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Miggles.

Wir waren acht mit Einschluß des Postillons. Wir hatten auf der Fahrt während der letzten sechs Meilen nicht gesprochen, seit das Rumpeln des schweren Fuhrwerks das letzte poetische Citat des Richters verdorben hatte. Der langgewachsene Mann neben dem Richter schlief, indem er seinen Arm durch die hin und her schwankende Strippe gesteckt hatte und seinen Kopf darauf ruhen ließ – ein ganz und gar schlotteriges, hülflos aussehendes Ding, wie wenn er sich gehängt hätte und zu spät losgeschnitten worden wäre. Die französische Dame auf dem Rücksitz schlief auch, aber mit einer halbbewußten Attitüde, die den Anstand wahrte, und die sich selbst in der Disposition des Taschentuchs zeigte, welches sie vor ihre Stirn hielt, und das ihr Gesicht halb verschleierte. Die Dame aus Virginia City, welche mit ihrem Manne reiste, hatte schon längst alle Individualität in einer tollen Verwirrung von Bändern, Schleiern, Pelzen und Shawls eingebüßt. Kein Geräusch ließ sich hören als das Rasseln von Rädern und das Klatschen von Regentropfen auf die Kutschdecke. Plötzlich hielt die Post, und wir vernahmen etwas wie Stimmen. Der Postillon war offenbar in einem aufregenden Zwiegespräch mit jemand auf der Straße begriffen – einem Zwiegespräch, von welchem gelegentlich Brocken wie »Brücke fortgerissen« – »zwanzig Fuß Wasser« – »nicht Durchkönnen« durch den Sturm hindurch zu unterscheiden waren. Dann ließ der Sturm einen Augenblick nach, und eine geheimnißvolle Stimme von der Straße brüllte die Abschiedsbeschwörung:

»Versuch's mit Miggles.«

Wir warfen einen kurzen Blick auf unsern Wegweiser, als das Fuhrwerk langsam umdrehte: es war ein Reitersmann, der im Regen verschwand, und wir waren offenbar auf unserm Wege zu Miggles' Haus.

Wer und wo war Miggles? Der Richter, unsere Autorität, erinnerte sich des Namens nicht, und doch kannte er die Gegend durch und durch. Der Reisende von Washoe dachte, Miggles müßte ein Gasthaus halten. Wir wußten nur, daß wir durch Hochwasser vor und hinter uns am Fortkommen gehindert waren, und daß Miggles der Fels unsrer Zuflucht war. Zehn Minuten Patschen durch eine verwachsene Nebenstraße, kaum breit genug für die Postkutsche, und wir hielten vor einer verrammelten und innen mit Bretern beschlagnen Thür in einer breiten Steinmauer oder Einzäunung von etwa acht Fuß Höhe. Es war offenbar Miggles' Gut, und offenbar hielt Miggles kein Gasthaus.

Der Postillon stieg ab und versuchte es mit der Thür. Sie war fest verschlossen.

»Miggles! O Miggles!«

Keine Antwort.

»Migg–ells! Sie, Miggles!« fuhr der Postillon fort mit steigendem Zorn.

»Miggleschen!« schloß sich ihm der Eilbote im schmeichelnden Tone an. »O, Miggchen! Mig!«

Aber keine Antwort erfolgte von dem augenscheinlich seiner Sinne beraubten Miggles. Der Richter, welcher endlich das Wagenfenster heruntergelassen, streckte den Kopf hinaus und stellte eine Reihe von Fragen, die, wenn sie kategorisch beantwortet wären, unzweifelhaft das ganze Geheimniß aufgeklärt haben würden, denen der Postillon aber mit der Erwiderung auswich, daß, »wenn wir nicht die ganze Nacht in der Kutsche sitzen zu bleiben Lust hätten, wir besser thäten, aufzustehen und laut nach Miggles zu rufen«.

So standen wir denn auf und riefen nach Miggles im Chorus, dann einzeln. Und als wir fertig waren, rief noch ein hibernischer Mitreisender nach »Meegells!« worüber wir Alle lachten. Während wir lachten, schrie der Postillon »Brr!«

Wir lauschten. Zu unserm unendlichen Erstaunen wurde der Chorgesang von »Miggles« von der andern Seite der Mauer wiederholt, und zwar bis zu dem schließlichen und supplementaren »Meegels«.

