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Siebzehntes Kapitel

»Seltsame Abenteuer eines Ich«, oder wie Grandison Mathers Ich durch zwei geteilt wurde.


Seine Novelle wurde jedoch in fünf Monaten nicht fertig. Fünf Monate vergingen, Mitte Juli kam herbei, und er hatte noch nicht die Hälfte vollendet. Das kam daher, daß er beim Beginn eine Erfahrung machen mußte, die, wie ich glaube, wenige junge Romandichter sich rühmen können, nicht gemacht zu haben: er hatte falsch angefangen. Nachdem er sich drei kostbare Monate mit seiner Erzählung gequält und abgemüht hatte, während welcher Zeit die Empfindung, daß irgend etwas grundfalsch sei, immer mehr in ihm wuchs, wenn er auch nicht sagen konnte, was es war, krystallisierte sich dies unklare Gefühl zur Erkenntnis. Er sah ein, daß er einen falschen Anfang gemacht, am verkehrten Ende, in der unrichtigen Tonart begonnen hatte, und daß demzufolge die ganze Geschichte nichts taugte. Es war, als ob er ein Haus gebaut und, beim dritten Stockwerk angelangt, die Entdeckung gemacht hätte, daß die Grundmauern unsicher seien. Nichts andres blieb zu thun, als sein Haus, Stein für Stein, wieder abzubrechen und aufs neue, vom Keller an, wieder aufzurichten. Er überantwortete demnach sein Manuskript den Flammen, schrieb Kapitel I. zum zweitenmal, und als die fünf Monate vergangen waren, hatte er die »Seltsamen Abenteuer eines Ich« noch nicht zur Hälfte vollendet, er war noch nicht an der »Zielstrecke« angelangt, und in zwei Monaten sollte er das Manuskript abliefern.

»Mr. Ladd sagte, er müsse es am 15. September in Händen haben, oder er könne es überhaupt nicht gebrauchen. O Gott! Wenn ich's bis dahin nicht fertig bringe, sitzen wir in einer schönen Patsche!«

»O, bis dahin wirst du es gewiß fertig haben,« antwortete seine Frau zuversichtlich.

»Das will ich auch, und wenn es mir das Leben kostet. Aber es ist ein tüchtiges Stück Arbeit. Ich habe noch dreißigtausend Wörter zu schreiben und nur zwei Monate dazu. Und in der letzten Zeit hat's gar nicht ordentlich gefleckt, ich weiß nicht, wie es kommt. Ob's an der Hitze liegt, oder woran sonst, aber ich bringe nicht so viel fertig wie früher. Manchmal sitze ich vier, fünf Stunden am Tisch und zerbreche mir den Kopf, bis ich mich ganz elend fühle, und schließlich habe ich als Frucht aller meiner Mühe kaum eine halbe Seite Manuskript aufzuweisen. Ich glaube, ich werde nachgerade faul.«

»Nein, faul bist du nicht, Tom, aber du bist müde; du bedarfst der Ruhe und der Abwechslung. Ich will dir sagen, was wir thun wollen. Laß die Geschichte Geschichte sein und uns auf eine Woche aufs Land gehen. Und wenn wir zurückkommen, dann kannst du mit deiner alten Kraft arbeiten, du sollst mal sehen.«

»Die Arbeit auf eine Woche im Stich lassen? Wo jede Minute kostbar ist, wo uns der Hunger ins Gesicht starrt, wenn ich nicht zur rechten Zeit fertig werde? Nein, ich danke bestens. Ich werde zehn Stunden täglich arbeiten, bis ich fertig bin. Das werde ich thun. Ich weiß, es ist einfach Faulheit, es ist meine angeborne Trägheit, und es gehört nur eine größere Anstrengung meiner Willenskraft dazu, sie zu überwinden.«

»Ich glaube wirklich, Tom, du thust dir unrecht, und es ist unverständig, so zu handeln. Ein Strich zur rechten Zeit, erspart neun. Du weißt sehr wohl, was kommen muß, wenn ein Mensch sich überarbeitet. Du möchtest doch gewiß nicht gern zusammenbrechen und gar nicht mehr arbeiten können? Jedermann gönnt sich einmal eine Erholung.«

»O, zusammenbrechen werde ich nicht, das hat gute Wege, mein Schatz. Ein großer, kräftiger Kerl, wie ich? Nein, ich muß mich nur etwas zusammenraffen, das ist alles.«

