Gerhart Hauptmann
Im Wirbel der Berufung
Gerhart Hauptmann

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Fünftes Buch

Ist dies alles wirklich oder unwirklich? fragt sich Erasmus, als er nachts bei der Lampe im einsamen Stübchen sitzt. Wenn die Stille des Gärtnerhauses ihn umgibt, genießt er noch immer das Glück, alle bedrängenden Mächte zuweilen als unwirklich zu empfinden. Er hat Visionen, wobei seine tiefe Verbundenheit mit Kitty, Irina, Prinzessin Ditta, mit der Kunst, mit dem Leben, mit Gott, mit Frau Herbst, der seltsamen Gärtnersfrau, kurz mit allem und allem, den Stoff liefert. Der Dichter hat diese Visionen jedoch isoliert, das heißt, ins Reich der Dichtung verwiesen. Er zeichnet auf, umreißt sie in flüchtigen Strichen, um sie für die Zukunft aufzubehalten. Er hat Gedanken, Ideen, Einfälle, alles, wie ebenso viele nächtliche Blitze, welche immer für einen Augenblick ihm eine andere taghelle Welt zeigen. Dieser Zustand erhebt ihn über das irdisch Bedingte seiner Leidenschaft und Leidenschaften. Unpersönliches, überpersönlich Großes nimmt ihn auf. Er empfindet es wie ein Bad seiner Seele.

Was soll er tun? Hier liegt ein Blatt, auf dem ein Brief an Tante Mathilde begonnen ist. Wenn er an diese liebe und verständige Dame schreibt, denkt er an Ägypten, den Vater der Ströme, den Nil und seine Quellen, an die Rätsel des dunklen Kontinents, an den Afrikareisenden Nachtigal: alles Dinge, die im Dasein der lieben Dame das große Erlebnis ausmachen. Den hier geschriebenen Zeilen fügt er hinzu: »Ich warte auf den harmonischen Abschluß einer Illusionsreihe.« Dann schreibt er, völlig abrupt, wie es scheint, in sein daneben aufgeschlagenes Tagebuch: »Religion ist Erotik, aber Erotik nur selten Religion.« Und dann diese Worte, die aus Henry Thoreaus »Waiden« stammen und deren er sich erinnert: »Und wenn ihr selbst mit Botschaften vom Himmel handelt, der ganze Fluch des Handelns ist auch diesem Geschäft gesellt«, ein Ausspruch, der mit dem vorhergehenden nur in losem Zusammenhange steht. Mit ihm aber ebenso lose zusammen, und nur weil Handeln als Kaufmannschaft und Handeln als Tun dieselbe Wurzel haben, hängt der andere Satz, der ihm aus der Feder fließt: »Handeln versklavt.«

Erasmus hat eine Flasche Wein neben sich. Das blutrote Getränk, wovon ein halbes Glas vor ihm steht, hat seine Seele illuminiert. Es macht ihn heiter, macht ihn unverantwortlich, und weil es ihn außerdem unpersönlich macht, macht es ihn zuversichtlich. Kinder wurden immer empfangen, immer geboren. Da schreibt ihm Kitty, sie empfinde jene mystische Traurigkeit, da ihr das Tor sichtbar ist, durch das sie unbedingt gehen muß, dunkel, wie das Tor des Todes. Und da wird ein Kind, das die Anlagen seiner Mutter, seines Vaters auf sich nehmen muß, die vielleicht mehr für das Leiden als die Freude prädestiniert scheinen. Und da zeigen sich die unendlichen, nicht zu zählenden Stufen einer Jakobsleiter, die, nicht wie die echte, im Himmel ihr Ende hat, für Engel mit Flügeln eine Lust, für Wesen, die keine Flügel haben, eine endlose Mühseligkeit. Aber dies alles ist ja im Grunde schön, weil es eben das Leben ist. Es ist ein wunderbares Mysterium, fühlt Erasmus, und muß eine noch weit wunderbarere Bedeutung haben. Und überdies, die Gîta sagt: »Der Ergebene, der die Wahrheit kennt, denkt, daß er selbst nichts tue, wenn er sieht, hört, fühlt, riecht, ißt, geht, schläft oder atmet.« Erasmus fühlt, wie er von etwas jenseits aller dieser Funktionen belebt und getragen ist. »Etwas mehr Bewußtlosigkeit ins Leben gebracht, wäre gut«, kritzelt er ins Tagebuch. Und etwas mehr Wüste?

Dieses Gekritzel jedoch ist wieder der Beweis eines Bewußtwerdenwollens, nicht des Gegenteils. Wirklich genießt Erasmus sich selbst, ist Betrachter und so Genießer seiner Zustände. Sein Empfinden in diesen mitternächtigen Stunden ist abgrundtief, das Wogen und Schweben einer Materie, die alles verschlingt und alles gebiert. Was wirft der junge Dichter nicht alles hinein, Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde, den liebenswürdigen, leidenden Fürsten und seinen Hof, Kitty, die Kinder, das Ungeborene, Irina, Prinzessin Ditta, und so fort. Alle werden, wie Opfer oder Verurteilte, vom Tarpejischen Felsen durch den Henker Wille in den siedenden Abgrund hinabgestürzt. Der junge Magier kennt keine Furcht, sie werden geläutert wieder auftauchen.

 

Über dem Greifswalder Bodden, unten, zwischen Bäumen sichtbar, steht wieder der Mond. Das Wasser flimmert im silbrigen Glanze unter ihm. Welche zuverlässige Wiederkehr! Welche Gleichmäßigkeit! Und dann der immer wiederkehrende Fixstern, dem wir unsere Tage verdanken! Erde, Mond, Sonne: wenn diese drei Großen auf unverantwortliche Weise Ordnung zu halten gezwungen sind, sollten wir, wir kleinen Menschen, auf eigene Faust Fehltritte machen dürfen? Oder muß auch die Erde, der Mond, die Sonne an den Beichtstuhl des Pfarrers gehen, um sich Sündenvergebung zu erwirken?

In den feuchten Büschen des Gartens setzt das Nachtigallenmännchen immer wieder zu seinem herrlichen Crescendo ein. Sänge es aus sich selbst, was es so innig genießt, wie würden denn auf dem Erdenrund gleichzeitig so viele Millionen Nachtigallen ihre Begabung ausströmen! Sie sind begabt: man bedenke das Wort.

Auch ich bin begabt, denkt Erasmus bei sich. Ich bin ein Gefäß und werde von unbekannter Hand mit dem Feuertranke des Lebens angefüllt. Ich brenne davon, ich bebe, ich zittere. Möglich, daß das Gefäß zerschmilzt oder daß es zerbricht, dann wird es keineswegs auf den Müllhaufen, sondern in die glühende Glockenspeise zurückgeworfen, die es in neue Formen stürzt.

Nun wäre ich fähig, denkt Erasmus, den Hut zu nehmen, den Schlüssel der Orangerie von außen umzudrehen, am Weinspalier hinauf durch das Fenster der kleinen Irina zu klettern und morgen früh, zum Schrecken Ollantags, zum Entsetzen des ganzen Hofes, im Angesicht des wütenden Oberhofmeisters, mit einer Zigarette im Munde herauszutreten.

Aber auch dies blieb Träumerei. Erasmus war nur unversehens in eine der überall lauernden Schlingen seines leidenschaftlichen Zustandes getreten.

Wie fern und fremd ist die Nacht dem Tage, denkt Erasmus.

Er versucht, sich seiner Aufgabe zuzuwenden und dadurch abzulenken. Was will das helfen? Wo Hamlet ist, ist auch Ophelia. Aber welche Ophelia? Diesmal ist es jene, mit der die Szene in der Schloßgalerie gespielt wurde.

 

Erasmus hatte bei geöffnetem Fenster außer dem geheimnisvollen Rascheln, das der Nachthauch erzeugte, mehrmals ein Knacken und Rauschen in der Efeubekleidung des Giebels gehört, das ihn vorübergehend befremdete. Als es sich abermals erneuerte, fühlte er sich veranlaßt, nach der Uhr zu sehen, weil er feststellen wollte, ob da vielleicht noch ein menschliches Wesen herumspuken könne. Der Zeiger stand zwischen zwölf und eins. Als er dann die Augen vom Zifferblatt nach dem Fenster wandern ließ, glaubte er nun wirklich und wahrhaftig, die Grenzen der gesunden Vernunft überschritten zu haben und dem Wahnsinn verfallen zu sein. Bis zur Bewußtlosigkeit erstaunt, ward er, eisig überrieselt, durch eine gespenstische Erscheinung im Rahmen des Fensters gebannt: ein Haupt, mit dem runden Glorienschein des Vollmonds hinter sich, vom Lichte der Stubenlampe beleuchtet. Sooft er die Lider schloß und öffnete, der nächtliche Schrecken wankte nicht.

Statt zu schwinden, nahm er zu an Deutlichkeit. Da er aber zugleich an Schönheit wuchs und der Epiphanie eines griechischen Götterjünglings immer ähnlicher ward, konnte man ihn bald keinen Schrecken mehr heißen. Und so wurde die Kälte im Körper des einsam Wachenden durch eine wohlige Wärme verdrängt, und ein blitzschnelles Denken machte ihn willig, eine solche Art Wahnwitz willkommen zu heißen.