»Außerordentliches Echo,« sagte der Richter.

»Außerordentliches verdammtes Stinkthier!« brüllte der Postillon verächtlich, »'raus aus dem Kasten und zeige Dich, Miggles. Sei ein Mann, Miggles! verstecke Dich nicht im Dunkeln, ich würde das nicht thun, Miggles,« fuhr Yuba Bill fort, der jetzt in äußerster Wuth herumsprang.

»Miggles!« fuhr die Stimme fort, »o Miggles!«

»Mein guter Mann! Herr Mighäl!« sagte der Richter, indem er die Härten des Namens so viel als möglich milderte. »Bedenken Sie, wie ungastlich es wäre, wenn Sie hülflosen Frauen ein Obdach vor der Unfreundlichkeit des Wetters versagen wollten. Wirklich, mein lieber Herr –« aber eine Aufeinanderfolge von »Miggles«, die mit einem Ausbruch von Lachen schloß, erstickte seine Stimme.

Yuba Bill zögerte jetzt nicht länger. Indem er einen schweren Stein von der Straße aufhob, schmetterte er die Thür nieder und betrat mit dem Eilboten den eingezäunten Raum. Wir folgten. Niemand war zu sehen. Alles, was wir in der dichter werdenden Finsterniß zu unterscheiden vermochten, war, daß wir – nach den Rosenbüschen, die uns von ihren tröpfelnden Blättern mit einem feinen Sprühregen überspritzten, zu schließen – in einem Garten und vor einem langgestreckten Holzgebäude waren.

»Kennen Sie diesen Miggles?« erkundigte sich der Richter bei Yuba Bill.

»Nein, mag ihn auch nicht kennen,« sagte Bill kurz, denn er fühlte die Pionier-Post-Gesellschaft durch den entwichenen Miggles in seiner Person beleidigt.

»Aber, mein lieber Herr,« stellte der Richter ihm ernst vor, indem er an die versperrte Thür dachte.

»Hören Sie 'mal,« sagte Bill mit feiner Ironie, »thäten Sie nicht besser, zurückzugehen und in der Kutsche sitzen zu bleiben, bis Sie hier vorgestellt sind? Ich gehe hinein,« und er stieß die Thür des Gebäudes auf.

Ein langes Zimmer, blos von den Kohlen eines Feuers erleuchtet, welches auf dem großen Herde am äußersten andern Ende erstarb, die Wände seltsam tapezirt, das flackernde Licht des Feuers, welches ihre wunderlichen Muster zum Vorschein brachte, jemand, der in einem großen Armstuhle vor der Feuerstelle saß. Alles das sahen wir, als wir nach dem Postillon und dem Eilboten uns miteinander in das Zimmer drängten.

»Holla, sind Sie Miggles?« sagte Yuba Bill zu dem einsamen Insassen der Stube.

Die Gestalt sprach nicht und regte sich nicht. Yuba Bill schritt zornmüthig auf sie zu und wendete das Auge seiner Wagenlaterne nach seinem Gesicht. Es war das Gesicht eines Mannes, frühzeitig gealtert und runzelig, mit sehr großen Augen, welche jenen Ausdruck vollkommen theilnahmloser Feierlichkeit hatten, den ich bisweilen in denen einer Eule gesehen hatte. Die großen Augen wanderten von Bills Gesicht nach der Laterne und richteten schließlich ihren Blick auf diesen leuchtenden Gegenstand, ohne weiter Notiz zu nehmen.

Bill hielt sich mit Anstrengung zurück.

»Miggles,« sagte er, »sind Sie taub? Sie sind nicht stumm, wissen Sie,« und Yuba Bill schüttelte die unempfindliche Gestalt bei der Schulter.

Zu unserm großen Schrecken sank der ehrwürdige Fremde, als Bill seine Hand zurückzog, augenscheinlich in sich zusammen, indem er zur Hälfte seiner Größe und einem nicht unterscheidbaren Haufen von Kleidern einschrumpfte.

»Na, nu hol' 'mich der Henker!« sagte Bill, indem er hülfesuchend nach uns blickte und sich hoffnungslos vom Kampfe zurückzog.

