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VI.

Das Erstaunen Prebel Keys, als er den Torweg erkannte, in welchem er die geheimnisvolle Frau Barker hatte verschwinden sehen, war so groß, daß er zuerst glaubte, seine Phantasie hätte ihm einen Streich gespielt. Daß die Genossin einer Räuberbande mit einer Geschwindigkeit, welche genaue Bekanntschaft verriet, Aufnahme in der strengen Abgeschiedenheit eines Klosters fand, schien fast unglaublich. Wiederholt blickte er forschend an der trotz der Dunkelheit noch erkennbaren Mauer auf und nieder. Doch es war niemand da. Die Mauer hatte weder Spalten noch Nischen, in denen sich jemand hätte verbergen können, und der Torweg bildete den einzigen Durchlaß. Auch die in hellem Mondschein gegenüber liegende Seite der Straße zeigte sich vollkommen öde und leer. Nein! Wenn die Frau nicht selber ein Blendwerk und seine ganze Verfolgung ein Traum gewesen, mußte sie hier eingetreten sein. Ganz hoffnungslos war also die Sache nicht. Hier an diesem Orte konnte wenigstens ihre Persönlichkeit festgestellt werden. Es war kein Hotel, welches sie jeden Augenblick unbeachtet verlassen konnte. Freilich hinderte ihn die Ordensregel daran, sofort weiter vorzudringen; aber dank seiner alten Beziehungen zu den Paters des angrenzenden Kollegiums würde er sich bald unter irgend welchem Vorwand bei der Frau Priorin einführen können. Für diese Nacht war das Weib sicher aufgehoben. Er betrachtete die heiligen Mauern, die friedlich schlummerten im Schutz der knorrigen alten Bäume, und längst begrabene Jugenderinnerungen schlichen besänftigend in sein Herz. Es war nicht das erstemal, daß er sehnsüchtigen Blickes nach der frommen Stätte hinüberschaute, wo die Klosterschülerinnen, die er damals bei ihren nachmittäglichen Spaziergängen in der schattigen Alameda häufig beobachtete, nachts zu süßem Schlummer die Augen schlossen. Sinnend blieb er stehen. Richtig, das war noch dasselbe Gitter, durch welches die böse Conchita – oder war es Dolores gewesen? – die Partherpfeile ihrer Blicke auf den schüchternen Schüler schoß.

Und der vor der Zeit ergraute Fünfunddreißiger, der sein Glück gemacht hatte, schritt in Gedanken verloren weiter und vergaß die Abenteurerin, der er hierher gefolgt war.

Am nächsten Morgen zu früher Stunde schon befand er sich im Kollegium von San José. Pater Cipriano, ein wenig gealtert und noch etwas mehr mit Schnupftabak besudelt wie früher, erinnerte sich entzückt seines ehemaligen Schülers. Ah! So war es also wahr, daß er der Präsident einer Silberminen-Gesellschaft geworden! Nun, ja, ja, das konnte freilich das Haar vorzeitig grau machen! Aber er hoffte, Don Prebel würde nicht vergessen haben, daß irdisches Gut nicht alles im Leben ist, und daß der Reichtum große Verpflichtungen auferlegt und Sorgen bereitet! Was aber führte ihn hierher? – So, so, die Absicht, Verwandte aus den Staaten hier seßhaft zu machen und eine Nichte im Kloster unterzubringen? Das war löblich und weise. Ah, ja, wer sich in diesem neuen Lande Bildung aneignen wollte, mußte sie bei der Kirche suchen! – Und er wünsche die Frau Priorin zu sprechen? Ah! das würde sich machen lassen. Natürlich hatte er das Kloster und die jungen Señoritas nicht vergessen und erinnerte sich noch aller losen Streiche und der Kasteiungen und der suspendierten Ferien! Ah! Er, Pater Cipriano, dankte es nur einer besonderen Gnade »unsrer lieben Frau«, daß er bis jetzt von diesen gottlosen muchachos noch nicht ins Grab geärgert worden war.

Der gute Pater erstickte ein schnupftabakduftendes Kichern in seinem rotseidenen Taschentuch, und endlich erfuhr Key, daß der Gang nach dem Kloster gegen Mittag angetreten werden solle.