»Erschrecken Sie nicht! Nun bin ich einmal so weit, und nun muß ich auch wohl zu Ihnen hineinkommen!« Diese Worte, lachend geflüstert, kamen von dem apollinischen Jünglingshaupt. Sie waren von der schnellen Bewegung zweier schönen Hände und Arme begleitet, die einen schönen Körper am Fensterkreuz emporzogen, der sich nun ohne Mühe über das Fensterbrett ins Zimmer schwang. Da erkannte Erasmus, daß er keineswegs von Sinnen war, sondern, so unglaublich es schien, Prinzessin Ditta vor sich hatte.

Es ist nicht sicher, daß Erasmus einer so seltsamen Überraschung gegenüber eine gute Figur gemacht haben würde, wenn die lustige Sicherheit der Prinzessin ihn nicht jeder Verlegenheit überhoben und ernüchtert hätte. »Erschrecken Sie nicht, lieber Doktor«, sagte sie. »Glauben Sie um des Himmels willen nicht, daß dieser Nachtbesuch, den ich Ihnen abstatte, bei meiner Natur etwas Besonderes ist. Solche Sprünge habe ich in der Pension und im Palais mehr als einmal gemacht. Ich konnte nicht schlafen. Die Nacht ist warm, und ich dachte, wir könnten noch etwas plaudern. Daß Sie lange des Nachts bei der Lampe sitzen, wußte ich. Zum Überfluß machte mich sicher, daß Frau Herbst vor einer halben Stunde ins Schloß gerufen wurde, um einen gewissen Hokuspokus am Bett des Fürsten zu machen, der ihm, wie es heißt, den Schlaf bringt, wenn jedes andere Mittel vergeblich gewesen ist. Sie hat ihre Tochter ins Schloß mitgenommen, damit sie auf dem Rückweg Begleitung habe. So sind wir schließlich allein im Haus. Alle diese Umstände waren unwiderstehlich für mich. Komme ich Ihnen jedoch ungelegen und sind Sie müde und wollen Sie schlafen, nun, so jagen Sie mich ganz einfach fort, ich nehme es Ihnen durchaus nicht übel.«

Erasmus war jung; er würde gelogen haben, wenn er gesagt oder angedeutet hätte, der Besuch des schönen Mädchens sei ihm unangenehm. Er beeilte sich vielmehr, auf ihren natürlichen Ton einzugehen. Sie wurde also zum Sitzen genötigt, Zigaretten und Aschenbecher vor sie hingestellt, er goß in zwei Gläschen grüne Chartreuse, und das alles mit einer Harmlosigkeit, als ob er Jetro zu Gast hätte.

Er dämpfte seine Stimme nicht, wenn er dabei versicherte, wie er das Kommen Ihrer Durchlaucht sowohl ersehnt als erwartet, ja eigentlich geahnt hätte. Man erwarte ja doch immer das Wunderbare, und schließlich sei es nicht einmal so wunderbar, wenn jemand, der die Haustüre verschlossen findet, über ein Spalier durch das Fenster einsteige. Ihm selber konnte nichts Lieberes widerfahren, sagte er, denn es sei ihm recht übel zumute gewesen. Nun sei ihm mit einem Male wohl, es liege eine Bestimmung darin, daß sie seinen Zustand geahnt habe. Sie komme wie seine Erlöserin. Alles dieses klang nicht sentimental, sondern war von der Art, wie Kamerad und Kameradin miteinander verkehren, und außerdem lag viel einfache Wahrheit darin.

Die achtzehnjährige Durchlaucht paffte gewaltig. Sie schlang den Rauch ihrer Zigarette ein und ließ ihn wieder durch Mund und Nase hervorquellen. Sie war eine Kettenraucherin. Die Dame nahm keine Rücksicht darauf, ob die griechische Jünglingsschönheit ihres Hauptes dies vertrug. Ihre Art, sich zu geben, schwankte zwischen drei Zuständen. Der eine war schweigsam und beobachtend. Es war wohl der, bei dem die Nasenflügel am markantesten gebläht und die meisten Papyros vertilgt wurden. Der andere machte die stille Frage vorherrschend, empfing die Antwort mit Nachdenklichkeit und nahm dazu versonnen Stellung. Im dritten wurde die Prinzessin, oft scheinbar unbegründet, von stillem innerem Lachen geschüttelt. Da zuckte ihr Antlitz mit dem Wippnäschen vor verhaltener Lustigkeit, und man ahnte den tollen, kindlichen Übermut, dessen sie fähig war.

Sie fing mit dem dritten Zustand an, nachdem sie sich in den ehrwürdigen, großgeblümten Sorgenstuhl des verstorbenen Schloßgärtners geworfen, den Erasmus an die Lampe gerückt hatte.

»Kommen Sie sich nun eigentlich in dieser Umgebung nicht unendlich komisch vor?« begann sie mit einer Miene, die den äußersten Grad von Belustigung ausdrückte. Aber Erasmus verstand sie nicht gleich oder wollte nicht glauben, daß sie seine ihn so hoch erregende, ruhmreiche Tätigkeit als eine Art Posse betrachten könne. Als sie seine Verdutztheit sah, griff sie zu unzweideutig erklärenden Ausdrücken, die den Granitzer Hof und seine Mitglieder als eine Gesellschaft von degenerierten Trotteln brandmarkten. Den Fürsten selber nahm sie aus. Erasmus vermied es, zuzustimmen.

»Sie ahnen ja die Beschränktheit dieser Menschen nicht! Daß sie von Gott und der Welt nichts wissen, mag schließlich noch hingehen. Aber sie wissen nicht mal in ihren eigenen sieben Sachen Bescheid. Andere haben das Heft in der Hand, und sie werden gehalten und müssen parieren. Glauben Sie nur nicht, daß es zu Hause bei mir, obgleich ich auch aus einem regierenden Hause bin, anders ist.«

Die Art, wie die junge Dame über ihre Gastgeber sprach, gefiel Erasmus nicht. »Ich«, sagte er, »kann weder glauben noch nicht glauben. Es ist mir zur Gewohnheit geworden, weil ich es für das Sicherste halte, die Menschen nur nach den Erfahrungen zu beurteilen, die ich mit ihnen gemacht habe. Und, Durchlaucht, Sie werden begreifen, meine Erlebnisse in Granitz verpflichten mich vor allem zur Dankbarkeit.«

»Da sind Sie aber sehr schief gewickelt!« sagte sie. »Denn«, fuhr sie nach einem oberflächlichen Wortwechsel fort, »Sie und nur Sie allein sind hier der Gebende, und nicht auf Ihrer, sondern ganz auf der andern Seite – umgekehrt wird ein Schuh daraus – hat man Veranlassung zur Dankbarkeit!«

Aber sie setzte sogleich hinzu: »Machen Sie sich deshalb nicht etwa Hoffnungen!«

»Ob Sie nicht da am Ende zu hart urteilen!? Ich habe nämlich noch gewisse alte Begriffe von Fürstlichkeit.«

»Die sollen Sie«, rief sie, »so schnell wie möglich loswerden. Was man davon in Büchern liest, das gibt es nicht. Man läßt Sie gewähren, weil das, was man bei Ihnen für eine harmlose Schrulle hält, als eines der Mittel gegen die Langeweile willkommen ist, unter der man an Höfen entsetzlich leidet.

Verstanden, auch nur entfernt verstanden, auch nur sozusagen zum hunderttausendsten Teil verstanden werden Sie nicht! Hamlet, Shakespeare, ein Dichter, ein Schauspieler, ein Ochsenknecht und ein Stromer sind bei diesen Leuten ein und dasselbe.«

»Aber, Prinzessin«, sagte Erasmus, »ich frage mich, wieso gerade Sie die Vertreter Ihres eigenen Standes so gnadenlos ablehnen?«

Sie gab zur Antwort: »Das hat seine Gründe!« Vier Worte, bei denen ihr Gesicht zu einer harten und bösen Schönheit erstarrte.

»Ich bin hierhergekommen«, fuhr sie scheinbar gelassen fort, indem sie die Asche der Zigarette abklopfte, »weil ich darunter leide, daß ich mich eigentlich keinem Menschen gegenüber offen aussprechen kann. Nach diesem und jenem, was ich von Ihnen gehört und von andern über Sie erfahren habe, huldigen Sie gewissen Ansichten, die heutzutage gefährlich sind. Wenigstens habe ich zugehört, wie diese Bestie von einem Oberhofmeister sich vor dem herzensguten, braven Aloys – sie meinte den Fürsten – darüber ausbreitete. Aber der gute Aloys ist gar nicht so dumm. ›Wie? Was?‹ fragte er, ›glauben Sie, daß mir das Bürschchen, wenn ich zum Beispiel im Garten schlafe – es heißt, daß, als ich schlief in meinem Garten, mich eine Schlange stach! So wird das Ohr des Reichs getäuscht –, also meinen Sie, wie? was?, daß mir das Bürschchen, wenn ich im Garten schlafe, Bilsenkraut ins Ohr träufeln oder eine Bombe unter den Rollstuhl legen wird?‹ Und als Bourtier, der Oberhofmeister: ›Das nun wohl gerade nicht!‹ antwortete, rief er vergnügt: ›Nun, dann mag er Ansichten haben, welche er will, ich bilde mir gar nicht ein, daß wir Fürsten, wie? was?, alle vollkommene Menschenexemplare sind.‹«

Man brach gemeinsam in ein herzliches Lachen aus.

