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Zehntes Kapitel.

Not am größten, Hilfe am nächsten.


Es war am Freitag, dem 21. Dezember. Da es ein Freitag war, würden abergläubische Leute ihn zu den Unglückstagen gerechnet haben. Aber da es der 21. war, und einundzwanzig ein Vielfaches von sieben, und zwar dreimal sieben ist, und da drei und sieben die glücklichsten aller Zahlen sind, so würden unsere abergläubischen Freunde wohl annehmen, daß die finstere Bedeutung des Freitags in gewissem Grade, wenn nicht gänzlich aufgehoben wurde. Dem mag nun sein, wie ihm wolle, Mr. und Mrs. Gardiner werden an den Freitag, den 21. Dezember, stets als einen der glücklichsten Tage ihres Lebens denken, denn an diesem Tage erhielten sie folgenden Brief:

 

»Harlem, Donnerstag abend.

»Lieber Gardiner!

»Einen Acker bestellbaren Landes gäbe ich darum, wenn ich heute abend an Beekman Place sein könnte, und ich hatte auch fest darauf gerechnet, dort zu sein, allein vor einer halben Stunde erhielt ich von einem gütigen Freunde, der selbst keinen Gebrauch davon machen kann, Einlaßkarten zum Opernhaus, und demnach muß ich meine Mutter in die Oper führen. Ich müßte mich eigentlich jetzt ankleiden, allein es ist unumgänglich notwendig, daß dieser Brief geschrieben und abgesandt wird, damit Du ihn morgen früh erhältst, ehe Du ausgehst.

»Ich weiß nicht, ob Du jemals bemerkt hast, daß meine Füße ganz außergewöhnlich schön sind. Ich gestehe, daß ich es selbst bisher nie wahrgenommen habe. Es muß aber doch wohl so sein, denn siehe! ich bin der Ueberbringer froher Botschaft.

»Ja, wahrhaftig! Der Ueberbringer froher Botschaft und der Träger freudiger Nachrichten! Leg' Hacke und Spaten aus der Hand, häng' Fidel und Bogen an die Wand! Für den alten Onkel Tom gibt's keine Bummelei mehr, denn er hat – eine Stelle! Er hat eine Schreiberstelle beim Protonotariat – der Behörde, bei der die Testamente eingeschrieben werden und derartiges – mit einem Gehalt von zwölfhundert Dollars per annum.

»Nun wart' einen Augenblick, Tom, wenn's gefällig ist.

»Fahre nicht aus der Haut, drücke einen gewissen Jemand in Deinen Armen nicht zu Tode und stelle keine ähnlichen Dummheiten an. Dagegen setze Dir, sobald Du dies Gekritzel erhalten hast, was wahrscheinlich morgen früh gegen neun Uhr der Fall sein wird, Deine hochachtbare Angströhre aufs Haupt und verfüge Dich geradeswegs nach dem Geschäftszimmer des ergebenst Unterzeichneten, um dort das Nähere zu vernehmen, Dich nach dem Schauplatz Deiner spätern Thätigkeit geleiten und Deinem zukünftigen Tyrannen, Mr. Clancey, vorstellen zu lassen, – denn Seine Hochwohlgeboren, der Herr Protonotar selbst ist, wie Du wissen mußt, ein viel zu ehrfurchtgebietendes und großes Tier, um so unbedeutenden Würmern, wie Du und ich sind, sichtbar zu werden, obschon er, wie ich höre, als Mensch ein ganz gemütlicher Kerl Namens Lucius C. Van Blick ist.

»Aber ich wette einen Nickel, daß Du keine Ahnung hast, wem wir dies alles zu verdanken haben – Everett St. Marc! Ja, mein Herr, Everett St. Marc! Vor einigen Tagen traf ich ihn auf der Straße. Wir gingen ein Stück zusammen, und ich benützte die Gelegenheit, ihm zu erzählen, daß die Empfehlungsbriefe, die er vor einiger Zeit für Dich geschrieben, zu keinem Ergebnis geführt hätten, und dann wandte ich alle Beredsamkeit an, die mir zu Gebote steht, um ihn für Dich zu interessieren, doch war er ziemlich zurückhaltend. Er wolle Dich im Gedächtnis behalten, sagte er, und alles für Dich thun, was er könne; allein er wisse nicht, ob das viel sei. So verließ ich ihn, ohne daß meine Hoffnungen besonders gestiegen wären. Heute nachmittag jedoch, gerade als ich meinen Ueberrock anzog, um nach Hause zu gehen, trat er kalt lächelnd in mein Geschäftszimmer und bemerkte so ganz nebenhin, als ob es eine höchst gleichgültige und selbstverständliche Sache wäre, er habe Dir die obvermeldete Stelle beim Protonotariat verschafft. Er und der sehr ehrenwerte Van Blick sind nämlich, wie Du wissen mußt, gute Freunde, beide Mitglieder des Klubs der Hundert, und so weiter. Ein Freund in der Not ist ein Helfer von Gott, und wenn ich in Deiner Haut steckte, würde ich im Laufe des heutigen oder morgigen Tages einige Zeilen an ihn schreiben und ihm für seine Mühe danken.

»Dein amtlicher Titel ist ›Hilfsschreiber des Unterbuchhalters‹. Hübsch, wie? Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, wirst Du nicht viel mehr zu thun haben, als im Bureau zu sitzen und diesem durch Deine Persönlichkeit zur Zierde zu gereichen. Deine Dienststunden sind von neun bis vier, Sonnabends bis drei, und Du sollst am 1. Januar in Dein Amt eingeführt werden.

»Empfehlungen und Glückwünsche an Madame.

»In rasender Eile
Dein J. P.

»Komm herunter und richte Dich so ein, daß Du mit mir frühstücken kannst, und höre mal – weshalb sollen wir nicht heute abend zur Feier des Ereignisses einen großen Trara bei Moretti veranstalten? Ich werde mit Dir gehen und die Damen persönlich einladen. Ich sage ›Damen‹, pluralis, denn wenn es Euch nicht unangenehm ist, möchte ich gern, daß Miß L. G. mit von der Partie wäre.«

 

Tom saß am Kaffeetisch, als ihm dieser Brief gebracht wurde, Rose neben ihm, und die Glieder des Grickelschen Hauses nahmen die übrigen Plätze ein. Er erkannte Pearses Hand in der Aufschrift und nahm an, es sei eine gewöhnliche freundschaftliche Mitteilung, vielleicht eine Anmeldung für den Abend oder ähnliches.

»Gestatten Sie?« fragte er Mrs. Grickel, den Brief emporhaltend und sich anschickend, ihn zu öffnen.

»Ach Gott! Mr. Gartiner, Se sin der heflichste Herr, den ich habe geseh'n,« rief die Wirtin lachend. »Se ibertreffen noch den Professor. Nur zu, machen Se auf. Bei uns brauchen Se doch zu machen keine Umstände.«

Tom erbrach den Brief und las ihn durch.

Ich glaube nicht, daß er während des Lesens irgend etwas that, woraus ein Beobachter hätte schließen können, daß der Inhalt des Briefes von mehr als gewöhnlichem Interesse war. Er stieß keinen Ausruf aus, er wurde weder rot noch blaß; er las ihn mit dem Scheine vollkommener Ruhe und Fassung durch.

