Hand gibt es nicht, die vorhandenen sind vielleicht ein Jahrzehnt nach Entstehung der Stücke vom Zuschauerraum aus nach Möglichkeit textlich notiert worden und übrigens untereinander verschieden. Aber ich will Sie weiter nicht langweilen.

Wenn Sie dagegen mir fünf Minuten Gehör schenken wollen, so werde ich Ihnen ein Hamlet-Szenarium vorlesen:

Der Student Hamlet ist zum Begräbnis seines Vaters, König Hamlets, von Wittenberg nach Helsingör in Dänemark zurückberufen.

Seine Mutter verheiratet sich mit dem Bruder seines Vaters, Claudius, und macht diesen zum König.

Das Recht des Thronfolgers auf den Thron wird dadurch unter die Füße getreten und der Thron usurpiert.

Der Thronfolger und Student will nach Wittenberg zurück. Der Wunsch wird ihm versagt.

Der Geist des verstorbenen Königs Hamlet erscheint einigen Studienfreunden des Kronprinzen und dann dem Thronfolger Hamlet selbst. Er, der einstige König, sei von Claudius, seinem Bruder, ermordet worden und fordere den betrogenen Thronfolger zur Rache auf.

Hamlet sagt sie zu.

Da er noch immer leisen Zweifel an der Realität der Geistererscheinung hegt, macht er bei dem vermutlichen Mörder und Thronräuber den Detektiv.

Der Mörder und Thronräuber Claudius glaubt das zu spüren: er wird mißtrauisch gegen den Stiefsohn und übervorteilten Thronfolger.

Der Thronfolger läßt ein Schauspiel vorstellen, bei dem sein Stiefvater, König Claudius, als Zuschauer gegenwärtig ist. Es wird ›Die Ermordung Gonzagos‹ gespielt, die im Garten vor sich geht, genau so, wie König Hamlet als Geist die eigene Ermordung durch seinen Bruder geschildert hat. König Claudius kann sein böses Gewissen nicht verbergen, halb ohnmächtig verläßt er das Schauspiel: für die Wissenden überführt.

Nun ist er zum tödlichen Gegner Hamlets gemacht, und Hamlet wird sein tödlicher Gegner.

Aber Claudius hat die Macht, er verbannt den Thronfolger und gibt ihm zwei Erzhalunken, zwei Mörder, als Begleiter mit. Sie heißen Rosenkranz und Güldenstern. Ehe Hamlet mit ihnen das Schiff betritt, sagt er unter anderm, er werde seine Gegenmaßregeln treffen und seine Minen tiefer graben als der Throndieb Claudius.

Die Schiffsmannschaft tritt auf Hamlets Seite, sie landet wieder in Dänemark, nicht in England, dem Bestimmungsort.

Kronprinz Hamlet verbindet sich vorübergehend mit einem bewaffneten Feinde Dänemarks, sendet einen Matrosen an König Claudius, als ob er schiffbrüchig und hilflos gelandet wäre, steht aber am folgenden Tage an der Spitze eines dänischen Aufstandes und stellt den Thronräuber, bis an die Zähne bewaffnet, mit bewaffneter Macht im Schloß zu Helsingör: ›Du schnöder König, gib mir meinen Vater!‹

Es gelingt seiner Mutter, gelingt dem Thronräuber, ihn zu beschwatzen, er sei am Morde des Vaters unschuldig. Claudius schlägt einen Gerichtshof vor, bis zu dem die Waffen ruhen sollen und der über seine Schuld oder Unschuld entscheiden soll. ›Ich trete zurück, und dein ist der Thron, wenn auch nur ein Schatten von Schuld auf mir zurückbleiben sollte.‹

Hamlet hat aus Versehen einen alten Kämmerer namens Polonius umgebracht. In der Zwischenzeit wird nun von Claudius der Sohn dieses Kämmerers zur Blutrache am Thronfolger angestiftet.

Es kommt zu einem Scheinduell, das ein wirkliches ist, und in diesem wird der Thronfolgerprinz durch Laertes, Polonius' Sohn, umgebracht, Claudius und Laertes durch den Thronfolger, während die Ehebrecherin, Königin und Mutter Hamlets, durch ein Versehen sich selbst den Tod bereitet.

Hier haben Sie das rein präparierte Skelett des Stückes, sein Fleisch und Blut ist eine Sache für sich.«

Erasmus schwieg, ein wenig nervös und außer Atem gebracht, und Jetro ergänzte mit folgenden Worten:

»Da wir Grund haben anzunehmen, daß die hier gegenwärtigen Künstler mit der kommenden Besetzung des Werkes zusammenhängen, haben wir Kopien dieses Knochengerüstes angefertigt, und ich gebe hiermit« – er tat es – »jedem unserer Freunde eine zum näheren Studium in die Hand. Damit beginnt, da der offizielle Teil vorüber ist, wie es im Jargon des Studenten heißt, die ›Fidelitas‹. Diskussionen werden ja schließlich, bevor wir am Ziel sind, öfter stattfinden.«

In diesem Augenblick sauste ein Tennisball durchs offene Fenster herein und riß, vom Spiegel zurückprallend, einen Sahnengießer und eine Teetasse um. Man war verstummt, und in die Stille rief eine wohlklingende weibliche Lausbubenstimme:

»Ihr Bande amüsiert euch dort oben! Warum ladet ihr uns nicht ein?«

»Es ist die junge, burschikose Prinzessin Ditta«, sagte halblaut und mit allen Zeichen des Respektes Doktor Ollantag, »der schönste und amüsanteste Gast, den die Residenz je beherbergt hat.«

Schon wirbelte Mario Syrowatky im Treppenhaus über die Stufen hinunter. Bald darauf führte er die junge Dame und ihren Begleiter, Oberhofmeister Bourtier, herauf.

Man hörte die Herrschaften lachen und lachen, bevor sie eintraten. Als sie erschienen, lachten sie noch.

Der Grund war ein seltsames Holzgebilde, dunkel poliert, das die junge Prinzessin Ditta über sich hielt: zwei häßliche Wilde, nackt, mit dickem Nabelknopf, die, kniend, einander fast mit gespitzten Mündern berührten. Diese Negerplastik hatte der Wirt des Hotels, ein früherer Schiffskapitän, mit vielen anderen aus Afrika heimgebrachten im Treppenhaus aufgehängt und aufgestellt, und hier war sie der Dame aufgefallen und hatte bei ihr einen Sturm von Heiterkeit ausgelöst.

Ditta war, wie Erasmus erkannte, der Apoll, den er im Park an der Seite des fürstlichen Rollstuhls erblickt hatte. Er gestand sich, sie sei sehr schön, obgleich sie ihn nicht tiefer entzündete. Mit dem Blick unwillkürlich zu Irina abirrend, fand er deren Haupt dagegen so bestrickend wie nie. Sie hatte, Gott weiß warum, ihr Antlitz gesenkt. In langen Wellen hing ihr das offene Haar von den Schultern: die Sünderin war das edelste Bild einer büßenden Magdalena, das irgend aus der Hand und dem Pinsel eines begnadeten Meisters hervorgehen konnte.

Den davon hingenommenen Erasmus Gotter trafen die Worte des Oberhofmeisters Bourtier wie ein unsichtbarer Peitschenschlag: »Ah, da ist auch die Perle im Golde unseres Theaters, zugleich die schönste Blume der fürstlichen Orangerie am Zirkusplatz, Mademoiselle Irina Bell.«

Erasmus war über sich selbst bestürzt, da er sich seit dem Besuch Irinas im Gärtnerhaus, der ihn durchaus ernüchtert hatte, von seiner Schwäche für sie befreit glaubte: nun aber strömten Wut, Verzweiflung, Eifersucht ganz unerwartet und mit der Macht eines Schleusenbruchs wiederum auf ihn ein. Jetro wurde besorgt um ihn, er sah ihn abwechselnd rot und blaß werden.

Es wurden Liköre, es wurde Champagner gebracht und Süßigkeiten aufgetragen. Die Ehre war groß, die dem Volontär Syrowatky durch den Besuch der Prinzessin-Durchlaucht und des Oberhofmeisters widerfuhr.

Durch Doktor Ollantag wurde Erasmus trotz seines inneren Sträubens der apollinischen Prinzessin und dem Oberhofmeister vorgestellt, die ihn bisher nur vom Sehen und Hören kannten. Bourtier wünschte freundlich zu sein, wirkte jedoch auf das junge Genie durch Herablassung aufreizend. Prinzessin Ditta erübrigte keinen Blick und kein Wort für ihn.

Ob durch seine eigne Einsilbigkeit oder durch das Betragen der anderen gestört, er machte sich sehr bald ohne Abschied davon.

Auf dem Heimwege schwur er sich, dem byzantinischen Treiben des Hofes fernzubleiben und sich von jetzt ab auch dem Hamlet-Projekt in jeder Beziehung fernzuhalten. Sowohl der latente Hochmut der Leute nach Art des eben erlebten Bourtier als auch der Ohrwurmwettlauf seiner neugewonnenen Freunde bestärkten ihn wieder in dem Entschluß, Unabhängigkeit im härenen Kittel als ein weit höheres Gut zu achten als das prunkvollste, mit goldenen Tressen bestickte Sklaventum.

An ein älteres Fräulein, Freundin seiner Familie, richtete Erasmus diesen Brief:

Granitz, den 11. Juli.

Liebe Tante Mathilde!

Du hast, so freundlich wie immer, nach meinem Befinden gefragt. Dieser Brief enthält meine Antwort. Wenn Du ein »gut« oder »schlecht« zu hören verlangst, mußt Du selbst sehen, ob das eine oder das andere aus ihm herauszuholen ist.

Mancherlei Unerwartetes dringt in diesem sommergrünen, an Buchen- und Lindenblättern reichen, kleinen Ort auf mich ein. Das hast Du bereits von Kitty erfahren. Du wirst nicht erwarten, daß ich meine Briefe an Kitty mit Briefen an Dich fortsetze. Es wäre mir kein Bedürfnis, an Dich zu schreiben, wenn ich Dir nur von dem sprechen dürfte, wovon ich ebensogut zu Kitty sprechen kann.

Du kennst mich, liebe Tante, von Kindheit an. Immer hast Du gegen jedermann, auch gegen Vater und Mutter, meine Partei genommen. Du weißt, wie unverwüstlich temperamentvoll, gläubig und fröhlich ich als Knabe gewesen bin. Ich bin noch immer unverwüstlich gläubig und fröhlich. Und doch muß ich jetzt, öfter als mir lieb ist, an Heinrich von Kleist und den Selbstmörderfriedhof bei Schildhorn denken. Ich kenne Dich, und Du kennst mich hinreichend. Du erschrickst über solche Gedanken nicht.

