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IV.

Das können doch noch nicht die »Drei Fichten« sein? sagte ein Passagier, sich die Augen reibend, oder wir müßten über fünf Meilen geschlafen haben. Ich sehe keine Lichter; warum halten wir denn? Die anderen Passagiere richteten sich jetzt auch auf. Einer, der dem Fenster zunächst saß, öffnete es; sofort starrte ihm die doppelte Mündung eines Gewehrs entgegen. Niemand rührte sich, jeder schien vom Schreck wie gelähmt. In der allgemeinen Stille hörte man nur den Postillion schimpfen:

Mich schert's wenig, aber zum Teufel, diesmal, ihr Kunden, treibt ihr's doch ein bißchen zu unverschämt! Vierzig Mann und nicht drei Meilen von den »Drei Fichten«! Na, 's ist eure Sache – mich geht's nichts an!

Die Frechheit des Ueberfalls hatte selbst den für gewöhnlich schweigsamen, phlegmatischen Kutscher aus seiner Ruhe gebracht.

Ihre freundliche Besorgnis für unser Wohl macht Ihnen alle Ehre, sprach eine Stimme aus der Dunkelheit, und soll geziemend unserm Anführer vermeldet werden; ich darf Sie aber versichern – und hoffe, Sie werden davon durchdrungen sein – daß wir zur Förderung unsers Geschäfts und zur prompten Bedienung unserer geehrten Kundschaft vor keinem Risiko zurückschrecken und jeder Gefahr die Stirn bieten. Ich vermute wohl richtig, daß Sie sich ebensowenig wie wir verspäten wollen, und Ihre Passagiere Verlangen tragen werden, ihren Tee in den »Drei Fichten« einzunehmen. Beschleunigen wir also die Sache. Reichen Sie die Geldkiste der Ueberland-Postgesellschaft und den Postbeutel herunter. Hüten Sie sich aber, das Gewehr daneben zu berühren. Das letztemal ging es leider los und verwundete einen Ihrer Passagiere. Unglücksfälle dieser Art, welche die Harmonie und das Vergnügen unsrer gelegentlichen Begegnungen stören, können gar nicht tief genug beklagt werden.

Großer Gott! ächzte ein Außenpassagier.

Ah, dank Ihnen, mein Herr, sagte ruhig die Stimme; hatte Sie gar nicht gesehn; muß Sie zu meinem Bedauern aber jetzt bemühen, mit den andern abzusteigen.

Der Sprecher trat nun näher, und gleichzeitig fiel der Schein einer kleinen runden Blendlaterne auf die Kutsche. Man sah einen breitschultrigen Mann von mittlerer Größe, dessen glattes, bartloses Gesicht eine schwarze Halbmaske trug, welche einen freundlichen, wenn auch spöttischen Mund freiließ. Der Mann räusperte sich, wie es berufsmäßige Redner zu tun pflegen, und näher an das Fenster tretend, begann er zu Keys äußerster Ueberraschung ganz in dem rhetorischen Stil, wie es der Goldgräber vorhin geschildert hatte:

Umstände, über welche wir keine Gewalt haben, meine Herren, zwingen uns, Sie zum Aussteigen zu nötigen; stellen Sie sich gefälligst in eine Reihe hier an die Seite des Weges und halten Sie Ihre Hände in die Höhe. Sie werden das nach dem eingepferchten Sitzen in der Kutsche nicht unangenehm empfinden – im Gegenteil, der Tausch der stickigen Luft mit der gesunden Abendbrise der Sierra wird nur erfrischend und labend auf Sie wirken. Während dessen werden wir die gute Gelegenheit benutzen, Sie des sogenannten Mammons zu entledigen, welcher – ich bedaure, es sagen zu müssen – in unrichtigen Händen nur zu oft verkehrt angewendet wird, und welchen die weisesten Lehrer der Moral schon vor alters als die Wurzel alles Uebels bezeichneten! Ich brauche Ihnen, meine Herren, als Geschäftsleuten, nicht erst zu sagen, daß Willfährigkeit und freundliches Entgegenkommen die schnelle Abwickelung eines Geschäftes wesentlich erleichtert und einen Handel abkürzt, der oftmals so unnütz und – wie ich leider gestehen muß – peinlich in die Länge gezogen wird.