Das war aber keineswegs ein Zeichen ungewöhnlicher Selbstbeherrschung, denn das Sonderbarste dabei war, daß er wirklich war, was er schien, ruhig und gefaßt. Einem paradoxen, aber wie ich glaube, häufig in die Erscheinung tretenden Gesetz der menschlichen Natur gehorchend, verursachte ihm dies für ihn so wichtige Ereignis – der Empfang der Nachricht, daß die Mittel zu seinem Lebensunterhalt endlich gefunden, daß er und seine Frau in der elften Stunde vom Rande des Abgrundes zurückgerissen seien – keine wahrnehmbaren Empfindungen; sie ließ ihn, für den Augenblick wenigstens, vollkommen kalt. Er las den Brief durch, steckte ihn wieder in den Umschlag, dann in die Tasche und beschäftigte sich hierauf so unbefangen mit seinem Kaffee, als ob es eine Preisliste irgend eines Kaufmanns, nicht aber ein brieflicher Blitzschlag gewesen wäre. Nicht einmal betäubt oder verwirrt fühlte er sich. Er ward sich einfach nicht der geringsten Aufregung bewußt. Aber das dauerte nur ganz kurze Zeit, vielleicht eine Minute. Dann fing die Mitteilung, die er erhalten hatte, an, in sein Hirn einzudringen und zu wirken. Sein Herz begann plötzlich lebhaft zu klopfen, zu zucken und mit erstickender Gewalt gegen seine Brust zu hämmern. Sein Blut schien Feuer gefangen zu haben und stürmte durch seine Adern, seine Wangen brannten, seine Lippen wurden heiß und trocken, während seine Hände erkalteten und feucht wurden. Er setzte seine Tasse nieder, ohne sie geleert zu haben, ein verzehrendes Verlangen, fort, hinauf, nach seinem Zimmer zu eilen und mit seiner Frau allein zu sein, bemächtigte sich seiner.

Allein er empfand auch die echt angelsächsische Abneigung, seine Erregung vor andern merken zu lassen, und deshalb versuchte er, sich zur Geduld zu zwingen und ruhig zu warten, bis Rose im gewöhnlichen Verlauf der Dinge ihre Serviette zusammenfalten würde. Aber der Versuch mißlang. Es war ähnlich, wie wenn jemand sich bemüht, den Atem einzuhalten. Es geht eine gewisse Zeit, dann aber verlangen die Lungen ihr Recht und überwinden auch den stärksten Willen. Auch für Tom ward die Anstrengung bald zu groß. Selbst mit dem Opfer seiner Zurückhaltung mußte er seine Flucht erkaufen, um die Einsamkeit seines Zimmers zu erreichen und seiner Frau die Nachricht mitzuteilen, die er allein nicht mehr tragen konnte.

»Rose,« sagte er leise, »willst du mit hinaufgehen? Ich muß etwas Wichtiges mit dir besprechen.«

Seine Stimme zitterte und klang heiser in seiner gewaltsam zurückgedrängten Aufregung, und das erschreckte sie.

Sie sah mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen zu ihm empor und bemerkte, daß er totenblaß war. In namenloser Angst krampfte sich ihr Herz zusammen. Was für ein neues Unglück konnte sie befallen haben, das ihn so erblassen, in solchem Tone mit ihr sprechen ließ?

Sie wandte sich an Mrs. Grickel. »Entschuldigen Sie uns,« stammelte sie und folgte ihrem Gatten aus dem Zimmer.

Keins von beiden sprach, bis sie das Ende ihrer Reise erreicht hatten. Er ging vor ihr ins Zimmer, und als sie die Thür hinter sich geschlossen hatte, trat sie dicht vor ihn, ebenso bleich wie er, und sah ihm angstvoll ins Antlitz. »Tom, was gibt's?« stöhnte sie kaum verständlich.

»Lies das,« entgegnete er, ihr den Brief reichend, und sank erschöpft von der Aufregung auf einen Stuhl.

Sie nahm den Brief und entfaltete ihn. Selbst so weiß, wie das Papier, worauf er geschrieben war, begann sie zu lesen. Sie war aber noch nicht bis zur Mitte gelangt, als sie das Blatt zu Boden flattern ließ. Tiefe Röte bedeckte ihre lieblichen Züge und schwand wieder, und einen Augenblick stand sie bewegungslos, heftig atmend.

Plötzlich aber stieß sie einen leisen Jubelschrei aus und öffnete ihre Arme.

»Tom – Tom!« rief sie.

Und dann lag sie an seiner Brust und schluchzte an seiner Schulter.

* * *

»Heil sei dem Hilfsschreiber des Unterbuchhalters, der da triumphierend naht!« deklamierte Pearse, als Tom etwa eine Stunde später bei ihm eintrat.

»Bei Gott, alter Junge,« war Toms erstes Wort, »wie kann ich das jemals wett machen!«

»Wenn das ein Rätsel ist, dann gib das Raten auf,« entgegnete Pearse, während sich die beiden Männer die Hände schüttelten. »Aber nicht übel, was?«

»Nicht übel?« rief Tom. »Ich will dir was sagen: du hast uns vom Verhungern errettet. Es scheint fast zu gut, um wahr zu sein, ich kann's nicht glauben. Bist du sicher, daß es schon endgültig entschieden ist? Keine Möglichkeit, daß es noch scheitert? Wenn's jetzt wieder in die Brüche ginge, es wäre Roses Tod.«

»Aber es geht nicht wieder in die Brüche, ganz unmöglich. Der Protonotar hat sein Fiat dazu gegeben. Alles, was du jetzt zu thun hast, ist, dich bei Mr. Clancey zu melden und dich in dein Amt einsetzen zu lassen. Und wir wollen gleich hingehen und ihn aufsuchen. Er ist ein sehr netter kleiner Kerl, bei den Advokaten ungeheuer beliebt, und er versteht wahrscheinlich mehr von den Protonotariatsgeschäften, als irgend jemand in der Stadt, ausgenommen Van Blick. Dieser soll, wie man sagt, der beste Protonotar sein, den New York je gehabt hat, und Clancey der beste Bureauchef. Der Protonotar hat, wie du weißt, alle Hände voll zu thun, um die Rechtsgeschäfte seines Amts zu bewältigen. Die Ausführung ist ganz dem Bureauchef überlassen, der, sozusagen, sein Exekutivbeamter ist. Ich kenne ihn sehr genau. Dank Mr. Everett St. Marcs Einfluß überträgt mir Van Blick dann und wann eine Vormundschaft oder läßt mir irgend einen anderen Brosamen von dem Tisch seiner Gnade zu teil werden, und infolgedessen komme ich häufig mit Clancey in Berührung.«

»Es ist ein großes Glück, daß dies gerade jetzt kam,« bemerkte Tom, als sie selbander nach dem Gerichtshaus wanderten, »denn ich hatte mich schon entschlossen, die erste Stelle mit zwölf Dollars wöchentlich anzunehmen, die mir angeboten werden würde. Derartige Stellen hätte ich schon haben können, allein ich habe sie ausgeschlagen, weil ich mich für etwas Besseres frei halten wollte. Ich war aber jetzt so ziemlich am Ende meiner Hoffnungen angelangt. Meine Barschaft ist fast auf Null zusammengeschmolzen, und ich hatte schon angefangen, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, es wäre besser, wenigstens die Hälfte meines Lebensunterhalts zu verdienen, als gar nichts. Rose und ich waren deshalb gestern abend dahin übereingekommen, daß ich das nächste Anerbieten mit zwölf Dollars wöchentlich annehmen solle.«