An seine Braut Wilhelmine von Zenge schreibt einmal Heinrich von Kleist:

»Eine Reihe von Jahren, in welchen ich über die Welt im Großen frei denken konnte, hat mich dem, was die Menschen Welt nennen, sehr unähnlich gemacht. Manches, was die Menschen ehrwürdig nennen, ist es mir nicht, vieles, was ihnen verächtlich scheint, ist es mir nicht. Ich trage eine innere Vorschrift in meiner Brust, gegen welche alle äußern, und wenn sie ein König unterschrieben hätte, nichtswürdig sind. Daher fühle ich mich ganz unfähig, mich in irgendein konventionelles Verhältnis der Welt zu passen.«

Bedenke, welch ein Zärtling, wenn nicht ein Schwächling, ich bin. Die gleichen Gedanken erzeugt mir schon die kleine konventionelle Gesellschaft von Granitz, der ich eigentlich doch zu Danke verpflichtet bin.

»Wir, unsererseits, wollen nichts von den Freuden dieser Welt wissen und träumen lauter himmlische Fluren und Sonnen, in deren Schimmer wir, mit langen Flügeln an den Schultern, umherwandeln werden. Adieu!« So Kleist, kurz vor seinem Scheiden aus der Welt, in einem Brief an eine Freundin.

Über dieses »Adieu!« ließen sich ein Leben lang Bücher schreiben, obgleich es so aussieht wie jedes andere.

Einige Verse aus dem »Prinz von Homburg« zum Schluß, der ja doch ein entfernter Vetter Hamlets, des Dänenprinzen, ist, mit dem ich mich hier ein wenig beschäftige. Der Prinz sitzt mit verbundenen Augen, er denkt und spricht:

Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!
Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen,
mit Glanz der tausendfachen Sonne zu!
Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern,
durch stille Ätherräume schwingt mein Geist . . .

Warum erwähne, warum wiederhole ich alles das? Mir ist, als ob ich mit dem ersten Schritt in die unendliche Verstrickung des konventionellen Weltwesens hineingetreten sei. Aber indem ich außen ihr derbes Willkommen vernehme, höre ich innerlich mein Adieu. Überaus merkwürdig außerdem, daß mich gerade der Vetter Homburgs, der Dänenprinz – »wie ekel, schal und flach und unersprießlich scheint mir das ganze Treiben dieser Welt« –, mit ebendieser Welt verknüpfen soll.

Wie seltsam, von zahllosen Widersprüchen durchwühlt mein Zustand ist. Ich schreibe bei Vollmond ohne Licht, während die Nacht und der Raum des Zimmers vom lauten Gezirpe der Grillen flimmern. Lieberes als eine solche Einsamkeit weiß ich mir nicht, besonders wenn Dein treugütiges, Dein verehrtes Gesicht horchend vor meiner Seele schwebt. Und doch bin ich mitten in diesem Frieden friedlos, in dieser Geborgenheit allen Stürmen des Daseins preisgegeben.

Geliebter Schutzgeist, beste Tante Mathilde, schließe doch Deine Tür ein bißchen zu, und lasse mich meine Seele in Deine ausschütten. In diesem Augenblick flüchtet meine Lebensscheu zu Dir. Aber ich werde ruhig schlafen, wenn das Quälende ausgesprochen ist und von Deiner Seele, des bin ich gewiß, verstanden.

Du hast zu meiner Verlobung mitgewirkt. Sehr jung schon habe ich mich verheiratet, Du weißt es, und Gott weiß es, wie ich mit Weib und Kindern eins, ein Wesen, eine physische Einheit bin. Heute frage ich mich, wie ich mich nie bisher gefragt habe, ob dies immer so bleiben wird und kann.

Leider nein, es kann nicht so bleiben.

Ich denke dabei an das Leben, nicht an den Tod. Nicht an alle die Gefahren denke ich, die meine Morbidität mit sich bringt und die mich manchmal in einen Zustand brachten, in dem ich irgendeine Arbeit zu beginnen mich nicht entschließen konnte, weil ich an die acht oder vierzehn Tage Leben nicht mehr glaubte, die dazu nötig waren. Ist mir doch mein jüngerer Freund, ein eben mit dem Staatsexamen fertig gewordener Arzt, der ein wenig Blut spuckte wie ich und mich deshalb lachend zu trösten pflegte, jüngst weggestorben. Er wollte sich übrigens, wenn es ging, aus dem Jenseits bemerkbar machen. Bis jetzt aber hat sich nichts gerührt.

Wenn ich mich frage, ob es mit mir, Kitty und den Kindern ewig so bleiben soll, und es verneine, so sehe ich ein langes, unabwendbares Leben voraus, das mit einem quietistischen Glück nicht vereinbar ist. Man kann diesem Leben aber auf keine andere Weise als die Kleistische adieu sagen.

Meine liebe Freundin Mathilde! Im Dämmer der Nacht, im leichten Modergeruch eines vergangenen Zeitalters, der mein Zimmerchen parfümiert, überkommt mich eine schmerzende Hellsichtigkeit. Ich sehe mein Leben vor mir wie einen weiten Erdteil, den ich zu einem unbekannten Ziele durchwandern muß. Alles, was mir dabei begegnet – Tier, Mensch, Weib, Mann, Baum, Strauch, Blume, Gras, Fluß, See, Acker, Wüste, Tal, Berg, Gebirge, Regen, Schnee, Eis, Land, Meer, Landsturm, Seesturm, Tag, Nacht –, ist Geschenk, Gabe, Gesuchtes, Erlangtes und zugleich Hindernis. Nach allen diesen Dingen hungre ich. Ich zittre, einem Rennpferd am Start ähnlich, mich selber auf diese wirre und schweigende Welt rätselhaften Erlebens loszulassen, und – ich habe sie heut bereits angetreten, diese verhängnisvolle Wanderung. Der Schritt ist getan. Ein Zurück aber gibt es nicht.

Und doch! Und doch! Wie sagt er, Hamlet, Prinz von Dänemark?

Pfui, pfui darüber! 's ist ein wüster Garten,
der auf in Samen schießt: verworfnes Unkraut
erfüllt ihn gänzlich.

Er meint damit diese meine Welt, durch die ich nun, wie eine Art Ewiger Jude, wandern muß.

Folge ich einem Ariadnefaden durch dieses Labyrinth? Im Gegenteil. Jeder Schritt nach vorwärts macht dies Labyrinth nur labyrinthischer. Tausende, hunderttausende Fädenenden bieten sich mir, die ich höchstens als einen unentwirrbarschnell zusammengerafften Knäuel lastend mitschleppen werde, bis ich ihn irgendwo ins Feuer werfe. Aber nur um einen neuen Ballen Wirrwarr aufzuraffen.

Liebe Freundin Mathilde! Ich unterliege meinem Verhängnis. Und ich kämpfe mit einem Verhängnis, das über Kitty und den Kindern hängt.

Es ist nämlich hier eine kleine Schauspielerin . . .

Du kennst meine Grundsätze. Eine unmittelbare Sorge wirst Du darum nicht haben, wenn ich Dir sage, daß ich gestern, als ich im Feld einsam wandernd die Bimmelbahn kommen sah, bis dicht an die Gleise trat und, auf eine bestürzende Art willensstark oder willenlos, mich, um dem Unmöglichen zu entgehen, jeden Konflikt hinwegzuräumen, vor die Maschine legen wollte.

Ehe ich aber etwas dergleichen wirklich tue, tue ich es jedesmal in der Vorstellung, und das wird mich stets vor der Tat bewahren.

Der vorige Wirt vom Hotel Bellevue, wo ich speise, war ein äußerst respektabler Mann. Aus einer alteingesessenen Rügener Patrizierfamilie stammend, genoß er das allgemeine Vertrauen. Er war mit Ehrenämtern beladen und wurde nicht selten sogar vom Fürsten zu Rat und Tafel zugezogen. Vergangenes Jahr sprach er zu dem und jenem davon, daß alle Guten demnächst auf dem Planeten Venus versammelt würden. Und plötzlich hieß es, er habe sich aus einer Dachkammer des Hotels hinabgestürzt.

»Freunde, nicht diese Töne! Lasset uns heitere anstimmen!« Glaube nur nicht, liebe Tante Mathilde, daß dieses Notturno auf mein Gesamtbefinden und Gesamtverhalten hier in Granitz schließen läßt. Wahrscheinlich werde ich es nicht absenden. Aber kämest Du her und sähest mich etwa von ungefähr, wenn ich mit den Schauspielern im Felsenkeller-Gärtchen unter den allerheitersten Gesprächen meinen Frühschoppen trinke, wo manchmal gelacht wird, daß die Pferde scheu werden – sähest mich mittags bei der Table d'hote, wo meist die Schauspieler Syrowatky und Jetro und manchmal der Schauspieldirektor Georgi meine Gäste sind, Du würdest am Ende glauben, ich beabsichtigte, Dir mit dieser Schwarzmalerei gleichsam ein X für ein U zu machen. Das ist es nun freilich nicht, was ich beabsichtige. Schon aber geht über meinem Notturno, obgleich es noch tiefe Nacht ist, die Sonne auf. Ich verdanke das neue Licht allen Deinen gütigen, treulichen, lieben Einwürfen, Deinen klugen Beschwörungen, die ich während des Schreibens fortwährend im Ohr gehabt habe. Mit diesem angezündeten Licht im Herzen, liebe Freundin, kann ich nun, indem ich mir nur noch Deinen Segen erbitte, schlafen. – –

Zwei Tage nach dem Tee bei Syrowatky wurde, wie es bei Vorsätzen immer ist, auch der Vorsatz Doktor Erasmus Gotters, sich nicht vom Hofe umgarnen zu lassen, ebensowenig von Syrowatkys Hamlet-Plan, auf die schwerste Probe gestellt. Doktor Ollantag kam, vom Fürsten beauftragt, in die Gärtnerei und lud ihn ein, vor einer illustren Gesellschaft, im Marmorsaal des Schlosses, seine Hamlet-Thesen zu verteidigen.

»Sie müssen ein ungeheures Vertrauen zu mir haben, wenn Sie mir dergleichen aufbürden können, Doktor Ollantag.«

Erasmus war bei diesen Worten aufgesprungen. Er fuhr dann fort:

»Die Lockung ist groß. Die Gelegenheit, die mir gegeben wird, ist die überraschendste und zugleich die ehrenvollste, die sich denken läßt, aber wahrnehmen kann ich sie nicht. Die Gründe dafür, lieber Doktor, sind vielfältig.

Sie mögen mich scheu nennen, furchtsam, feig, und hätten leider nicht unrecht damit. Bedenken Sie aber, ich bin beinah wie ein verwundetes Tier in diesem Versteck untergeschlupft. Die Verfassung, in der ich bin, ist nicht so, daß ich mich plötzlich in das grellste, bewegteste Leben hinausstellen könnte. Ich weiß, zum zweitenmal bietet sich ein so glanzvolles, aus gediegenem Golde bestehendes Sprungbrett nicht. Aber die Sache ist die: ich kann nicht springen.

Gut, Sie behaupten das Gegenteil. Kann ich springen, so will ich es nicht. Gelänge mir heute ein guter Sprung, man würde den zweiten, den besseren von mir verlangen, den dritten, den vierten, und so fort. Ich wäre nun einmal in der Manege drin, und der Ehrgeiz, die Peitsche, würde mich zwingen, endlos im Kreise herumzulaufen.