Als er mit seinem alten Lehrer durch das Tor des »Heiligen Herzens« schritt, empfand er über seinen klüglich ersonnenen Vorwand zwar einige Beschämung; doch steht zu befürchten, daß er dieselbe bald bei der ganz unerwarteten Nachricht vergaß, welche ihm zuteil wurde. Die Frau Priorin war freundlich und sogar redselig: Ah ja, es wurde immer mehr Sitte bei den amerikanischen Caballeros, welche keine feste Heimstätte besaßen und auch keine Zeit hatten, sich solche zu gründen, ihre Schwestern, Mündel und Nichten hierher zu bringen, ja sogar (mit taubengleichem Seitenblick auf Key) die jungen Señoritas, welche sie zu ihren christlichen Ehefrauen zu machen wünschten. Aber es gab auch Geschäftsleute, die so in ihrer Arbeit aufgingen, daß sie zu einem persönlichen Besuch im Kloster keine Zeit finden konnten – was sehr zu bedauern war. Im Vertrauen auf den guten Ruf des »Heiligen Herzens« und seiner guten Freunde übersandten sie ihnen einfach die betreffende junge Dame mit einer zuverlässigen Begleiterin. Erst letzthin hatte dies auch Señor Rivers getan – kannte Don Prebel ihn vielleicht? – Ah, ein großer Kapitalist in der Sierra; der schickte seine Schwester, ein süßes, unschuldiges, naives Geschöpfchen, der Stolz des Klosters. Natürlich sie war ja hier am besten aufgehoben, in guter Zucht und Hut; hatte doch nun eine Heimat. – Gewiß, die Vorschriften für Besucher waren notwendigerweise streng. Es geschah äußerst selten, daß sogar Damen, wenn sie nicht zur Verwandtschaft einer Schülerin gehörten, Zutritt erhielten. Nur in dringenden Fällen fand eine Ausnahme statt, wie z. B. gestern abend, wo eine solche als Gast des Klosters aufgenommen wurde. Sie war nur eine Freundin der niedlichen Schwester des amerikanischen Kapitalisten, aber doch die nämliche Dame, welche sie hierher gebracht hatte. – Nein, sie war keine Verwandte. Vielleicht hatte Don Prebel von einer gewissen Frau Barker gehört, die mit den Rivers in der Sierra befreundet war? Don Prebel kennt sie nicht? – Ah! Vielleicht doch? – Gut! Dann würde er sich ihrer erinnern. Eine große, schöne Brünette von vornehmer Erscheinung, aber traurig. Nur wenige Stunden früher, und Don Prebel hätte sie selbst sehen können. Jetzt war sie leider fort – mit der Postkutsche abgereist, infolge eines Telegramms – dieser gottlosen Erfindung, durch welche die Nachrichten so ohne jede Vermittlung, ohne Verbindlichkeit oder Handkuß ins Haus platzen. Sie für ihr Teil erlaubte niemals, daß ihre Schülerinnen dergleichen empfingen; nein, sie öffnete jedes selbst und übertrug es nach gehöriger Vorbereitung und je nachdem sie Zeit und Muße hatte, in den Geist christlicher Sprache. Ja, wenn dieses Telegramm nicht gekommen wäre, hätte jedenfalls Frau Barker selber Don Prebel, ihrem Landsmann aus der Sierra, gesagt, wie gut seine Nichte im Kloster aufgehoben sein würde.

Key war außer sich, daß dieses Weib ihm abermals entwischt war; verwirrt und fassungslos von der kaum begreiflichen Nachricht, wurde es ihm schwer, seine Ruhe zu behaupten.

Der Caballero ist erschöpft von seiner langen Reise, sagte freundlich die Priorin. Wir wollen im Wartezimmer des Gartenhäuschens ein Glas Wein trinken.

Sie schritt ihrem Besuch nach der Gartentür voran, blieb aber bei dem Geräusch nahender Fußtritte und raschelnder Musselinkleider auf dem Kiesweg stehen. Die zweite Klasse macht ihren Spaziergang, erklärte sie, als ein reizender, wohlgeordneter Zug weißgekleideter Mädchen, von zwei Nonnen geführt, sich sittsam nach dem Torweg zu bewegte. Wir wollen warten, bis sie vorüber sind, da können Sie sich gleich selber überzeugen, Señor, daß meine Kinder nicht unglücklich aussehen.

Die jungen Damen sahen sicherlich sehr munter aus, obgleich sie sich, als ihr Zug vor dem Torweg einen Augenblick anhielt, mit jener steifen Ehrbarkeit bewegten, welche junge Mädchen annehmen, wenn sie wissen, daß das Auge der Vorgesetzten auf ihnen ruht.

Etwas beschämt über die nutzlose Täuschung der guten, arglosen Priorin, deren er sich schuldig gemacht hatte, begann Key verlegen:

Ich fürchte wirklich, daß ich Ihnen zu viele Mühe mache – plötzlich stockte er – denn als seine Stimme die feierliche Stille unterbrach, drehte sich eins der nächsten – ein reizendes Dämchen von etwa siebzehn Jahren – wie in unwillkürlichem Antrieb nach ihm um und ebenso rasch wieder weg. Aber dieser Augenblick genügte, um Key ein Antlitz zu zeigen, welches ihm nicht nur durch seine Schönheit und seinen jugendlichen Liebreiz auffiel, sondern ihn auch in eine ihm unerklärliche Aufregung versetzte, die seine Pulse heftig schlagen ließ. Es war ihm erschienen, als wenn die geöffneten Lippen und strahlenden Augen des ihm so plötzlich zugewandten Gesichtchens ein Wiedererkennen kundgegeben hätten, als wenn die Glut kindlich unschuldigen Vergnügens, die das holdselige Antlitz übergoß, der Ausdruck eines freudigen Schrecks über die unerwartete Erfüllung eines leise gehegten Wunsches, einer stillen Sehnsucht gewesen wäre.