Hiernach trat er langsam mit theatralischer Würde zurück und machte dadurch die Gewehrmündungen sichtbar, welche seine Genossen auf die Passagiere gerichtet hielten. Trotz ihres Schreckens, ihres Unbehagens und ihrer Entrüstung schien ihnen doch die Unverschämtheit und gedrechselte Redeweise des Ritters von der Landstraße gewissermaßen komisch vorzukommen und einige lächelten nervös, als sie zaudernd einer nach dem andern aus dem Wagen stiegen. Indessen ist es auch möglich, daß die auf sie gerichteten Gewehre mehr oder weniger unmittelbar zu dieser stillen Ergebung beitrugen.

Zwei Masken begannen nun die Passagiere unter dem vereinigten Brennpunkt der kleinen Laterne und der blinkenden Gewehrläufe zu durchsuchen, während der Redner seine spöttischen Bemerkungen machte: Es ist sehr zu beklagen, daß Geschäftsleute, anstatt ihr Eigentum dem Posthalter zur Verwahrung in dem Postkasten zu übergeben, noch immer fortfahren, es an ihrer Person zu verbergen; eine Gewohnheit, welche ohne die Sicherheit zu erhöhen nur Mißtrauen gegen die Ueberland-Postgesellschaft ausdrückt und die schnelle Erledigung unsers Geschäftes in bedauerlicher Weise beeinträchtigt. Ich möchte nicht versäumen, hierbei darauf aufmerksam zu machen, daß wir uns in der Regel nicht mit Kleinigkeiten befassen, die, wie Uhren und einfache Schmucksachen, zum täglichen persönlichen Gebrauch gehören, daß wir uns jedoch das Recht vorbehalten, der unmännlichen und lächerlichen Unsitte des Tragens von Diamanten und prahlerisch dicken Uhrketten zu steuern.

Begleitet von solchen Hohnreden ging die Ausplünderung schnell von statten und schien fast beendet, als der Redner – sich abermals räuspernd – der Reihe der ungeduldigen Männer näher trat, sie wohlgefällig einen nach dem andern musterte und dann in fast schmerzlichem Tone von neuem begann:

Ganz gegen unsre sonstigen Gepflogenheiten sehen wir uns leider bei dieser Gelegenheit genötigt, von einigen unsrer gewöhnlichen Regeln abzuweichen. Es ist nicht unsre Gewohnheit, uns um die Kleidung unsrer geschätzten Kunden zu kümmern, hier aber erscheint es mir als ein Gebot der Menschlichkeit, den letzten Herrn da zur Linken von seinen Stiefeln zu befreien, die ihm offenbar große Schmerzen bereiten und seine Beweglichkeit hindern. Ebenso gehen wir nur selten von unserm Grundsatz ab, unsre geehrten Kunden während der Untersuchung die Hände in die Höhe halten zu lassen, indessen zur Erleichterung des Herrn neben dem eben Bezeichneten, machen wir diesmal gern eine Ausnahme, und erlauben ihm, die augenscheinlich seine Hüfte sehr belästigende, viel zu schwere Revolvertasche abzulegen. – O, ich bedaure unendlich, fuhr er beruhigend mit etwas erhobener Stimme fort, Sie erschraken soeben über die plötzliche Bewegung unsres Freundes, er hatte wirklich nicht die Absicht, seinen Revolver zu ziehen – das Futteral enthält gar keinen.