»Jedenfalls, Tom, würde dir eine kleine Abwechslung sehr gut thun – uns beiden. Wir können ja aufs Land gehen und die Arbeit mitnehmen; weshalb sollte das nicht gehen? Du kannst doch auf dem Lande ebensogut arbeiten, wie in der Stadt, und es wäre so viel besser für dich, so lange es so heiß ist.«

»Und hier unser Zimmer bei Mrs. Grickel aufgeben? Behalten können wir's doch nicht – wir können nicht an zwei Orten Miete bezahlen. Und bildest du dir ein, wir würden jemals etwas Aehnliches für den gleichen Preis finden?«

»Ich glaube, Mrs. Grickel wird uns das Zimmer aufheben, wenn sie bestimmt weiß, daß wir wieder kommen.«

»Das kann sein. Aber wenn sie Gelegenheit hätte, es anderweit zu vermieten und ließe sie um unsretwillen vorübergehen, wäre dir das ein angenehmer Gedanke? Wäre es dir nicht unbehaglich, wenn du erführest, sie habe Geld verloren, um uns gefällig zu sein? Und was kann alles Reden nützen? Wir sind einfach nicht im stande, aufs Land zu gehen. Es würde uns mehr kosten, als wir hier bezahlen, wenn wir auf dem Lande anständig leben wollen. Fünfzehn Dollars wöchentlich! Was für eine Sorte von Pension meinst du wohl, könnten wir dafür finden, selbst auf dem Lande?«

»Aber, Tom, wenn's nötig ist, können wir ganz gut etwas mehr bezahlen. Wir haben noch mehr als dreihundert Dollars – dreihundertachtunddreißig. Und in zwei Monaten, am 15. September, bekommst du wieder tausend.«

»O, Rose, – bitte – bitte!« stöhnte er, denn es war eine schmerzliche Thatsache, daß der letzte Pfennig des Betrages, den er in Händen hatte, als er sich niedersetzte, um seine »Seltsamen Abenteuer eines Ich« zu schreiben, verbraucht war. Die dreihundertundachtunddreißig Dollars, worauf Rose Bezug genommen hatte, waren ihre Ersparnisse aus dem Kirchengehalt, und davon lebten sie gegenwärtig!

»Ich kann's nicht, ich schäme mich, dir ins Gesicht zu sehen, Rose,« hatte er gesagt. »Der Gedanke, daß du mich erhältst! – O, Gott! Daß ich von dem lebe, was du sauer verdient hast. Ein Mann, der von der Arbeit seiner Frau lebt! Es gibt auf der ganzen Welt nichts Erbärmlicheres, Verächtlicheres!«

»Unsinn, Tom, so ist es ganz und gar nicht. Du verdienst jeden Tag viel mehr, als wir brauchen, sogar viel mehr. Du erhältst deine Bezahlung nur nicht, während du arbeitest, sondern erst nachher, wenn du fertig bist. Ich leihe dir einfach mein Geld, und wenn du deine tausend Dollars bekommst, sollst du mir's bei Heller und Pfennig zurückgeben.«

»Das ist sehr hübsch gesagt,« erwiderte Tom, »aber es ändert die Thatsache nicht, und es – es kann nicht verhindern, daß – daß ich mich so tief gedemütigt fühle, daß – daß –« seine Stimme erstickte in einem Stöhnen.

»O, Tom, sage das doch nicht, sprich doch nicht so,« rief sie. »Sage doch nicht, daß du dich gedemütigt fühlst, weil ich dir mein Geld leihe! Welcher Gedanke! – Und ich – ich sitze hier den lieben langen Tag und thue nichts, als daß ich im Ueberfluß lebe, während du so hart arbeitest und dir keine Ruhe, keine Erholung gönnen willst, damit ich nur alles habe, was ich in der Welt bedarf! O, Tom – es – es ist grausam, von Demütigung zu sprechen; ich glaube, du willst mich demütigen.«

»Ich will nicht mehr darüber sprechen, wenn's dir lieber ist,« entgegnete er, aber ich weiß nicht, ob er es weniger scharf empfand, oder weniger häufig und mit geringerem Kummer daran dachte, obschon er sich von da an ziemlich schweigsam darüber verhielt.