Dann sagte Erasmus, indem er ein Schlückchen von seinem Likör nippte: »Der Punkt interessiert mich. Mit gnädiger Erlaubnis, Prinzessin, komme ich später darauf zurück.«

»Gewiß«, fuhr sie fort, »wir wollen darauf zurückkommen. Das ist ja der Zweck, um dessentwillen ich den Weg durch zwei Fenster genommen habe. Vor allem müssen Sie wissen, daß mir trotz meiner Geburt, oder gerade wegen meiner Geburt, die ganze höfische Welt bis zum Speien verhaßt und widerwärtig ist. Sind Sie nun wirklich, wie man munkelt, im Grunde ein Revolutionär? Sie finden in mir gewiß einen größeren.«

So jung er war, kannte Erasmus die Menschen zu gut, um dieses Bekenntnis unter einer anderen Rubrik als der einer fürstlichen Laune zu buchen. Das schöne, stolze Geschöpf, das als Mitglied eines regierenden Hauses über allen Parteien, ja über dem Gesetze stand, kannte die verhängnisvollen Folgen nicht, die ein so unverhülltes Bekenntnis haben mußte, wenn es ein Bürger, ein Untertan, ablegte. Auch schien dieses Absprechen über die Hofgesellschaft, innerhalb der Hofgesellschaft, wie auch das Beispiel der Prinzessin Mafalda lehrte, Mode zu sein.

So sagte Erasmus: »Durchlaucht, Sie erschrecken mich! Den Verdacht, ich könne ein Revolutionär sein, hat Exzellenz Bourtier, wenn er es getan hat, gewiß unter allen Menschen zuerst geäußert. Hat er mich aber, und zwar ohne Vorbehalt, etwa mit diesem Ausdruck gekennzeichnet, so würde er ein Verleumder sein. Haben Sie nun diesem Verleumder Glauben geschenkt, so möchte ich die Hoffnung aussprechen, daß mein schlichter, ehrlicher Widerspruch Sie vom Gegenteil überzeugt.«

»Sie denken! Sie sprechen eigene Gedanken aus! Und wer das tut und sogar noch Bücher schreibt, ist bei uns unweigerlich revolutionär. Das allein schon genügt, um es zu werden, wenn man es noch nicht wirklich ist.«

In den Feldern hinter den Büschen des nächtlichen Gartens sangen Mondscheinlerchen in endlosem Überschwang. Da fuhr sie fort: »Ich will Ihnen einiges aus meinem Leben erzählen, wenn es Ihnen nicht zu langweilig ist. Vielleicht werden Sie dann begreifen, warum ich mit diesem ganzen glänzenden Elend, dieser aufgeblähten, dünkelhaften Rückständigkeit ein für allemal fertig bin.« – Aber Erasmus kaute noch an dem Substantivum »Revolutionär«. »Macht Denken und Schreiben zum Revolutionär? Dann ist auch für mich diese Bezeichnung zutreffend«, erklärte er. »Auch Hamlet, der mir in diesen Wochen ja immer gegenwärtig ist, war dann Revolutionär. Und er war wirklich Revolutionär, und wäre es etwa Verhängnis, Revolutionär wie Prinz Hamlet zu sein, so möchte ich, und wenn es Sibirien oder der russische Galgen wäre, allerdings dies Verhängnis auf mich nehmen.«

»Wie es zu sein pflegt«, fuhr die Prinzessin, von ihrem eigenen Gedankengange gefangengenommen, ohne die Äußerung des jungen Mannes aufzufassen, mit ihrer Eröffnung fort. »Sie kennen ja unsere kleine Residenz. Sie ist natürlich größer als Granitz, weil sie ein Ländchen von nahezu einer Million Einwohner hinter sich hat. Ich bin zwischen Kammerherren, Kammerjunkern, Kammerlakaien, Kammerfrauen, Hofdamen, Pagen, kurz zwischen Hofschranzen und abermals Hofschranzen aufgewachsen. Meine Brüder hatten Gouverneure, Aufpasser aller Art und unzählige Lehrer in Gestalt von Stallmeistern, Fechtmeistern, Unteroffizieren und dergleichen Leuten über sich. Von ihnen hatte auch ich zu leiden. Am meisten litt der ganze Hof, inbegriffen mein Vater und meine Mutter, von einem gewissen Oberhofmarschall. Er war der Herr, er bestimmte alles, sie kamen durchaus nicht gegen ihn auf, ja, kaum durften sie einen Wunsch äußern.

Meine Jugend ist eine Hölle gewesen. Erstens haben mir meine Lehrer und Gouvernanten nur toten Gedächtniskram beigebracht, aber so, als ob sie damit die schwersten Strafen an einem Verbrecher vollziehen wollten. Ich war den niederträchtigsten Geschöpfen aus hohen und niederen Ständen vom Erwachen bis zum Schlafengehen rettungslos in die Hände gegeben. Man nannte das ›unter Aufsicht sein‹. Von früh bis abends wurde ich geschurigelt, seit vierzehn Jahren wie ein Pferd am Göpel im Kreise herumgeführt. Teuflische Gouvernanten marterten mich und schnitten mir in raffiniertester Weise den Weg der Klage ab. Ich bin unmenschlich verprügelt worden: weil ich beim zweiten und dritten Ruf einmal nicht gleich gesprungen kam, zog mich die Gouvernante aus und drosch auf barbarische Weise mit einer ledernen Reitpeitsche auf mich ein, die sie vorher in Wasser getaucht hatte. Da erst, als ich das Glück hatte und meiner Mutter die Striemen zeigen konnte, trat eine kleine Erleichterung meines Lebens ein.«

Das Gesicht der Prinzessin, während sie dies berichtete, nahm wieder den Ausdruck einer sardonischen Maske an, der Erasmus ein leises Grauen verursachte. Es machte ihm klar, daß dieses junge Geschöpf hassen konnte.

»Sie sollten den Hamlet spielen!« sagte er. Er wußte selbst nicht, wie ihm der Einfall gerade in diesem Augenblick gekommen war. Vielleicht um die schöne Besucherin aufzuheitern? Hatte er das gewollt, so zeigte ihr unaufhaltsames herzliches Lachen, daß ihm der Anschlag gelungen war.

»Es wäre nun eigentlich an der Zeit, Ihnen einiges von den Leiden zu erzählen, denen man auch außerhalb der Fürstenhöfe unterworfen ist«, so sagte Erasmus, nachdem sich das Lachen beruhigt hatte. »Ich zum Beispiel besitze eine schauerliche Leidensfähigkeit, eine Anfälligkeit in dieser Beziehung, die das Leiden geradezu an mich zieht, wie ein Magnet die Eisenfeilspäne. Auch Hamlet besaß eine solche Leidensfähigkeit, und es war mir den ganzen Abend, als ob er mit verschränkten Beinen, den Arm so grade herabhängend über die Stuhllehne, dort aus der Ecke, ins Leere starrte. – Eigentlich steht Ihnen Hamlet näher als mir. Leiden so hohen und niederen Charakters, solchen, wie Sie zu erdulden hatten, war er möglicherweise nicht ausgesetzt. Die Schwere der anderen jedoch stellt die Ihren durchaus in den Schatten.«

»Was die anderen betrifft, davon redet mir nicht!« erwiderte lässig die blonde Prinzessin. Und wie sie es sagte und die feinen goldenen Strahlenbögen ihrer Wimpern, geschlossenen Lides, über die unteren Augenränder breitete, sprach ein scheuer, schwerer Gram aus ihr, der wiederum an Hamlet erinnerte.

»Ich würde lieber jahrelange Leiden Ihrer Art in Freiheit auf mich nehmen, als auch nur acht Tage in das Palais meiner Eltern zurückkehren.«

Was will das werden? dachte Erasmus. Und in dem Bestreben, eine ahnende Befürchtung niederzuhalten, Möglichkeiten zurückzudrängen, die seine Lage noch mehr komplizieren konnten, versteifte er sich darauf, am eigenen Beispiel die Leiden außerhalb der Grenzen, die der Prinzessin gesteckt waren, als die schlimmeren Übel hinzustellen. Er schloß: »Ich erlöse mich selbst, indem ich die Flucht ergreife.«

Die Prinzessin sagte: »Eben das ist es ja, was auch ich unbedingt eines Tages tun werde!«

 

Erasmus befiel Angst vor einer neuen Verwickelung. Und die, an welche er dachte, war von der Art, daß man die bisherigen als verhältnismäßig geringfügig ansehen mußte. Hatte die Prinzessin eine Neigung zu ihm gefaßt, vielleicht seit dem Augenblick, wo er den Hamlet und sie die Ophelia vorgestellt, so kam er in eine peinliche Zwickmühle. Es stand dann zur Wahl, entweder mit ihr durchzugehen und so mit übermächtigen Gegnern anzubinden oder die peinliche Josephs-Rolle zu spielen und damit einen Potiphar-Haß auf sich zu ziehen.