Einen Augenblick schwieg der Spötter und sah lächelnd zu, wie seine Spießgesellen dem Farmer die Stiefel auszogen und dem Bergmann die Revolvertasche abschnallten, dann ging er mit der Miene tiefster Zerknirschung auf die Kutsche zu, in welcher nur noch die Dame gerade und steif in ihrer Ecke saß. Nach einer höflichen Verbeugung ergoß sich sein Redestrom hier weiter:

Ich bin wahrhaft unglücklich, den heute schon mehrfach nötig gewesenen Verletzungen unsrer Regeln nun noch die mir allerschmerzlichste hinzufügen zu müssen. Bei den sehr seltenen Gelegenheiten, wo uns das Glück zuteil wurde, auch das schöne Geschlecht begrüßen zu können, ist es unabänderlich unsre Sorge gewesen, es zu respektieren und ihm keinerlei Unbequemlichkeiten zu bereiten. Nur mit dem tiefsten Bedauern sehen wir uns in dem vorliegenden Fall in die Lage versetzt, ein anderes Verfahren beobachten zu müssen. Meine Herren! Die Dame hat in der Güte ihres Herzens und mit der ihrem Geschlecht eigenen Hilfsbereitschaft ein Wertobjekt in ihre Obhut genommen, welches ihr einer von Ihnen zur Aufbewahrung aufgedrungen hat. Wir erkennen hierin, meine Herren – die meisten unter Ihnen werden mir beistimmen – einen schändlichen und unwürdigen Versuch, die uns mit Recht nachgerühmte Heilighaltung des schwachen Geschlechts zu unserm Nachteil auszubeuten. Das aber können wir um keinen Preis dulden. Um Ihrer selbst willen, Madame, sind wir genötigt, Sie um die Reisetasche unter Ihrem Sitz zu bitten. Sie werden dieselbe zurückerhalten, sobald das von Ihnen übernommene Wertstück entfernt ist.

Bitte, ein Wort! Eine Frage! rief der Advokat außer sich. Es ist ein Mann unter uns, den Sie geschont haben – ein Mann, der sich erst unterwegs zu uns fand. Ist dieser Mann, dabei deutete er auf den erstaunten Key, mit Ihnen im Bunde?

Jener Mann, entgegnete der Wortführer lachend, ist der Besitzer der Sylvan Hollow Mine. Wir haben ihn geschont, weil wir ihm einige Rücksicht schulden, da er in der Stille der Nacht aus seinem Haus geholt wurde, als der Sheriff der Sierra uns suchte.

Hierauf trat er einige Schritte zurück und gebot mit ganz andrer Stimme und total verändertem Wesen: Und nun wieder hinein mit euch! Vorwärts! rasch! Als aber auch Key diesem Befehl folgen wollte, fuhr er ihn an: Ihnen, Herr, rate ich, einen Außenplatz zu wählen. Und du, Kutscher, nur eine Bewegung mit der Peitsche oder einen Ruck am Zügel, bevor du das Signal hörst! und bei allen Teufeln – du weißt, was geschieht. Im selben Augenblick schien er schon von der Dunkelheit verschlungen, nur das Licht einer einsamen Blendlaterne – ihr Träger war unsichtbar – zeigte noch immer einige auf den Kutscher gerichtete Gewehrmündungen. Aufgeregtes Stimmengemurmel drang aus der geschlossenen Kutsche, aber der aus der Finsternis erschallende zornige Ruf: Ruhe! brachte es zum Schweigen.

Die Minuten schlichen langsam dahin. Kaum wagte noch einer zu atmen. Dann ein heller Pfiff aus der Ferne – gleichzeitiges Erlöschen der Laterne – ebenso plötzlich Verschwinden der erhobenen Gewehrmündungen. Die Peitsche des Postillions sauste auf die Rücken der Pferde – die Kutsche flog davon.