Von Mitte Juli bis zum 1. September verfuhr er seiner ausgesprochenen Absicht gemäß – er arbeitete zehn Stunden täglich an seinem Manuskript, aber das Ergebnis entsprach nicht der darauf verwandten Zeit und Mühe. Irgend etwas war an der Maschine in Unordnung. Seine Feder schlich langsam und zögernd, als ob sie viel Reibung zu überwinden hätte, und nur infolge eines übermäßigen Aufwands von »Willenskraft«, wie ein gelähmtes Glied über das Papier. Jeden Tag, wenn er an die Arbeit ging, – so beschrieb er sich selbst seinen Zustand, seiner Frau gegenüber erwähnte er ihn nicht – war ihm zu Mute, wie einem abgehetzten Pferd, das aus dem Stall gezerrt wird, um sich und seine Last zehn tödlich lange Stunden, von Peitsche und Sporn getrieben, dahinzuschleppen, und jeden Abend, wenn er die Feder niederlegte, meinte er, sein Hirn sei ausgepreßt bis auf den letzten Tropfen, und nichts als ein leichter, trockener Schwamm fülle seine Schädelhöhle. Auch davon sagte er seiner Frau nichts; aber angegriffen, blaß wie er aussah, mit dem heißen, traurigen Blick der Sorge im Auge, verriet seine Erscheinung das Geheimnis, das sein Mund verschwieg. Auch sein Wesen that das, denn er war stumpf, niedergeschlagen, teilnahmslos, oder ruhelos, krittelig, reizbar; ebenso seine Schlaflosigkeit, oder wenn er einen unruhigen Schlummer fand, sein Stöhnen und Aechzen, sein halbverständliches Sprechen, das plötzliche Zucken seiner Glieder, das Umherwerfen seines Körpers. »Fünfzehn – Septem –«, das waren die Worte, die er beinahe allnächtlich in seinem Schlaf wiederholte. Rose wußte, daß das es war, was sein Gemüt am schwersten bedrückte. Wenn es ihm nicht gelang, seine Novelle bis zum 15. September zu vollenden! – Die Ergebnisse seiner Arbeit entsprachen, wie gesagt, der darauf verwandten Zeit und Mühe nicht. Am 1. September waren noch zehntausend Wörter zu schreiben, und in der letzten Zeit hatte er durchschnittlich nicht mehr als dreihundert täglich fertig gebracht.

»Die Geschichte hört auf spaßhaft zu sein, mein Schatz. – Ich muß mich aufraffen und frisch sein, oder – Ladd hat klar und deutlich gesagt, er könne es nicht brauchen, wenn er es nach dem 15. September erhalte. Wenn ich es bis dahin nicht fertig bringe – du weißt ja, was die Folgen sein würden.«

»Wenn ich dir nur auf irgend eine Weise helfen könnte, lieber Tom!«

»Das kannst du aber nicht. Für mich gibt's keine Hilfe, wenn ich mir nicht selbst helfen kann. Mißlingt's, dann ist's mein eigner Fehler. Wir werden diese verdammte Novelle in der Schieblade und keinen roten Heller in der Tasche haben. O, Margate würde es wohl als Buch herausgeben, und nächsten Februar erhielte ich vielleicht zwei- oder dreihundert Dollars dafür. Zwei- oder dreihundert Dollars für sieben Monat Arbeit!« wiederholte er, mit den Zähnen knirschend. Er war heute in seiner reizbaren Stimmung.

»Meinst du nicht, Tom, daß Mr. Ladd die Lieferungsfrist etwas verlängern würde, wenn du ihn darum bätest? Sie haben's doch gewiß nicht gerade an dem Tage nötig, und wenn sie's eine oder zwei Wochen später bekommen, das kann doch keinen so großen Unterschied machen. Ihre Weihnachtsnummer kommt erst Mitte November heraus. Wozu brauchen sie deine Erzählung wohl schon zwei volle Monate, ehe sie erscheinen soll?«

»Weil es so viel Zeit kostet, die Nummer fertig zu stellen. Sie muß gesetzt und korrigiert, die Platten müssen gegossen und die Bogen müssen gedruckt und gebunden werden. Das alles geht nicht im Handumdrehen. Das ist der Grund, weshalb sie's so früh haben müssen. Ladd gab sich ganz besondre Mühe, mir klar zu machen, daß der 15. September der alleräußerste Zeitpunkt sei. Nein, ich kann weiter nichts thun, als arbeiten; bis jetzt habe ich gebummelt.«

Von da an verbrachte er seine Nächte ebenso wie seine Tage am Schreibtisch und fand es nun als natürliche Folge noch schwieriger, zu schlafen.

Am 3. September übergab Rose ihm folgenden Brief:

 

»Redaktion von Browns Monatsheften.
New York, 2. September 1885.