Sie sagen, ich fasse dies alles zu schwülstig auf, was wohl mit meinen übermüdeten Nerven zusammenhinge. Man müsse das Heut einfach hinnehmen, das Morgen, das Übermorgen hingegen Gott überlassen, denn es stehe ja doch in seiner Hand.

Es ist gewiß etwas Wahres daran, Doktor Ollantag, deshalb wird aber kein Steuermann, ob er gleich vor dem Schiffbruch nie sicher ist, seine Hände vom Steuerrade lassen.«

»Das ist es ja gerade, was ich bei Ihnen beanstande. Sie sitzen in einem schönen Schiff, das reiche Küsten und glückliche Inseln zu entdecken fähig ist, und lassen es ohne Segel und Steuer stilliegen. Mensch! Mann! Verkennen Sie Ihren Besitz, Ihren Reichtum nicht! Sie haben ihn mir nicht verbergen können. Aber werden Sie nicht an Ihrer Begabung zum Selbstmörder!

Ich weiß ja freilich, ohne einen verborgenen starken Willen sind Sie nicht. Aber Sie fürchten sich fast vor dem eigenen Willen, und es scheint, als wollten Sie ihn begraben.

Lieber Erasmus Gotter, ich warne Sie auf Grund der zehn Jahre, die ich vor Ihnen voraushabe! Machen Sie sich für das Leben und nicht für den Tod zum Sachwalter! Einmal erreicht man womöglich, was man doch schließlich nicht erreichen will, und wenn man dann endlich den Scheffel vom Lichte hebt, ist die Kerze erstickt und erloschen.«

Am Schlusse dieser Unterredung war Erasmus gewonnen, nicht für die Inszenierung des »Hamlet«, aber für den Vortrag im Schloß.

»Wer hat mir eigentlich«, fragte er schließlich, »diese Geschichte eingebrockt?«

»Der Oberhofmeister ist nicht Ihr Freund, aber im übrigen haben Sie für sich eine allgemeine Welle von Sympathie. Insonderheit hat Sie Fürst Aloysius ins Herz geschlossen seit dem Zusammensein in der Gärtnerei. Sie werden bemerkt haben, daß er Ihre Wirtin, Frau Herbst, einfach Frau Gertrud nennt. Auch daß Walter, ihr Sohn, sein Liebling ist. Wir haben neulich davon gesprochen. Hier aber bei den Gärtnersleuten, Mutter, Tochter und Sohn, haben Sie nicht nur einen Stein im Brett: ein Umstand, der keineswegs wenig bedeutet, wenn man gut angeschrieben sein will im Granitzer Schloß.«

»Frau Herbst«, sagte Doktor Gotter, »ist eine erstaunlich kluge Frau.«

»Erstaunlich klug, das kann man wohl sagen.«

»Sie hat, sagen wir, Witwenreiz«, fuhr Erasmus fort, »der auch heute durchaus noch nicht ohne Wirkung ist. Wie lang ist wohl der Schloßgärtner tot? Sie hält schon, so sagt man, das dritte Trauerjahr. Die schlichten schwarzen Kostüme stehen ihr gut. Übrigens habe ich, wie Prinz Hamlet, dafür eine Vorliebe. Nach alledem hat doch wohl diese irgendwie bedeutsame Frau ihren Gatten mehr geliebt, als das durchschnittlich üblich ist.«

»Das hat sie. Sie hat ihn geliebt«, sagte Ollantag. »Eine gewisse Tragik – er war eine Zeitlang im Irrenhaus – liegt über ihr und wird diese Liebe nach dem Tode verstärkt haben.«

»Die Gärtnerei«, erklärte Erasmus nun, »ist mir der liebste Aufenthalt, des ich mich erinnern kann. Er ist kühl versteckt und der brennenden Julisonne nicht zugänglich. Aber das ist nicht sein einziger Reiz und erst recht nicht sein tiefster.«

Es wurde geklopft, Pauline trat ein und fragte mit der ihr eigenen Sorglichkeit, ob sie den Kaffee im Zimmer oder unten im Garten servieren solle.

»Ich habe nur noch eine Viertelstunde Zeit«, sagte Ollantag.

»Also«, ergänzte Erasmus, »wollen wir nicht erst den Platz wechseln, Fräulein Pauline, und den köstlichen Mokka der Herbstischen Küche im Zimmer trinken.«

Nachdem Pauline verschwunden war, kam Ollantag auf das unterbrochene Gespräch zurück mit den Worten: »Sie sprachen von dem besonderen Reiz Ihres Aufenthalts, ich würde sehr gern davon etwas hören.«

»Haben Sie diese Pauline gesehen?« Erasmus begann seine Antwort damit. »Etwas Unbestimmbares, das überall im kühlen Dämmer dieses Hauses lebt, kommt und geht, so wie mit der Mutter, mit Walter und auch mit ihr. Man lebt zwar hier nicht im Schattenreich, aber in einem Zwischenreich, nicht oberirdisch, nicht unterirdisch! Wo aber doch dem gegen die Glut der Sonne aufgerichteten Hecken-, Wipfel- und Blätterschutz und dem wonnigen Schatten, den er gibt, ein zweiter seelischer Schatten entspricht, der die Witwe und die Kinder umschattet.«

»Haben Sie sich mit Walter gelegentlich etwas befaßt?« fragte Ollantag.

»Ein überaus lieber Junge ist das. Er hat sich ganz an mich angeschlossen. Wer weiß, was endlich einmal aus ihm wird? Im Augenblick aber hat er neben einer seltsamen Überreife, ich möchte sagen, das ganze Genie des Knabenalters. Wir gehen spazieren. Er bringt mir alle Augenblicke eine botanische Seltenheit. Ich diskutiere mit ihm den ›Hamlet‹ durch, und er gibt mir, jugendlich rein und ganz unverdorben, geradezu überraschende Aufschlüsse. Neulich, da wir in der Nähe vorbeikamen, hat er mich auf den Kirchhof geführt. Kirchhöfe haben, wie es scheint, für ihn wie für mich und den Prinzen Hamlet eine vielleicht perverse Anziehungskraft. Hier aber freilich zog ihn das Grab seines Vaters.«

»Man ist besorgt darüber«, sagte Ollantag, »daß der Kleine den Verlust seines Vaters, wie es heißt, nicht zu verwinden vermag. Er besucht immer wieder das Grab und treibt einen förmlichen Gräberkult.«

»Ich kam mir beinahe seltsam vor, als ich den Jungen mit den Gedanken des Königs Claudius von dieser endlosen Trauer abbringen wollte.« Dies sagte Erasmus und fügte an: »Man müßte ihn unbedingt davon abbringen, da er sich sonst sehr leicht in ein ernstes gemütisches Leiden hineinwirren könnte. Ich tue dawider bereits, was nur irgend möglich ist.«

Walter habe einen menschlichen Oberschenkelknochen und einen Schädel gelegentlich vom Totengräber erhalten und in seiner osteologischen Sammlung untergebracht. Daraus mache er, Erasmus, nichts, denn der Junge, der vielleicht manchmal zur Hysterie neige, sei merkwürdig nüchtern, wenn er sich wissenschaftlich befasse.

Pauline kam mit dem Kaffee herein. Man leerte die Tassen, Doktor Erasmus Gotter bestätigte noch einmal seufzend seine Zustimmung, im Schloß den gewünschten Vortrag zu halten, und die Herren trennten sich.

Das Gerücht von der Ehre, welche dem jungen Sommergast widerfahren war, war bald überallhin gedrungen. Alle Welt suchte Verbindung mit ihm. Daß Jetro entzückt war und immer wiederholte: »Habe ich Ihnen von Granitz und seinem kleinen Fürstenhof zu viel gesagt?«, war selbstverständlich, ebenso daß Syrowatky erschien und den Erfolg Doktor Gotters als einen eigenen buchte im Sinne seines Hamlet-Plans. Aber der Besuch des Theatergewaltigen selbst, des Direktors Georgi, war eine Überraschung von jener typischen Art, wie sie sich immer bei großen Erfolgen zeigt, deren Bedeutung sie erst ins volle Licht stellt.

»Sie müssen mir zugeben«, sagte er, mit gefährlicher Wucht auf der schwankenden Diele des Giebelzimmers auf und ab schreitend, »Sie müssen mir zugeben, daß wir uns immer ganz leidlich verstanden haben. Vielleicht waren wir beide über Gebühr zurückhaltend, aber ich habe doch gefühlt, daß es mit Ihnen nicht so wie mit einem x-beliebigen andern beschaffen ist. Nun haben Sie mir den Beweis erbracht, und ich fühle mich, wenn auch im Grunde bestätigt, so doch umgangen und blamiert.

Doktor, wie haben Sie das gemacht, möcht' ich wissen? Der Hof ist spröde bis dahinaus. Und wenn auch der Fürst das Theater liebt, ist er im Geldgeben äußerst schwierig. An Extravergütungen schlug man bisher keinen Pfennig bei ihm heraus. Ihnen liegt plötzlich alles zu Füßen.

Am Montag steigt Ihr Vortrag im Marmorsaal. Halb Granitz und auch ich und meine Mitglieder sind dazu eingeladen: Ihr Werk! Es geschieht zum erstenmal. Wir haben zum erstenmal die Ehre, und wenn alles, was alle Welt munkelt, nur zum Teil richtig ist, so will der Fürst einen ›Hamlet‹ durch Sie, nicht durch mich, inszenieren lassen und hat bereits, sagt der Maler-Baron von Cramm, nach den Maßstäben meiner Wenigkeit, eine horrende Summe dafür bereitgestellt. Sie sind ein Glückspilz, Sie sind ein Glückspinsel!

Selbstverständlich spiele ich mit. Ich werde Ihnen einen brudermörderischen Schurken, einen gemeinen Hurenkerl und Lächler hinlegen, der sich gewaschen hat. Diesen König Claudius werde ich hinschmettern, wie sich's gehört! Der Schuft ist für mich die gegebene Rolle. Wenn ich wirklich er gewesen wäre, hätte ich freilich mit diesem Bürschchen, diesem Dänenprinzchen, diesem kleinen, übergeschnappten Neffen, eins-zwei-drei kurzen Prozeß gemacht. Nach der Hohen Schule hätt' ich ihn zurückgeschickt oder darüber hinaus, hopp-hopp, ins ewige Leben.«

Erasmus sagte, er glaube an die Gerüchte, was die Vorstellung auf dem Theater angehe, einstweilen noch nicht und werde, selbst wenn etwas Wahres an ihnen sein sollte, sich höchstwahrscheinlich davon fernhalten.