Der heftige Ruck warf Key beinahe vom Verdeck und bei dem tollen Jagen hatte er die größte Mühe, sich auf seinem Sitz zu behaupten. Wieder und wieder fiel die Peitsche auf die schon rasend gemachten Pferde, und bei jedem neuen Hieb schien die alte Kutsche zu springen und zu schwanken. Die Passagiere im Innern zeterten und schrien, doch der wie besessene Kutscher kehrte sich nicht dran. Endlich wurde wütend ein Fenster geöffnet und der Advokat schrie heraus: Was ist denn los? Mann, wollen Sie uns alle ums Leben bringen mit Ihrem wahnsinnigen Gefahre? Die Antwort war ein erneutes Einhauen auf die Pferde und der zwischen den Zähnen hervorgestoßene Fluch: Daß dir der Satan den Hals umdrehe, verdammter alter Narr! Die Bäume an der Straße hüpften wie in wildem Tanze vorüber, trotzdem aber fuhr die Peitsche fort, das schnaufende Gespann zu immer wilderem Laufe anzutreiben. Mit der Schnelligkeit einer Lawine schoß polternd der alte Kasten bergab und ohne Rast stürmte er in gleicher Weise wieder bergan. Es war, als ob das schwere Fuhrwerk jetzt eigene diabolische Kräfte gewonnen hätte. Seine Räder zermalmten das Gestein zu Pulver; um scharfe Ecken biegend kippte es weit auf die Seite, richtete sich aber selbst wieder aus, unwiderstehlich fortgerissen von den zu äußerster Anstrengung angetriebenen Pferden. So ging es unaufhaltsam weiter, bis die Lichter der Station durch die Bäume zu glitzern begannen. Jetzt erhob der Kutscher ein so anhaltendes infernalisches Geschrei, daß es sogar das Gerassel des in unverminderter Fahrt einhersausenden Wagens übertönte. Einzelne hin und her eilende Lichter wurden sichtbar, endlich hielt die Post bei einer Menge, am Anfang der Niederlassung zusammen gelaufener Leute, die mit verwunderten Gesichtern dastanden.

Na, was steht ihr hier und gafft wie die Maulaffen? schnarchte der Postillion von seinem Bock herunter. Habt wohl noch keine angefallene Post nicht gesehn? Höll' und Teufel! nicht drei Meilen von hier, auf offener Straße hat das Gesindel uns ausgeraubt. Wenn ein Mann unter euch ist, der nicht die Seele eines Stinktieres hat, so schätz' ich, wird er sich auf die Beine machen, um dem Raubzeug noch über'n Hals zu kommen, eh's sich in seine Schlupfwinkel verkriecht!

Nachdem er sich so – in dem sicheren Bewußtsein seiner eigenen Unabkömmlichkeit für den gepredigten Kriegszug – die Leber frei geredet und alle Verantwortlichkeit für eine Verfolgung der Räuber auf andre Schultern abgewälzt hatte, versank er wieder in seine gewohnte Schweigsamkeit und fuhr etwas milder gestimmt nach der Station, wo er seine zerstoßenen und zerschundenen Passagiere mürrisch absetzte. Als Key sich jetzt wieder mitten unter ihnen befand, konnte es ihm nicht entgehen, daß das seiner Schonung wegen von dem Advokaten geäußerte Mißtrauen trotz der Erklärung des Redners nicht geschwunden war. Eine Zeitlang amüsierte ihn das, zumal er sich sagen mußte, daß allerdings seine Reisegefährten ihn zuerst neben dem geheimnisvollen Reiter erblickt hatten, dieser aber von einigen als einer der Maskierten erkannt worden war. Nicht wenig jedoch wurmte es ihn, zu finden, daß auch die schöne Unbekannte diese Gefühle zu teilen schien und daß seine erste an sie gerichtete höfliche Anrede einer eisigen Erwiderung begegnete. Im Grunde genommen hätte ihm das nicht mehr als einen augenblicklichen Verdruß bereiten sollen, da sein ganzer schön ersonnener Roman gleich bei dem ersten Zusammentreffen mit ihr in die Brüche gegangen war, sonderbarerweise aber erweckte ihr Benehmen wieder seinen früheren Verdacht und gab ihm zu denken. Sollte wirklich die auffällige Sicherheit, welche der Redner bei der Ausplünderung entfaltete, nur allein seinem Scharfblick entsprungen sein, oder war ihm verraten worden, wo er die Schätze der Reisenden zu suchen hatte? Lag nicht die Möglichkeit nahe, daß die Frau, als sie allein im Wagen saß, Gelegenheit fand, den Verrat zu begehen? Unmöglich schien das nicht. Sie hatte das Fenster geöffnet, um frische Luft einzulassen! Konnte sie nicht dabei einen Zettel herausgeworfen haben? Und gesetzt den Fall, ließ es sich denn nicht denken, daß sie in ihrem Schuldbewußtsein zu ihrer eignen Sicherheit den lächerlichen Argwohn der Passagiere gegen ihn bestärkte? Sein bereits erloschenes Interesse an der Sache erwachte aufs neue. Vor wenigen Augenblicken war er noch fest entschlossen gewesen, seine Verfolgung aufzugeben und hier von den »Drei Fichten« aus zurückzukehren. Nun aber nahm er sich vor, nicht davon abzulassen, bis er Klarheit erlangt haben würde; indessen verschmähte er es, durch Mitteilung seines Verdachtes an seine Reisegefährten Wiedervergeltung zu üben.