Mrs. Thomas Gardiner.

Geehrte Frau! In höflicher Erwiderung auf Ihr Gefälliges vom Gestrigen, erlaube mir, Ihnen mitzuteilen, daß, wenn uns Mr. Gardiner am 15. d. M. den fertigen Teil seines Manuskripts übergibt, wir mit dem Rest bis zum 22. warten können. An diesem Tage muß aber das Ganze in unsern Händen sein, oder wir würden zu unserm großen Bedauern davon absehen müssen, die Erzählung zu verwenden. Es würde uns das unsern Lesern gegenüber in eine außerordentlich peinliche Lage bringen, denn, wie Ihnen wohl bekannt ist, haben wir schon in ziemlich geräuschvoller Weise eine Novelle von Grandison Mather angekündigt.

Wir geben uns indes der festen Zuversicht hin, daß eine derartige Schwierigkeit sich nicht erheben, und daß das Manuskript am 22. in unsern Händen sein wird.

Hochachtungsvoll ergebenst
Christopher G. Ladd.«

 

Sie erklärte ihm, sie habe die Sache selbst in die Hand genommen und Mr. Ladd um Verlängerung der Frist gebeten, und dies sei das Ergebnis. –

»Bis auf das letzte Kapitel bin ich jetzt fertig,« teilte er ihr am Nachmittag des 15. September mit. »Ich will das jetzt Ladd überbringen, alles bis auf das letzte Kapitel, und das enthält den Höhepunkt der Verwicklung, sowie Lösung und Schluß. Gott sei uns gnädig, wenn ich das Kapitel in der kommenden Woche nicht fertig bringe!« –

»Was hat er gesagt?« fragte Rose, als Tom von seinem Gang zurückkehrte.

»Er ist ein Schafskopf; er sagte, ich sähe krank aus,« antwortete Tom und ging an seinen Schreibtisch.

»Tom,« ermahnte Rose, »du willst doch heute nicht mehr versuchen zu arbeiten?«

»Nicht? Ich meine denn doch!«

»Aber Tom! Du darfst nicht, du hast den ganzen Morgen gearbeitet und gestern bis spät in die Nacht hinein, und dann hast du so schlecht geschlafen – ich glaube nicht, daß du mehr als zwei Stunden wirklichen Schlaf gefunden hast – und du siehst so blaß und abgespannt aus, und wenn du nicht ein bißchen vorsichtig bist, dann wirst du ernstlich krank, und was sollen wir dann thun? Bitte, versuche nicht mehr zu arbeiten, bis morgen früh, Tom. Laß uns heute abend unten bei Grickels bleiben, etwas Musik machen und früh zu Bett gehn. Dann wirst du eine gute Nachtruhe haben und morgen – o, du sollst mal sehen, wie frisch du morgen sein wirst und wie viel besser du arbeiten kannst.«

»Was wir heute abend machen, wird sich finden. Jetzt ist's aber noch nicht Abend. Andre Leute lassen in dieser Nachmittagsstunde ihre Arbeit nicht im Stiche, und ich sehe nicht ein, weshalb ich das thun sollte. Jedenfalls müßtest du wissen, daß ich keine Minute zu verlieren habe, bis diese verfluchte Geschichte fertig ist. Großer Gott! Siehst du denn nicht, daß es mir schwer genug wird, mich weiter zu schinden, wenn ich zum Umfallen müde bin? Du mußt mich auch noch entmutigen und zum Bummeln zu verleiten suchen! Gott weiß, ich habe alle Willenskraft nötig, die ich auftreiben kann!«

Er warf sich mit verzweifelter Entschlossenheit auf seinen Stuhl und griff zu Feder und Papier.

»Komm, Tom,« sagte Rose, als die Tischglocke läutete.

»Himmel Donnerwetter!« rief er wütend. »Soll ich denn nicht eine Stunde ohne Unterbrechung für mich haben! Kaum habe ich mich hingesetzt und noch keine zehn Zeilen geschrieben und war eben in Zug gekommen, da bimmelt die verdammte Glocke. Lieber Himmel! Da muß doch selbst ein Heiliger die Geduld verlieren. Ich brauche kein Diner, geh nur ohne mich. Ich habe nicht die Spur von Appetit und keine Zeit zum Essen.«

Rose war diesmal unerbittlich. »Du gehst sofort mit mir hinunter und issest,« sagte sie fest.