»Das könnte die ganze Sache gefährden, das werden Sie mir und sich selbst nicht antun, mein Sohn. Mir nicht, weil meiner wackligen, kleinen Rosinante von Schmiere ein neuer Blutstrom unterschlagen würde, eine Verjüngung durch Transfusion, und sich selbst nicht, weil, wenn überhaupt etwas los ist mit Ihnen, der Geburtstagsfez des Fürsten mit seinen Gästen ein Debüt ohnegleichen für Sie ist.«

 

Im schwarzen Gehrock mit hochgeschlossener Weste, wie ein feiner, wohlsituierter englischer Reverend, betrat am Abend des Vortrags Erasmus das Podium. Er hatte unter sich auf vergoldeten Plüschsesseln ungefähr sechzig Zuhörer. Er dachte bei sich, als er im Lichterglanz des großen venezianischen Kronleuchters, der Seitenarme und Kandelaber die Blicke umherschickte, wie doch diese Situation, in die er geraten war, weder seiner Ausreise noch ihrer gesuchten Heilswirkung noch auch dem scheinbar gesicherten Einsiedlertum der Gärtnerei entsprach, sondern etwas ganz anderes, dem allem völlig Entgegengesetztes darstellte, und fand, dies alles sei einem Mirakel nicht unähnlich.

Erasmus sprach. Die Gabe des ausdrucksvollen Vortrags war eine von denen, die er besaß. Hatte er mit dem Klang der Erregung angefangen, so gewann er bereits nach wenigen Sätzen, mehr und mehr vom Stoff interessiert, volle Sicherheit. Er sprach über Shakespeare, den englischen Dichter, der wie kein zweiter auch ein deutscher Besitz geworden sei. Er fand über sein Werk begeisterte Worte. Es sei eine Art Universum, sagte er.

Er ging alsdann auf sein eigentliches Thema, »Hamlet«, ein, ein Dichtwerk, dessen Existenz ein ewiges Rätsel bedeute.

Ein unsterbliches Rätsel, sagte er, stünde hier neben unserer sterblichen Existenz, trotzdem nur Trümmer des Werkes vorhanden wären. Aber das kleine Rätsel, dem er sich jetzt zuwende, nämlich die Frage, wie das Ganze gewesen sei, meine er mit dem ewigen Rätsel nicht. In diesem kleineren liege eine gewisse Lösbarkeit. Das Unlösbare sei in der Gestalt des Hamlet gegeben, die gerade darum ewig lebendig fortwirke.

Die Rede, die, gesprochen, alle Hörer in Spannung hielt, würde, vollständig wiedergegeben, hier den Gang der Erzählung aufhalten.

Folgendes war ihr Angelpunkt:

Hamlet, Prinz von Dänemark, dem Claudius, sein Onkel, den Vater ermordet und die Liebe seiner Mutter gestohlen hat und darüber hinaus den Thron, wünscht diesen durch einen Aufstand zurückzugewinnen. Durch Umstellung eines Namens wird dieser Aufstand im verderbten Text einem äußerst korrekten Hofmann namens Laertes zugeschrieben, was völlig ungereimt, was geradezu widersinnig ist. Und ganz besonders, wenn man erwägt, mit welchen Worten der Usurpatorkönig diesen Laertes am Anfang des Stückes bedenkt:

                                    . . . Kannst du bitten,
was ich nicht gern gewährt', eh du's verlangt?
Der Kopf ist nicht dem Herzen mehr verwandt,
die Hand dem Munde dienstgefäll'ger nicht,
als Dänmarks Thron es deinem Vater ist.

Wäre möglich, daß ein so in Gnaden entlassener junger Mensch, mit diesen Worten im Ohr und im Herzen, mit den Hofverhältnissen genau vertraut, weil er das unglückselige Ende seines Vaters erfährt, den König dafür sollte verantwortlich machen, der mit so viel Liebe und Güte eben von diesem Vater gesprochen hat? Und sollte es ihm nicht leicht geworden sein, herauszubekommen, daß sein Vater das Opfer einer blinden Fahrlässigkeit des Prinzen Hamlet geworden ist? Sollte er den Wohltäter seiner ganzen Familie, König Claudius, deshalb mit einer Riesenmeuterei überrennen wollen und ihn dabei mit den Worten anreden können: »Du schnöder König, gib mir meinen Vater!«? Wäre dieser Wirbelsäulenbruch zurechtgerückt, so sei damit das Stück, wie der Redner erklärte, mit gradem Rückgrat versehen und lebensfähig auf feste Füße gestellt. Andernfalls bleibe es ein absurdes Gebilde trotz aller unverwelklichen Schönheiten, die ihm im einzelnen anhafteten.

Der naturgemäße und allgemeine Beifall eines wohlerzogenen Kreises belohnte Erasmus Gotter, als er geendet hatte. Es war Fürst Aloysius in seinem Rollstuhl, der immer wieder dazu das Zeichen gab. Als erster dankte er dann dem Redner, den er zu sich gewinkt hatte, und ermunterte die Fürstin dazu. Sie streichelte mütterlich seine Hände.

Armin Jetro schwamm in Glückseligkeit. Die allgemeine Anerkennung, die Erasmus zuteil wurde, hätte sie seiner eigenen Person gegolten, würde ihm weniger bedeutet haben. Die Sympathie und Bewunderung, die er von der ersten Begegnung an für den jungen Gotter empfand, hätte er selbst kaum begründen können. Er sagte nur manchmal, daß ihm ein Mensch dieser Art noch nicht vorgekommen sei. Ähnlich war die Empfindung, die sich nach beendetem Vortrag im Kerzenschimmer des Marmorsaales verbreitete.

Eine Gruppe für sich bildeten dabei, außer dem Fürsten selbst und dem etwas abseits stehenden Jetro, der Maler-Baron von Cramm und Doktor Ollantag, nicht zu vergessen Frau Herbst, die mit Walter unter den Geladenen war: sie wollten in Gotter das Genie sehen.

Die Gegenströmung, die sich wie überall auch hier meldete, vertraten Oberhofmeister Bourtier und bis jetzt noch Professor Trautvetter, Direktor des Pädagogiums: sie hielten sich abseits mit kühler Miene.

Liebe Kitty!

Sei Du die erste, die von der überraschenden Wendung, die mein Leben nehmen will und zu nehmen scheint, etwas erfährt. Ohne daß ich recht zur Besinnung gekommen wäre, wurde ich mitten in eine Welt hineingeworfen, die Du wie ich nur vom Hörensagen oder von fern gekannt haben. Die Zickzackkurve des Lebens ist unberechenbar, und ich will mich fortan über nichts mehr wundern.

Ich habe heut im Marmorsaal des Schlosses von Granitz einen Vortrag gehalten, der mir den Beifall des Fürstenpaares, des ganzen kleinen Hofes, vieler Künstler und der Prominenten von Granitz eingetragen hat.

Gut, dies alles möchte wohl hingehen. Aber was mir sonst widerfuhr, bedeutet mehr. Ich war bis heute ein freier Mann, nun bin ich gefesselt durch eine Aufgabe.

Zufall hat mich nach Granitz gebracht, Zufall, der Ehrgeiz eines gewissen Schauspielervolontärs, mich mitten ins höfische Leben hineingeworfen, Zufall, der nahe Geburtstag des Fürsten mit seinen geplanten Festlichkeiten, versetzte mich in die Zwangslage, an einer derselben mitzuwirken. Gott sei Dank nicht mit einem Geburtstagscarmen oder Huldigungspoem, sondern durch die Inszenierung einer Theatervorstellung, des »Hamlet« von Shakespeare, nach meinen Ideen. Noch während im Saale der Tanz im Gange war und der Champagner floß, wurde ich in aller Form darauf mündlich und schriftlich festgelegt.

Meinst Du, mir sei besonders wohl zumute? Nein! Doch ich fühle eine gebieterische Hand über mir, gegen die zu kämpfen ich weder den Mut noch die Kraft habe. Es könnte ein Frevel sein, sich zu widersetzen, wenn plötzlich eine scheinbar äußere Kraft unwiderruflich in Anspruch nimmt, was wir als heimliches Eigentum gehütet haben, einen Besitz, dessen Wesenheit sich aber doch eigentlich nur im offnen Wirken und Werden ausleben kann.

Nun also, gewissermaßen bin ich heute überraschenderweise ein Fürstlich Granitzscher Funktionär. Ich mußte ein Honorar für die kommende Leistung annehmen, erhalte zur Verrechnung für das Ganze ein Kapital, ein Maler, Baron von Cramm, wird mir für die Bühnenbilder zur Seite gestellt, das Schauspielensemble, inbegriffen Direktor Georgi, mir für den besonderen Fall untergeordnet, sein eventueller Ausfall an Theaterabenden und Einnahmen wird von der Kasse des Kameralamts ersetzt, und ich bin nun, solange es dauert, gleichsam allmächtig und darf mich als Intendant fühlen.

Liebe Kitty, meine Bedenken in dieser Sache hast Du nicht. Dir wird sie nur Freude machen. Aus diesem Grunde mußt zunächst Du davon wissen. Unausgesprochen und ausgesprochen wünschtest Du für mich eine in meiner Richtung liegende, pflichtmäßige Tätigkeit. Kein gewöhnlicher, sondern ein glänzender Anfang ist gemacht worden.

Man hat mir allerdings eine Schlinge gelegt, aber ich bin nun einmal hineingetreten. Selbst die bedingte und begrenzte Aufgabe anzunehmen, schien mir noch vor wenigen Tagen ein Ding der Unmöglichkeit. Da der erste Schritt geschehen ist, dessen magst Du gewiß sein, Kitty, werde ich mit Entschlossenheit die Bahn bis zu Ende durchschreiten.

 

Das Leben des jungen Erasmus Gotter erlitt jetzt eine gründliche Veränderung. An Stelle der immerhin genießerischen Kurortbequemlichkeit trat nun jenes emsige und verwickelte Treiben, wie es mit der Vorbereitung für ein öffentliches Schauspiel, besonders wenn auch Dilettanten beteiligt sind, immer verknüpft sein wird. Freilich, der Genius loci einer, man möchte sagen, wohlig umfriedeten, fürstlichen Bürgerlichkeit war Granitz treu geblieben, nur daß sich dieser zu heiter-ernstem Bunde mit dem Genius Shakespeare vereinigte.

Nach einigen vorbereitenden Sitzungen und Besprechungen, an denen meist nur Erasmus, Baron von Cramm, Direktor Georgi und Doktor Ollantag teilnahmen, war die Besetzung der Rollen des Hamlet-Stückes durchgeführt. Offengeblieben war einstweilen die Partie der Ophelia. Ferner mußte das Personal ergänzt werden, und man erwog eine Weile mit einem Hin und Her der Meinungen, wie das am besten zu machen sei.