Jetzt trat der Richter vor, und wir hoben den geheimnißvollen wirbellosen Rücken in seine ursprüngliche Lage zurück. Bill wurde mit der Laterne abgeschickt, um draußen zu recognosciren; denn es war klar, daß bei der Hülflosigkeit dieses einsamen Mannes Wärter nahe zur Hand sein mußten, und wir Alle zogen uns um das Feuer herum. Der Richter, welcher seine Amtswürde wieder gewonnen und seine liebenswürdige Unterhaltungsgabe nie verloren hatte, hielt, mit dem Rücken nach dem Herde vor uns stehend, an uns, wie wenn er sich uns als Geschworne dächte, folgende Anrede:

»Es liegt auf der Hand, daß unser ausgezeichneter Freund hier entweder jenen Zustand, den Shakespeare als das »dürre und vergilbte Blatt« schildert, erreicht oder irgend einen vorzeitigen Niedergang seiner geistigen und physischen Fähigkeiten erlitten hat. Ob er wirklich der Miggles ist –«

Hier wurde er durch »Miggles! O Miggles! Miggleschen! Mig!« und in der That durch den ganzen Chor der Miggles unterbrochen, und zwar fast ganz in derselben Tonart, in der er uns schon vorher vorgetragen worden war.

Wir blickten einander einige Augenblicke etwas erschrocken an. Namentlich verließ der Richter seinen Standpunkt rasch; denn die Stimme schien gerade über seiner Schulter herzukommen. Die Ursache wurde indeß bald entdeckt, und zwar in einer großen Elster, die auf einem Sims über der Feuerstelle saß, und welche sofort wieder in Grabesschweigen versank, das eigenthümlich mit ihrer vorherigen Zungenfertigkeit contrastirte. Es war unzweifelhaft ihre Stimme gewesen, die wir auf der Straße gehört hatten, und unser Freund im Stuhle war für die Unhöflichkeit nicht verantwortlich. Yuba Bill, welcher nach fruchtlosem Suchen wieder in's Zimmer trat, war nicht geneigt, diese Erklärung anzunehmen, und betrachtete den hülflos Dasitzenden immer noch mit Mißtrauen. Er hatte einen Schuppen gefunden, in dem er seine Pferde untergebracht hatte, aber er kam zurück triefend und voll Zweifel. »Außer ihm ist zehn Meilen um die Bude niemand nicht, und dieses verdammte alte Schlotterbein weiß das.«

Aber das Vertrauen der Mehrheit zeigte sich als sicher begründet. Bill hatte kaum aufgehört zu brummen, als wir unter dem Vordach einen raschen Schritt, das Nachschleppen eines nassen Rockschweifs hörten, die Thür wurde aufgerissen, und mit einem Glänzen weißer Zähne, einem Funkeln schwarzer Augen und einem gänzlichen Mangel an Ceremonie oder Schüchternheit, trat ein junges Weib herein, schloß die Thür und lehnte sich keuchend an dieselbe.

»O, mit Erlaubniß, ich bin die Miggles.«

Das also war Miggles! Dieses helläugige, vollwangige junge Weib, dessen nasses Kleid von grobem blauen Stoff die Schönheit der weiblichen Rundungen, an denen es klebte, nicht verbergen konnte. Von dem kastanienbraunen Scheitel ihres Kopfes, auf dem ein Seemanshut von Oeltuch saß, bis zu den kleinen Füßen und Knöcheln, die zum Theil in den Falten von Knabenstiefelchen verborgen waren, war Alles Anmuth. Das war Miggles, die überdies uns in der frischesten, zutraulichsten und ungezwungensten Weise, die sich denken läßt, anlächelte.