»O, ja!« lachte er bitter. »Dein Wille ist Gesetz. Was liegt an meiner Arbeit! Komm!«

Und er folgte ihr. Aber einen Mann an den Tisch zu nötigen, ist eins; ihn zum Essen zu zwingen, etwas ganz andres. Tom aß kaum mehr als eine Brotkruste. Verdrossen und schweigsam saß er auf seinem Platz, und offenbar verzehrte ihn die Ungeduld, wieder wegzukommen.

Als das Mahl vorüber war, begab er sich sofort wieder an seinen Schreibtisch.

»O, Tom!« stammelte Rose. »Du hast doch gesagt, du wolltest heute abend nicht mehr arbeiten!«

»Ist mir gar nicht eingefallen, etwas Derartiges zu sagen. Ich habe gesagt, es werde sich finden.«

»Und du willst dich heute abend nicht ausruhen, auch um meinetwillen nicht? Wo ich so in Sorgen um dich bin, wo ich weiß, daß du dich krank machen wirst, wenn das so weiter geht?«

»Ach, bild' dir doch nichts ein – laß mich in Ruhe, ich will nichts weiter davon hören, ich will arbeiten.«

Etwa zwei Stunden blieb er am Schreibtisch sitzen, ohne zu sprechen. Plötzlich sprang er auf. »Großer Gott! Ich kann nicht arbeiten,« rief er ärgerlich. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist, ich hab so'n sonderbares Gefühl im Kopf.«

Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. »Mein Gott, Tom, dein Kopf brennt wie Feuer!« rief sie in wirklicher Besorgnis. »Da haben wir's! Du hast dich krank gearbeitet.«

»Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist,« sagte er noch einmal, wie abwesend.

»Du hast dich überarbeitet und wolltest nichts essen und hast keinen Schlaf gehabt, und nun bist du krank! O, lieber, lieber Gott! – Ich will etwas zu essen für dich holen, Tom. Bitte!«

»Nein, ich kann nichts essen. Ich – ich glaube, es ist am besten, wenn ich zu Bett gehe.«

»Ja, Tom, lege dich hin. Wenn du gleich zu Bett gehst und mal eine Nacht ordentlich schläfst, dann fühlst du dich vielleicht morgen wieder ganz wohl. O, werde mir nur nicht krank, Tom, – Tom, hörst du? Versprich mir, daß du nicht krank werden willst. O, du lieber, lieber Tom, nicht wahr, du fühlst dich jetzt etwas besser? Dein Kopf ist kühler.«

»Ja, ich glaube, ich fühle mich etwas besser,« sagte er mechanisch. Gleich darauf aber preßte er seine Hände an die Schläfen. »O, ich weiß nicht, was mir fehlt; ich habe so'n sonderbares Gefühl im Kopf.«

Er legte sich zu Bett. Dort aber überfiel ihn ein heftiger Schüttelfrost, und er lag wohl zehn Minuten zitternd und mit den Zähnen klappernd. Als das vorüber war, kehrte die fieberische Hitze zurück. »O, ich habe das Gefühl, als ob ich verbrennen müßte,« stöhnte er. Bald darauf schlief er ein, oder vielmehr er sank in eine Art von schlafähnlicher Betäubung.

Am nächsten Morgen stand er zur gewöhnlichen Zeit auf. »Ich bin wieder in Ordnung,« meinte er und setzte sich an seinen Tisch. Rose aber kam es vor, er sei eher alles andre, als »in Ordnung«, – seine Haut war heiß und trocken, seine Augen glühten, die Stimme war dünn und schwach, aber sie hielt es für am besten, zu schweigen.

Tom ließ sich am Schreibtisch nieder und ergriff die Feder, allein sie sah sehr wohl, daß er nicht schrieb. Müßig drehte er die Feder in den Fingern, und sein Kopf sank häufig auf das Papier herab, als ob er schläfrig sei. Nach einigen Minuten erhob er sich langsam und schwerfällig und schwankte mit dem Ausdruck körperlichen Leidens und seelischer Niedergeschlagenheit auf sie zu.

»Es hilft nichts,« sagte er. »Die Geschichte ist vorbei; wir sind zu Grunde gerichtet. Ich kann nicht arbeiten, ich bin krank, ich muß wieder zu Bett gehen. Mein Kopf schmerzt, mein Hals thut mir weh, ich habe das Gefühl, als ob ich verbrennen müßte. O, wie mein Kopf schmerzt und brennt! O Gott! Ich kann nicht mehr, es ist alles aus, ich will wieder zu Bett gehen!«

* * *

Mehr als drei Wochen lag Tom zu Bett, vom Fieber geschüttelt, abwechselnd im wirklichen Delirium und einer Betäubung, die ein trügerisches Bild des Schlafes bot.