Diese Beratungen, bei denen Erasmus mit bemerkenswerter Ruhe und Bestimmtheit den Vorsitz führte, fanden meist in der Geißblatt-Laube statt, während die Besprechung von Einzelheiten bald da bald dort vor sich ging: der Bühnenentwürfe zum Beispiel in Cramms Atelier, der textlichen Streichungen etwa in Georgis Büro, der Kostüme und Dekorationen teils im Schloß, teils beim Hofschneider. Von früh bis abends gab es zu tun. Der junge Gotter mußte die Nacht zu Hilfe nehmen, um den vermeintlichen Hamlet-Torso zurechtzurücken und zu ergänzen. Er wagte es und dichtete die angeblich fehlenden Szenen hinein. Den dreiundzwanzig ausgeprägten Männerrollen des Trauerspiels stehen nur zwei weibliche gegenüber. Eine Anzahl männlicher Darsteller – es kamen noch Offiziere, Soldaten, Matrosen, Boten vom Königshof dazu – konnte Georgi nicht stellen; hier half ein Vorschlag Doktor Ollantags, der Zuzug von der Greifswalder Universität aus einem literarischen Studentenverein, dessen Alter Herr er war, herbeizuschaffen sich anheischig machte.

Kaum eine halbe Stunde später hatte er durch ein Telegramm an seinen Vorsitzenden, Kandidaten Luckner, diesen Verein mobil gemacht, und einige weitere Stunden darauf konnte er eine Drahtantwort Erasmus vorlegen, die Luckners Vorschlag enthielt, die Reise nach Greifswald zu unternehmen, um einem literarischen Abend der Studentenverbindung mit darauffolgender Kneipe beizuwohnen.

Ohne jemand etwas zu sagen und in aller Stille reisten schon am nächsten Tage Erasmus und Doktor Ollantag, mit dem Ziele Greifswald, von Granitz ab. Es war bereits dunkel, als sie ankamen. Ziemlich verspätet fanden sie endlich das Lokal, das Luckner als das Heim der Verbindung bezeichnet hatte.

Seit Jahren hatte Erasmus keinen Kneipabend mehr mitgemacht. Schon als man einen finsteren, mit irisierenden Pfützen bedeckten, von Bretterwagen und Karren beengten Hof durchschritt, wo es nach Stall und süßlich nach Schlachthaus duftete, hörte man das Poltern der Bierseidel und das Kommando des Präsiden, nach dem ein Salamander gerieben wird.

»Ja, da müssen wir nun mit den Wölfen heulen, lieber Herr Erasmus«, sagte Doktor Ollantag. »Diese Jungens haben meine Depesche, scheint's, als eine ›Aufforderung zum Tanz‹ aufgefaßt. Ich hatte mir die Sache stiller und weniger offiziell gedacht.«

Einen Augenblick, und man stand in dem zu einem Lokal des Vorderhauses gehörigen Raum, den die Verbindung innehatte. Er mochte ehemals Stall gewesen sein. Aber da er in einem altertümlichen Gebäude lag und spinnewebenbehangene Kreuzgewölbe hatte, konnte man wohl an Auerbachs Keller erinnert werden.

Etwa dreißig junge Leute waren beim Eintritt der beiden Gäste aufgesprungen und standen gerade aufgerichtet um die einzige lange Tafel her, den Blick auf ihre Besucher gerichtet.

Herrlich, herrlich, dachte Erasmus, und die Rührung wollte ihm aufsteigen, als er beim spärlichen Licht der offenen Gasflammen alle die blitzenden, intelligenten Augen, mutig jungen Gesichter und dichten blonden, braunen oder dunklen Skalpe sah. – War er eigentlich alt genug, um so zu empfinden?

Kaum vorüber war die Begrüßung und Vorstellung, als der Präside zum ersten Salamander zu Ehren der Gekommenen aufforderte. Exercitium salamandris incipit! Die Studenten erhoben sich. Eins ist eins! – Zwei ist zwei! – Drei ist drei! – Beim ersten dieser Kommandos wird das Bierglas angefaßt, beim zweiten wird es zu halber Höhe gehoben, beim dritten bis zum Mund. Nachdem dies geschehen ist, heißt es: Bibite! Der schäumende Inhalt des Halblitermaßes wird mit einem Zug in den Magen gestürzt. Mit einem gewaltigen Schlag kommen alsdann die Gläser auf die Tischplatte, und nun beginnt jenes dumpfe Rumpelgeräusch, welches dadurch entsteht, daß man durch Wackeln mit dem dicken Boden des Bierseidels auf die Holzplatte trommelt. Der dumpfe Donner erlischt bei den Worten des Präsiden: Salamandris exercitium ex est!

Der Abend wurde auf ein anderes Gleis geschoben, als Ollantag sich erhob und in einer längeren Rede nun erst eigentlich Erasmus Gotter vorstellte, indem er auf launige Weise seine Granitzer Mission und den Zweck seines Kommens und auch der eigenen Gegenwart darlegte.

Ollantag hatte geschlossen: »Musensöhne! Vergessen wir nie, daß wir Musensöhne sind, und lasset uns heut unsere Mütter anrufen, und euer Getränk lasset mich weihen zum heiligen Naß des Kastalischen Quells! Es mag uns begeistern und verzücken! Gebt uns Proben, gebt uns Beweise, daß wir Geweihte und nahe dem Parnaß angesiedelt sind! Mit einem Wort: Wer ein Talent hat, zeige es! Jeder gebe zum besten, was er vermag. Szenen aus Dramen, Balladen, Lyrik, Eigenes und Fremdes, was ihm lieb ist und was er gegenwärtig hat. Und wer die besondere Eignung besitzt, sträube sich nicht, sich in den Dienst unserer Sache zu stellen und selbstlos behilflich zu sein, das Meisterwerk des großen Briten lebendig zu machen!«

Nachdem eine gewisse Schüchternheit überwunden war, entwickelte sich denn auch bald unter den jungen Leuten eine Art Sängerkrieg. Der Eifer wuchs, als das Eis einmal gebrochen war. Einer der Jünglinge trug mit beachtenswerter Kraft »Lenore« von Bürger vor. Ein merkwürdiger, spitznasiger, blonder Student ließ sich vielleicht mehr als billig von dem Gespräch zwischen Carlos und Marquis Posa hinreißen und von der großen Rede Posas an König Philipp, welche unter anderem die Stelle »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!« enthält. Ein dritter nahm zum Gegenstand seiner Deklamation »Die Braut von Korinth«. Kandidat Luckner, der Präside, schwang sich zum Vortrag des »Erlkönig« auf. Und schließlich wurde Erasmus so lange und lebhaft bestürmt, daß er nicht anders konnte, als ebenfalls etwas vorzutragen.

Man war gespannt, was der seltsame junge Mensch mit dem Ehering an der rechten Hand vorbringen würde. Sicher war: er nötigte allen eine neue Art von Sympathie und Achtung ab. »Ich werde Ihnen«, sagte er ganz einfach, »den kurzen Monolog ›Sein oder Nichtsein‹ aus ›Hamlet‹ vorsprechen. Wo er jetzt steht, nämlich in der ersten Szene des dritten Aktes, versteht man ihn nicht. Er ist dort höchstens aus der allgemeinen Gemütsverfassung des Dänenprinzen, aber nicht, was doch notwendig wäre, aus der Situation, aus der natürlichen Folge der Handlung zu erklären. Sagt doch Grillparzer über die Personen eines Dramas: ›Was sie sagen, muß unmittelbar aus ihrer gegenwärtigen Lage, aus ihrer gegenwärtigen Leidenschaft hervorgehen.‹ Gegenwärtige Lage, gegenwärtige Leidenschaft, wobei das wiederholte Wort ›gegenwärtig‹ besonders zu beachten ist. Hamlet ist plötzlich da, aus einer unklaren Ursache, allerdings durch Polonius und den König heimlich geschoben, was Hamlet nicht weiß, und zu dem Zwecke, Ophelien zu begegnen, wovon er ebenfalls nicht die geringste Ahnung hat. Wozu also der Beginn: ›Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage!‹? Der große Schauspieler Ludwig Barnay trägt während dieses Monologes einen gezückten Dolch in der Hand, um sein Wort doch wenigstens auf eine Absicht, Handlung, Tat, nämlich den Selbstmord, beziehen zu können. Das ist begreiflich. Ein anderer Bezug ist an dieser Stelle nicht aufzufinden. In meiner Hamlet-Bearbeitung beginnt die zweite Szene des fünften Aktes mit diesem Monolog, und Sie werden bei der Aufführung zu entscheiden haben, ob er an Stelle einen dieser natürlichen Bezug erhalten hat.«

Erasmus trug den Monolog auf eine erregte, gehetzte Weise vor, als ob wirklich die Erkenntnis einer furchtbaren, zur Entscheidung drängenden, lebensgefährlichen und kaum noch haltbaren Situation ihn überkommen habe: »Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage. Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden . . .?« – des wütenden Geschicks: man fühlte wirklich, Hamlet wurde von einem wütenden Geschick gehetzt – »oder, sich wappnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden?« Also keine schmerzlich geruhsame Meditation! »Sterben – schlafen! nichts weiter!« Also unterliegen, der fast tödlichen Situation anheimfallen, und so fort und so fort. Erasmus sprach den Monolog eindrucksvoll und wurde durch großen Beifall belohnt.

Die Hamlet-Debatte war nun entfesselt. Da unter diesen Jünglingen und jungen Gelehrten nur ein einziger war, der das Stück nicht kannte und der dadurch geraume Weile den gutmütigen Spott aller auf sich zog, so wurden bald die bekannten Behauptungen, Hamlet sei Deutschland, Hamlet sei ein untätiger Schwächling, und manche andere wiederholt: er zerstöre seine Tatkraft durch Meditation und Reflexion und könne aus diesem Grunde weder aus voller Seele hassen noch lieben.

Doktor Ollantag sagte schließlich, er werde, bevor das Ereignis vonstatten gehe, noch einmal herüberkommen und den Kommilitonen einen kleinen Vortrag über die Vorgeschichte und die Quellen des Hamlet-Dramas halten. Shakespeare soll zwischen 1587 und 1597 jenen roheren und lückenhaften »Hamlet« geschrieben haben, der in einer Quartoausgabe gedruckt und 1603 herausgekommen ist. Sie wird eine »liederlich gedruckte, vielfach entstellte Raubausgabe« genannt, deren Text vermutlich bei einer selbstverständlich schon höchst verstümmelten Aufführung nachgeschrieben worden ist. Veränderte Namen, veränderter und bereicherter Text, veränderte Szenenführung unterscheiden eine andere Ausgabe von dieser, eine zweite, die 1604 erschien – jämmerlich entstellt nennt man das Stück in beiden Ausgaben. Die dritte Ausgabe ist die Folio von 1623, doch nicht, wie es heißt, ohne Zusätze und Kürzungen und nicht ohne zahlreiche verschiedene Lesarten. Es erübrige sich also zu fragen, ob eine rekonstruktiv-intuitive Erneuerung des Stückes, oder wenigstens der Versuch dazu, erlaubt sei oder nicht.