Was hatte das zu bedeuten? Key stockte das Herz. – Da – wie ein Blitz durchzuckte es ihn – das war das Gesicht, welches er an dem Fenster im Felsenkessel gesehen hatte!

Die Erregung des jungen Mädchens war zu sichtbar, um dem Auge der Oberin zu entgehen, obgleich diese sie falsch auslegte. Sie müssen nicht glauben, daß unsre jungen Damen sich alle so bemerkbar machen, Don Prebel, sagte sie trocken. Unser liebes Kind hat in ihrem Benehmen noch etwas von der Freiheit ihrer Berge. Dies ist nämlich die Schwester von Señor Rivers. Aber vielleicht – wer weiß? fügte sie freundlich, doch mit plötzlicher Schärfe in ihren klaren Augen hinzu, vielleicht erkannte sie Ihre Stimme als die eines Freundes ihres Bruders?

Zum Glück für Key war er von seiner Entdeckung derart benommen, daß sich seine große innere Aufregung durch kein äußeres Anzeichen verriet. Bei der Aufklärung dieses Geheimnisses, von dem er fühlte, daß es mit dem Glück seines Lebens untrennbar verbunden war, zeigte er durchaus nichts von einem ertappten Intriganten oder entlarvten Lothario. Er erwiderte ruhig und kühl: Ich glaube, ich habe nicht das Vergnügen, die junge Dame zu kennen, jedenfalls habe ich niemals mit ihr gesprochen. Die Worte der ehrwürdigen Frau waren ihm halb unverstanden ans Ohr gedrungen und er antwortete ganz mechanisch, denn er sah nichts vor sich, als das bezaubernde Gesicht des Mädchens mit dem noch bezaubernderen Ausdruck, der ihm sagte, daß ihre Gedanken sich in diesem Augenblick ebenso mit ihm beschäftigten, wie die seinen mit ihr.

Nach allem, was er nun wußte oder zu wissen glaubte, befiel ihn eine zarte Scheu, noch weitere Fragen zu stellen, eine unbestimmte Furcht, das Mädchen bloßzustellen, ein heftiger Aerger über die begangene Täuschung. Sogar sein ganzes Suchen nach dem Gesicht erschien ihm jetzt wie eine Entweihung, wie etwas, für das er Vergebung erbitten mußte. Er sehnte sich danach, allein zu sein, um wieder Ruhe und Besonnenheit zu gewinnen. Selbst sein Wunsch, unter irgend einem Vorwand zu verweilen, um ihre Rückkehr abzuwarten und noch einen Blick aus ihren fröhlichen Augen zu erhaschen, war nicht so stark als das Verlangen, seine Gedanken sammeln und bei klarerem Denken sein weiteres Handeln überlegen zu können. Dieser Morgen bildete einen Wendepunkt in seinem Leben; das war ihm klar geworden. Die erste Gelegenheit ergreifend, dankte er der Priorin, versprach ihr weitere Mitteilungen, nahm Abschied von Pater Cipriano und ging.

Wer war sie? Was war sie? Wie ließ sich ihre Freude über dieses, ihm unverständliche Wiedererkennen erklären? Es ist wohl begreiflich, daß diese letzte Frage ihn am meisten beschäftigte, da er fühlte, daß bei ihm die Liebe auf den ersten Blick erwacht war. Hatte sie ihn wirklich schon früher gesehen? Hatte er auf sie denselben wunderbaren Eindruck gemacht, wie sie auf ihn? – Es war nicht Dünkel, dem diese Erwägungen entsprangen. Nein, diese Art der Eitelkeit besaß Key nicht, zumal ihn schon jene Bescheidenheit und Demut erfüllte, die jeder wahren Liebe zugrunde liegt. Er hielt jetzt Frau Barker für ihre Gefährtin in dem abgebrannten Hause, aber ihr Profil war es, das er am Fenster gesehen hatte. Ob der geheimnisvolle Bruder Rivers wohl einer von den Räubern sein mochte? – Unmöglich war das nicht; aber daß das junge Mädchen mit den Taten der Bande nichts zu schaffen hatte, stand fest, wennschon ihre Gefährtin zweifellos irgendwelche Verbindung mit denselben haben mußte. Mit dem untrüglichen Blick echter Liebe erkannte er, daß man sie getäuscht und in vollständiger Unkenntnis erhalten hatte. So schöne arglose Augen konnten nicht einer Genossin von Verbrechern angehören; schon ihre Lebhaftigkeit und ihr Freimut würden das Geheimnis längst verraten haben. War es ihm vorbehalten, gerade im Anfang seiner heißen Liebe sie darüber aufzuklären? Wie sollte er es ertragen, diese offenen, schönen Züge von Kummer und Scham getrübt zu sehen? Bei dem bloßen Gedanken wurde ihm das Auge feucht. Und noch eine andere Erwägung begann ihn zu quälen. Würde es nicht weiser und seiner würdiger sein, wenn er – der doppelt so alt war als sie – nicht weiter in das Geheimnis einzudringen suchte, das sie umgab? Vielleicht war es am besten, wenn er in aller Stille wieder aus ihrem jungen Leben verschwand, mit dem ein Zufall ihn verknüpft hatte. Aber war es wirklich nur ein Spiel des Zufalls? Verriet nicht ihre unschuldige Freude bei seinem Anblick, daß sie in ihm etwas sah, was er selbst in sich zu sehen niemals gewagt haben würde? Wahrlich, Key hatte schon die höchste Stufe demütiger Liebe erreicht!