Die Diensträume des Protonotars nehmen etwa den vierten Teil des Erdgeschosses des Gerichtshauses ein, sein Sitzungssaal befindet sich im ersten Stock. Pearse führte seinen Begleiter zu einer Thür, die sich auf den allgemeinen Gang öffnete und auf einer Glasplatte in eingeschliffenen Buchstaben die Aufschrift »Protonotariat« trug. Als sie eingetreten waren, sahen sie sich in einem kleinen Vorzimmer, in dem ein hochmütig aussehender Neger das Regiment führte, der an einer zweiten Thür, gerade der gegenüber, durch die unsre Freunde gekommen waren, gewissermaßen Schildwache stand. Es befanden sich etwa sechs oder sieben Personen in dem Vorzimmer, darunter ein oder zwei Frauen in schwarzer Trauerkleidung, die, wie ihre unruhige Haltung und ihr halb gelangweilter, halb erwartungsvoller Gesichtsausdruck zeigte, danach verlangten, in die geheimnisvollen Regionen, hinter jener Thür eingelassen zu werden.

»Guten Morgen, Richard,« begrüßte Pearse den Neger.

»'Morgen, Mr. Pearse,« erwiderte dieser mit einem herablassenden Lächeln, denn er kannte Pearse als einen jungen Mann, der bei seinem Gebieter gut angeschrieben war, und richtete seine Haltung dem entsprechend ein.

»Ist Mr. Clancey heute morgen sichtbar, Richard?« fragte Pearse.

»O, ja,« antwortete der schwarze Menschenbruder und riß die Thür, die er bewachte, weit auf. »Treten Sie nur ein, Mr. Pearse,« – wodurch es dem Halbdutzend Leuten, die schon früher da waren, klar wurde, daß sie in Richard einen Menschen vor sich hatten, der vor dem Grundsatz: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst,« keine Achtung kannte.

Pearse trat ein.

Tom, der am ganzen Leibe zitterte, wollte ihm folgen.

»Was wollen Sie?« fragte jedoch der Neger, die Thür mit ausgestrecktem Arm sperrend.

Tom wich einen Schritt zurück.

»Was machen Sie denn, Richard?« fragte Pearse hierauf scharf, »der Herr geht mit mir.«

»O, bitte um Entschuldigung,« stotterte Richard. »Treten Sie ein, mein Herr,« und Tom gesellte sich jenseits der Thürschwelle wieder zu Pearse.

An einem Schreibtisch, dessen Platte mit Papieren in wilder Unordnung bedeckt war, saß ein kleines, blasses, bartloses, schwarzhaariges und schwarzäugiges Individuum, das mit einem Bleistift auf einem großen Bogen Papier kritzelte und zwar so rasch, daß man glauben konnte, er halte ein Wettschreiben ums Leben. Ein oder zwei Minuten setzte er diese Beschäftigung noch fort, ohne sich anscheinend bewußt zu werden, daß Besucher eingetreten seien. Dann warf er plötzlich den Bleistift beiseite und richtete sich mit einem Ruck auf seinem Stuhl empor.

»Ach, guten Morgen, Mr. Pearse,« begann er, »freut mich, Sie zu sehen. Schönes Wetter heute, für diese Jahreszeit, wie?«

Seine Sprechweise war abgerissen und nervös, ebenso wie seine Bewegungen. Dabei legte er den Kopf auf die Seite wie ein Vögelchen und öffnete den Mund beim Sprechen so weit und mit so zugespitzten Lippen, daß dieser eine lächerliche Aehnlichkeit mit einem Schnabel erhielt. Sein Aussehen war das eines außerordentlich bestimmten, trockenen kleinen Herrn, und doch hatte sein Wesen auch etwas Angenehmes und Achtunggebietendes. Er konnte ebensogut dreißig wie fünfzig Jahre alt sein. Im Gegensatz zu seinen rabenschwarzen Haaren und Augenbrauen glänzte seine Haut wie weißes Wachs, und diese von der Natur geschaffene Farbenzusammenstellung hatte er auch in seinem Anzug durchgeführt, indem er einen schwarzen Rock und ebensolche Halsbinde und in den Brustfalten und Manschetten seines Hemdes Knöpfe von Jett trug. Bekanntlich tragen die Herrn, die sich geschäftsmäßig mit der Anordnung von Leichenbegängnissen befassen, meist Trauerkleidung. Vielleicht meinte Clancey, daß das, was für den Leichenbesorger angemessen, auch für den Beamten, der die Testamente verwahrte, schicklich sei, da die durch einen kürzlichen Verlust betrübten Erben und Verwandten gewöhnlich vom Geschäft des einen schnurgerade nach dem Bureau des andern gehen.

Nachdem Pearse Clanceys Gruß erwidert hatte, stellte er Tom vor.

»Das ist Mr. Gardiner, Mr. Clancey, der neue Schreiber, wie Sie wissen.«

»Ach! Ja so! Freilich!« stieß Clancey hervor. »Der neue Schreiber. Ja, ich weiß!« Er schnellte in die Höhe und schüttelte Tom die Hand, und dabei war es, als ob seine Finger durch metallene Federn zugeklappt würden. »Freut mich, Ihre werte Bekanntschaft zu machen, Mr. Gardiner. Schönes Wetter heute für diese Jahreszeit, wie? Bitte, nehmen Sie Platz, meine Herrn, nehmen Sie Platz.« Er ging mit gutem Beispiel voran, indem er auf seinen Stuhl zurückklappte, und auch sie setzten sich, jeder auf seine eigene Weise.

»Also, Mr. Gardiner,« fuhr er fort, »der Herr Protonotar hat mich angewiesen, Ihnen den Pult des Hilfsschreibers des Unterbuchhalters anzubieten. Das mit dem Amt verbundene Gehalt beträgt zwölfhundert Dollars jährlich. Ich setze voraus, daß sie bereit sind, die Stelle anzunehmen.«

»Gewiß,« stimmte Tom zu, seine Versicherung durch ein Kopfnicken bekräftigend.

»Freut mich zu hören, Mr. Gardiner. Sehr schön. Den weiteren Anweisungen des Herrn Protonotars gemäß muß ich Sie in Kenntnis setzen, daß die Zeit, worauf wir angestellt sind, mit Ende des kommenden Jahres, also am 31. Dezember 1884, abläuft. Diesen Umstand müssen Sie natürlich bei Ihrer Entschließung in Betracht ziehen. Sollten wir für eine zweite Amtsperiode gewählt werden, so würden Sie ohne Zweifel mit den übrigen im Dienst behalten werden. Sollten wir jedoch eine Wiederwahl ablehnen oder im Fall der Annahme bei der Wahl unterliegen, dann können wir natürlich für unsern Nachfolger keine Verpflichtung übernehmen, und nach dem herrschenden Gebrauch kann man wohl erwarten, daß dieser reinen Tisch machen wird. Sie müssen sich also darüber klar sein, daß Sie mit Sicherheit nur auf ein Jahr rechnen können.«

»Ja, wohl, ich verstehe. Aber das ist Nebensache.«

»Freut mich zu hören, Mr. Gardiner. Sehr schön. Schließlich hat mich der Herr Protonotar noch beauftragt, Ihnen zu sagen, daß gegenwärtig die demokratische Partei am Ruder ist, und daß Sie, wenn Ihre Anstellung auch mit Parteiangelegenheiten nichts zu thun hat, doch wohl thun werden, falls Sie der entgegengesetzten Partei angehören, Ihre politischen Meinungen für sich zu behalten, damit Ihre Anstellung bei der demokratischen Parteileitung nicht etwa Anstoß erregt.«

»In dieser Beziehung werde ich keine Veranlassung zu Unannehmlichkeiten geben,« versicherte Tom.