Mit einer überraschenden Wendung schloß Doktor Ollantag, die Rechte dem jungen Hamlet-Erneuerer auf die Schulter legend: »Hier haben wir nicht nur den rechten Mann dafür, sondern hier sitzt auch Hamlet selbst! Sie, Sie selbst, mein lieber Doktor Gotter, sollten uns einen Hamlet hinstellen, sollten uns einen Hamlet vorspielen! Das würde ein Genuß ohnegleichen, es würde die Krönung des Ereignisses sein.«

Jetzt trat die Fidelitas wieder in ihre ursprünglichen Rechte, und das »Ergo bibamus« stieg. Der Abend verlief nun auf ebendie Art, wie es bei derlei kleinen Kommersen die Regel ist. Man trank, man bekundete einander durch Zutrinken von Halben und Ganzen seine größte Hochachtung, oder man »kam« sich die üblichen Schlucke. Zugleich mit dem Rausch wuchs das Gefühl der Verbrüderung. Der Gesang wurde wilder und lärmender. »Wenn das Gewölbe widerhallt, fühlt man erst recht des Basses Grundgewalt.« Natürlich, daß der Satz »Schön ist wüst, und wüst ist schön« mit dem Fortschreiten der Nacht immer mehr Wahrheit wurde.

 

Bald danach traten eine Anzahl Studenten aus diesem Kreise, an der Spitze Luckner, der Präside, eine angenehme Sommerfrische, mit Tagegeldern gewürzt, in Granitz an, wo sie zunächst abermals geprüft und dann mit den ihnen zugeteilten Rollen betraut wurden.

Eine Leseprobe ward anberaumt, für welche der Fürst einen Saal im Schloß zur Verfügung stellte, mit der Bedingung, ihr beiwohnen zu dürfen. Georgi las den König Claudius, den er zu übernehmen sich angeboten hatte. Und es konnte ein stilles Vergnügen bereiten, zu beobachten, wie sich die üblichen Reibungen zwischen dem Direktor und Syrowatky, dem Volontär, nun in den gegenseitigen Haß von König Claudius und Prinz Hamlet verkleideten. Nicht selten brach dann ein allgemeines Gelächter aus, wenn Georgi aus der Rolle fiel und mit den Worten »Sie schreien ja wie ein Zahnbrecher!« seinen Volontär anbrüllte.

Als dies Wesen überhandnehmen wollte und Georgi ganz vergessen zu haben schien, daß er hier nur Schauspieler und nicht Direktor und Spielleiter war, gelang es Erasmus mit der Bitte um Sachlichkeit im Hinweis auf die beschränkte Zeit und durch eigenen Vortrag gewisser Hamlet-Partien seine Autorität durchzusetzen, so daß man am Schluß scheinbar allerseits befriedigt und gefördert auseinanderging. Fürst Aloysius drückte seine Befriedigung mit den Worten aus, daß er seit langem so heitere und interessante Stunden nicht mehr erlebt habe.

Unter den Schauspielern war nun aber die Befriedigung in Wahrheit nicht so allgemein. Auf dem Wege zum »Felsenkeller« gab es das übliche Köpfezusammenstecken, Tuscheln und Kopfschütteln. Ganz besonders irritiert, ja beinahe verstimmt zeigte sich der Erste Liebhaber Erich Sündermann. Er hatte den Hamlet an Syrowatky verkauft, und schon das wurmte ihn. Laertes war an ihm hängengeblieben, jener wohlerzogene Sohn des Oberkämmerers Polonius, den Hamlet mit einem blinden Stich durch die Falten eines Vorhangs vom Leben zum Tode befördert. Und diesem Laertes, neben Hamlet früher die wirksamste Rolle des Stücks, war durch Erasmus Gotter seine effektvollste Szene genommen und auf Hamlet übertragen worden: die nämlich, wo er an der Spitze eines Meutererhaufens das Königsschloß in Helsingör überfällt, die Schweizer Wachen überwältigt und vom König mit bewaffneter Hand das Blut seines Vaters fordert. »Entweder die Szene wird wiederhergestellt«, erklärte einstweilen in der Stille, aber mit Bestimmtheit der Schauspieler, »oder er mag sich den Dummen suchen, der ihm diesen kastrierten Laertes spielt und der ich nicht bin.«

Noch immer war man sich nicht schlüssig geworden, wie man die Rolle Opheliens besetzen solle, jenes holdseligen Mädchens, dessen Vater ebenfalls der Oberkämmerer Polonius ist, der Schwester also dieses Laertes, den nach der Vorschrift Doktor Gotters zu spielen Sündermann sich nicht entschließen konnte. Irina Bell sprach in der Leseprobe die Rolle schlecht und recht, aber ohne daß selbst bei Erasmus Gotters günstigem Vorurteil der geringste Genieblitz ihre Eignung dazu verraten hätte. Was ist über diese Ophelia von Schauspielern, Dichtern, Shakespeare-Forschern und Theaterbesuchern nicht alles behauptet worden! Besonders die Gelehrten gehen in der Beurteilung dieses Charakters fast ausschließlich von den immanenten Poesien und äußeren Holdheiten der Wahnsinnsszenen aus, während sie die gesunde, fast trockene Dialektik des Mädchens im Gespräch mit ihrem Bruder unberücksichtigt lassen. Der Gedanke, diese Ophelia könnte sich körperlich mit dem Prinzen Hamlet vergangen haben, vernichtet in den Augen dieser zartfühlenden Seelen, da er ihrem Mädchenideal durchaus widerspricht, die ganze Figur. Und doch schien es Erasmus, als ob es den Ausbruch des Wahnsinns bei Ophelia tiefer begründen würde, wenn sie sich mit dem Geliebten vergangen hätte: sie empfand sich alsdann, die Tat des Prinzen, den Mord des Vaters, auf ihre Weise deutend, vielleicht als mitschuldig, wobei sie an die Strafpredigt denken konnte, mit der dieser ihr mögliches Verhältnis zu Hamlet ablehnte.

Für eine solche Erklärung sprechen gewisse Textworte, so, wenn bei Gelegenheit ihrer Geistesverwirrung gesagt ist:

Man stückt zusammen ihrer Worte Sinn,
 . . .
so daß man wahrlich denken muß, man könnte
zwar nichts gewiß, jedoch viel Arges denken.

Oder:

Von so betörter Furcht ist Schuld erfüllt,
daß, sich verbergend, sie sich selbst enthüllt.

In einem ganz ähnlichen Zwiespalt befindet sich in einem anderen Werk Shakespeares, »Romeo und Julia«, Julia, nachdem Romeo, ihr Geliebter, den Tybalt, ihren Vetter, erstochen hat. Die Amme sagt zu ihr: »Von Eures Vetters Mörder sprecht Ihr Gutes?«, und sie antwortet: »Soll ich von meinem Gatten Übles reden? . . . Doch, Arger, was erschlugst du meinen Vetter?« Ophelia könnte das gleiche sagen, sie brauchte nur für »Vetter« »Vater« setzen: und das bedeutet mehr.

Was im Werk von den Beziehungen Hamlets zu Ophelien in großen Abständen ans Licht des Tages tritt, spricht durchaus für einen heimlichen Liebesbund, eine im Verborgenen blühende Leidenschaft, deren Begrenzungen bei dem mitunter hemmungslosen Wesen des Prinzen nicht zu bestimmen sind.

 

Bei der Leseprobe hatte Irina versagt, was für Erasmus – er hielt es geheim – eine arge Enttäuschung bedeutete. Eine überaus schwere sogar, denn es wurde mit ihr die zutiefst verborgene, eigentliche Triebfeder seines Handelns zerbrochen und also stillgelegt.

Die Neigung zu dem exzentrischen und dabei kindhaften Mädchen war in der Zwischenzeit gewachsen, und die Folge war eine zunehmende innere Abhängigkeit. Ohne daß sie ihm einen Augenblick aus dem Sinne kam, auch jetzt, in der arbeitsreichen Zeit, lebte Erasmus seine Tage. Manchmal wurde ihr Bild von dem der schönen Prinzessin Ditta verdrängt, das aber dann wiederum dem Irinas weichen mußte. Ein recht sonderbarer Prozeß war in der Seele des jungen Dramaturgen in Gang gekommen. Da ihm der Gedanke, Irina habe ein unerlaubtes Verhältnis mit dem Oberhofmeister, unerträglich war, hatte er ihn als unmöglich verworfen. Da er ein solches Verhältnis um seiner Frau und seiner Kinder willen für sich nicht wünschen wollte und konnte, gedachte er seine leidenschaftliche Neigung auf eine unschädliche Weise sich zugleich mit der Inszenierung des »Hamlet« auswirken und totlaufen zu lassen: im einzelnen durch das private Studium der Rolle mit seinem Idol, durch die gemeinsame Probenarbeit im Theater, aber vor allem durch Irinas Glorifikation. Ihre Glorifikation und die seiner Liebe: das ganze Hamlet-Werk sollte irgendwie eine Huldigung, eine göttliche Umrahmung für das Zwillingssternbild Irinas und seiner Liebe sein. Dieser mystische Antrieb schaltete nun, nach Irinas Versagen bei der Leseprobe und ohne sie als Ophelia, aus.

Trotzdem war das Einzelstudium mit Syrowatky, dem Kandidaten Luckner und den Studiosen in Gang gekommen. Die Übungen fanden meist im Giebelzimmer Erasmus Gotters statt. Nur Erich Sündermann-Laertes, der, einige Male zu Besprechungen eingeladen, gekniffen zusagte, hatte sich trotzdem bisher noch nicht blicken lassen. Die Verstimmung des jungen Schauspielers, die sich schon nach der Leseprobe gezeigt hatte, schleppte sich in einen latenten Zwischenzustand fort. Mit diesem nicht Ja- und nicht Neinsagen mochte er hoffen, schließlich doch noch die Wiederherstellung der gestrichenen Stellen durchzusetzen. Ein glattes Nein zu sagen, die Rolle also endgültig abzugeben, entschloß er sich nicht, da er sich doch wohl bewußt war, welche Chance er, angesichts der Geburtstagsfeier vor hohen und höchsten Herrschaften, damit ausschlagen würde.

Direktor Georgi zuckte die Achseln, sooft der Schauspieler zu ihm kam. Er sei abgesetzt, sagte er, nicht ganz ohne eine ironische Bitterkeit, er spiele den König Claudius, und zwar nach den Direktiven des neuesten Günstlings der Hofclique. Wenn Sündermann etwas wünsche, so müsse er dem Allgewaltigen in der Sommerlaube oder in dem bereits historischen Giebelzimmer der Gärtnerei seine Aufwartung machen.

In dieses Giebelzimmer trat denn auch eines Morgens der Desperado ein, schon durch diese Tatsache sehr gedemütigt. Eine unnatürliche Blässe und Erregung entstellte sein Angesicht. So konnte ein leidenschaftliches Aufeinanderprallen der beiden jungen Menschen nicht lange ausbleiben.