Er betrat sein Hotel, unschlüssig und verwirrt, aber namenlos glücklich. Der Portier reichte ihm im Vorübergehen einen geschäftsmäßig aussehenden Brief. Ohne ihn zu öffnen, nahm er ihn mit auf sein Zimmer, warf sich zerstreut auf einen Stuhl am Fenster und versuchte, wieder zu denken. Die Atmosphäre seines Zimmers erinnerte ihn an die geheimnisvolle Gabe, die er gestern auf seinem Kopfkissen gefunden hatte. Mit plötzlichem Erbeben sagte er sich, daß sie nur von ihr gekommen sein konnte. Wie hatte sie es angestellt, den Blätterstrauß dahin legen zu lassen? Sie würde doch nicht Frau Barker damit betraut haben? Dieser Gedanke berührte ihn ebenso widerwärtig, wie er ihm unwahrscheinlich erschien. Vielleicht war sie bei ihr zum Besuch gewesen – das Kloster gestattet zuweilen einen Ausgang zu einer Verwandten oder vertrauten Freundin. Er dachte daran, wie er Frau Barker zu seinem Erstaunen in das Hotel hatte eintreten sehen, nachdem kurz vorher ihre Tür sich geöffnet hatte, während er über das Treppengeländer hinunter rief. So war es also das Mädchen gewesen, welches sich allein in dem Zimmer befunden, seine Stimme gehört und heute wieder erkannt hatte. Eine Ahnung durchblitzte ihn. Schnell griff er nach dem Brief und riß ihn auf. Er enthielt nur drei Zeilen in großer, schülerhafter Handschrift, aber sie jagten ihm alles Blut in die Wangen:

»Ich hörte heut zum drittenmal Ihre Stimme. Ich möchte sie wieder hören. Ich werde kommen wenn es dunkel wird. Gehen Sie bis dahin nicht aus.«

Er saß da wie betäubt. War das Wahnsinn, Dreistigkeit, oder wollte man ihn zum Besten haben? Er rief den Kellner. Den Brief hatte ein Konditorjunge aus dem Laden im nächsten Häuserviertel abgegeben. Er kannte diesen Laden von früher – die jungen Damen aus dem Kloster besuchten ihn mit Vorliebe. Nichts war leichter, als in dieser Weise einen Brief zu befördern. Mit bitterer Enttäuschung und mit Abscheu erinnerte er sich, daß dies ein dummer, aber unschuldiger Umweg für eine Bestellung war. Sollte er der lächerliche Mitschuldige bei der unbesonnenen Flucht eines romantischen Schulmädchens werden, oder das Opfer eines schändlichen Komplotts ihrer niederträchtigen Gefährtin? Er mochte weder eins noch das andere glauben; empfand aber trotzdem eine Erkältung seiner Gefühle, wie er solche noch vor einem Augenblick nicht für möglich gehalten hätte.

Was auch immer ihre Absicht war, er mußte auf jeden Fall diesen Besuch verhindern, welcher der Gipfelpunkt aller Torheit gewesen wäre. Größer noch als die Erbitterung und Entrüstung über ihre unbegreifliche Dreistigkeit war seine Furcht, daß sie sich selber schaden könnte. Unter jeder Bedingung mußte er sie davor hüten, sie vor Skandal und Bloßstellung bewahren. Wie aber sollte er das anstellen? – Sprechen mußte er sie – doch hier keinesfalls! Es fehlte nur noch eine Stunde bis zur Dämmerung. Sogar wenn es ihm gelänge, unter irgend einem Vorwand zu dieser für Besucher nicht mehr statthaften Stunde im Kloster vorgelassen zu werden, wie sollte er sich mit ihr in Verbindung setzen? Ihm blieb keine andere Wahl, als sie unterwegs aufzuhalten und zu überreden, wieder zurück zu kehren; das Hotel durfte sie unter keinen Umständen betreten.