Als der Arzt die Geschichte des Falles vernahm, das heißt, die Geschichte des Lebens, das sein Kranker während der letzten zwei Jahre geführt hatte, erklärte er, es sei geradezu ein Wunder, daß er nicht schon längst zusammengebrochen sei, und daß die Krankheit in so milder Form auftrete.

»Drei Monate beständiger Sorge nach Verlust seines Vermögens,« wiederholte der Arzt, »dann ein Jahr, worin er die Arbeit für zwei Männer that, wo er nach siebenstündigem Schlafe aufstand, während er volle neun bedurft hätte, zu einer Stunde, wo die Lebenskraft erfahrungsgemäß gewöhnlich den tiefsten Punkt erreicht hat, und dann bis vier Uhr nachmittags an die Arbeit, und schließlich wieder neun Monate beständiger Sorge, wahrhaftig, wenn seine Konstitution nicht von Eisen wäre, er hätte es nicht halb so lange ausgehalten. Sorgen bringen sogar Katzen um, und Sorgen sind es, die der Hälfte der Uebel zu Grunde liegen, die unsres Fleisches Erbteil. – O, nein, nein, ich glaube nicht, daß Grund zur Besorgnis vorhanden ist. Wenn sich nicht neue Symptome zeigen oder die Sache nicht eine unerwartete Wendung zum Schlimmem nimmt, wird er sich schon durchrappeln. Aber auf Monate hinaus darf er nicht versuchen, sich geistig anzustrengen. Er muß vollständige Ruhe haben und, wenn möglich, in eine, ganz andre Umgebung kommen. Eine Spazierfahrt nach Europa oder etwas Aehnliches, sobald er wieder kräftig genug zum Reisen ist, das wäre das Beste.«

Sehr bald nachdem Delirium und Betäubung gewichen waren, und der Arzt ihm erlaubt hatte, zu sprechen, fragte Tom: »Der wievielte ist heute?«

»Der zehnte, Tom, der 10. Oktober, – Sonnabend.«

»Ach, ich dachte es mir,« seufzte er und sank schweigend in die Kissen zurück. Nach einiger Zeit raffte er sich wieder auf: »Also der 22. September ist vorüber, und meine Novelle war nicht fertig. Das Schlimmste ist also eingetreten, wir sind zu Grunde gerichtet! – Ich dachte es mir. Jetzt werden wir wohl auch all dein Geld ausgegeben haben, und nun kommen die Kosten meiner Krankheit, die Doktorsrechnung – und alles – Wir stecken wohl tief in Schulden?«

»Nein, mein Liebster, gar nicht. Sieh dir mal dies an, Tom.«

Und sie reichte ihm einen langen, schmalen Papierstreifen. Erstaunt blickte er ihn an. Es war eine Anweisung über den Betrag von tausend Dollars, ausgestellt an seine Ordre von den Verlegern der Brownschen Monatshefte.

»Was in aller Welt soll das heißen? Was bedeutet das?« fragte er aufgeregt.

»Nun, das ist für deine Novelle – es sind die tausend Dollars für die ›Seltsamen Abenteuer eines Ich.‹«

»Aber – aber, ich habe ja die Erzählung gar nicht fertig geschrieben. Oder hätte ich sie doch fertig gemacht? Habe ich nur geträumt, ich wäre nicht fertig geworden! – Nein, nein, ich weiß es ganz gewiß. Bis zum 22. September sollte sie vollendet sein und das letzte Kapitel abgeliefert werden, und acht Tage vorher wurde ich krank und mußte mich zu Bett legen. Nun? – Was? – Wie? – ich kann's nicht begreifen. Wie kamen sie denn dazu, diese Anweisung zu schicken?«

»Nun, Tom, höre mal ruhig zu und rege dich nicht auf; ich will dir alles erklären. Also zunächst das letzte Kapitel – hier ist die Korrektur. Nimm und lies – oder nein, ich will's dir vorlesen.«