Schon dieses nächtliche Stelldichein konnte die schwersten Folgen haben. Wahrscheinlich, falls es ruchbar würde, war damit seinen Granitzer Ruhmestagen ein ruhmloses Ziel gesetzt, und er mußte sich Knall und Fall davonmachen. Wer weiß, was ihm sonst noch begegnen würde. Es fielen ihm Beispiele über Beispiele ein, wie man Liebschaften bürgerlicher Menschen mit Prinzessinnen aus regierendem Hause gerächt und dem Liebhaber das abhanden gekommene Bewußtsein seines Pariatums mit Faust, Stock oder Reitpeitsche beigebracht hatte.

Andererseits fing die Nähe des schönen Mädchens, das den Adel seiner Geburt als göttlichen Stempel in jeder Bewegung, jeder Linie darstellte, allmählich an, seinen Geist zu umnachten, bis er kein Gestern und Morgen und überhaupt nicht die Hand vor den Augen mehr sah. In dieser Nacht war am Ende sein ganzes bisheriges Leben, Kitty und die Kinder, ja selbst Irina, versunken, und nur Ditta, Prinzessin Ditta, soweit die Kontur und die blonde Substanz ihrer Formen reichte, verdrängte die Finsternis.

Er hörte sie reden, wenn sie sprach, er spürte auch, daß er lebhaft antwortete, und als dies eine Weile so fortgegangen war, fragte er sich, warum und wozu er jemals irgend etwas anderes als sie in der Welt gesehen hatte! Es fiel ihm ein, was er gelegentlich in sein Tagebuch geschrieben: »Zu zweien habt ihr eine Weile die Welt allein!«

Und während das Gespräch sich da- und dorthin ausbreitete, auf diesem und jenem Punkte ausruhte, wurde tief unten in seinem Innern eine Stimme laut, die scheinbar unabhängig von seinem Willen und seinen Absichten gleichsam in Form von Glossen sprach. Zum Beispiel so: Ich will den Gott im Menschen sehen. Wir haben kein anderes Licht. Es geschieht nur in der Liebe. – Oder so: Ich hungere nach jedem Zuge ihres Gesichts. – Und so: Wenn dieses schöne Haupt, dieses goldumrahmte Gesicht mit dem wunderbar starken Kinn vom äußersten Grade einer plötzlichen Heiterkeit befallen wird, so erinnert die Partie um Lippen und Nase irgendwie an eine Fledermaus, was einen betörend fremden, dämonischen Eindruck macht. – Sie ist sehr ruhig, sagte die Stimme, sehr entschlossen, sehr willensstark. Es dürfte schwer sein, wenn sie Absichten hat, sich der phrasenlosen Überlegenheit ihrer Natur zu entziehen. – Eben hatte die gleiche innere Stimme warnend gesagt: Du steckst bereits allzu tief in Schuld. Sie kennt dich nicht, sonst würde sie nicht gekommen sein und wahrscheinlich keinen Blick mehr an dich verschwenden! – Eben hatte sie das gesagt, als es dem jungen Denker und Dichter war, als ob er aufwachte. Irrte er sich, oder hatte Ditta Gedanken gelesen?

»Ich weiß das von Frau Herbst«, sagte sie.

»Was wissen Sie von Frau Herbst, Prinzessin?«

»Daß Ihre Frau melancholisch ist und daß Sie eine glücklose Ehe haben.«

»Sie leidet zuweilen an Schwermut, meine Frau«, sagte Erasmus, »aber im übrigen, scheint es, weiß Frau Herbst mehr als ich.«

»Auch daß Sie nun insofern in schwere Konflikte geworfen sind, hat mir Frau Herbst erzählt, als Sie diesem kleinen Laufmädchen in die Schlinge gegangen sind.«

»Wem wäre ich in die Schlinge gegangen?«

Aber der ruhige Blick der Prinzessin, als er das gesagt hatte, machte ihm klar, daß eine Lüge in diesem Augenblick ihn aufs tiefste erniedrigen müßte. Er setzte hinzu: »Irina, nun ja, Prinzessin, verachten Sie mich!«

Aber sie stieß den Rauch, den sie mit dem Atem im Munde zurückgehalten, aus dem rosig-zarten Blasebalg ihrer Wangen gelassen aus und sagte mit Achselzucken: »Weshalb denn verachten? – Mustermenschen«, fuhr sie fort, »sind mir überaus gleichgültig. Leute, die man ebenso gut aus nassem Lehm backen kann, reizen mich nicht. Ich habe nur Sinn für Naturen, die im Geschirr nicht zu brauchen sind. Sie können ja meinethalben kutschieren. – Wären Sie eine korrekte Beamtennatur, ich hätte mich dann wohl schwer gehütet, bei Ihnen einzusteigen. Aber wären Sie etwa ein flotter Husarenrittmeister, ich hätte es ebensowenig getan.«

»Eure Durchlaucht beschämen mich.«

Das Raucheinziehen und Rauchausstoßen der jungen Dame hatte jetzt den Charakter der Gewaltsamkeit. Indem sie fast wegwerfend vor sich hinlachte, wollte sie plötzlich wissen, ob Erasmus etwas von Bilderrätseln halte.

Da er sie verständnislos anblickte, meinte sie: nun, das mache ja nichts, sie werde ihm jedenfalls eines aufgeben.

»Denken Sie sich eine Möwe, Herr Doktor . . . oder besser: denken Sie sich einen weißen Raubvogel . . . nein, lieber eine diebische Elster, wenn ich bitten darf. – ›Venus und Adonis‹ heißt doch wohl ein Gedicht Ihres vergötterten Hamlet-Schöpfers? Adonis hat eine kleine Insel durchquert, erreicht das Ufer und läßt sich in den Sand fallen. Über ihm zittert die heiße Luft und ein blütenbedeckter Rosenbusch. Das könnte sich fast poetisch ausnehmen, aber Poetisches ist an mir nichts. – Am Strand ist Adonis eingeschlafen!

Während Venus, oder jemand, der, wie sie, gegen Adonis nicht unempfindlich ist, am Putztisch sitzt und ein Strähnchen Nackenhaares, das ihr die Zofe abgeschnitten, in Papier einwickelt, kommt die diebische Elster, trägt es fort und läßt es auf Adonis niederfallen. Ist das Zufall oder durch Telepathie herbeigeführt? Was würden Sie aber von einer Venus halten, die den Adonis schlafend träfe, ihm nur eine Locke auf die Brust legte und davonginge?«

»Der Schlaf ist heilig . . .«, sagte Erasmus. Er wurde blaß, seine Hände zitterten.

Es geschah weiter nichts, bis sie beide aufbrachen. Er, um die schöne Besucherin durch den nächtlich einsamen Park zu geleiten und sicher bis an den Ort zu bringen, von dem aus sie ohne Mühe in ihr Schlafgemach steigen konnte. Ihm blieb kein Zweifel, daß sie auch von der Nacht mit Irina im Fischerhaus unterrichtet war.

Empfand nun Erasmus oder empfanden sie beide nach diesen gemeinsam verplauderten Stunden eine gewisse Zusammengehörigkeit? Furchtlos, seltsamerweise, und ohne jede Neigung, sich zu verbergen, schritten sie über den hell im Mondschein liegenden runden Zirkusplatz, dessen Mitte ein Obelisk schmückte. Die vielen Fenster der weißen Fassade des Gymnasiums, die wie ebenso viele Augen waren, störten sie nicht. In der Wohnung des Direktors und Professors Trautvetter brannte noch Licht. Er mochte noch Hefte seiner Primaner korrigieren. Auf der Straße, die längs des Parkes geht, wurde die Prinzessin von einem etwas erstaunten Sicherheitswachtmann militärisch gegrüßt. Im Parke selbst war es wundervoll. Die Schwäne ruderten still auf dem glänzenden See, als ob es Tag wäre. Ditta hatte das Rauchen eingestellt.

Wie es gekommen war, wußten sie nicht, doch merkten sie plötzlich, daß sie Hand in Hand gingen.

Du darfst nicht denken, sagte die Stimme in Erasmus. Du mußt wie aus Gottes Händen das Ungeheure hinnehmen. – Auf Leichtsinn oder gar Frivolität deutete das ungewöhnliche Vorgehen der Prinzessin nicht. Ihr ganzes ernstes und überlegtes Wesen sprach dagegen. Sie hatte im Laufe der Auseinandersetzung unter anderem gesagt: »Die Halbwelt ist eigentlich dort, wo das ist, was Sie die Welt nennen. Und die Welt ist dort, wo man meint, daß die Halbwelt ist.« Und sie hatte »Und ich will in die Welt!« geschlossen. Ebensowenig lag in Erasmus Leichtsinn oder gar Frivolität. Deshalb ging er an der Hand der Prinzessin wie ein halb Bewußtloser durch die Magie der Nacht. Er fühlte erschüttert ein dunkles, furchtbares Etwas, das sich seiner bemächtigt hatte, eine Gewalt, deren Dasein ihm trotz mannigfaltigen Erlebens bisher verborgen geblieben war. Bei solcher Ohnmacht seines Wesens und Wollens konnte ein Gefühl der Schuld nicht aufkommen. Wie mancher indessen das Erwachen aus einem beängstigenden Traum ersehnt, fürchtete er den Augenblick, der ihn aus dieser rätselhaften Nacht erwecken würde. Mit welchen Stürmen widersprechender Gefühle würde er dann zu kämpfen haben, welchen Wirrnissen und Verfinsterungen würde er verfallen! Und wie und auf welche Art sollte der Ausweg zu finden sein?!