»Freut mich ausnehmend. Wir haben natürlich keine Besorgnisse in dieser Hinsicht gehabt, aber der Herr Protonotar wünschte, ich möchte die Sache erwähnen. Sehr schön. – Der Vorstand Ihrer Abteilung, Mr. Gardiner, ist Mr. John J. Galligan, der demokratische Führer des 29. Stadtbezirks. Mr. Galligan ist Buchhalter. Der Unterbuchhalter, dessen Hilfsschreiber Sie sein werden, ist Mr. Montgomery Temple. Sie werden in ihm einen ausnehmend angenehmen Vorgesetzten finden, mit dem sich sehr gut leben läßt. Er ist ein irischer Gentleman. Aus einer alten, angesehenen Familie stammend und in Trinity College zu Dublin erzogen, erbte er ein beträchtliches Vermögen. Allein infolge seiner sorglosen Gutmütigkeit und seiner verhängnisvollen Unfähigkeit, nein zu sagen, ist es ihm nach und nach durch die Finger geglitten, so daß er sich mit sechzig Jahren dem Nichts gegenübersah. Dann kam er nach Amerika, trat unter unserm Vorgänger, dem Protonotar Shea, in unser Bureau und wurde von uns im Dienst behalten. Er ist jetzt über siebzig Jahre alt, ein kindliches Gemüt und ein so freundlicher alter Geselle, wie nur jemals einer geatmet hat, aber stolz wie Lucifer. Der Vater des Protonotars Shea war da drüben im alten Lande Pächter einer der Besitzungen von Mr. Temples Vater gewesen. Wunderbar, wie die Welt sich manchmal dreht. Der Bauernjunge kommt empor, und der Sohn des Gutsherrn sinkt und wird Unterbeamter bei der Behörde, an deren Spitze der andre steht. Ich werde Sie jetzt Mr. Temple vorstellen. Er wird Sie in den Bureaus umherführen, Sie mit Mr. Galligan bekannt machen und Sie in die Pflichten Ihres Amtes einweihen. Er ist ein Gelehrter, liest sehr viel, und Sie werden seine Unterhaltung sehr anziehend finden; aber sein hervorragendster Charakterzug ist sein einfaches Gemüt. Fragen Sie ihn nur mal, wie es gekommen sei, daß er vom Herrn Protonotar Van Blick im Amt behalten worden ist. In Wirklichkeit geschah es aus Gefälligkeit gegen Mr. Shea, der dringend um seine Beibehaltung bat. Aber der alte Herr hat eine Erklärung ganz eigener Art dafür, und zwar eine höchst unterhaltende.«

Bei diesen Worten schlug Clancey auf eine Glocke, die unter Papieren halb vergraben auf dem Tische stand, und alsbald trat der Neger Richard ins Zimmer.

»Ersuchen Sie Mr. Temple, hierherzukommen,« sagte Clancey, und Richard verschwand.

»Ich denke, ich gehe jetzt, Gardiner,« meinte Pearse, sich erhebend. »Wenn du hier mit deinen Geschäften fertig bist, komm nach meinem Bureau, daß wir zusammen frühstücken können. Und wegen des Festes bei Moretti – das muß auf alle Fälle zu stande kommen.«

»Wir werden ja sehen,« entgegnete Tom. »Adieu.«

»Adieu so lange! – Guten Morgen, Mr. Clancey.«

Als Pearse das Zimmer verließ, trat ein Herr ein, den Tom für Mr. Temple hielt, und machte, als er an Pearse vorbeiging, diesem eine altmodische Verbeugung. Er war ein großer alter Herr, mit der aufrechten Haltung eines Grenadiers, in schwarzes, etwas verschossenes Tuch gekleidet. Den Hals umgaben eine veraltete, steife und sehr hohe Halsbinde und weiße Vatermörder. In seinem glatt rasierten Gesicht leuchteten zwei freundliche blaue Augen, und die Stirn war von lockigem und schneeweißem Haar gekrönt. Seine Lippen umspielte ein gewinnendes Lächeln, wenn ihre weichen Linien auch vielleicht auf Schwäche deuteten, und an den Mundwinkeln ließen Grübchen und Fältchen auf Gutmütigkeit und Neigung zur Heiterkeit schließen. Er war, wie gesagt, groß und hielt sich sehr gerade, und dank der Stütze, die ihm seine hohe Halsbinde gewährte, trug er den Kopf sehr hoch. Als er die Schwelle überschritt, klemmte er ein Glas in eins seiner milden blauen Augen, und dann begann er nach einer zweiten altmodischen Verbeugung im weichsten irischen Ton, mit leisem, angenehmem Anklang an diese Mundart: »Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Mr. Clancey, und hoffe, Sie in erfreulichem Wohlergehen zu finden.«

»Ah, guten Morgen, Mr. Temple. Freut mich, Sie zu sehen. Schönes Wetter heute für diese Jahreszeit, wie? O ja, danke schön. Ich fühle mich ganz wohl. Etwas Magenbeschwerden, wissen Sie, aber daran bin ich gewöhnt. – Wie geht's selbst?«

»Ah, Mr. Clancey, ich erfreue mich einer so guten Gesundheit, als sie ein Mann meines Alters zu erwarten das Recht hat. Je ne suis ploo dong mah promière jeunesse, vous sovez – ich bin nicht mehr in meiner ersten Jugend, mein Freund, das Alter macht sich fühlbar; es geht mir wie den Blättern, ich werde gelb und dürr. Rheuma und Bronchitis machen mir viel zu schaffen, und wenn ich aufrichtig sein soll, Mr. Clancey – wenn Sie mir die unbeugsame Wahrheitsliebe verzeihen wollen, die mich zwingt, es auszusprechen – so muß ich sagen, daß diese Ihre glorreiche Republik das barbarischste und gottloseste Klima hat, das man sich vorstellen kann. Der Winter, mein Herr, ist für einen Mann meines Alters, der mit solchen Leiden behaftet ist, höchst angreifend.« Und diese Behauptung bekräftigte Mr. Temple mit einem Ausbruch des herzlichsten, melodischsten, lustigsten Lachens, als ob die Strenge des amerikanischen Winters und die Leiden, die sie ihm verursachte, ein ausgezeichneter und unwiderstehlicher Spaß wären. Auch ansteckend war sein Lachen, und Tom und Clancey stimmten ein. Dieser setzte jedoch sehr bald wieder eine ernste Miene auf. »O, Mr. Temple,« wandte er ein, »Sie übertreiben Ihr Alter ganz unerhört. Wenn man nach der Arbeitsleistung urteilt, dann möchte ich sagen, daß Sie wohl der jüngste Mann im ganzen Bureau sind.«