Als Sündermann durchaus nicht davon zu überzeugen war, daß ein in höchster Gunst des Hofes stehender Kavalier, dem der Dichter nicht den kleinsten Zug von Thronberechtigung oder dahingehendem Ehrgeiz verliehen hat, keinen Volksaufstand anzettelt, mochte Erasmus eine bittere Bemerkung gemacht haben, die den aufs höchste gereizten Mimen alle Beherrschung verlieren ließ:

»Wer sind Sie? Sie kommen hierher und machen uns Vorschriften? Sie wollen uns Schauspielern Vorschriften machen, der Sie doch gar nicht vom Theater sind?! Ich habe den Karl Moor, den Carlos, den Romeo, den Hamlet unzählige Male gespielt. Und Sie? Haben Sie überhaupt je auf der Bühne gestanden? Haben Sie auch nur einmal sechs Worte gestammelt: ›Meine Herren, die Pferde sind gesattelt‹? Sie Neuling! Sie Gründling! Wenn Sie je etwas vom Theater wollen, so lernen Sie erst das Abc auswendig! Nehmen Sie bei mir Unterricht! Übrigens weiß ich nicht einmal, ob ich mich für ein noch so fettes Honorar dazu herbeilassen würde. Denn was man bis jetzt mit Ihnen erlebt hat, läßt auf besonderes Talent nicht schließen, um so mehr auf das Gegenteil. Gewiß ist, Sie leiden an Größenwahn. Beweis ist, wie Sie mit Shakespeare umspringen. Ich aber mache dabei nicht mit. Dazu bin ich nicht Esel genug und nicht so geduldig wie andere Dummköpfe.«

Als Erich Sündermann sich nach dieser gutgespielten Szene entfernt hatte, sagte Erasmus zu sich selbst: Schreibtafel her, ich muß mir's niederschreiben! Würde dies die erste Sprosse eines jahrzehntelangen Aufstiegs bedeuten sollen, so würde die Leiter, wenn ich jemals ihre höchste Sprosse erreicht hätte, ganz gewiß keine Jakobsleiter gewesen sein.

Er machte »Brrr!«; es ergriff ihn ein Schauder.

 

Direktor Georgi hatte für Erasmus ein kleines Zimmerchen im Theater herrichten lassen, wo er lesen, schreiben, sich aufhalten und mit den Schauspielern sprechen konnte. Er war damit ein Bestandteil des Hauses und der Schauspielgesellschaft geworden.

Es war noch nicht eine Woche vergangen, da bot ihm Georgi an, als sein Dramaturg mit nach Potsdam zu gehn. Nicht einmal nur ehrenamtlich, wie er sagte, sondern gegen ein angemessenes, gern gewährtes Honorar. Er hatte nämlich bald erkannt, daß Erasmus nicht nur Eifer und Geschick, sondern Begabung für das Theater mitbrachte.

Der junge Mensch hatte gelegentlich Proben anderer Werke beigewohnt, hatte diese und jene Bemerkung gemacht, war mit manchem Ratschlag hervorgetreten und hatte immer, was er auch sagte oder tat, das gerade im Werden begriffene Ganze gefördert. Diese Sachlage wurde anerkannt. Dazu trug wohl ein wenig der Schatten eines früheren Dramaturgen, eines Herrn von Kreuzstamm, bei, der, wie Schauspieler und Direktor immer wieder betonten, ein Monstrum an Theaterfremdheit gewesen war. »Wenn er auch nur den Mund öffnete, jeder Schuß daneben, mit unnachahmlicher Sicherheit!« erklärte Georgi unter durchaus allgemeiner Zustimmung. Hatte ein Schauspieler einen guten Tag, so war man sicher, daß Herr von Kreuzstamm erklärte, er habe heute wie ein Schwein gespielt. Leistete eine Novize das Äußerste an Ziererei und Unnatur, so war sie für ihn ein Ausbund schlichter Natürlichkeit. Griff eine Szene über Erwarten ans Herz und war selbst Georgi davon gerührt, so sagte er ganz gewiß, alles im Stück sei gut gewesen bis auf diese völlig mißglückte Szene, die ihm nicht einmal die Haut geritzt habe. »Wenn ein Kollege Keuchhusten hatte und Herr von Kreuzstamm hörte ihn pfeifend Luft holen, so lobte er gewiß seine atmungstechnische Meisterschaft.«

Dem neuen Dramaturgen wurde von allen Seiten wirklich gehuldigt. Man suchte ihn, suchte sein Zimmer auf, selbst Leopold Miller kam mit dieser und jener Rolle zu ihm, um sich darüber auszusprechen.

So weit war nun alles ganz gut. Es fehlte nur noch Ophelia.

Der Aufenthalt in dem Theatergebäude, das Treiben im dunklen Parkett und auf der schwach erleuchteten Bühne bei den Proben, der zwar kleine, aber doch echte Theaterbetrieb hatten für Erasmus allein schon viel Anziehendes und Ablenkendes. Hatte er sich früh mit »Hamlet« beschäftigt, so umgab ihn, besonders wenn er nach der Probe noch in seinem Stübchen arbeitete, die Welt des Stücks am Nachmittag. Mit eingehüllter Seele vergaß er zuweilen nicht nur Weib und Kind, die kranke Schwägerin, den Inhalt seiner nächtlichen Briefe an Tante Mathilde, den drohenden Konflikt, der ja allerdings vorerst nur eingebildet war, sondern auch seine Empfindung für Irina trat zurück, wie ihm wenigstens schien, und jene sonst immer offene, immer schmerzende, heimliche Wunde schmerzte kaum noch und schien sich zu schließen.

Die nun fast ununterbrochene Beschäftigung mit eingebildeten Menschen und Dingen artete manchmal – es konnte nicht anders sein –, wenn Erasmus abends allein im Theatergebäude war, in halluzinatorische Zustände aus. Das Licht der Lampe auf dem Papier, schreckte er manchmal empor, als ob der geharnischte Geisterheros, Hamlets Vater, hinter ihm stünde. So geschah es wohl auch, wenn eine Maus auf dem Gang raschelte oder eine Fledermaus gegen das Fenster stieß. In einer solchen Nachtstunde, einige Zeit nachdem der letzte Zuschauer und der letzte Schauspieler das Theater verlassen hatten und auf dem Theaterplatze nur noch der Schritt des Nachtwächters hörbar war, spürte Erasmus draußen im Gange deutlich etwas die Wände entlangschleifen. Da es während eines gespannten Hinhorchens ruhig blieb, vertiefte er sich wiederum, und indem er sich fragte, warum er sich diesem Alleinsein überantworte, das doch seine Phantasie in so ungewöhnlicher Weise aufpeitschte, gestand er sich, wie gerade das ihn hier festhalte, weil es seiner Arbeit zugute kam.

Nun aber schleifte es wiederum, und ein keineswegs schwerer, doch deutlicher Schritt war vernehmlich geworden, worauf sich gleichsam ein nicht vorhandener Kamm auf dem Rücken des jungen Mannes längs der Wirbelsäule aufrichtete und über den Nacken in seinen eisig gesträubten Skalp überging.

Was war das? – »Herr Doktor! Herr Doktor!« rief eine Stimme.

 

Es dauerte lange, ehe Erasmus Gotter begriff, daß die Zimmertür sich geöffnet hatte, eine Gestalt, vom Licht seiner Arbeitslampe beleuchtet, erschien, daß diese Gestalt keine riesengroße Erscheinung war, sondern natürliche Maße hatte, daß sie nicht vom Lichte einer Laterna magica auf die Wand geworfen wurde, sondern wirklich war, daß sie einem weiblichen, keinem männlichen Wesen angehörte und daß dieses Wesen nicht die Prinzessin, sondern Irina war, Irina Bell, die ihn wahr und wahrhaftig um diese Geisterstunde besuchte. »Fräulein Irina«, rief er, »wie kommen Sie denn hierher?« Sie hatte sich in ihrer Garderobe ein wenig versäumt und schließlich entdeckt, sie sei im Theater eingeschlossen.

Das erste, was der junge Dramaturg tat, waren drei Griffe: nach Hut, Stock und Paletot. Er durfte hier nicht mit Irina allein bleiben. Er, der nach einer stillen Begegnung mit ihr gelechzt hatte, empfand sie nun als Überrumpelung.

»Haben Sie Angst vor mir, Herr Doktor?«

Diese nüchtern gesprochenen Worte gaben Erasmus einigermaßen die verlorengegangene Fassung zurück. »Nein«, sagte er. »Es war gleichsam eine Reflexbewegung. Sie kamen mir eingekerkert vor, und ich wollte Ihnen den Bühneneingang aufschließen.«

Erasmus dachte und fühlte bürgerlich. Von der Wischiwaschimoral einer kleinen Provinzschmiere war er durch eine unübersteigliche gläserne Mauer getrennt. Das Glas war Glas, aber dickes Glas, und er blickte ohne Befremden und ohne zu moralisieren in alle Winkel des anderen Gebietes hinein, es kennend, als ob es sein eigenes wäre, in Wahrheit ganz von ihm getrennt.

Wie ein Ertrinkender in den kurzen Sekunden seines Todeskampfes, auf eine furchtbare Weise sehend, Vater, Mutter, Geschwister, Weib, Kinder greifbar deutlich vor sich hat, ihre Bewegungen sieht, ihre Worte hört, so stand Erasmus als junger Hausvater inmitten seines Hauswesens, strich seinem geliebten Weibe über den Scheitel, sah ihr ins dunkle, ahnungslos vertrauende Auge und sagte: Nein, nein, ich gehöre dir, ich versündige mich an deiner und meiner Treue nicht.

»Es war aber doch, als ob Sie Hals über Kopf vor mir fliehen wollten!«

Vor mir wollte ich fliehen: diese fünf Worte lagen auf der Zunge des jungen Menschen als Antwort bereit. Allein sie blieben unausgesprochen. »Ich war nur in meine Arbeit vertieft«, sagte er, »und glaubte, es sei einer der Schatten des Dramas lebendig geworden.«

»Aber es tut mir ja schrecklich leid, ich will Sie durchaus nicht stören, Herr Doktor.«

Was sollte Erasmus darauf antworten?

»Ich hätte es ganz gewiß nicht getan«, fuhr sie fort, »ich wäre gewiß nicht in Ihr Heiligtum eingebrochen, hätte ich mir sonst irgendwie Rat gewußt. Ich weiß wohl, daß das sozusagen Kirchenschändung ist.«

»O Gott!« – Er suchte sie zu beruhigen.

»Nein, Sie dürfen nicht mit mir gehen, Herr Doktor! Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn ich den Faden Ihrer Arbeit durchgerissen hätte. Wenn Sie wollen, taste ich mich wieder in meine Garderobe zurück. Wenn es Sie aber nicht stört, so setze ich mir diesen Stuhl in die Ecke und warte, bis Sie mit Ihrer Arbeit fertig sind. Es mag meinethalben bis morgen früh dauern. Ich werde mich gar nicht bemerklich machen. Und Sie, bitte, Doktor, vergessen Sie mich!«

Da stand es vor ihm, dieses kleine, zerbrechliche Mädchen mit dem üppigen Haar und dem Madonnengesicht. Die feine, lebensgroße Meißner Porzellanfigur ergriff einen Stuhl, den sie im tiefsten Schatten des Zimmers niedersetzte, und wartete, seltsam horchend, ab, ob man sie Platz zu nehmen auffordern würde.