Einstweilen aber ging ein stiller, glückseliger Strom, oder eigentlich zwei Ströme gingen durch die verschlungenen Hände der beiden Nachtwandler. Der eine ging von dem Herzen der schönen, herben Fürstentochter aus und endete in dem des jungen Dichters, während der andere dort seinen Ursprung und in dem Herzen des apollinischen Mädchens sein Ende hatte. So war es vom Quell zur Mündung, von der Mündung zum Quell ein gleichsam stillstehend bewegter Doppelstrom, der zwei Menschen zur Einheit und zugleich jedem von ihnen seine eigene himmlische Abkunft bewußt machte.

Plötzlich sahen sie dann das weiß im Monde gleißende Schloß mit Blumenterrassen aus einem Weiher ansteigen. Schwäne schienen die Wächter vor der Treppe aus weißem Marmor zu sein. Man hörte sie träumende Rufe ausstoßen. Da ließen die Liebenden nach einem letzten langen, innigen Druck ihre Hände los und entfernten sich ohne Kuß voneinander.

Erasmus konnte sich lange nicht entschließen, den Rückweg nach der Gärtnerei anzutreten. Was war, seit er dort gesessen und gegrübelt hatte, nun wieder in sein Leben getreten! Er dachte an Kitty und die Kinder. Waren sie nun nicht bereits von dem zweiten Platz in seiner Seele auf den dritten gedrängt? Ein unendliches Weh des Abschieds, eines Abschieds für immer, machte ihn aufseufzen, weil er plötzlich gefühlt hatte, wieviel größer seit einigen Minuten die Entfernung zwischen ihm und seinem angetrauten Weibe geworden war. Er fiel in die tiefste Traurigkeit. Es wurde fast Verzweiflung daraus, wenn er weiter und Irinas dachte, die er nun ebenfalls im schmerzlichen Lichte der Trennung sah.

Das Gefühl für sie seit dem neuen Erlebnis war ein seltsames. Sie hatte im Augenblick ihre magische Kraft vollständig eingebüßt. Diese Tatsache, die ihn erschreckte, soweit sie ihn betraf, flößte ihm tiefstes Mitleid ein, als ob man Irina beraubt hätte.

Nicht eher, als bis ein leises Zwielicht den Morgen verriet, konnte Erasmus den Mut zur Heimkehr aufbringen. Wie vom Hauch eines gewaltigen Fittichs bewegt, rauschten die Wipfel des Parkes noch einmal auf, als er sein Bereich verließ. Das Wesen des jungen Menschen, bis zum Äußersten aufgewühlt, empfand es wie eine feierliche Meditation über seinen Fall, vergleichbar dem Chor in einer Tragödie.

Im Zwielicht des Zimmers, das er auf den Zehen erreichte, steigerte sich alsdann seine schmerzhafte Luzidität zur wirklichen Halluzination. Hamlet, Hamlet der Dänenprinz, saß noch immer in der gleichen Stellung wie vorhin, im gespenstischen Zwielicht, auf seinem Stuhl und erwartete ihn. Er schien die Rolle mit seinem ermordeten Vater gewechselt zu haben, nur sprach er nicht, noch schickte er sich zum Reden an. Er, der, den Schädel Yoricks in der Hand, dessen wundervolle Einfälle gerühmt hatte, selbst aber diesem Vorbilde weit überlegen war, begnügte sich damit, den schicksalsbeladenen, heimkehrenden Nachtschwärmer anzublicken. Er blickte ihn unverwandt und schweigend an. Was aber in seinen Augen lag, das, wie Erasmus fühlte, würde er, und wenn er die Begnadung des Dichters, wenn er die Gabe des Dichtens und Denkens ein Leben lang ausübte, nicht mitteilen können. Aber bei aller Abgrundtiefe, die keinem Lot zugänglich ist und die dieser große, sonderbar überquellende Blick verriet, wirkte er tröstlich durch eine schmerzvoll-schöne Allwissenheit. Da stand auch die seltsame Bangnis, die seltsame Not, die seltsame Wehmut, die seltsame Trübsal verzeichnet, die mit den Offenbarungen höchster menschlicher Schönheit durch Liebe und in Liebe verbunden ist. Da lohte sie auch im Grunde der Augen des Dänenprinzen, die schwarze, stechende Flamme der Leidenschaft.

Bevor Erasmus zu Bette ging, nahm er jenes in Papier gewickelte aschblonde Büschel Haares aus der Schublade, das er am Strande nach dem Abenteuer mit Irina, vom betäubenden Schlaf übermannt, beim Erwachen auf der Brust gefunden hatte. Er drückte die Locke wild an den Mund.

 

Man könnte annehmen, die Schicksalswoge habe den jungen Gotter dermaßen überflutet, daß fortan kein Lichtstrahl unbefangener Lebensfreude mehr zu ihm gedrungen sei. Es war nicht so, sondern er bewegte sich regelmäßig einige Stunden des Tages in einer heiter-genießerischen Oberflächlichkeit. Oft mit viel Vergnügen wurde im Gasthof am Zirkusplatz nach der Probe gefrühstückt, wobei sich die Tafelrunde aus dem kleinen Musenhöfchen zusammensetzte, das sich um Erasmus gebildet hatte. Cramm, der Maler, Ollantag, Jetro, Syrowatky waren meist von der Partie, auch Luckner stellte sich öfter ein und Direktor Georgi, wenn er geladen wurde. Vor allem aber, seit dem Tee bei Prinzessin Mafalda, Trautvetter.

Die Tischgespräche Plutarchs hatte Erasmus auf der Universität kennengelernt. Nicht selten steigerten sich die kleinen Gelage zu einer Art von Symposion, wobei aus der fürstlichen Gärtnerei frisches Weinlaub zur Bekränzung der dionysischen Runde entnommen wurde. Immer war Erasmus entzückt von der dadurch erreichten kultisch-festlichen Steigerung, die jedes wie immer geartete Haupt unter dem Kranz verschönte und steigerte.

An die geordneten Tischreden des Plutarch streifte wohl manches in den gepflogenen Unterhaltungen, die aber im Verlauf meist mehr und mehr ins Chaotische ausarteten. Dies und das wurde von Jetro aufgefangen und in der Jelängerjelieber-Laube gelegentlich seinem Idol und Schützling aus dem Notizbuch mitgeteilt.

»Ich schätze Ihr körperliches Gewicht höher als Ihr geistiges«, hatte Georgi zu Syrowatky gesagt. »Sie sind intelligent, haben aber einen zu kleinen Gesichtskreis«, zu Kandidat Luckner. – »Der organisierte Wahnsinn ist die größte Macht in der Welt«, behauptete einmal Ollantag, worauf Erasmus geantwortet hatte: »Wäre der Wahnsinn unproduktiv, wo bliebe die menschliche Kultur!« Auch gegen Erasmus war Georgi manchmal nicht fein: »Mensch, Sie haben ja unausgleichbare Gegensätze in sich: Weltflucht, Lebensgier, Sie sind Konservator und Verächter der Tradition, Quietist vom reinsten Wasser und Revolutionär! Bald fliehen Sie einen Mäusedreck, bald wollen Sie einen Augiasstall ausmisten.« – »Ich kann nicht rechnen und rechne den ganzen Tag«, rief der Baron, »mein Leben besteht aus Rechenfehlern.« Jemand schrie: »Wie viele Leute gibt es heute noch, die den Nacken hochtragen!« Ein anderer dagegen: »Machen wir ein Geschäft in Devotionalien auf, en gros und en detail. Kruzifixe, Heiligenstatuen, Kreuzwegstationen in Terrakotta und Masse, Krummhölzer, damit der Rücken in der richtigen Lage bleibt.« – »Er lebt leider nur dem erbärmlichen Behagen, sich an seinem Nachbar zu reiben«, hieß es von jemand. Und weiter: »Es gibt etwas in unserem öffentlichen Leben, das man treffend geistigen Speichelfluß nennen könnte.« Irgendwann hatte Erasmus bemerkt: »Hier springen Geysire des Lebens, aber der Tropfen gilt nicht.« Er hatte von einem Teufelsbanner erzählt, der die Frage tat: »Hatten die alten Griechen sehr große Hufe?« Einmal wetterte Erasmus: »Du hast eine Idee, stelle dich mit dem geladenen Gewehre davor und verteidige sie! Du willst abseits von der Heerstraße einen Schritt tun, tu ihn mit dem Revolver in der Hand! Du willst Gott, deinem Gott, dienen: stelle Kanonen um den Altar! Du willst anbeten: tue es hinter dicken Steinmauern, wohin das Hohngelächter des Pöbels nicht dringt noch seine Stein- und Schmutzwürfe!« – Genies seien unbequem, wurde von Jetro behauptet, und Cramm erzählte: einer habe sein ganzes Leben dazu verwendet, seine Persönlichkeit rein und groß auszubilden, und es doch nur zu kleinen Schurkereien gebracht.

 

Unter dem Kranz, vor sich bekränzte Häupter, im Glaskelche Wein, überkam Erasmus eine griechische Unverantwortlichkeit und Heiterkeit. Weder war er dann luziferisch im Sinne des christlichen Himmels und der christlichen Hölle und überhaupt des Christentums noch auch hamletisch, so daß er es kaum vermochte, über etwas zu diskutieren, was mit der Phantasiegestalt gleichen Namens zusammenhing. Ein anderer Mensch tauchte dann dominierend in Erasmus auf, der wie ein Schwert in der Scheide verborgen gesteckt hatte. Dieser Mensch trat, von vielen schweren, niederziehenden Ketten befreit, gleichsam in die Schranke, skrupellos und im Rechtsbewußtsein einer gottgegebenen freien Kraft.