Als die Kutsche weiterfuhr, nahm er seinen Platz wieder auf dem Verdeck und blieb dort, bis gegen Abend Jamestown erreicht wurde. Hier mußte ein Teil der ausgeplünderten Passagiere zurückbleiben, um erst von Freunden weitere Reisemittel abzuwarten. Er selbst befand sich ja zum Glück infolge der ihm zuteil gewordenen Schonung, welche ihn bei seinen Mitreisenden in solchen Mißkredit gebracht hatte, noch im Besitz einer vollen Börse.

Bis zur nächsten Station war sein Außenplatz noch ein ganz guter Beobachtungsposten, mit der Ankunft in Stockton aber stellten sich der Ueberwachung schwere Hindernisse entgegen. Die Stadt bildete den Endpunkt der Poststraße und den Anfangspunkt anderer Verkehrswege zu Schiff und Eisenbahn. Wenn er das Glück hatte, zu entdecken, welches von den beiden Beförderungsmitteln seine Reisegefährtin wählte, so wurde von, nun an seine fortgesetzte Begleitung natürlich auffallender und konnte Verdacht erregen. Aber ein Umstand, den er wieder für eine Fügung hielt, half ihm, einen Entschluß zu fassen. Als das Gepäck abgeladen wurde, hörte er einen Postschaffner sagen: Das Gepäck der Dame soll nach San Louis expediert werden. Dies brachte Key sofort auf einen Gedanken, welcher die Schwierigkeit zu lösen schien, freilich aber auch die Gefahr in sich schloß, die Spur gänzlich zu verlieren. Es gab zwei Verbindungen mit San Louis; eine direkte, wenn auch langsamere, mit der Post und eine weitere, jedoch schnellere, mit Dampfboot und Eisenbahn, via San Francisco. Selbst wenn er das Schiff nahm und sie sich derselben Fahrgelegenheit bediente, so war die Gefahr, ihren Verdacht zu erregen, doch geringer; schlug sie dagegen den direkten Weg mit der Post ein, so traf er trotzdem über San Francisco immer noch eine Stunde vor ihr in San Louis ein. Er entschied sich also für das Schiff. Von dem Kajütenfenster aus prüfte er sorgfältig die auf dem Laufsteg ankommenden Passagiere; sie war aber nicht darunter und hatte demnach jedenfalls der Post den Vorzug gegeben. Allerdings trat mit dem Moment, wo er sie aus den Augen ließ, die Möglichkeit ein, sie ganz zu verlieren, doch schien die Gefahr nicht groß. War er denn nicht – sein romantischer Aberglaube ließ ihm darüber keinen Zweifel – ganz ohne sein Zutun auf diesen Platz geführt worden?