Mr. Temple verbeugte sich und machte eine abwehrende Handbewegung. »Was Sie da sagen,« entgegnete er, sichtlich geschmeichelt, »ist eine Liebenswürdigkeit, für die ich Ihnen außerordentlich verbunden bin. Ich versuche in der That, meine Pflicht zu thun und ein tüchtiger Beamter zu sein. Aber, mein Herr, onthre nous, muß ich eingestehen, daß die Arbeit mir widerwärtig und unangenehm ist, und wenn ich sie doch verrichte, so gut es meine bescheidenen Kräfte gestatten, so geschieht das, weil – um mich der elegantesten und ausdruckvollsten der lebenden Sprachen zu bedienen – il faut vivre, mon ami, il faut vivre, das heißt, es ist unsre Pflicht, den Lebensfunken, den der Himmel uns anvertraut hat, vor vorzeitigem Verlöschen zu bewahren. Allein ich bekenne ganz aufrichtig, könnte ich meinen Frieden mit meinem Schöpfer machen, so wäre ich gern bereit, mich morgen zum Sterben niederzulegen. J'ai épuisé lah vie, mon ami, j'ai épuisé lah vie; oder mit einfachern, aber darum nicht weniger ausdrucksvollen Worten, ich habe die Citrone ausgepreßt. Ha, ha, ha, ha!«

»Na, na, Mr. Temple, das dürfen Sie nicht sagen. Wie sollten wir wohl hier auf dem Bureau ohne Sie fertig werden? Und von wem sollten dann die Jungen Geld borgen? Es würde mich nicht im geringsten überraschen, wenn Sie noch lange genug lebten, um die Abrechnung meiner Testamentsvollstrecker zu den Akten zu nehmen. Aber um von etwas anderm zu reden, ich möchte Ihnen Ihre neue Stütze vorstellen – Mr. Gardiner, Mr. Temple – Mr. Temple, Mr. Gardiner,« und dabei machte Clancey einige dolchstoßartige Bewegungen nach den beiden Herren.

Tom verbeugte sich und wurde dafür durch eine von Mr. Temples altmodischen Begrüßungen und folgende Rede erfreut:

»Mein junger Freund! Gestatten Sie mir gütigst, Sie in dem irdischen Fegefeuer freundlichst willkommen zu heißen, wo hinfort sieben Stunden per diem zubringen zu müssen, Ihr trauriges Geschick sein wird. Ich habe alle Ursache zu glauben, daß ich in Ihnen einen ebenso liebenswürdigen als tüchtigen Helfer erhalten habe, und wünsche mir demgemäß Glück dazu. Leider aber bin ich nicht in der Lage, auch Ihnen Glückwünsche aussprechen zu können, denn, mein Herr, das Bureau des Protonotars ist ein höchst trauriger und trübseliger locus poenitentiae. Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, aus Ihrem feinen Wesen und Ihrer anziehenden Erscheinung einen Schluß zu ziehen, so bin ich nicht abgeneigt, anzunehmen, daß Sie, ebenso wie mich, begangene Sünden hierhergebracht haben. So möchte ich Ihnen, Mr. Gardiner, denn in der Sprache des unsterblichen Barden zurufen: › Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate!‹ Ich weiß nicht, ob Sie mit jener Zunge bekannt sind, die Lord Byron ebenso poetisch als angemessen ein weiches Bastardlatein genannt hat. Deshalb erlaube ich mir hinzuzufügen, daß jener Vers in verständlichem Deutsch lauten würde: ›Laßt alle Hoffnung hinter euch, ihr, die ihr hier eintretet!‹«

Darauf gestattete sich Temple einen abermaligen langen Ausbruch herzlichsten Lachens, worin Clancey und Tom, sie mochten wollen oder nicht, einstimmen mußten.

»Ich fürchte, Sie sind ein unverbesserlicher Cyniker, Mr. Temple,« sagte der Bureauvorstand, als sie sich einigermaßen erholt hatten.

Mr. Temple machte ein langes Gesicht. »Ich bestrebe mich, ein Christ zu sein, mein Freund, und unsre Religion lehrt uns gewiß, diese Welt als ein Jammerthal und alles, was ihr angehört, als eitel zu betrachten. Ich darf wohl noch hinzufügen, mein Herr, daß, wenn es in dem ganzen weiten Bereich dieses thränenreichen Jammerthals einen Fleck gibt, der noch trauriger und düsterer als der Rest ist, man diesen Fleck innerhalb des Bezirks der Anstalt finden kann, deren liebenswürdiger und tüchtiger erster Beamter Sie, mein Herr, sind.« Diese Rede begleitete Temple mit lebhaftem Gebärdenspiel und beschloß sie mit einer tiefen Verbeugung.

»Es sollte mir leid thun, wenn das der Ausdruck Ihrer wahren Empfindung wäre, aber es wird wohl nicht so schlimm sein,« entgegnete Clancey. »Wollen Sie nun Mr. Gardiner unter Ihre Fittiche nehmen und in die Geheimnisse unsres Geschäfts einweihen? Er soll sich Anfang des neuen Jahres, also Mittwoch den 2. Januar, zum Dienst melden.«

»Mit dem größten Vergnügen, Mr. Clancey. Au plaisir de vous revoir, Monsieur – Mr. Gardiner, wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen?«

In dem Vorzimmer, wo die paar Leute noch immer warteten, drohte Mr. Temple der Negerschildwache mit dem Finger.

» Eh bien, Cerberus,« fragte er, »haben Sie Ihre Zähne gewetzt und Ihr Bellen auf den wildesten Ton gestimmt?«

»Hören Sie, Mr. Temple,« erwiderte der Cerberus flüsternd, »können Sie uns nicht diesen Morgen ein Viertelchen leihen?«

»Einen Brocken für den Cerberus!« rief Mr. Temple. »Ha, ha, ha, ha!« und ließ den erbetenen Vierteldollar in die schwarze Tatze des Mannes gleiten.