In Ruhe wiegte sich dieser neue Mensch wie in einem leise bewegten, bekränzten Boot auf lieblicher See im Lebensgenuß. Es war eine wohlige Schwelgerei, die alle Tiefen vergessen machte. Nicht an die Freude der Kindheit, mit allen ihren gesunden Entzückungen, knüpfte sie an, sondern sie war eine neue Erscheinung, deren Wirkung erst jüngst begonnen hatte.

Aber Kränze, Weinranken werden welk. Immer kehrte Erasmus in die fürstliche Gärtnerei zurück, wo der Totenwurm in den Wänden tickte. Wenn er gegen Abend, noch gleichsam mit unsichtbarem Weinlaub im Haar, sein Zimmer betrat, war er, auf seltsame Weise, dem Halblicht des umbuschten Witwensitzes neuerlich überantwortet.

Während eines solchen Symposions, dem auch Professor Trautvetter beiwohnte, kam Ollantag vermöge irgendeiner Gedankenassoziation auf diese fürstliche Gärtnerei. Man mochte wieder von der Geistererscheinung im Hamlet-Stück, und zwar im heroischen Sinne des Schuldirektors, gesprochen haben. »Wissen Sie denn, Doktor Gotter: Sie wohnen in einem Gespensterhaus. Sagen Sie, bitte, sind Sie noch nicht durch Seltsamkeiten in Ihrem Quartier belästigt worden?«

Erasmus dachte sogleich an die durch die Monomanie seiner Bühnenarbeit hervorgerufene Vision des Dänenprinzen, der, über dem Totenschädel sinnend, im Winkel des Zimmers saß.

»Ich denke weder an den Geist des alten Hamlet noch an den des jungen«, sagte Doktor Ollantag, »sondern an Gespenster ganz gewöhnlicher, ganz alltäglicher Art, die nach der Meinung von ganz Granitz in der alten Gärtnerei spuken. Sogar Poltergeister, sagt man, haben sich mausig gemacht. In einer Nacht, erzählte mir ein Gärtnerbursch, fand im Hause ein Unwesen statt, wobei Gegenstände, Bürsten, Rüben, Blumentöpfe, Hüte, Stiefel und Spazierstöcke des verstorbenen Obergärtners im Hause herumflogen.«

Natürlich, daß diese Erzählung Gelächter auslöste.

»Der Gärtnerbursch selber«, sagte Erasmus, »hat sich, das ist nicht schwer zu erraten, diesen schlechten Witz gemacht.«

Ollantag fuhr fort:

»Es ist ein ebenerdiges Zimmer da, sagt ebenderselbe Gärtnerbursch, in dem er einmal geschlafen habe. ›Ich würde lieber bei Schnee und Winterkälte unter freiem Himmel auf Latten liegen, als noch einmal dort im Bett‹, hat er mir ganz entschieden erklärt. Was aber nun der eigentliche Grund sei, konnte ich aus ihm nicht herauskriegen: man schwitze Angstschweiß, man rieche Blut, empfinde außermenschliches Grauen. Er sagt, er sei anderntags vor den Spiegel getreten, weil ihm nachts jede Haarwurzel einzeln im Schädel gebohrt habe und er nachsehen wollte, ob er nicht weiß geworden sei.«

Erasmus erschrak, doch sagte er nichts. Er dachte an seine eigene Erfahrung im Parterrezimmer und verlor sich in die Erinnerung.

Als er wiederum aufmerkte, hatte sich die Unterhaltung von dem speziellen Fall gelöst und war in die Fachgebiete des Spiritismus hineingeraten, wobei der verstorbene Obergärtner mit den Spukerscheinungen seines Hauses in Verbindung gebracht wurde. Es ward behauptet, es wurde bestritten, er habe sich, und zwar in dem erwähnten Parterreraum selbst, entleibt.

Durch Prinzessin Mafalda hatte der Maler-Baron zum erstenmal von Jung-Stilling gehört. Die Dame lebte in Geistesgemeinschaft mit ihm. Man las und besprach ihn, besonders in einem wöchentlichen Teekränzchen, zu dem auch die Witwe Herbst regelmäßig geladen war. Hier übte man manchmal auch das Tischrücken.

Der badische Hofrat Jung-Stilling sagt: der Geist habe eine Substanz, die den Sinnen verschlossen sei. Sie gehöre in die Geisterwelt und könne von uns weder gesehen noch gerochen noch irgendwie empfunden werden. Die Bürger des Geisterreiches wiederum, sagt er, empfänden nur die Geisterwelt. Es sei der Hades, in dem sie sich aufhielten. Die Menschenseele habe einen Lichtkörper, dieser könne wirksamer werden im Menschen, als zum Leben und zur Empfindung nötig sei. Dann gerate er etwa ins Geisterreich und kann sich mit dessen Bewohnern verständigen.

Der Hades aber, eben das Geisterreich, erstreckt sich, nach Hofrat Jung, genannt Stilling, bis in unsere Atmosphäre, geht in den Erdkörper hinab bis an den Rand der Hölle und nach oben bis an den Rand des Gebietes, in dem die Seligen wohnen. Wir sind also selber gewissermaßen im Hades und wissen es nicht.

Jetro, indem er sich wie im Frost schüttelte, sagte: »Brrr, brrr, das gefällt mir nicht.«

»Das gibt zum Verständnis des Dänenprinzen, auch in Ihrem Sinne, Herr Professor Trautvetter«, rief Erasmus, »eine weitere neue Möglichkeit. Eine Art Trance hat Hamlet befallen, seit er wieder in Helsingör in der Nähe der Mordgeschehnisse ist. Zwischen Hades und Himmel schwebt er in diesem Zustand umher, seine schwarzen Mantelfalten bald in die Finsternisse des Hades, bald in den Glanz des Empyreums getaucht. Aber er scheut diesen Zustand, der ihn dem furchtbaren, racheheischenden Heros nahebringt, und möchte nach Wittenberg zurück.«

 

Dies ungefähr war die Substanz der Gespräche, die im Haupte Erasmi rumorten, als er eines Tages Witwensitz und Altenteil von Frau Herbst wiederum erreicht hatte. Er schlief eine Stunde und wachte gegen sieben Uhr abends auf, sogleich von der Rückerinnerung an die Gespenstergespräche in Besitz genommen.

Das Haus war still auf eine, so schien ihm, seltsame Art. Und plötzlich ist ihm, als ob jemand an die Zimmertür gepocht hätte. Noch lag er im Bett, und ein leiser Schreck überrieselte ihn. Halb aufgerichtet gegen die Tür starrend, würde er sich nicht gewundert haben, wären plötzlich Gegenstände herumgeflogen oder hätten sich Bilder von der Wand gelöst.

Draußen wollte ein Gewitter heraufkommen. Ungeheure, himmelansteigende Wolkenmassen hatten die Atmosphäre verdüstert und schienen eine gewaltige Katastrophe anzudrohen. Ihr lechzte man aber beinahe entgegen, da die unbewegliche Schwüle die ganze Natur mit dem Druck einer schweren Bangnis belastete.

Indessen klopfte es lauter zum zweitenmal.

Es war Pauline, die, schwarz gekleidet, nach dem »Herein!« die Tür öffnete.

Ob Erasmus noch Wünsche habe, fragte sie. Es sei der Abend, wo die Mutter im Schloß zu tun hätte. Sie selber habe einen Kranz gewunden und wolle ihn auf des Vaters Grab bringen.

Ob des Vaters Geburtstag sei?

Nein, sagte sie, es sei ein anderer Erinnerungstag. Einer, den sie geflissentlich im Gedächtnis der Mutter nicht aufkommen lasse. Auch die Fürstin wisse davon, und es werde in geheimer Übereinkunft alles dahin geregelt, daß die Mutter den ganzen Tag im Schlosse beschäftigt sei. Sie lese mitunter dem Fürsten vor, berate die Fürstin und deren Schneiderin und helfe dem Doktor Ollantag in der immer wachsenden Bücherei oder in dem vorhandenen kleinen grünen Gewölbe, wo sie ihm bei der Säuberung der kostbaren Goldschmiedearbeiten aus fünf oder mehr Jahrhunderten an die Hand gehe.

»Sie aber, Fräulein Pauline, wollen das Gedächtnis des Tages festhalten?«

»Solange ich lebe, will ich es festhalten.«

»Aber Sie können doch jetzt nicht den Gang zum Kirchhof antreten! Sie müssen doch das Gewitter abwarten, die ersten Tropfen fallen ja schon.«

Das Gewitter werde höchstwahrscheinlich nicht zum Ausbruch kommen, sagte sie, es gehe oft so in dieser Gegend.

»Wann wird Ihre Mutter wieder zurückkommen?«

Heut nicht mehr. Sie schlafe die Nacht im Schloß. Das habe sich, sagte Pauline, seit einigen Jahren so eingebürgert.

»Sie wollen mich also ganz allein lassen? Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen, Fräulein Pauline: ich fürchte mich. Ich weiß nicht warum, aber heute erschreckt mich das fallende Blatt.