»Was? Ums Himmelswillen!« brach er ärgerlich los. »Du willst mir doch nicht sagen, daß sie einen andern beauftragt haben, das letzte Kapitel zu schreiben? Das letzte Kapitel meiner Novelle, die Entscheidung, den Schluß? O, großer Gott! Lieber – lieber will ich dreimal den Preis verlieren, als daß ich das dulde, als daß ich sie so verunstalten und verhunzen lasse. Denke doch nur an meinen Ruf. Habe ich – o, ich werde einfach nicht gestatten, daß sie so veröffentlicht wird. Wir werden ihnen die Anweisung zurückschicken und den Druck verbieten. Lieber verhungern! Der Gedanke! Eine solche Unverschämtheit! Irgend ein hergelaufener Kerl schreibt das eine entscheidende Kapitel meiner Novelle, das, worum sich die ganze Geschichte dreht, mit dem sie steht und fällt, und läßt sie dann unter meinem Namen erscheinen, macht mich dafür verantwortlich, einerlei, was für schauderhaftes Zeug er zusammengeschmiert hat. O, mein Gott!«

Sie ließ ihn ruhig ausreden. »Tom,« sagte sie jetzt in flehendem Ton, als er endlich erschöpft innehielt, »bitte, bitte, reg' dich nicht so auf. O Tom, wenn du so weiter machst, wirst du wieder krank. Warte doch wenigstens, bis du meine Erklärung gehört hast.« Und als er wieder stille schwieg, fuhr sie fort: »O Tom, sei mir nicht bös. Aber was sollte ich machen? Wenn das letzte Kapitel am 22. September nicht abgeliefert wurde, verloren wir, wie ich wußte, das ganze Geld, das dir dafür zugesichert worden war, und was wir hatten, war fast alles aufgebraucht, und du warst krank und konntest, wer weiß wie lange, nichts verdienen, und ich konnte nur auf die fünfunddreißig Dollars monatlich für mein Singen rechnen. Wenn wir also die tausend Dollars nicht bekamen, waren wir zu Grunde gerichtet, vollständig zu Grunde gerichtet, wie du selbst gesagt hast. Was sollte ich also thun? Ich wußte wohl, daß es dir nicht recht sein, und daß es dürftig und schwach ausfallen würde, aber ich dachte, es wäre doch besser, als die tausend Dollars zu verlieren und völlig zu Grunde gerichtet zu werden, und es schien mir der einzige Ausweg. Und ich habe dir auch gesagt, daß ich's thun wolle – daß ich es thäte – mehr als einmal, während du im Delirium lagest, aber du hörtest oder verstandest mich nicht. Ich wußte doch auch natürlich ganz genau, wie es in deiner Absicht lag, die Geschichte endigen zu lassen; du hast's mir ja so oft erzählt. Ich habe gar nichts dazu erfunden, ich habe es einfach so hingeschrieben, wie du es mir so oft erklärt hast, und ich suchte mir vorzustellen, du diktierest mir, und ich schriebe nach deinem Diktat. Und dann brachte ich es Mr. Ladd, und er las es durch und gab mir die Anweisung.«

»Was? – Willst du damit sagen, daß du es beendigt – daß du das letzte Kapitel geschrieben hast?« fragte er nach einer kleinen Pause, in einem Tone, der Unglauben und Betroffenheit verriet.

»Ja, Tom,« antwortete sie zaghaft, als ob sie eine Sünde bekenne. »Ich machte mich gleich an die Arbeit,« fuhr sie nach einer abermaligen Pause fort. »Ich habe hier an deiner Seite geschrieben, und Mr. Grickel und Jack Pearse halfen mir, dich zu pflegen. Ich wurde eben zur rechten Zeit fertig, und habe es genau an dem Tage zu Mr. Ladd gebracht, an dem er es spätestens haben mußte, wie er gesagt hatte, am 22. Mr. Ladd habe ich nichts davon erzählt, daß ich das letzte Kapitel geschrieben habe. Er las es durch und sprach sich sehr beifällig darüber aus; du brauchst also nichts zu verraten. Oder meinst du, ich hätte es ihm mitteilen sollen?«

»O nein – ich weiß nicht. Laß mich lesen,« antwortete Tom kurz.

»Laß mich lieber vorlesen, das wird dich nicht so angreifen.«

»Na, dann vorwärts – lies,« antwortete er müde.

Aber während sie las, wurde er allmählich lebhafter. Er fing an, einzelne Worte dazwischen zu werfen. »Ausgezeichnet! … Gut! … Wirklich brillant, Rose! … Famos!« und so weiter.