»Seht, Jungens,« sagte sie ganz außer Athem, indem sie die eine kleine Hand an ihre Seite hielt und auf die sprachlose Verblüfftheit unsrer Gesellschaft oder die vollständige Demoralisation Yuba Bills, dessen Gesichtszüge sich zum Ausdruck nichtssagender und einfältiger Vergnüglichkeit verzogen hatten, durchaus nicht achtete, – »seht, Jungens, ich war mehr als zwei Meilen weg von hier, als Ihr die Straße herabkamt. Ich dachte, Ihr würdet am Ende hier anhalten, und so rannte ich den ganzen Weg, da ich wußte, daß niemand als Jim hier war, und – und – ich bin außer Athem – und – das hielt mich auf.«

Damit erfaßte Miggles ihren triefenden Oeltuchhut, nahm ihn mit einem arglistigen Schwunge vom Kopfe, daß wir mit einem Schauerbad von Regentropfen bespritzt wurden, versuchte, ihr Haar zurückzustreifen, verlor bei dem Versuche zwei Haarnadeln, lachte und setzte sich, indem sie die Hände leicht über ihrem Schooße kreuzte, neben Yuba Bill hin.

Der Richter erholte sich zuerst wieder und versuchte es mit einer extravaganten Artigkeit.

»Darf ich Sie um die Haarnadel da bitten?« sagte Miggles ernst. Ein halb Dutzend Hände streckten sich eifrig aus. Die fehlende Haarnadel wurde ihrer holden Besitzerin zurückgegeben, und Miggles ging quer über die Stube und sah dem Kranken scharf ins Gesicht. Die feierlichen Augen blickten zurück in die ihren mit einem Ausdruck, den wir vorher nie gesehen. Leben und Verstand schien sich in das verwitterte Gesicht zurückzukämpfen. Miggles lachte wieder – es war ein seltsam beredtes Lachen – und wandte uns wieder ihre schwarzen Augen und weißen Zähne zu.

»Dieser vielgeprüfte Mann ist –« der Richter zögerte.

»Jim,« sagte Miggles.

»Ihr Vater?«

»Nein.«

»Bruder?«

»Nein.«

»Gatte?«

Miggles schoß einen raschen, halb herausfordernden Blick auf die beiden mitreisenden Damen, welche, wie ich bemerkt hatte, an der allgemeinen Bewunderung der Männer für Miggles nicht theilnahmen, und sagte ernst: »Nein, 's ist Jim.«

Es gab eine unbehagliche Pause. Die mitreisenden Damen rückten dichter aneinander, der Gatte aus Washoe blickte zerstreut ins Feuer, und der lange Mann wandte offenbar seine Augen nach innen, um in diesem Falle sich eine Stütze zu suchen. Aber das Lachen Miggles', welches sehr ansteckend war, brach das Schweigen.

»Kommt,« sagte sie munter, »Ihr müßt Hunger haben. Wer will mir zur Hand gehen und mir Thee machen helfen?«

Es fehlte ihr nicht an Freiwilligen. In wenigen Augenblicken war Yuba Bill wie ein Caliban beschäftigt, dieser Miranda Scheite zuzutragen. Der Eilbote mahlte Kaffee in der Verandah. Mir selbst wurde die beschwerliche Pflicht, Rauchfleisch abzuschneiden, zugewiesen, und der Richter lieh jedem Mann mit guter Laune und geläufiger Zunge seinen Rath. Und als Miggles, von dem Richter und unserm hibernischen »Deckpassagier« unterstützt, den Tisch mit allem irdenen Geschirr, welches zur Hand war, besetzte, waren wir ganz fidel geworden, trotz des Regens, der an die Fenster schlug, des Windes, der den Schornstein herabwirbelte, der beiden Damen, die in der Ecke zusammen flüsterten, oder der Elster, die von ihrem Sitz droben zu deren Unterhaltung einen satirischen Commentar krächzte.

Bei dem jetzt hell aufflammenden Feuer konnten wir sehen, daß die Wände mit illustrirten Zeitungen tapeziert waren, die mit weiblichem Geschmack ausgewählt und arrangirt waren. Das Hausgeräth war aus Lichterschachteln und Kisten zum Einpacken extemporisirt und zusammengestellt, und mit buntem Calico oder Thierfellen überzogen. Der Armstuhl des hülflosen Jim war eine erfinderische Variation eines Mehlfasses. Man sah Nettigkeit und selbst einen gewissen Geschmack für das Malerische in den wenigen Einzelnheiten des langen niedrigen Zimmers.