Es hatte ihn sonderbar berührt, als er vernahm, daß San Louis vermutlich das Endziel der Dame war. Er begriff nicht, welche Beziehungen zwischen ihrem wilden Leben in den rauhen Bergen und diesem unbedeutenden Ort bestehen konnten. Es war offenbar die ungeeignetste Zufluchtsstätte, die sie hätte erwählen können. Das Städtchen bot weder Gelegenheit zur Verwertung des Raubes, noch zum Verkehr mit der Bande und war lange nicht so sicher wie eine volkreiche Stadt. Als Sitz einer alten spanischen Mission und klösterlichen Erziehungsanstalt in einer langweiligen ländlichen Ebene – hatte es seine altväterische Eigenart sogar inmitten amerikanischen Fortschritts und sozialer Umwälzungen unversehrt erhalten. Er kannte das kleine Nest genau. War es doch die Kinderstube seiner Romantik gewesen. In den Räumen der alten Klosterschule hatte er die einzigen ruhevollen Jahre seiner abenteuerlichen Jugend verlebt, und in der langen Alameda oder Doppelallee alter Bäume, welche sein Kloster mit dem der Nonnen von Santa Louisa verband, hatte er das erste Glück seiner jugendlichen »Anbetungen« kennen gelernt. Ihn belustigte die Ironie des Schicksals, welche ihn jetzt bei einer Irrfahrt seines reiferen Mannesalters an den nämlichen Ort führte; indessen konnte er sich leider nicht verhehlen, daß diese jüngste Torheit doch einen tieferen Eindruck auf ihn machte.

Mit noch weit größerer Spannung als sein Abenteuer ihm bisher verursacht hatte, stieg er endlich in dem San José-Hotel ab und erwartete dort, in eine Balkonecke gedrückt, mit Ungeduld die Ankunft der Post. Sein Herz pochte ungestüm, als die Kutsche sich näherte. Sie war darin! Aber als sie ausstieg, folgte ihr der geheimnisvolle Reiter von der Sierra-Straße. Ein Irrtum über die wohlgebildete Gestalt war unmöglich, über die Gesichtszüge dagegen, welche so sorgfältig verborgen gewesen waren, konnte Zweifel herrschen. Es war doch wirklich wieder wie eine Eingebung, daß er nicht mit der Post gefahren war. Seine Anwesenheit würde ganz gewiß den Fremden gewarnt und dadurch die Lösung des Rätsels verhindert haben. Nur mittelst Pferdewechsels und Benutzung passierbarer Wasserläufe konnte es dem Manne gelungen sein, die Postkutsche in Stockton einzuholen. Aber zu welchem Zweck? In den Koffer der Dame, welcher vor Keys Augen unberührt nach Stockton gekommen war, konnte die gemachte Beute nicht verpackt worden sein, um sie in dieser weltvergessenen alten Stadt zur Verwertung zu bringen. –

Die Fremdenliste des Hotels zeigte nur den Namen: »Frau Barker aus Stockton«; der Mann, welcher ebenso geheimnisvoll verschwunden zu sein schien, wie er gekommen war, stand in derselben nicht vermerkt. Alles, was Key erfuhr, war, daß Frau Barker ein Zimmer auf demselben Flur mit ihm bewohnte. Es schien sie niemand zu kennen, und er trug Bedenken, durch auffällige Nachforschungen sie vielleicht scheu und vorsichtig zu machen, oder gar durch bezahlte Spionage des Hauspersonals sein Geheimnis zu gefährden.