Draußen im Gang legte er seine Hand in Toms Arm und fuhr nach einem einleitenden »Hm, hm« fort: »Im Vertrauen, daß Sie es mir nicht übelnehmen werden, mein junger Freund, möchte ich mir erlauben, Ihnen ein Wort der Warnung zu sagen. Es ist mir ganz klar, mein Herr, daß, was es auch für Thorheiten und Unglücksfälle gewesen sein mögen, die Sie dazu verdammt haben – der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe – mir an diesem greulichen Ort der Plage Gesellschaft zu leisten, Sie einer von denen sind, auf die in der Sprache des Lorbeergekrönten ohne Fehlgriff die große, ehrwürdige Bezeichnung ›Gentleman‹ angewendet werden kann. Und, mein Herr, ohne die geziemenden und passenden Grenzen der Bescheidenheit zu überschreiten, kann ich, wie ich aufrichtig glaube, von mir sagen: › Anch' io son pittore,‹ ich bin auch Einer. En tout cas, Mr. Gardiner, halte ich es für meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß Sie und ich die einzigen Gentlemen im ganzen Bureau sind. In der That, mein Herr, ich kann wohl, ohne zu weit zu gehen, behaupten, daß – mit Ausnahme des Herrn Protonotars selbst, der, obschon von geringer Herkunft, ein sehr gelehrter und achtbarer Beamter ist, und des Bureauvorstands, der den Vorzug einer klassischen Bildung genossen hat, wenn es ihm auch etwas an der Anmut und Feinheit eines homme du monde fehlt – ich glaube, wie ich zu bemerken mir die Freiheit nehmen wollte, ich kann mit voller Bestimmtheit behaupten, daß ich – mit den zwei Ausnahmen, die ich hervorgehoben habe – das einzige Individuum unter den fünf Dutzend und mehr bin, die auf der Zahlungsliste des Protonotars stehen, das weder Tabak kaut, noch das königliche Englisch verstümmelt. Unser gemeinsamer Vorgesetzter, Mr. Galligan, ist, wenn Sie mir meine kräftige Ausdrucksweise zu gute halten wollen, ein niedriggeborner, schlechterzogner politischer Stallknecht; in seinen hervorragendsten physischen sowohl als moralischen Charakterzügen ein Bastard zwischen einem Stier und einer Bulldogge. Die andern Schreiber, unsre Kollegen – ich bedaure, sie so nennen zu müssen – unsre Kollegen in den andern Abteilungen sind wirklich der Abschaum der Menschheit, der Unrat der Erde, im höchsten Grade niedrig und gemein. Sie werden finden, daß Ihre Umgebung aus ungebildeten Menschen besteht, und, was noch schlimmer ist, Sie werden die Erfahrung machen, daß die Mitglieder der Anwaltschaft, mit denen Ihr Dienst Sie in Berührung bringen wird, Sie ebenfalls als einen ungebildeten Menschen behandeln werden. Ein einfacher Schreiber im Protonotariat ist ein Mensch, den der lumpigste Advokat über die Achsel ansehen, anfahren und behandeln zu dürfen glaubt, wie ich keinen Bedienten behandeln würde. Stellen Sie sich vor, mein Herr, noch gestern, als ich einem Sachwalter, der mit den Regeln unsrer Geschäftsführung offenbar unbekannt war, eine kleine Gefälligkeit erwiesen hatte – ich hatte ihm geholfen, ein Gesuch um Vorladung zu einer Rechnungslegung aufzusetzen – hatte der Elende die Frechheit, mir eine Cigarre anzubieten! Das sind die Demütigungen und Verdrießlichkeiten, die hinzunehmen, Sie sich gezwungen sehen werden. C'est lah vie d'ung chieng, mon ami, c'est lah voie d'ung chieng. Und zum Schluß noch ein Wort. Unter keiner Bedingung, Mr. Gardiner, unter keiner Bedingung lassen Sie sich überreden, Geld zu verleihen. Man wird Sie von allen Seiten um Anlehen angehen, von unserm äthiopischen Freund Cerberus an bis zu unserm Vorgesetzten, Mr. Galligan, werden ›die Jungen‹, wie sie sich nennen, versuchen, Geld von Ihnen zu borgen – in Beträgen von einem Schilling bis zu fünf Pfund. Pflegen Sie die Kunst, mein Herr, die eine kurze und scharfe Silbe aussprechen zu lernen – nein! In dieser Beziehung bitte ich Sie, mich als abschreckendes Beispiel dessen, was Sie vermeiden müssen, zu betrachten. Die Unfähigkeit, nein zu sagen, ist der Fels, woran ich, wie mancher andre Würdige, Schiffbruch gelitten habe.«

Und die Steinwände des Gerichtshauses dröhnten von Temples Gelächter.

»Es ist sehr gütig von Ihnen, daß Sie mir diese Winke geben,« entgegnete Tom, »und ich werde mich bemühen, Nutzen daraus zu ziehn. – Sie sind schon lange im Amt, nicht wahr?«

»Elf lange, traurige Jahre, mon ami, elf lange, traurige Jahre! Ich trat ein beim Beginn der Herrschaft des ehrenwerten Patrik W. Shea, und obgleich ich darauf gefaßt war, beim Amtsantritt Van Blicks meinen congé zu erhalten, bin ich noch hier, wie Sie sehen. Die Gründe, weshalb ich in meiner Stellung belassen wurde, waren folgende: Am Tage nach Mr. Van Blicks Amtsantritt suchte und erhielt ich eine Audienz bei ihm, um ihm die Ansprüche auf Berücksichtigung, die ich zu haben glaubte, vorzutragen. ›Euer Hochwohlgeboren,‹ begann ich, ›ich fühle, daß das Schwert des Damokles über meinem dem Verderben geweihten Haupte hängt.‹ Darauf entgegnete Mr. Van Blick, der selbst klassisch gebildet ist und deshalb die Anspielung verstand, ohne viel Umschweife: ›Mr. Temple, Sie bleiben.‹«

»Das zeigt den Wert einer klassischen Bildung, nicht wahr?« fragte Tom.

»Das thut es ohne allen Zweifel,« gab Temple in vollem Ernst zu. »Und jetzt, Mr. Gardiner, wollen wir, wenn es Ihnen gefällig ist, einen Gang durch die verschiedenen Bureaus machen, damit Sie mit deren Lage vertraut werden.«

Der alte Herr führte nun seinen jungen Gefährten durch eine Reihe geräumiger Zimmer – alle ziemlich dicht mit Schreibern bevölkert, von denen einige in Hemdsärmeln waren – und erklärte deren Bezeichnung und Zweck: Registratur, Aktenzimmer, Inventarzimmer, Vormundschafts-, Verwaltungsabteilung, Abteilung für Verfügungen und Erlasse und so weiter. »Wenn Sie jetzt dazu aufgelegt sind, wollen wir noch den Sitzungssaal besuchen,« sagte Temple, und der Aufzug trug sie nach oben. Der Sitzungssaal war nahezu leer, nur der Protonotar, der Tom eine unansehnliche, graue, unangenehme Persönlichkeit zu sein schien, saß auf seinem Amtsstuhl und las in einem Aktenstück, während ein Rechtsanwalt, dem er nicht die geringste Aufmerksamkeit zu schenken schien, mit gerötetem Gesicht und einem großen Aufwand von Beredsamkeit auf ihn einsprach.

»Viel näher werden Sie den sehr ehrenwerten Lucius C. Van Blick im Verlaufe Ihrer amtlichen Thätigkeit hier wohl schwerlich zu sehen bekommen, Mr. Gardiner,« bemerkte Temple. »Er hält sich von allem Verkehr mit seinen Angestellten fern. Höchstens widmet er ihnen, wenn er einem auf neutralem Gebiet begegnet, ein herablassendes Nicken; meist übersieht er sie jedoch. Soviel ich weiß, war sein Vater ein Krämer.«

»Nun,« sagte Temple, als sie den Sitzungssaal wieder verlassen hatten, »möchte ich mir in meiner Eigenschaft als Cicerone den Vorschlag erlauben, daß wir unsern Rundgang mit einem Besuch in unsrer eignen besondern Marterkammer beschließen. Dort will ich Sie unserm Chef und Suzerän, Mr. Galligan, vorstellen und Ihnen einen Blick in Theorie und Praxis Ihrer Amtspflichten verschaffen.«