Ich begleite Sie, Fräulein Pauline. Warten Sie, bitte, im Hausflur auf mich.«

Schnell hatte Erasmus sich angekleidet, als Pauline gegangen war. Aber die bange Stille wollte nicht weichen. Es war Erasmus, als ob diese Stille auf Geheiß eines göttlichen Willens immer tiefer vertieft würde zu feierlichem und würdigem Empfang eines Gottesworts. Aber ein Beben der Kreatur war trotzdem noch zu spüren.

»Wollen wir nicht noch ein Weilchen warten?« fragte Erasmus, als die bleiche Tochter des Hauses wieder erschien.

»Wenn Sie nicht im Hause bleiben«, gab sie zurück, »müßte ich den Gärtnerburschen verständigen.«

Erasmus erklärte, im Hause bleibe er nicht. So viel Geister- und Gespenstergeschichten, sagte er, seien überhaupt nicht vorhanden, als sich seltsamerweise heut in seinem Kopfe ein Rendezvous gäben. Im Garten winke die weiße Frau, der Erlkönig dunste über die Mauer. König Hamlets Geist steige klirrend die Treppe herauf. »Pauline, machen wir, daß wir fortkommen!«

»Sie haben den traurigen Geist nicht genannt, Herr Doktor, der hier im Hause noch nicht zur Ruhe gekommen ist.« Dies sagte Pauline, auf einen Stuhl und mit Armen und Stirn über den Tisch sinkend, wo dann ein lauteres, schweres Atmen hörbar ward.

Alle Menschen wollen mir beichten, dachte Erasmus, wie sonderbar. Er hatte unwillkürlich die Rechte auf ihren Scheitel gelegt und fühlte ihr glattes Haar in der Handfläche.

War dies arme, anspruchslose Schattengewächs im Grunde eigentlich so reizlos, wie sie ihm und den wenigen, die sie beachteten, erschien? Die Erzählungen von den Leiden ihres Vaters, den sie geliebt hatte, bewiesen mit der Belebung ihres ganzen Wesens, wie schwer ein Urteil in dieser Hinsicht zu fällen ist. Die tragische Seelenverfassung, in die der Vater durch gewisse Umstände geraten war und die von ihr erkannt und teilnehmend durchlebt wurde, zauberte im schnellen Wechsel den Ausdruck der Liebe, der Trauer, des Bedauerns, der hilfreichen Ohnmacht, der heimlichen Entrüstung und des Zornes auf ihr Angesicht, wodurch es im ganzen bedeutsam und im einzelnen vielfach schön wurde. Und wer wüßte nicht, welche Macht über einen Mann ein unter Tränen erbebendes, in bitteren Anklagen hochatmendes, in Rührung hinschmelzendes Weib auszuüben fähig ist.

In den letzten Jahren seines dunklen Schicksals hatte sich der Obergärtner ganz an die Tochter geschlossen. Ohne daß sie verriet, warum, berichtete sie, wie der Vater am Tage von Walters Taufe verschwunden war. Wieder erschienen, am Tage darauf, schwieg er beharrlich über den Grund seines Fernbleibens. Nun aber entglitt Pauline das Wort: »Nein, die Mutter stand ihm zu hoch. Keine Marter würde ihm auch nur ein Wort gegen sie erpreßt haben.«

 

Als Pauline sonderbarerweise mit einem hemmungslosen Schluchzen diese Worte begleitete, erhob sich ganz unerwartet ein jäher Rumor, der das Fachwerkgebäude erzittern machte. Fast in dem gleichen Augenblick öffnete sich die Zimmertür, flogen Manuskriptpapiere an der Decke herum, eine Vase stürzte von einer Etagere, und die Schals der Gardinen wehten bis mitten ins Zimmer hinein. Ein Wolkenbruch ging nieder. Nachdem der Spuk eine Viertelminute gedauert hatte, war es wiederum totenstill.

»Das war ein richtiger Hexenwind«, sagte Erasmus, als er sich von dem Schreck erholt hatte.

Eine Erlösung war es, als die Stimme Jetros mit einem frischen »Guten Abend miteinander!« vom Garten aus hörbar wurde.

Pauline raffte sich auf und ging. Sie war stumm geworden und zitterte. Jetro stürmte die knarrende Treppe herauf.

»Ich will Ihnen etwas sagen, Jetro«, so begrüßte Erasmus den Schauspieler. »Ich ziehe trotzdem nicht aus. Nämlich, ich lasse mich von den Dämonen, die einen unterminieren, einen um das bißchen Menschenverstand bringen wollen, das man zur Not noch besitzt, nicht ins Bockshorn jagen. Nein, lieber Jetro, ich halte stand, aber das kann ich versichern auf Ehrenwort, in der offenen Tür, durch die Sie eben getreten sind, hat, ehe Sie riefen, das Gespenst des Garteninspektors gestanden.«

»Recht so, Sie sind besessen vom Hamlet Tag und Nacht. Und so muß es sein. Man kann die großen Dinge der theatralischen Kunst nicht mit der kalten la main abmachen.«

»Gut, aber wenn ich nur nicht dabei verrückt werde.«

 

Im Theater wurde folgenden Tages die Szene geprobt, als Hamlet an der Spitze von Verschwörern in den Königspalast dringt, um sowohl seine Rache am Mörder des Vaters zu nehmen als seine Rechte auf den Thron gewaltsam durchzusetzen: das Kernstück im Versuch der Wiederherstellung des arg zerfallenen Werkes durch Erasmus, das die klare Linienführung des Dramas wieder sehen läßt. Die Absurdität, daß Laertes – ein vollendeter Hofmann, in voller Gnade des Königs stehend, wie sein Vater – den Aufstand angezettelt haben soll, ist seit beinahe anderthalb Jahrhunderten auch von deutschen Dichtern, Gelehrten, Schauspieldirektoren und so weiter anstandslos geschluckt worden. Wäre es übrigens möglich, wenn Laertes den grundstürzenden Aufstand in die Wege geleitet und König Claudius mit den Worten »Du schnöder König!« angeredet und am Leben bedroht hätte, daß einige Szenen später Osrick über ihn zu Hamlet sagt: »Vor kurzem, Herr, ist Laertes hier an den Hof gekommen: auf meine Ehre, ein vollkommner Kavalier, von den vortrefflichsten Auszeichnungen, von einer sehr gefälligen Unterhaltung und glänzendem Äußern. In der Tat, um mit Sinn von ihm zu sprechen, er ist die Musterkarte der feinen Lebensart, denn Ihr werdet in ihm den Inbegriff aller Gaben finden, die ein Kavalier nur wünschen kann zu sehn.«

Prinz Hamlet war also drei- bis viermal, die Wachen überrennend, an der Spitze seiner Putschisten auf die Bühne gestürmt, wo es die mütterliche Kraft der Königin Gertrud leider fertigbringt, seinem Schwerte die Spitze abzustumpfen.

»Du schnöder König, gib mir meinen Vater!« heißt es, und zur Ruhe gemahnt, sagt der Prinz:

Der Tropfen Bluts, der ruhig ist, erklärt
zum Bastard mich, schilt Hahnrei meinen Vater,
brandmarkt als Metze meine treue Mutter
hier zwischen ihren reinen, keuschen Brauen.

Dabei läßt ihn Erasmus den Finger an die Stirn der Mutter legen.

Claudius, der immer Lächelnde, nur einmal und nie wieder aus der Ruhe zu bringende König, tut die kühle Frage:

Was ist der Grund, mein Hamlet, daß dein Aufstand
so riesenmäßig aussieht?

Der Hofmann Laertes, der samt seinem Vater in voller Gunst des Königshauses gestanden hat und steht, soll einen »riesenmäßigen Aufstand« anzetteln und anzuzetteln fähig sein, weil sein Vater durch einen rätselhaften Unglücksfall sein Leben verloren hat? Wohl gemerkt, sein Vater und König Claudius, desgleichen die Königin waren, solange er denken kann, ein Herz und eine Seele, ihr Freundschaftsverhältnis nie und durch nichts getrübt.

Und übrigens weiß Osrick, als er wenige Szenen später über Laertes spricht, von dem »riesenmäßigen Aufstand« nicht das geringste.

Der mütterliche Einfluß auf Hamlet ist sehr groß und ebenso verhängnisvoll. Er will am Beginn des Stückes zurück nach Deutschland, an die Universität von Wittenberg. Sie bittet ihn, am Hof zu bleiben. König Claudius fügt sich ihr, obgleich seinem Interesse weit mehr gedient wäre, wenn sie ihn nicht zurückhielte. Würde doch dann die ganze, im Ende so blutige Entwicklung vermieden worden sein. Aber, sagt er:

                                      . . . Seine Mutter,
die Königin, lebt fast von seinem Blick.
Und was mich selbst betrifft – sei's, was es sei:
entweder meine Tugend oder Qual –,
sie ist mir so vereint in Seel' und Leben:
wie sich der Stern in seinem Kreis nur regt,
könnt' ich's nicht ohne sie.