Die Mahlzeit war ein culinarischer Erfolg. Aber mehr noch, sie war ein gesellschaftlicher Triumph, der, wie ich glaube, vorzüglich dem seltnen Takt zu danken war, mit dem Miggles die Unterhaltung leitete. Sie that alle Fragen selbst, und zeigte doch dabei durchweg eine Offenheit, welche jeden Gedanken zurückwies, daß sie ihrerseits mit irgend etwas hinter dem Berge hielte, so daß wir von uns selbst, von unsern Aussichten, von der Reise, vom Wetter, von einander – kurz von allem Möglichen, nur nicht von unserm Wirth und unsrer Wirthin sprachen. Es muß zugestanden werden, daß Miggles' Unterhaltung niemals elegant, selten grammatisch war, und daß sie zu Zeiten Ausdrücke gebrauchte, deren Anwendung gewöhnlich unserm Geschlechte nachgelassen war. Aber sie wurden mit solch einem Aufblitzen von Zähnen und Augen vorgetragen und hatten in der Regel ein solches aufrichtiges und ehrliches Lachen – ein Lachen, welches Miggles eigenthümlich war – im Gefolge, daß es die moralische Atmosphäre zu klären schien.

Einmal während der Mahlzeit hörten wir ein Geräusch, wie wenn sich ein schwerer Körper an den äußern Wänden des Hauses riebe. Kurz darauf folgte ein Kratzen und Schnüffeln an der Thür.

»Das ist Joaquin,« sagte Miggles als Antwort auf unsre fragenden Blicke, »möchten Sie ihn wohl sehen?«

Bevor wir antworten konnten, hatte sie die Thür geöffnet und uns einen halberwachsenen grauen Bären sehen lassen, welcher sich sogleich auf seine Hinterbeine erhob, in der bekannten Bettlerstellung die Vordertatzen hängen ließ, und bewundernd nach Miggles hinblickte, wobei er in seinen Manieren eine eigenthümliche Aehnlichkeit mit Yuba Bill hatte. »Das ist mein Wächterhund,« sagte Miggles als Erklärung. »O er beißt nicht,« setzte sie hinzu, als die beiden mitreisenden Damen in eine Ecke flatterten. »Nicht wahr, alter Jokel?« (Die letztere Bemerkung wurde direct an den weisen Joaquin gerichtet.) »Ich will Euch was sagen, Jungens,« fuhr Miggles fort, nachdem sie ursa minor gefüttert und die Thür wieder hinter ihm geschlossen hatte, »Ihr habt's höllisch glücklich getroffen, daß Joaquin sich nicht hier herumtrieb, als Ihr ins Haus einfielet.«

»Wo war er denn?« fragte der Richter.

»Mit mir,« sagte Miggles. »Gott stärke mich, er trabt mit mir die Nächte herum, wie wenn's ein Mann wäre.«

Wir schwiegen einige Augenblicke und horchten dem Winde zu. Vielleicht hatten wir Alle dasselbe Bild vor uns von Miggles, wie sie durch die regnigen Wälder hinschritt, an der Seite ihren wilden Beschützer. Der Richter sagte, wie ich mich erinnere, etwas von Una und ihrem Löwen, aber Miggles nahm es wie andere Complimente mit ruhigem Ernste auf. Ob sie gar nichts merkte von der Bewunderung, die sie hervorrief, – sie konnte Yuba Bills Anbetung schwerlich übersehen – weiß ich nicht; aber gerade ihre Offenheit ließ auf eine völlige Gleichgültigkeit gegen alles Geschlechtliche schließen, was für die jüngeren Mitglieder unserer Gesellschaft eine grausame Demüthigung war.

Der Vorfall mit dem Bären trug zu den Ansichten der Anwesenden von ihrem eignen Geschlechte durchaus nichts bei, was Miggles günstig gewesen wäre. In der That, als das Essen vorbei war, strahlte von den beiden mitreisenden Damen eine Kälte aus, welche keine von Yuba Bill hereingebrachten und als Opfer auf den Herd geworfnen Fichtenscheite ganz zu überwinden vermochten. Miggles fühlte das, und indem sie plötzlich erklärte, daß es Zeit sei »ins Nest zu kriechen«, erbot sie sich, die Damen zu ihrem Bette in einem anstoßenden Zimmer zu führen. »Ihr Jungens werdet hier außen beim Feuer campiren müssen, so gut Ihr könnt,« fügte sie hinzu, »denn es giebt nur das eine Zimmer.«