Er griff nach seinem Hut und stürmte die Treppe hinab. Da erschreckte ihn eine neue Schwierigkeit. Welchen Weg sollte er einschlagen? Würde sie den gewöhnlichen Weg, die große Straße kommen, da sie sich doch nur heimlich entfernt haben konnte? War sie nicht vielleicht schon zu Mittag, während des Spaziergangs, unbemerkt entwischt und hatte sich irgendwo versteckt, um die Dunkelheit für ihr Vorhaben abzuwarten? Er beschloß, das nächste Straßenviertel abzupatrouillieren und sich dem Hotel immer nahe genug zu halten, um sie abzufangen, ehe sie dasselbe erreichte. Langsam schlich die Zeit dahin. Er blieb vor Schaufenstern stehen oder trat in einzelne Läden und machte Einkäufe, immer den Blick auf die Straße gerichtet. Die Gestalt eines hübschen Mädchens – und deren gab es viele – ein in der Ferne auftauchender Hut mit farbigen Bändern, das Flattern eines hellen Kleides um eine Straßenecke ließ ihn jedesmal nervös zusammenfahren. Sah er das Spiegelbild seines ernsten, gedankenvollen Gesichts in einem Schaufenster, oder las er die Ankündigung der Arbeiten in seinem Bergwerk auf einem Anschlagzettel, so überkam ihn ein gewisser Galgenhumor, und er mußte laut auflachen, wenn er daran dachte, was ihn jetzt beschäftigte. Die Schatten wurden immer länger. Er sah eine schlanke, anmutige Gestalt in den bekannten Konditorladen verschwinden. Bei aller Vorsicht hatte er doch dieses beliebte Stelldichein vergessen. Er eilte dorthin und trat ein. Die Gesuchte befand sich nicht im Laden. Vielleicht an einem der im Nebenzimmer befindlichen Tische. Er schritt hinein und unterwarf die dort Sitzenden auf ziemlich linkische und befangene Art einer ganz unschicklichen Besichtigung. Irgend eins der hier anwesenden hübschen Mädchen mochte wohl die Eingetretene sein, keins derselben aber war die, auf welche er fahndete. Aergerlich begab er sich schnell auf die Straße zurück. Er hatte kostbare Minuten verschwendet, die Sonne war untergegangen, das Angelus verklungen und Schatten verhüllten die Aussicht nach der Alameda. Er zog seine Uhr. Nun konnte sie wohl nicht mehr kommen. Vielleicht hatte sie sich eines Besseren besonnen; vielleicht war sie verhindert worden; vielleicht war die ganze Sache nur der lose Streich einer Tagesschülerin des Klosters, die ihn jetzt hinter irgend einem Fenster auslachte. In demselben Verhältnis, wie seine Ueberzeugung wuchs, daß er vergeblich auf sie wartete, bemächtigte sich seiner eine verzweiflungsvolle Stimmung. Er machte sich die bittersten Vorwürfe über die verrückte Idee, daß er ihr Kommen hatte verhindern wollen. Und als er endlich widerstrebend in das Hotel zurückkehrte, war er gerade so elend, weil sie ausblieb, wie zuerst bei der Nachricht, daß sie ihn besuchen wollte.

Im Hausflur trat der Portier ihm rasch entgegen.

Schwester Seraphina vom »Heiligen Herzen« ist gekommen, um Sie in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen, sagte er, Key etwas neugierig anschielend. Sie wollte nicht im Gastzimmer warten, weil es eine Privatsache beträfe, deshalb habe ich sie in ein Zimmer Ihres Stockwerks geführt.

Key fühlte, wie er blaß wurde. Der törichte Streich war entdeckt worden. Die Priorin hatte von der heimlichen Entfernung des Mädchens – oder von dem Versuch dazu – erfahren. Nun war eine der Schulschwestern hier, um Rechenschaft von ihm zu fordern oder wenigstens einen offenen Skandal zu verhindern. Indessen, er wußte, was er zu tun hatte, er stürzte die Treppe hinauf, entschlossen, auf jede Gefahr hin den Kampf für das süße Geschöpf zu führen und jeden Meineid zu schwören, mochte er noch so ungeheuerlich sein.

Sie stand in dem Zimmer am Fenster. Das Licht fiel voll auf das grobe Serschekleid mit den weißen Aufschlägen – den einfachen Gürtel, welcher die formlose Taille kaum abzeichnete – das riesige Kruzifix, das unschön fast bis zu den Knien herabbaumelte und auf die abscheuliche weißgeflügelte Kappe, welche allein schon, auch ohne den groben, dichten Schleier, die Entsagung aller menschlichen Eitelkeit verkörperte. Es war eine Erscheinung, wie er sich ihrer deutlich aus der Knabenzeit erinnerte, und selbst jetzt in seiner fast zornigen Erregung flößte ihm diese Tracht selbsterwählter Weltentsagung Achtung ein. Er beugte den Kopf mit knabenhafter Ehrerbietung, als sie ihm artig entgegen kam, mit leichtem Gruß bei ihm vorüberschritt und die Tür schloß, was er zu tun vergessen hatte.

Unmittelbar darauf warf sie mit so raschen Bewegungen, daß er ihnen kaum zu folgen vermochte, Kappe, Schleier, Rosenkranz und Kruzifix ab, und die junge Schülerin aus dem Kloster stand vor ihm.

Trotz ihrer düstern unschönen Verkleidung war weder der entzückende kleine Kopf mit dem seidenweichen Kraushaar zu erkennen, das durch das hastige Abreißen der Kappe in reizende Verwirrung geraten war, noch die blauen von unverhohlenem Triumph strahlenden Augen. Key fand sie noch schöner als im Klostergarten. Doch gerade diese Schönheit und dieser tollköpfige Uebermut rief ihn zum Bewußtsein ihrer Gefahr und ihrer unpassenden Lage zurück.