Auf die Bitte der Mutter am Anfang des Stückes »Geh nicht nach Wittenberg!« hat Hamlet geantwortet: »Ich will Euch gern gehorchen, gnäd'ge Frau.«

Die Liebe der Königin, die von Hamlets Blick lebt, mehr scheinbar als von dem des Königs Claudius, bringt Hamlet durch kindliche Gegenliebe in jene ihm auch hier wiederum verhängnisvolle Abhängigkeit: »Ich will Euch gern gehorchen, gnäd'ge Frau.«

Da während der Probe im Parkett über die theatralisch sehr wirksame Kernszene besonders lebhaft debattiert wurde, wies Erasmus auf eine spätere Szene, die siebente des vierten Aktes, hin, wo der König mit Laertes sehr deutlich über den Aufstand spricht: »Der Euren edlen Vater umgebracht, trachtete mir nach dem Leben«, worauf Laertes: »Warum belangtet Ihr nicht diese Taten, so strafbar und so schrecklicher Natur?« – »Aus zwei besondren Gründen«, bekennt der König. Der eine, wie oben gesagt, ist die Mutterliebe, der andere Grund, »daß der große Haufe so an ihm hängt.«

 

Außer Prinzessin Ditta in den Sperrsitzen hatte sich auch Mafalda eingefunden und in einer Loge Platz genommen. Man wußte warum, als neben ihr der Dionysoskopf des Schuldirektors sichtbar wurde. Man verdankte es ihrer Überredungskunst, daß er sich bereit gefunden, in Anbetracht des fürstlichen Geburtstags die Rolle des Geistes im »Hamlet« zu übernehmen. Die Zumutung war insofern auf einen vorbereiteten Boden gefallen, als Trautvetter, der ein alter »Pförtner« war, mit dieser Partie bereits in einer Schülerveranstaltung zu Schulpforta Ehre eingelegt hatte.

Immerhin war es ein großer Augenblick, als der Schulgewaltige dann die Bühne betrat, um mit Erasmus zu konferieren. Trautvetter suchte einen Übergang, um nach außenhin jedenfalls kundzutun, daß er die Bühne aus eigener Autorität betreten habe und allein unter dieser sich den Geist zu spielen herbeilasse. Schon bei den Alten habe es Seelen gegeben, die keine Ruhe im Jenseits fanden und als Gespenster umgingen, sagte er. Man war von der Realität abgeschiedener Seelen so überzeugt, daß man sie, zum Beispiel beim Leichenmahle, als gegenwärtig betrachtete. Man sprach von ihnen nur Lobendes, weil man ihren Zorn fürchtete, ja mit Gelärm trieb man zum Beispiel schließlich am Hauptfest, Allerseelen, sie aus. Um sie weiterhin fernzuhalten, wurden die Pfosten der Türen mit Pech bestrichen.

Das jüngste Erlebnis im Gärtnerhause verwertend – Frau Herbst saß wie öfters in der letzten Parterrereihe –, eröffnete Erasmus, wie er die Geisterszene im Zimmer der Mutter einzurichten gedenke: eine Art Hexenwind werde losbrechen, eine Tür und ein Fenster werde aufspringen, Papiere würden herumfliegen, Gegenstände umstürzen, und in einer vom Luftzug aufgerissenen Tür würde der Geist des ermordeten Vaters, Ehegatten und Königs grauenvoll sichtbar sein.

Als Erasmus, zwischen den Sperrsitzen, nach der Probe mit diesem und jenem Schauspieler redete, merkte er plötzlich, daß sich ein Arm um seine Schulter gelegt hatte. Einen Augenblick später wurde ihm klar: es war Prinzessin Dittas Arm, die unter den Augen des Oberhofmeisters, völlig ungeniert, diesen kameradschaftlichen Anschluß beibehielt. Schwer zu sagen, welche Empfindungen dieser Umstand in Erasmus erneuerte. Zwischen dem Nachtbesuch und diesem Ausdruck natürlicher Verbundenheit lag beinah eine Woche, in der sie ihn nur flüchtig gesprochen hatte. Die Entfremdung, schmerzlich an sich, hatte ihn andererseits beruhigt. Die freundliche Laune der schönen Fürstentochter war so jedenfalls im Sinne befürchteter schwerer Konflikte folgenlos.

Und nun fühlte er Dittas Arm um die Schultern.

Zehn Minuten später hatte Erasmus Grund zu einer Überraschung ganz andrer Art, da die neue Beziehung sich keineswegs als zerrissen, sondern scheinbar unlöslich erwies. Neben ihm im Parke einherschreitend, entwickelte Ditta, im Tone vollen Vertrauens auf eine vorhandene elementare Verbundenheit, zunächst die gemeinsame Flucht in die Schweiz. Man könnte, sagte sie, auch nach Paris gehen. Sie sei frei, zwar erst neunzehn Jahre, aber vor vier Wochen für majorenn erklärt. Die Gründe dafür seien vielfältig. Ein großes Vermögen, sehr, sehr groß, sagte sie, sei durch die vom Fürsten verfügte Majorennerklärung zu völlig freier Benutzung in ihren Besitz gelangt. »Wenn du willst, Erasmus«, sagte sie, »so können wir zusammen vor aller Augen in einer sechsspännigen Kutsche aus Granitz hinausfahren.«

Als Erasmus und Ditta sich nach einer halben Stunde getrennt hatten, blieb der junge Mensch in einer Verblüffung, ja Bestürzung zurück. Er hatte es sich nicht merken lassen, aber er fühlte vom ersten Augenblick der Unterredung an, wie ihm die Granitzer Umstände, ohne sein Zutun, über den Kopf wuchsen. Was blieb übrig, als den Kopf in den Sand zu stecken, eine Vogel-Strauß-Politik?

»Oh, oh! Was wird noch alles aus Ihnen werden!« rief Jetro ihm zu, der ihm auf einem der Seitenwege entgegenkam.

»O Gott!« war die Antwort. »Ich wünsche, ich wäre nicht am Hofe zu Helsingör, sondern wieder auf der hohen Schule zu Wittenberg. Sie haben mir das alles eingebrockt, Jetro! Ohne Sie wäre ich niemals hierhergekommen!«

 

Am folgenden Morgen saß Erasmus wieder im Parkett des kleinen Granitzer Schauspielhauses und leitete wie immer die Proben. Er tat es mit einem Widerwillen, der nur durch den höchsten Grad von Selbstbeherrschung zu knebeln war.

Diese kleinen Schauspieler in Zivil, ihre Fragen, ihr Rufen, ihr Lachen, ihr Hin- und Herlaufen, peinigten ihn. Ihr Memorieren, das halblaute Durchsprechen ihrer Rollen, ihre Scherze und Intimitäten waren ihm heute häßliche Vorgänge. Vor seinem Innern standen, indes er mechanisch verrichtete, was zu verrichten war, drei blasse, maskenhaft-schmerzliche Angesichter, die ihn unverwandt fragend anblickten. Es waren Kittys, Irinas und Dittas lemurische Scheinbilder. Sie saugten sich seinem Herzen an.

Schwer wie Blei rang dies Herz in ihm.

Irina hatte ihn vor dem Theater angesprochen. Sie war lieb, folgsam, demütig, aber der zögernd innige Blick ihrer Augen war irgendwie schuldbewußt. Nun ja, so denkt er, du bist mir wieder einmal mit Bourtier untreu gewesen. Gut, diese Sache entlastet mich, aber doch nicht so ganz, bei meiner seltsamen Mitleidsliebe. Während er Polonius etwas zurief, einen Vers wiederholte, den der Protagonist des Schauspiels im Schauspiel nicht gut gesprochen hatte, dachte er: Oh, diese Schauspieler! Wenn sie echt sind, sind die viel besser daran, die mit dem Leben in doppelter Hinsicht spielen: sie spielen das Leben auf der Bühne und nehmen das Bühnenspiel mit sich auf den Boden der Wirklichkeit. Auf dem Podium steigern sie das Wirkliche ins Unwirkliche, hier aber die Wirklichkeit in das Unwirkliche, wodurch sie die härtesten Schläge des Schicksals parieren.

 

Gegen Mittag wurde der Fürst, begleitet von Bourtier und Ollantag, ins Parkett gebracht. Ohne daß Erasmus sich umblickte oder die Arbeit unterbrach, fühlte er, daß auch Prinzessin Ditta im Raume war.

»Wie? was? Stören wir Sie auch nicht?« rief der Fürst und veranlaßte dadurch den jungen Spielleiter, ihn in aller Form zu begrüßen.

Bin ich nicht dahingelangt, beinahe mehr als die Burschen dort oben, mich in der Kunst der Verstellung zu üben? dachte Erasmus, als er vor Ditta seine kühle Verbeugung machte.

»Am kommenden Montag, wie? was?, soll also die Bombe platzen?« sagte der Fürst. Diese Metapher erschreckte Erasmus. Ahnte der Fürst, was für ein Skandal im Anzuge war? Der Direktor erlaubte sich anzufügen: »Übermorgen, am Sonntag haben wir Generalprobe.« Erasmus kam von der »Bombe« nicht los und fühlte dabei eine ausweglose Verwirrung in sich aufsteigen.

Noch hatte das Komplimentieren um den Rollstuhl nicht sein Ende erreicht, als Erasmus ein Telegramm übergeben wurde. Er entfernte sich ein paar Schritte, riß es auf und konnte nicht hindern, daß er sehr blaß wurde.

Kitty hatte ihr Eintreffen in dem nahen Stralsund für Sonnabend vormittag angesagt.

 


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