Unser Geschlecht – womit ich, lieber Leser, natürlich auf die stärkere Hälfte der Menschheit anspiele – ist gewöhnlich frei von der Anklage, neugierig zu sein und den Klatsch zu lieben, gewesen. Doch bin ich gezwungen, zu sagen, daß wir, nachdem sich die Thür kaum hinter Miggles geschlossen, zusammentraten, flüsterten, kicherten, lächelten und Vermuthungen, Argwohn und tausenderlei Speculationen in Betreff unsrer artigen Wirthin und ihres eigenthümlichen Gefährten austauschten. Ich fürchte sogar, daß wir jenen blödsinnigen Gelähmten, der wie ein Memnon ohne Stimme in unsrer Mitte saß und mit der heitern Gleichgültigkeit der Vergangenheit in seinen leidenschaftlosen Augen auf unsre wortreichen Berather blickte, herumschubsten. Mitten in einer aufgeregten Diskussion öffnete sich die Thür wieder, und Miggles trat wieder ein.

Aber offenbar nicht dieselbe Miggles, die vor wenigen Stunden zu uns hereingeblitzt war. Ihre Augen waren niedergeschlagen, und als sie, eine Wolldecke auf dem Arme, einen Augenblick auf der Schwelle zögerte, schien sie alle die offne Furchtlosigkeit zurückgelassen zu haben, die uns noch im Moment vorher bezaubert hatte. Als sie ins Zimmer kam, zog sie einen niedrigen Schemel neben den Stuhl des Gelähmten, warf sich die Decke über die Schultern und nahm, indem sie sagte: »Wenn es Euch einerlei ist, Jungens, so werde ich, da wir sehr beengt sind, die Nacht hier bleiben,« die verwitterte Hand des Kranken in ihre eigne und richtete ihre Augen auf das ersterbende Feuer. Ein instinctmäßiges Gefühl, daß dies nur die Einleitung zu vertraulicherer Mittheilung war, und vielleicht einige Scham über unsere vorherige Neugier ließ uns schweigen. Der Regen schlug immer noch auf das Dach, verwirrte Windstöße bliesen die Kohlen zu zeitweiliger Helle an, bis, während die Elemente sich einen Augenblick beruhigten, Miggles plötzlich den Kopf erhob und, indem sie ihr Haar über die Schulter warf, ihr Gesicht auf die Gruppe richtete und fragte:

»Ist jemand unter Euch, der mich kennt?«

Es erfolgte keine Antwort.

»Denkt noch einmal nach! Ich lebte dreiundfünfzig in Marysville. Jedermann kannte mich dort, und jedermann hatte das Recht, mich zu kennen. Ich hielt den Polka-Salon, bis ich mit Jim zusammenzog. Das ist sechs Jahre her. Vielleicht habe ich mich etwas verändert.«

Daß man sie nicht wiedererkannte, mag sie außer Fassung gebracht haben. Sie wandte ihr Gesicht wieder dem Feuer zu, und es dauerte einige Secunden, bevor sie wieder und zwar hastiger sprach: –

»Na, also seht, ich dachte, jemand von Euch müßte mich gekannt haben. Am Ende schadet's auch nicht viel. Was ich sagen wollte, war dies: Jim hier« – sie nahm seine Hand in ihre beiden, als sie sprach – »kannte mich, wenn Ihr mich nicht gekannt habt – und verthat einen Haufen Geld für mich. Ich rechne, er verthat Alles, was er hatte. Und eines Tages – 's ist diesen Winter sechs Jahre her – kam Jim in meine Hinterstube, setzte sich auf mein Sopha, wie Ihr ihn in diesem Stuhle hier seht, und bewegte sich nie wieder ohne Hülfe. Er war ganz unvermuthet vom Schlag getroffen worden und schien niemals zu wissen, was ihm fehle. Die Doctors kamen und sagten, das käme blos von seinem Lebenswandel – denn Jim war über die Maßen flott und wild – und es würde mit ihm niemals wieder besser und könnte auf keinen Fall mehr lange dauern. Sie riethen mir, ich sollte ihn nach Frisco ins Spital schicken; denn er taugte für niemand nicht und würde sein Lebelang ein Kind bleiben. Vielleicht war's etwas in Jims Auge, vielleicht war's, weil ich nie ein Kind gehabt habe, genug, ich sagte: Nein. Ich war damals reich; denn sie hatten mich Alle gern – vornehme Herren wie Sie, Herr, besuchten mich – und ich verkaufte mein Geschäft und kaufte diese Stelle hier, weil sie einigermaßen entfernt von der großen Heerstraße lag, sehen Sie, und brachte mein Kind hierher.«