Was haben Sie getan? rief er lebhaft. Man kann Ihnen hierher gefolgt sein, Sie vielleicht jeden Augenblick in diesem Kostüm entdecken!

Dennoch ergriff er mit vor Wonne leuchtenden Augen die beiden ihm entgegengestreckten kleinen Hände und hielt sie mit einer Unbefangenheit fest, wie er sie sich kurz vorher nicht im entferntesten zugetraut hätte.

O, das wird nicht geschehen, sagte sie lustig. Sehen Sie, ich bin nämlich zur Strafe bei Schwester Seraphina im Zimmer, und die schläft nach dem Angelus jedesmal zwei Stunden; da bin ich in ihren Kleidern hinausgeschlüpft, ohne daß mich jemand erkannte. Ich merke aber ganz gut, was Sie haben, sprach sie mit einem Blick des Vorwurfs weiter, ich gefalle Ihnen in den Kleidern nicht. Ich weiß selber, daß sie scheußlich sind, aber ich konnte doch nicht anders herauskommen.

Sie verstehen mich nicht, sagte er eifrig. Mir gefällt es nicht, daß Sie sich in so schreckliche Gefahr stürzen, um – er hatte sagen wollen: um meinetwillen, endete aber bescheiden – um nichts und wieder nichts. Hätte ich geahnt, daß Sie mich zu sehen wünschten, würde ich das so eingerichtet haben, daß Sie von anderen nicht falsch beurteilt werden konnten. Durch Ihre Unbesonnenheit ist nun aber jeder Augenblick, den Sie hier länger verweilen, jede Minute, in welcher Sie sich in dieser Verkleidung außerhalb des Klosters aufhalten, eine Gefahr für Sie. Das haben Sie nicht überlegt.

O doch, entgegnete sie ruhig. Ich dachte daran, aber ich hoffte, wenn Schwester Seraphina merkt, daß ich nicht da bin und mich suchen läßt, so würden Sie so gut sein, mich nach dem lieben kleinen Hause in den Bergen zu bringen, wo ich Ihre Stimme zum erstenmal hörte. Wissen Sie noch? Sie hatten sich in der Dunkelheit verirrt. Seitdem dachte ich immer an Sie, wie an einen Bekannten. Das war das erstemal. Zum zweitenmal hörte ich Sie dann hier auf dem Flur, als Frau Barker ausgegangen war und ich allein in ihrem Zimmer blieb. Ich wußte nichts von Ihrem Hiersein, aber Ihre Stimme erkannte ich gleich wieder, gerade wie heut am Klostertor, und dort merkte ich auch, daß Sie mich kannten. Sehen Sie, und das gab mir den Gedanken ein, aus dem Kloster zu entfliehen. Ich dachte an nichts anderes mehr, als wie ich zu Ihnen kommen könnte, um Sie zu bitten, mich mitzunehmen und meinen Bruder zu benachrichtigen, wo er uns finden könnte und dann – sie brach plötzlich ab, als sie Keys bestürztes Gesicht bemerkte. Auch sie stand bestürzt da. Die Freude erlosch in ihren klaren Augen, leise zog sie ihre Hand aus der seinen und begann wortlos ihre Verkleidung wieder anzulegen.

Hören Sie mich! rief Key leidenschaftlich. Ich denke ja nur allein an Sie. Ich will und werde Sie vor jedem Tadel schützen – jedem Tadel – verstehen Sie mich denn immer noch nicht? Noch ist es Zeit. Ich werde Sie sogleich nach dem Kloster zurück begleiten. Unterwegs sollen Sie mir von sich erzählen und ich werde Ihnen von mir erzählen.

Sie war wieder vollständig in ihr strenges Gewand gehüllt und zog den Schleier über ihr Gesicht. Mit dem Aufsetzen ihrer Kappe schien aller jugendliche Frohsinn von ihr gewichen, und sie schritt mit dem müden Ernst der Entsagung nach der Tür. Ohne ein Wort zu wechseln, stiegen sie zusammen die Treppe hinab. Die, welche sie vorüber kommen sahen, machten ihnen mit höflicher Achtung Platz.

Als sie sich auf der Straße befanden, flüsterte sie: Geben Sie mir nicht Ihren Arm – Schwestern gehen nie untergefaßt. An der Straßenecke angekommen, sagte sie kühl: Hier führt der kürzeste Weg.

Key wurde mit einemmal steif, ungeschickt und verlegen. Die Glut, die Leidenschaft, welche er noch eben empfunden, schien plötzlich in ihm so völlig erloschen, als wäre die neben ihm Gehende wirklich die fromme Schwester gewesen, deren Rolle sie spielte. Endlich fragte er mit kaum beherrschter Gereiztheit:

Wie lange wohnten Sie in jenem Haus in den Felsen?