Die Abteilung für Buchführung nahm einen Raum für sich ein, ein kleines, von einem Fenster erhelltes Zimmer, das mit einem Schrank und drei einfachen Schreibtischen ausgestattet war. An einem der letzteren, mit den Füßen auf der Platte, den glänzenden Cylinderhut weit in den Nacken geschoben und einen Spucknapf in bequemer Nähe auf dem Fußboden neben sich, saß ein junger Mann, offenbar unter Dreißig, dessen beim ersten Blick am meisten in die Augen fallende Eigenschaft seine Größe war. Ein junger Riese, in Beziehung auf Länge, Breite und Dicke ungeheuer, rechtfertigte er durch seinen Körperbau das Bild, dessen sich Temple bedient hatte: ein Bastard zwischen einem Stier und einer Bulldogge. So hatte Temple gesagt, und in dem Augenblick, wo man ihm in das aufgedunsene, rote und glattrasierte Gesicht, mit seiner massiven Kinnlade, den dünnen Lippen, dicken Hängebacken, kleinen, wässerigen blauen Augen, der kurzen Stumpfnase, niedrigen Stirn und dem borstigen roten Haar blickte, sah man die Bulldogge. In seinem Vorhemd blitzte ein Diamant, echt oder nachgemacht, ein Papierkragen umgab seinen Stierhals, ein hölzerner Zahnstocher hing in einem Winkel seines Mundes, seine Weste war mit einer auffallenden dicken Uhrkette geschmückt, seine Beinkleider, von einem schachbrettförmig gemusterten Stoff, umschlossen seine umfangreichen Beine prall wie Tricots. Seine Erscheinung war so, daß man augenblicklich wußte, man habe ein Exemplar einer von drei Menschenklassen vor sich: einen Einbrecher, einen Preisboxer oder einen New Yorker Politiker.

Er that – nichts. Träge saß er da, mit den Füßen auf dem Tisch, langsam an seinem Zahnstocher kauend.

»Wollen Sie die Gefälligkeit haben, Mr. Galligan,« redete Temple ihn an, »mir zu gestatten, Ihnen Mr. Gardiner vorzustellen, den Herrn, der von zuständiger Seite dazu ausersehen ist, die Stellung als Hilfsschreiber des Unterbuchhalters einzunehmen.«

Ohne seine malerische Stellung zu verändern, richtete Galligan seine wässerigen blauen Augen auf Tom, reichte ihm seine naßkalte rote Hand, die schlaff war, wie ein Stück rohen Fleisches, und fragte in dem unnachahmlichen Ton, der in New York unter dem Namen Bowery bekannt ist: »Wie geht's?« Dann spuckte er in das Gefäß, dessen Stellung neben ihm erwähnt worden ist, nahm das Geschäft des Kauens an seinem Zahnstocher wieder auf und vergaß die Anwesenheit seiner Untergebenen.

»Ah, mein junger Freund,« fuhr Temple fort, »hätte der unter einem unglücklichen Stern geborne unselige Sterbliche, der in der Geschichte unter dem Namen Christoph Columbus bekannt ist, einige der Folgen voraussehen können, die seine Entdeckung dieses großen Weltteils herbeiführen würde, er hätte – die Gerechtigkeit wollen wir ihm widerfahren lassen – gewiß seine Entdeckung als tiefstes Geheimnis in seinem Busen verschlossen und diesen Weltteil in der Dunkelheit gelassen, der er ihn in einem übel beratenen Augenblick entriß. Zahlreich und mannigfach, Mr. Gardiner, sind die Anomalieen einer demokratischen Regierungsform, aber keine ist für einen denkenden Geist trauriger, als die Möglichkeit, daß un homme tel que notre chef ein Amt bekleiden kann, wie das ist, in welchem Sie ihn finden. Heureusemong il ne comprong pas la langue française, welcher Mangel an Bildung es thunlich erscheinen läßt, daß wir notre jugeniong de song charactère dong sa présence même offen aussprechen können. Er ist aus dem gröbsten Lehm geformt, mein Herr, den eine unerforschliche Vorsehung in den Kotlachen dieses Planeten abzulagern für gut gefunden hat. – Und nun, Mr. Gardiner, wollen Sie mir die Gunst erweisen, mir Ihre Aufmerksamkeit für den Zeitraum von etwa dreißig Sekunden zu schenken? Das wird hinreichend sein, die Unterweisung über Ihre Dienstpflichten zu beginnen, durchzuführen und zu vollenden.«

Mr. Temple wartete auf ein Zeichen der Zustimmung von seiten Toms, das auch erfolgte.

»Sehr schön. Alors, mon ami, der Tisch, auf den ich meine Hand lege, ist Ihr Platz; der große Folioband, der darauf liegt, enthält ein Verzeichnis der in jenem Schrank enthaltenen Dokumente. Das Innere des Schrankes ist, wie Sie sehen, in eine große Zahl von Gefachen geteilt, die mit den Buchstaben A bis Z bezeichnet sind. Wir wollen nun als Beispiel einmal annehmen, es träte ein Anwalt hier in die Abteilung und spräche den Wunsch aus, ein Schriftstück in Sachen der Abrechnung des Testamentsvollstreckers des letzten Willens eines gewissen Richard Roe, früher in der Stadt New York, jetzt verstorben, zu den Akten zu bringen. Dann ist es Ihr Amt, Mr. Gardiner, besagtes Schriftstück in Empfang zu nehmen, das Datum und die Bemerkung ›zu den Akten‹ darauf zu schreiben, dann Ihr Verzeichnis – das, wie ich mir in Parenthese zu erwähnen erlaube, von gemeinen Leuten ›Eselsbrücke‹ genannt wird – beim Buchstaben R aufzuschlagen und dort auf der ersten freien Linie in der saubersten und leserlichsten Handschrift das zu den Akten genommene Schriftstück einzutragen und dieses in dem mit R bezeichneten Fach Ihres Schrankes zu hinterlegen. Sie werden bemerken, daß jede Seite Ihres Inhaltsverzeichnisses in drei senkrechte Spalten geteilt ist. Die erste ist für den Namen des Verstorbenen bestimmt, die zweite für den Tag der Hinterlegung und die dritte für eine kurze Inhaltsangabe des Schriftstücks. Dieses kann eine Abrechnung, ein Gesuch, eine Vorladung mit Bescheinigung der geschehenen Zustellung oder eine Anmeldung sein. Zu welcher von diesen Gattungen das fragliche Schriftstück gehört, geht aus der Aufschrift des Anwalts hervor, und unsre Geschäftsordnung schreibt diese Aufschriften vor. – So habe ich Sie also in kurzen, aber, wie ich zu hoffen wage, verständlichen und klaren Worten mit dem größern und wichtigem Teil der Pflichten, die als Hilfsschreiber des Unterbuchhalters Ihnen zu erfüllen obliegen werden, bekannt gemacht. Der Rest Ihrer Thätigkeit besteht darin, daß Sie die in Ihrem Gewahrsam befindlichen Aktenstücke den Leuten, die hierherkommen und Einsicht verlangen, vorlegen. Wir wollen also zum Beispiel einmal annehmen, es komme ein Advokat, um Einsicht in Sachen der Abrechnung über die Hinterlassenschaft eines gewissen John Doe zu nehmen. Ein Zurateziehen Ihrer Eselsbrücke wird Ihnen Aufschluß darüber geben, ob eine derartige Abrechnung sich überhaupt schon bei den Akten befindet, und wenn das der Fall ist, muß sie sich im Fach D finden. Dann suchen Sie das Schriftstück hervor und übergeben es dem Rechtsanwalt zur Einsicht und versäumen nachher nicht, es wieder in das Fach zu legen, wo es hingehört.«

»Und das ist alles?« fragte Tom, nachdem er Mr. Temple für seine sorgfältige Unterweisung gedankt hatte.