Mit dem intuitiven zarten und poetischen Gefühle des Weibes hatte sie, als sie sprach, ihre Stellung langsam so eingerichtet, daß sie die stumme Gestalt des zu Grunde gerichteten Mannes zwischen sich und ihrer Zuhörer brachte und sich in dem Schatten hinter ihr verbarg, wie wenn sie dieselbe als stillschweigende Entschuldigung ihrer Handlungen darböte. Wortlos und ausdruckslos sprach sie doch für sie, hülflos, zusammengedrückt und von dem göttlichen Donnerkeil getroffen, streckte sie doch einen unsichtbaren Arm um sie.

In der Dunkelheit verborgen, aber immer noch seine Hand in der ihren, fuhr sie fort:

»Es dauerte lange Zeit, bis ich mich hier in die Dinge finden konnte; denn ich war an Gesellschaft und Aufregung gewöhnt. Ich konnte kein Frauenzimmer dazu kriegen, daß sie mir hier herum half, und einem Manne durfte ich nicht trauen; aber mit den Indianern hierherum, die allerhand Geschäfte besorgten, und indem ich Alles mir vom Nordarm schicken ließ, brachten Jim und ich es dazu, daß wir uns durchwürgten. Der Doctor kam dann und wann einmal aus Sacramento. Er ließ sich dann »Miggles' Kind« zeigen, wie er Jim nannte, und wenn er fortging, sagte er immer: »Miggles, Du bist doch ein Blitzmädel – Gott segne Dich,« und ich kam mir dann nicht so einsam vor. Aber das letzte Mal, wo er hier war, sagte er, als er die Thür zum Gehen öffnete: »Weißt Du wohl, Miggles, Dein Kind wird aufwachsen und noch ein Mann werden und eine Ehre für seine Mutter, aber nicht hier, Miggles, nicht hier!« Und mir kam's vor, als ob er traurig wegginge – und – und – und hier verloren sich sowohl Stimme als Kopf von Miggles vollständig im Schatten.

»Die Leute hier herum sind sehr freundlich,« sagte Miggles nach einer Pause, indem sie wieder ein wenig ins Licht rückte. »Die Männer vom Flußarm trieben sich hier herum, bis sie fanden, daß man sie nicht haben wollte, und die Weiber sind freundlich – und besuchen mich nicht. Ich war ziemlich einsam, bis ich eines Tags in den Wäldern drüben den Joaquin auflas, als er noch nicht so hoch war, und ihn sich sein Mittagsbrot erbitten lehrte. Und dann ist da Polly – das ist die Elster – die weiß Possen ohne Ende und macht es des Abends mit ihrem Geplauder ganz gemüthlich, und so ist mir nicht so zu Muthe, als ob ich das einzige lebende Wesen im Rancho wäre. Und Jim hier,« sagte Miggles mit ihrem alten Lachen und indem sie ganz in das Licht des Feuers herauskam, »Jim – ei, Jungens, Ihr würdet Euch verwundern, wenn Ihr säht, wie viel er für einen Mann seiner Art weiß. Manchmal bringe ich ihm Blumen, und er sieht sie ganz so natürlich an, als ob er sie kennen thäte, und mitunter, wenn wir allein dasitzen, lese ich ihm die Sachen an der Wand vor. Ei Herrgott!« sagte Miggles mit ihrem ehrlichen Lachen. »Ich habe ihm diesen Winter jene ganze Seite vom Hause vorgelesen. Niemals gab's einen Mann, der so für's Lesen war wie Jim.«

»Warum,« so fragte der Richter, »heirathen Sie diesen Mann nicht, dem Sie Ihr junges Leben weihen?«