Nur zwei Tage. Mein Bruder wollte mich hier in die Schule bringen, aber in der Postkutsche saß jemand, mit dem er einmal einen Streit gehabt hatte, und da er in meiner Gegenwart einer Wiederholung vorbeugen wollte, stiegen wir bei Skinner aus, und von dort brachte er mich dann in das Haus, wo seine alten Freunde, die Barkers, lebten.

Sie sprach so natürlich und ohne Zögern, daß er dachte, er hätte ebenso gut die Worte der Schwester, die sie darstellte, als die ihren bezweifeln können.

Und sonst lebten Sie bei Ihrem Bruder?

Nein. Ich war in Marysville in der Schule, bis er mich wegnahm. In den letzten zwei Jahren habe ich ihn selten gesehen, denn er hatte im Gebirge zu tun – sehr viel Arbeit, sie hielt ihn wochenlang von den Niederlassungen fern, und deshalb konnte ich nicht bei ihm sein. Ich vermute, er handelte mit Pferden, denn er hatte immer wieder ein neues. Auch vordem war ich ganz allein; wir besitzen keine Verwandte oder nähere Bekannte; ich zog mit meinem Bruder immer sehr viel umher. Bis jetzt sah ich niemand, der mir gefiel; Sie waren der Erste, trotzdem ich Sie bis gestern nur gehört hatte.

Ihre wunderbare Naivität bereitete ihm abwechselnd Qual und Zweifel. In seinem Mißmut wurde er brutal.

Ja, aber Sie müssen doch auch mal mit anderen und jüngeren Männern zusammengetroffen sein – hier sogar, auf Ihren Schulspaziergängen – oder vielleicht bei einem Abenteuer, wie dieses?

Ihre weiße Kappe drehte sich ihm rasch zu: Ich habe mich niemals um einen Mann gekümmert. Niemals würde ich das getan haben, was ich heute tat, wenn Sie mir nicht gefallen und Vertrauen eingeflößt hätten, sagte sie hastig. Nach einer Pause fuhr sie in niedergeschlagenem Tone fort: Das klang jetzt gar nicht wie Ihre Stimme damals, und auch nicht so, wie Sie noch vor einem Augenblick sprachen.

Wissen Sie denn aber gewiß, daß Sie gerade meine Stimme gehört haben? fragte er mit erkünstelter Heiterkeit. An jenem Abend waren noch zwei Gefährten bei mir.

O, ich weiß auch das. Ich weiß sogar, was Sie sagten. Sie machten Ihnen Vorwürfe, weil einer ein brennendes Streichholz in das trockene Gras geworfen hatte. Ja, und dabei dachten Sie an uns. Das weiß ich.

An uns? fragte Key mit Betonung.

Nun ja, an Frau Barker und mich. Wir waren allein im Hause, denn ihr Mann und mein Bruder waren beide weg. Mir erschienen Ihre Worte wie eine Art Warnung, und ich sagte es ihr. So waren wir vorbereitet, als das Feuer näher rückte und entkamen beide auf demselben Pferde.

Und bei der Flucht verloren Sie Ihre Schuhe, lachte Key, und ich fand sie, als ich am nächsten Tage nach ihnen suchte. Ich besitze sie noch immer.

Das waren nicht meine Schuhe, sagte das Mädchen rasch. In der Eile konnte ich meine nicht finden, und ihre waren mir zu groß, darum fielen sie mir ab. Sie hielt inne und fuhr dann mit einem Anflug ihrer früheren Fröhlichkeit fort: So sind Sie also doch wieder zurückgekehrt? Das dachte ich mir.

Ja, ich würde gleich damals dort geblieben sein, aber wir erhielten auf unser Rufen keine Antwort. Was war der Grund davon? forschte er plötzlich.

O, wir sollten mit niemand sprechen, uns sogar von niemand sehen lassen, so lange wir allein waren, antwortete das Mädchen einfach.

Warum denn? beharrte Key.

Ach, weil so schrecklich viele Straßenräuber und Pferdediebe in den Wäldern hausen. Erst vor einigen Wochen haben sie die Postkutsche angehalten, und sogar erst vor ein paar Tagen wieder, als Frau Barker herunter kam. Sie hat sie selber gesehen!

Key unterdrückte mühsam ein Stöhnen tiefsten Schmerzes. Schweigend gingen sie weiter; er wagte kaum die Augen zu der sittsamen kleinen Gestalt aufzuschlagen. Abwechselnd von Mißtrauen und schwerem Herzenskummer bewegt, fühlte er endlich ein tiefes Mitleid, welches einen verzweifelten Entschluß in ihm reifte.

Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, Fräulein Rivers, begann er mit echt knabenhafter Schüchternheit, das heißt – stammelte er verlegen lachend, das heißt, es ist vielmehr – es ist vielmehr eine Beichte, so, als wenn Sie wirklich eine Schwester oder ein Priester wären, wissen Sie – ein Vertrauen, das Ihr Kleid mir einflößt. Ich habe Sie gesehen – oder ich glaubte, Sie schon gesehen zu haben. Das war es, was mich hierher führte, das war es, was mich antrieb, Frau Barker – die mir den einzigen Anhalt bot, Sie zu finden – bis zu der Klosterpforte zu verfolgen. An jenem Abend, als Sie zum erstenmal meine Stimme hörten, erblickte ich an dem hellen Fenster ein Profil, welches ich mir so tief einprägte, daß ich es immer vor mir sah.