Als er einmal bei ihrer Tür vorüber ging, hörte er ein helles Lachen. Es klang unschuldig und fröhlich, sonderbarerweise berührte es ihn aber widerwärtig. Solche Heiterkeit bei dieser Frau! Das schien ihm unverständlich. Doch mehr beunruhigte ihn bald ein anderer Vorfall. Er vermied in der Ueberwachung ihres Tuns aufs sorgfältigste alles, was ihr auch nur eine Ahnung von seiner Nähe hätte geben können. Selbst seinen Namen hatte er aus Vorsicht nicht in die Fremdenliste eingetragen und dem Wirt, seinem alten Bekannten, das Versprechen abgefordert, denselben geheim zu halten. Nun geschah es am nächsten Morgen, daß der Kellner nicht schnell genug auf sein Klingeln erschien, und da vergaß Key sich soweit, daß er an die Treppe lief, neben welcher das Zimmer der Dame lag, und herunterrief. Noch stand er über das Geländer gebeugt, als das leise Knarren einer Tür und der eigentümliche Magnetismus, welcher uns merken läßt, wenn wir angesehen werden, ihn veranlaßte, sich langsam umzudrehen. Dabei hörte er aber nur noch das Rascheln eines Kleides und sah, wie die Tür rasch geschlossen wurde. Augenblicklich fiel ihm seine törichte Gedankenlosigkeit schwer aufs Herz – aber es war zu spät. Hatte die geheimnisvolle Flüchtige ihn erkannt? Vielleicht nicht; ihre Blicke waren sich wenigstens nicht begegnet.

Um unauffällig zu spionieren, nahm er seine Lokalkenntnis der alten Stadt zu Hilfe. Dem Gasthof gegenüber lag ein Billardsalon, in dem er in früheren Zeiten häufig verkehrt hatte. Diesen suchte er jetzt wieder auf und beobachtete – selber ungesehen – von den Fenstern desselben den Eingang zum Gasthof. Als er nachmittags wieder dort in der Ecke saß, bemerkte er auf einmal zu seiner Ueberraschung, daß die, welche er belauerte, in das Hotel zurückkehrte, während er sicher wußte, daß sie es bei seinem Weggang noch nicht verlassen hatte. Besaß das Haus einen zweiten Ausgang? – oder hatte sie ihn durch eine Verkleidung getäuscht? Vollends in Verwirrung aber geriet er, nachdem er gegen Abend in sein Zimmer zurückgekehrt war. Auf seinem Kopfkissen lagen einige getrocknete Blätter eines wohlriechenden Bergfarrenkrautes, welches nur in der Sierra vorkommt. Sie waren mit einem schmalen blauen Band zusammengebunden und so hingelegt, daß sie ihm gleich in die Augen fallen mußten. Als er sie in die Hand nahm, erinnerte ihn ihr Geruch an den feinen würzigen Duft, den er bisher nur in dem Bergkessel, wo seine Mine war, gefunden hatte. Sollten ihm die Blätter ein Zeichen geben? – Er rief das Stubenmädchen. – Dieses wußte weder etwas von dem Sträußchen, noch von irgend jemand, der sein Zimmer betreten haben könnte. – Leise schlich er auf den Flur. – Die Stubentür der Dame stand offen – das Zimmer war leer. Die Dame, sagte das Mädchen, ist diesen Nachmittag abgereist. – Es war kein Zweifel mehr, sie war die Bewohnerin des abgebrannten Hauses gewesen, den Beweis hielt er in der Hand. Und nun entschlüpft! – Das kam von seiner Unentschlossenheit! – Sie hatte ihn wiedererkannt, das stand fest! Aber hatte sie den eigentlichen Zweck seiner Verfolgung erraten, oder hatte sie diese bloß für eine sentimentale Verliebtheit gehalten, deren Hoffnungslosigkeit sie ihm von vornherein durch ihr eiliges, spurloses Verschwinden andeuten wollte? Genug, in jedem Fall war er der Betrogene. Er wußte nicht, sollte er beleidigt, sollte er zornig sein – oder sollte er sich freuen, daß er die ganze Geschichte nun auf einmal los war.