»Das, mein junger Freund, ist das Alpha und Omega Ihrer Amtspflichten,« erwiderte Temple.

Ein klein wenig war Toms Stolz verwundet, als er an die rein mechanische Art der Arbeit dachte, die seiner wartete. Hier im Bureau des Protonotars, so schien es ihm, würde er keine Verwendung für seine Gaben, keine für seine Bildung finden. Jeder Schuljunge, der lesen und schreiben konnte, würde ebensogut im stande gewesen sein, wie er, die ihm zugewiesene Arbeit zu verrichten. Das war kein sehr schmeichelhafter Gedanke, denn der Aufwand an geistiger Kraft, den eines Mannes tägliche Beschäftigung fordert, bestimmt in erster Linie seine Stellung in den Augen der Welt, ebenso wie das Maß seiner Selbstachtung, wenn er von Natur zur Selbstprüfung geneigt ist. Deshalb fragte Tom mit etwas kläglicher Miene: »Das ist alles?« und einen Augenblick war sein Stolz verwundet. Aber nur für einen Augenblick. Er war für jetzt viel zu glücklich über den Besitz seiner Rose, als daß er mehr als einen vorübergehenden Gedanken für das Stechen ihrer Dornen übrig gehabt hätte.

Tom suchte Pearse wieder in seinem Geschäftszimmer auf, und die beiden jungen Leute frühstückten zusammen in einer nahe gelegenen deutschen Wirtschaft.

»Ich will dir ein Geschäftsgeheimnis anvertrauen,« sagte Pearse. »Ich habe für den Rest des Nachmittags nicht das Geringste mehr zu thun; wir können also umherlungern, bis wir es müde werden, und uns einmal gründlich aussprechen.« Es war zwei Uhr, als sie sich in der Wirtschaft niederließen, und halb fünf, als sie sich wieder erhoben. Ihre gründliche Aussprache war also auch eine sehr lange gewesen. »Nun,« fragte Pearse zum Schluß, »wie wird es mit dem Festessen bei Moretti?«

»Mir ist's recht,« antwortete Tom, »vorausgesetzt, daß du damit einverstanden bist, wenn wir auf holländische Art essen, nämlich derart, daß jeder für sich bestellt.«

»Ich sehe nicht ein, weshalb du diese Bedingung stellst, aber meinetwegen mag's auf holländisch oder patagonisch oder auf irgend eine Art, die dir gefällt, geschehen, wenn nur was daraus wird. Unter den vorliegenden Verhältnissen würden wir nicht menschlich handeln, wenn wir das Ereignis des Tages nicht feiern wollten.«

»Gut. Ich darf mir zwar keine großen Ausgaben erlauben, wie du weißt. Aber hol's der Teufel! Soll sich der Mensch denn niemals eine kleine Verschwendung gestatten? Kein Mensch ist weise, der nicht gelegentlich einmal eine Thorheit begeht.«

»So ist's recht. Du sprichst meine Empfindungen aus wie ein Phonograph. Du hast doch, nebenbei gesagt, nichts dagegen, wenn ich Miß Grickel einlade? Deine Frau kann die Anstandsdame spielen.«

»Natürlich!«

Es blieb also dabei. Auf ihrem Wege nach Beekman Place sprachen sie bei Moretti vor und bestellten sich ein besonderes Zimmer, und Moretti versprach, mit seinen eigenen geschickten Händen einige Leckerbissen für sie zu bereiten, und die Folge war, daß sie nicht nur ein besonders schmackhaftes, sondern auch ein sehr fröhliches Mahl hatten.

»Dies Bankett ist zur Feier von Mr. Gardiners Eintritt ins öffentliche Leben veranstaltet,« sagte Pearse zu Miß Lina, um ihr die Veranlassung des Festes zu erklären. »Die bürgerlichen Behörden haben schon lange das Bedürfnis seiner ausgezeichneten Dienste empfunden, aber erst jetzt ist es ihnen endlich gelungen, sie sich zu sichern. Von nun an können wir Bürger in Frieden sterben, im Vertrauen, daß unsre Hinterlassenschaftsangelegenheiten sich in den Händen eines fähigen und gewissenhaften Beamten befinden. Ich erlaube mir auf das Wohl des Hilfsschreibers des Unterbuchhalters im Protonotariat zu trinken, und mögen wir, das Volk des Staates New York, uns lange seines Besitzes erfreuen. Erheben Sie sich von Ihren Plätzen und stimmen Sie mit mir ein: Der Hilfsschreiber des Unterbuchhalters, Mr. Gardiner, lebe hoch! hoch! hoch!«

Stehend stießen sie an und leerten ihre Gläser, zum Zeichen, daß sie es ehrlich meinten.

»Und jetzt, Gardiner,« fuhr Pearse fort, »jetzt, wo du deine Laufbahn als Staatsmann begonnen hast, kann niemand wissen, wie hoch du noch steigen wirst. Im Geiste sehe ich, wie du Sprosse für Sprosse der Leiter der politischen Laufbahn erklimmst und die Wände der Kammer der Aldermen von deiner Beredsamkeit wiederhallen. Stecke deinem Ehrgeiz keine Grenzen, Thomas, und du kannst es wirklich erleben, die hervorragende Würde eines Vaters der Stadt Zu erreichen und die stolzen Abzeichen dieses Amts zu tragen, die, wie ich glaube, in einem seidenen Cylinder und einer diamantenen Busennadel besteht. Ich –«

»Hör auf, Pearse,« unterbrach ihn Tom, »die Witze fallen so leicht von deinen Lippen, daß ich mich wirklich versucht fühle, dir mit meiner Serviette den Mund zu stopfen, um es dir etwas zu erschweren. Uebrigens bist du unbewußt noch komischer, als du beabsichtigst. Ich bin zwar kein großer Redner wie Pearse, meine Damen, allein ich schmeichle mir, daß ich mich niemals des Fehlers schuldig machen würde, auf das Hauptwort ›Abzeichen‹ in der Mehrzahl das Zeitwort in der Einzahl folgen zu lassen. Wir wollen jedoch barmherzig sein und diesen grammatikalischen Schnitzer auf chemische Ursachen zurückführen. Wes das Herz voll ist, des fließt der Mund über.«

Nun lachten sie auf Pearses Kosten, und sie waren diesen Abend sehr zum Lachen aufgelegt. Niemand sagte etwas besonders Komisches, und doch gab es kaum einen Augenblick während der ganzen Sitzung, wo ein Lauscher an ihrer Thür nicht den Klang fröhlichen Lachens gehört haben würde.

»Sie scheinen sehr viel Gefallen aneinander zu finden,« sagte Rose, als sie auf ihrem Zimmer angelangt waren, »glaubst du, daß sie sich gern haben?«

»Wer sind ›sie‹?« fragte der eigensinnige Gatte.

»Das weißt du sehr wohl. Lina und Pearse.«

»Ich weiß wirklich nicht,« sagte Tom im Tone tiefsten Nachdenkens. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn du meine wohlerwogene Ansicht in der Sache verlangst, da hast du sie.«

Aber es machte ihm doch Freude, wahrzunehmen, daß in dem Augenblick, wo Roses eigene Sorge etwas leichter geworden war, ihr Interesse an der Verbindung Pearse-Lina sofort wieder erwachte.


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