»Na, sehen Sie,« sagte Miggles, »das hieße sich doch ziemlich ordinär betragen gegen Jim, wenn man sich das zu Nutze machen wollte, daß er so hülflos ist. Und hernach auch, wenn wir Mann und Frau wären, so würden wir beide wissen, daß ich verpflichtet wäre, das zu thun, was ich jetzt von freien Stücken thue.«

»Aber Sie sind noch jung und anziehend –«

»Es wird spät,« sagte Miggles ernst, »und Ihr thätet besser, Jungens, ins Nest zu gehen. Gute Nacht, Jungens,« und indem sie ihre Wolldecke über ihren Kopf warf, legte Miggles sich neben Jims Stuhl hin. Ihr Kopf hatte zum Pfühl den niedern Schemel, auf den seine Füße sich stützten, und sie sprach nicht mehr. Das Feuer erlosch langsam auf dem Herde, jeder von uns suchte stillschweigend seine Decke, und bald ließ sich in dem langen Zimmer kein Geräusch mehr vernehmen als das Prasseln des Regens auf das Dach und das schwere Athmen der Schläfer.

Es war ziemlich Morgen, als ich von einem erregten Traume erwachte. Der Sturm war vorüber, die Sterne schienen, und durch die ladenlosen Fenster blickte der Vollmond, sich über die feierlichen Fichten draußen erhebend, in das Zimmer. Er übergoß die einsame Gestalt im Stuhle mit unendlichem Mitleid und schien mit leuchtender Fluth das demüthige Haupt des Weibes zu taufen, deren Haar wie in der lieblichen alten Geschichte die Füße Dessen badete, den sie liebte. Er verlieh sogar den rauhen Umrissen Yuba Bills eine freundliche Poesie, der zwischen ihnen und seinen Reisenden halb auf seinem Ellbogen ruhend mit fürchterlich geduldigen Augen Wache hielt. Und dann fiel ich in Schlaf und erwachte erst bei hellem Tage, indem Yuba Bill über mir stand, und »Alle einsteigen« mir in den Ohren klang.

Der Kaffee erwartete uns auf dem Tische, aber Miggles war fort. Wir wanderten um das Haus herum und warteten lange, nachdem die Pferde angeschirrt waren, aber sie kam nicht zurück. Es war klar, daß sie kein förmliches Abschiednehmen wünschte und uns deshalb verlassen hatte, damit wir gingen, wie wir gekommen waren. Nachdem wir den Damen in die Kutsche geholfen, kehrten wir in das Haus zurück und schüttelten dem gelähmten Jim feierlich die Hand, wobei wir ihn nach jedem Handschlage ebenso feierlich wieder in Positur setzten. Dann warfen wir einen letzten Blick auf das lange niedrige Zimmer und auf den niedrigen Schemel, wo Miggles gesessen, und nahmen langsam unsre Sitze in der wartenden Kutsche ein. Die Peitsche knallte, und wir fuhren ab.

Aber als wir die Landstraße erreichten, riß Bills geschickte Hand die sechs Pferde zurück, daß sie auf ihre Hinterbeine zusammenknickten, und die Post hielt mit einem Ruck. Denn hier, auf einer kleinen Erhöhung neben der Straße, stand Miggles. Ihr Haar flog, ihre Augen funkelten, ihr weißes Taschentuch wehte, ihre weißen Zähne blitzten uns ein letztes »Lebewohl« zu. Wir erwiderten es durch Schwenken der Hüte. Und dann peitschte Yuba Bill, wie wenn er sich vor weiterer Bezauberung fürchtete, seine Pferde wie toll vorwärts, und wir sanken in unsre Sitze zurück. Wir wechselten nicht ein Wort, bis wir an den Nordarm kamen und die Post vor dem Independence House still hielt. Dann gingen wir unter Vortritt des Richters in die Schenkstube hinein und nahmen ernst unsre Plätze am Schenktische ein.

»Sind Ihre Gläser gefüllt, meine Herren?« sagte der Richter, indem er feierlich seinen weißen Hut abnahm.

Sie waren's.

»Nun denn, auf das Wohl von Miggles, Gott segne sie!«

Vielleicht hatte Er sie gesegnet. Wer weiß es?


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