Ich bin nicht an das Fenster getreten, sagte das junge Mädchen schnell. Es muß Frau Barker gewesen sein.

Ich weiß das jetzt, entgegnete Key, trotzdem aber muß ich wiederholen, daß dies Profil der Magnet war, der mich ihr bis hierher nachzog, nur weil ich hoffte, Sie auf diese Weise zu finden.

Das kann ich nicht verstehen, daß der Anblick des Profils einer Andern Sie veranlassen konnte, an mich zu denken, die Sie nie gesehen hatten, entgegnete sie mit einiger Schärfe in ihrer kindlichen Stimme. Aber freilich, fuhr sie gleich wieder freundlicher in ihrer reizend naiven Weise fort, die Profile der Menschen mögen sich wohl oft einander ähneln.

Das war es nicht, beteuerte Key immer noch etwas verwirrt, es war – hm – ja, wie soll ich sagen – sehen Sie, mir schwebte ein Bild vor, von dem ich vielleicht nur geträumt hatte – das schien sich zu verwirklichen.

Sie antwortete nicht, und schweigend wanderten sie weiter. Schon war die graue Mauer des Klosters sichtbar. Key fühlte, er hatte nichts erreicht. Mit Ausnahme jener ihm so arglos erteilten niederschlagenden Auskunft war er zu keinem näheren Verständnis mit dem schönen Mädchen an seiner Seite gekommen, und die Zukunft erschien ihm noch ebenso ungewiß wie vorher. Vor allem aber wurde er sich seiner eigenen niedrigen Denkungsart diesem unschuldigen, ahnungslosen Geschöpfchen gegenüber bewußt, welches ihm gleich so kindlich gehorcht hatte. Hatte er klug gehandelt? Würde er nicht besser getan haben, das Beispiel ihrer eigenen Offenheit nachzuahmen und – –

So war es also Frau Barkers Profil, dem Sie hierher folgten? begann die Stimme unter der Kappe aufs neue. Sie wissen doch, daß sie schon fort ist? Nun werden Sie ihr wohl wieder nachreisen?

Ach, Sie wollen mich nicht verstehen, fuhr Key wie verzweifelt auf. Aber ich werde Ihnen nicht von der Seite gehen, bis Sie mich verstanden haben, setzte er leiser hinzu und trat etwas näher an sie heran.

Nein, das dürfen Sie nicht, sagte sie vor ihm zurückweichend; man könnte Sie ja vom Kloster aus sehen. Und Sie dürfen überhaupt nicht weiter als bis zu jener Ecke mitkommen. Wenn ich schon vermißt worden bin, wird man auf Sie Verdacht werfen.

Aber wie soll ich das erfahren? Wollen Sie mir ein Zeichen geben? fragte er dringlich, indem er ihre Hand zu fassen versuchte. Lassen Sie mich noch bis zur Pforte mitgehen, bat er, ich kann Sie in dieser Ungewißheit nicht verlassen.

Sie werden es schon erfahren, antwortete sie, seine Hand übersehend, ernst. Weiter aber dürfen Sie mich nun wirklich nicht begleiten. Gute Nacht.

Sie war an der Mauerecke stehen geblieben. Wieder bot er ihr die Hand. Ihre kleinen Finger schoben sich kalt zwischen die seinen.

Gute Nacht, Fräulein Rivers.

Nein, nicht so, sagte sie plötzlich, ihren Schleier zurückschlagend und ihre ehrlichen Augen zu ihm erhebend, sagen Sie nicht so – Sie sind getäuscht. Von Ihnen mit einem falschen Namen genannt zu werden, ist mir unerträglich. Ich heiße gar nicht Rivers!

Nicht Rivers – was? fragte Key erstaunt.

Nein, mein Bruder wünschte nicht, daß ich seinen Namen hier führte. Mein wahrer Name ist Riggs – Sie müssen es aber nicht weiter sagen; es ist ein Geheimnis, worüber ich nicht sprechen soll, vor Ihnen mag ich aber kein Geheimnis haben.

Key rang mit sich. Endlich sagte er traurig: Also, gute Nacht, Fräulein Riggs.

Nein, auch so nicht – sagen Sie Alice, klang es leise.

Gute Nacht – Alice.

Sie schritt von ihm fort und erreichte das Tor. Einen Augenblick erschien ihre Gestalt in dem ernsten, unförmlichen Gewand wie von der Demut und Selbstverleugnung des Alters gebeugt; dann verschwand sie durch die Pforte.

Alle Vorsicht vergessend, stürzte Key ihr nach und horchte am Tor. Kein Ton war zu vernehmen. Offenbar hatte die Nonne unbeanstandet Eintritt gefunden. Sie war in Sicherheit.


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