»Du weißt es vielleicht nicht,« sagte er, als sie geendet hatte, »aber du hast ein kleines Meisterwerk geschaffen. Wahrhaftig, das hast du. Wenn du meine aufrichtige Meinung hören willst, dann muß ich sagen, daß das Kapitel nicht nur das beste des ganzen Romans ist, es ist geradezu großartig, unübertrefflich, es ist zehntausendmal besser, als ich's hätte machen können. O, du liebe kleine Heldin! Rose! Was soll ich sagen?!«

Sie brach in einen Strom von Thränen aus und verbarg ihr glühendes Antlitz an seiner Schulter.

Auch die Kritiker hatten ein Wort zum Lobe des Anteils, den Rose an dem Werke hatte, zu sagen. Sie alle stimmten darin überein, daß die »Seltsamen Abenteuer eines Ich« sich den »Träumen in einem Traum« würdig anreihten, daß aber das Schlußkapitel »mit einer Naivität, einer Einfachheit, einer Zartheit der Empfindung geschrieben sei, die eine Meisterhand verrieten, eine ganz neue Seite der Fähigkeiten des Verfassers enthüllten und für die Zukunft zu den besten Hoffnungen auf seine Vielseitigkeit berechtigten.« Und von Mr. St. Marc erhielt Tom einen Brief, worin dieser berühmte Kritiker sich folgendermaßen aussprach: »Die ›Seltsamen Abenteuer‹ gefallen mir ausnehmend, ganz vorzüglich aber ist das letzte Kapitel. Sie scheinen zu erwachen und schlagen einen neuen Ton an, der aber reizend ist – ein gewisser ruhiger, überlegender, beinahe träumerischer Ton – sehr verschieden von Ihrer gewöhnlichen Art, und ich rate Ihnen, diesen Ton zu pflegen und auszubilden. – Nebenbei bemerkt, Sie sind in den Schriftsteller-Club gewählt worden. Ich habe Sie vorgeschlagen und Mr. Ladd hat mich unterstützt.«

»Na, Rose, von jetzt an sollst du alle Romane für mich schreiben,« sagte Tom, »denn es geht nicht an, daß ich hinter den erweckten Erwartungen zurückbleibe.«

Im Februar 1886 erhielt er seine zweite Abrechnung von Margate und Lee. Er hatte, wie wir uns entsinnen, etwa hundert Dollars erwartet. Die Abrechnung wies einen Absatz von elftausendsechshundertachtundvierzig Exemplaren von »Träume in einem Traum« nach, und der ihm zustehende Honorarbetrag belief sich auf elfhundertvierundsechzig Dollars, achtzig Cents.

»Nun, Rose, meine ich, wäre es Zeit, dem Rate des Doktors zu folgen und den Sommer in Europa zu verleben,« war die Betrachtung, die der Verfasser anstellte.

»Ehe du in ferne Weltteile segelst, gib mir, bitte, deinen Segen,« sagte Pearse. »Wir sind verlobt – Lina und ich.«

»Und wann wollt ihr heiraten?« fragte Tom, als die freudige Erregung, die diese Mitteilung hervorrief, sich einigermaßen gelegt hatte. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir unsre Reise verschöben. Da müssen wir doch dabei sein, wißt ihr. Das geht doch gar nicht, daß ihr in unsrer Abwesenheit heiratet.«

»Nein,« antwortete Pearse, »aber ich fürchte, ihr könnt noch drei- oder viermal nach Europa reisen und wieder zurückkehren, ehe wir heiraten. Wenn ich ein wohlhabender junger Schriftsteller wäre, würden wir sofort heiraten, aber da ich ein armer junger Rechtsanwalt bin, heißt's eben warten. Wir hoffen aber, daß wir nicht länger als ein Jahr zu warten brauchen.«

»Weißt du,« vertraute Tom Rose an, als sie allein waren, »ich bedaure die Leute, die mit dem Heiraten warten, bis die Schwierigkeiten, die der Gründung eines eignen Herds im Wege stehen, beseitigt, bis ihre Stellung und ihr Lebensunterhalt in gewissem Grade gesichert sind. Es gibt doch keine süßere Freude im Leben, als auf die Zeiten der Sorgen und Entbehrungen zurückzublicken und sich daran zu erinnern, wie du und ich, du und deine Frau sie überwunden haben, das führt Mann und Weib enger zusammen; sie lieben einander umso tiefer und inniger, je mehr sie miteinander durchgemacht haben. Ja, die Leute, die ihre Verheiratung hinausschieben, bis die Schlacht geschlagen, der Sieg errungen ist und das Leben heiter vor ihnen liegt – sie betrügen sich selbst um eine der herrlichsten, segensreichsten Erfahrungen des Lebens!«

 

Ende.

 


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