An der Lage war schließlich nichts mehr zu ändern, erwog Erasmus bei sich selbst. Die üble Nachrede würde dieselbe sein, ob man ihn jetzt oder eine Stunde später mit der jungen Person das ausgestorbene Theater verlassen sah. Er dachte an Irina-Ophelia. Warum sollte man sich nicht durch Erörterung dieses Besetzungsproblems vor sich selbst und anderen und auch gegen die üble Nachrede zu decken vermögen? Die Besprechung mit Irina mußte ja kommen. Man hatte ganz einfach, um ungestörte Ruhe zu haben, dazu eine Stunde nach Schluß der Vorstellung gewählt.

Nein, sie war ja im Grunde keine Ophelia, wenigstens keine, wie man sie in den Kreisen der Shakespeare-Darsteller und Theaterdirektoren sich vorzustellen liebte. Dazu war sie nicht hinreichend vollsaftig. Aber, dachte Erasmus, für das Konventionelle bin ich nicht. Und übrigens, wenn nicht der Körper, so ist hier das reine, süße Madonnenhaupt in jedem Sinne Ophelia. Und dann: alle übrigen Weiber der Bühne sind Talentchen, die überdies ausgeleiert sind; dieses kleine, verrückte Geschöpf dagegen ist ein unverbrauchtes, das ganz gewiß binnen kurzem in der Welt von sich reden machen wird. Es reizt mich, aus dieser Person die Ophelia und das Ophelia-Schicksal herauszuholen.

»Fräulein Bell, wissen Sie eigentlich, woran ich arbeite?« fragte Erasmus.

»Im Theater sagt man, daß Sie den ›Hamlet‹ von Shakespeare noch einmal dichten, weil er Ihnen nicht gut genug wäre.«

»Glauben Sie das auch, Fräulein Bell?«

»Ach nein. Sie wissen ja, wie es beim Theater ist. Jeder spricht boshaft über den andern.«

»Das ist eine auch außerhalb des Theaters recht weit verbreitete Eigenschaft. Übrigens ist dieses Stück nicht einmal, sondern viele Male vor mir bearbeitet worden. Kennen Sie das Stück, Fräulein Bell, und haben Sie von der Rolle der Ophelia eine Vorstellung?«

»Die Ophelia liegt mir nicht.«

»Wie sind Sie zu der Ansicht gekommen?«

»Ich habe die Rolle für mich studiert und finde mich geradezu unerträglich.«

»Sie haben möglicherweise für das, was ich plane, nicht gerade ein sehr gutes Vorurteil. Aber da die Gelegenheit günstig ist, wollen wir nicht den Stier bei den Hörnern packen, möchten Sie mir nicht – ich habe den ›Hamlet‹ hier, ich könnte ihn lesen –, möchten Sie mir nicht etwas vorsprechen?«

»Sie werden ja sehen, daß ich recht behalte. Meinetwegen, wer schüchtern ist und sich zieren will, gehört nicht aufs Theater.«

Sie warf bei diesen Worten Hut und Mäntelchen ab und stellte sich etwas seitlich, so daß sie ihn nicht anblicken brauchte, vor Erasmus hin, der wiederum Platz genommen hatte.

»Was wollen Sie sprechen?« fragte Erasmus, der nur noch Dramaturg und ganz in seinem Elemente war.

»Über die ersten Szenen des Laertes«, sagte sie, »muß man irgendwie hinwegkommen. Sie sind mir zu fad. So dumm, so auf den Kopf gefallen wie diese Ophelia bin ich nicht. Da hat sie zu sagen: ›Zweifelst du daran?‹ Dann hat sie zu sagen: ›Weiter nichts?‹ So blöd: ›Weiter nichts?‹! Das möchte ich auch sagen. Oder: ›Ich will den Sinn so guter Lehr' bewahren.‹ Nein, das liegt mir nicht. Gute Lehren von einem Bruder bewahren, liegt mir nicht. So kann man sich, weiß Gott, nicht verstellen. Dann die Sache mit ihrem Papa, dem Polonius. Gott, wie bin ich mit meinem Papa umgesprungen! Er liest ihr den Text wegen dem bißchen Prinzenliebschaft! Mein Papa war selber verliebt in mich. ›Er hat mit seiner Lieb' in mich gedrungen in aller Ehr' und Sitte.‹ Päh! Und der Schluß: ›Ich will gehorchen, Herr!‹ – ganz unmöglich!«

Erasmus Gotter lachte von Herzen.

»Von welcher Szene an hat denn nun aber die arme Ophelia einigermaßen Ihren gnädigen Anteil gewonnen, Fräulein Bell?«

»Na, wo sie ehrlich verrückt wird, natürlich.«

»Also noch nicht in der Szene, wo man sie mit dem Prinzen Hamlet zusammenbringt?«

»Da schon ein bißchen mehr, weil sie schon da ein Luderchen ist.«

»Wieso ist sie denn da ein Luderchen?«

»Na, sie lügt doch den Prinzen an. Wo sie ihn anlügt, das will ich schon machen.«

»Wieso lügt sie den Prinzen an?«

»Erstens weil sie ihm zum Scheine den Laufpaß gibt, dann weil die ganze Unterredung abgekartet ist, weil sie weiß, daß zum mindesten der König und Polonius hinter dem Vorhang stehen und Wort und Miene des Prinzen belauern, weil sie ihn also glatt verrät: Hamlet merkt ja das und sagt es ihr beinahe direkt auf den Kopf zu: ›Wo ist Euer Vater?‹ fragt er. – ›Zu Hause‹, sagt sie. – ›Laß die Tür hinter ihm abschließen, damit er den Narren nirgend anders spiele als in seinem eigenen Hause!‹ Hamlet weiß ganz genau, daß der Alte lauscht, hält es ihm aber als einem alten Narren zugute; das zweitemal aber, im Zimmer der Königin, versteht er falsch und sticht ihm seinen Degen durch den Bauch.«

»Sie könnten ja vielleicht auch einmal im kleinen Marmorsaal einen Vortrag über ›Hamlet‹ halten!« lachte Erasmus. Er meinte es aber ernst, wenn er hinzusetzte: »Das könnte für manchen recht lehrreich sein.«

»Vierter Aufzug, fünfte Szene, wenn es also sein muß. Fangen wir an!«

Erasmus las:

»Man muß doch mit ihr sprechen: sie kann Argwohn
in Unheil brütende Gemüter streun.
 . . .
Der kranken Seele, nach der Art der Sünden,
scheint jeder Tand ein Unglück zu verkünden.
Von so betörter Furcht ist Schuld erfüllt,
daß, sich verbergend, sie sich selbst enthüllt.«

Während dieser Worte hatte sich Irina schnell auf den dunklen Flur begeben. Erasmus sagte: »Auftritt Opheliens«, und sie erschien wieder, ganz verändert, im Zustand einer fast völlig Bewußtlosen, in wahrer, nicht gespielter Trance, grauenhaft entstellten Gesichts, so daß Erasmus erschrak und kaum seinen Part sprechen konnte. Von den Worten an »Wo ist die schöne Majestät von Dänemark?« bis zum Schluß war ein fremdes, gänzlich neues Grauen in ihm. Das vor ihm schreitende, sprechende, horchende, singende, girrende, bald unendlich liebliche, bald unendlich abstoßende, scheinbar von einer geheimen Angst, einer geheimen Schuld gehetzte Geschöpf konnte beinah nicht als Irina erkannt werden. Erasmus würde sich kaum gewundert haben, wäre die wahre Irina jetzt erst etwa mit einer Beifallsbezeigung zur Tür hereingetreten. Kein Zweifel, dieses meist recht oberflächlich scheinende Mädchen – oder besser: die Seele dieses Mädchens – war in eine sehr große Tiefe getaucht, bevor sie, aufkommend, die Seele Opheliens zu der ihren gemacht hatte. Es wurde klar, »von so betörter Furcht ist Schuld erfüllt, daß, sich verbergend, sie sich selbst enthüllt«. Diese Ophelia war eine Sünderin. »Er war bereit, tät an sein Kleid, tät auf die Kammertür. Ließ ein die Maid, die als 'ne Maid ging nimmermehr herfür.« Diese Ophelia hatte Hamlet erhört. Diese Ophelia glaubte Blutschuld auf sich geladen zu haben, mitschuldig an dem Tode ihres Vaters zu sein. Und da sie in diesem Irrtum lebte, auch eine Verbindung mit dem Mörder ihres Vaters unmöglich geworden war, wurde sie wahnsinnig.

Mit den Worten »Gott sei mit Euch!« schloß sie und huschte zur Tür hinaus, seltsam geisterhaft, seltsam unwirklich, um gleich darauf als nüchterne Irina Bell wieder einzutreten.

 

Zum ersten Male erlebte Erasmus hier das rätselhafte Phänomen, ohne das eine menschliche Schauspielkunst nicht vorhanden wäre. Darüber nachzudenken, hatte er zunächst nur wenig Zeit. Sofort aber wurde ihm klar, daß es sich hier weit weniger um Nachahmungstrieb als um die Emanation einer ganz andern Kraft handle, einer ganz ursprünglichen, überwiegenden Kraft, die mit Nachahmung nichts zu tun hatte. Auch das erkannte Erasmus wie im Blitz: sie hatte im Weibe, nicht im Manne ihre stärkste Entwicklung.

Von dem Geschehenen und Gehörten zutiefst überrascht und aufgeregt, vermochte Erasmus sich nicht sogleich wiederzufinden. Er schwieg. Indem er aber die kleine Schauspielerin unverwandt starr anblickte und mit Unterkiefer und Mund Bewegungen machte, als ob er irgendeinen fremden Geschmack schmeckte, glaubte das Mädchen zu begreifen, welchen Eindruck sie gemacht hatte. In dem Maße, als sie, trotz schwachen Lampenlichtes, erkannte, wie sich sein Antlitz verfärbt hatte, stieg Röte in ihr Madonnengesicht, und als der junge Dramaturg gepreßt, kaum hörbar, seine Ansicht von dem Erlebnis in die Worte gefaßt hatte: »Entweder Sie spielen die Ophelia, oder . . .«, da girrte ein kurzes Auflachen durch den Raum, und schon war sie ihm um den Hals geflogen.

Langsam, langsam, mit dem Anschein, erschrocken zu sein, wie wenn der gute Lehrer ein Kind, das von berechtigter Freude zu harmloser Unart übergegangen ist, zur Ruhe bringt, löste Erasmus die Hände des Mädchens von seinem Halse. Schweigend, aber mit stiller Entschiedenheit, nahm er alsdann Hut, Stock und Paletot wirklich von der Wand, und während Käuze mit seltsamem Klagelaut im Mondschein um den Tempel Thaliens revierten, leitete der junge, tief bewegte Mensch die kleine Schauspielerin, ein Streichholz nach dem andern abbrennend, dem Ausgang des Gebäudes zu.

»Das ist Sultan«, sagte Irina nur noch, als sie neben Erasmus zwischen den Bäumen des Parkes hinwandelte und wiederum das laute Röhren irgendeines Hirsches im Gatter hörbar ward.

 


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