Er mußte an die Luft, um die Sache zu verarbeiten, und lief planlos im letzten Schein des schwindenden Tages die einzige Hauptstraße der Stadt entlang und weiter in die schattige Alameda, die zu dem Kloster Santa Louisa führte.

Hier vergaß er allmählich seinen Aerger über den Erinnerungen, welche dieser Weg in ihm erweckte. Der Mond zog langsam seine Bahn und versilberte den Fahrweg zwischen den ebenholzschwarzen Baumreihen, während die Fußwege schwarz und weiß karriert erschienen. Das schwache Klingeln eines Pferdebahnwagens in der Ferne machte ihn auf eine der wenigen Neuerungen aufmerksam, welche dem Ort ein verändertes Gepräge verliehen. Der Wagen kam näher, holte ihn ein und fuhr mit seinen matt erhellten Fenstern vorüber. In demselben Augenblick blieb Key wie vom Donner gerührt stehen. Achtlos aufblickend hatte er an einem der Fenster das Gesicht erkannt, das er noch eben für immer verloren gegeben hatte.

Im selben Moment stand aber auch sein Entschluß fest, sich diese Gelegenheit nicht wieder entgehen zu lassen. – Er eilte dem Wagen nach, der jetzt langsam fuhr und an einer Biegung der Straße hielt. Es stieg jemand aus – sie war es! Sie bog unverweilt in eine Querstraße ein, auf welche die niedrigen Häuser der Vorstadt dunkle Schatten warfen. Kühn folgte er ihr. Jetzt wollte er um jeden Preis ihr Geheimnis entdecken und wenn nötig, sie zu diesem Zweck ohne weiteres anreden. Was er damit wagte, welchen Gefahren und Strafen er sich durch solche Dreistigkeit aussetzte, war ihm vollkommen klar, aber – er fühlte in seine linke Tasche, da steckte das Sträußchen Farrenkraut – das bot ihm die nötige Entschuldigung. Eine mutmaßliche Vertraute von Raubgesellen zu verfolgen, gewiß, das war kein Pappenstiel, aber – er fühlte in seine rechte Tasche, da steckte der Revolver – der war das Angemessene hierfür. Beides an seinem Platz; er war vorbereitet.

Die Querstraße näherte sich jetzt immer mehr dem ältesten und zerfallensten Teil der Stadt, und Key verhehlte sich nicht, was das sagen wollte. Schon in den Tagen seiner Knabenzeit waren die verwitterten, aus Luftziegeln errichteten Gebäude, welche an die Gartenmauer des Klosters grenzten, die Schlupfwinkel gesetzloser Mexikaner und dergleichen Leute gewesen. Als die Straße anfing, uneben und holperig zu werden und die Umrisse der hohen, steilen, da und dort schon eingefallenen Ziegeldächer sich gegen den Himmel abhoben und die zerbröckelnden, in unheimliches Dunkel gehüllten Torwege sich zeigten, da war er auf das Schlimmste gefaßt. Das focht ihn aber nicht an, jetzt galt es, die Fährte seines Wildes nicht von neuem zu verlieren. Er sah die große, anmutige, schwarzgekleidete Gestalt an der verwitterten aber noch starken Mauer des Klostergartens dahinhuschen. Sie schien absichtlich den Schatten derselben aufzusuchen. Er beschleunigte deshalb seine Schritte. Plötzlich blieb sie stehen. Sofort stand auch er stockstill. Im selben Augenblick verschwand sie.

Rasch stürzte er nach der Stelle, wo er sie eben noch gesehen hatte. Er befand sich vor einem hohen, eisernen Tor mit einer kleinen Eingangspforte in der Mitte, deren rostige Angeln soeben geknarrt hatten. – Er rieb sich die Augen. – Ort, Tor, Mauer, alles war ihm wunderbar bekannt! Er trat zurück auf den Fahrweg und betrachtete noch einmal das große Tor genau. Nein, nein, es war kein Irrtum.

Was vor ihm lag, war der Eingang zum Nonnenkloster vom Heiligen Herzen.


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