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Dreizehntes Kapitel.

Grandison Mather macht Erfahrungen.


Ich werde die Geschichte unter einem nom-de-plume veröffentlichen,« hatte Tom gesagt. Das klang sehr schön und zuversichtlich, aber er wußte wohl, und Rose wußte es ebensogut, daß jetzt die große Frage kam, ob er sein Werk überhaupt veröffentlichen könne. Und obgleich keins von beiden diese inhaltschwere Frage für jetzt aussprach, dürfen wir doch bestimmt annehmen, daß sie für lange Zeit ihren Geist in erster Linie beschäftigte.

Am Abend kam Pearse. Er war im Laufe des Tages einmal im Protonotariat gewesen, um Tom dort zu sprechen, und dieser hatte ihm mitgeteilt, das »Ding« sei fertig.

»Ah, nun wirst du wohl die Gewohnheiten der civilisierten Welt in Beziehung auf Zubettgehen und Aufstehen wieder annehmen?« fragte Pearse.

»Ja, wenigstens eine Zeitlang,« antwortete Tom, und darauf gab Pearse seine Absicht kund, abends zu kommen. –

»Nun, laß mal sehen,« verlangte er, als er die Freunde begrüßt hatte.

Tom nahm ein dickes Heft von seinem Schreibtisch und überreichte es Pearse.

»Hu! Ziemlich umfangreich, wie's scheint,« bemerkte dieser.

»Ja, als Manuskript sieht's ziemlich groß aus,« gab Tom zu, »aber es ist wirklich beträchtlich kürzer als die meisten Romane – nur etwa sechzigtausend Wörter.«

»›Träume in einem Traum von Grandison Mather‹«, las Pearse das Titelblatt laut vor. »›Träume in einem Traum' ist nicht übel, aber wie kommst du auf ›Grandison Mather?‹«

»Wenn du meinem Namen ein n hinzufügst, ist es ein Anagramm von Thomas Gardiner. Wie gefällt dir das?«

»Was du sagst? – Wahrhaftig! – Sehr gut, o, das gefällt mir in jeder Hinsicht. Wenn du überhaupt ein Pseudonym anwenden willst, dann ist Grandison Mather vorzüglich.«

Er fing an, die ersten Seiten oberflächlich durchzusehen. Bald aber machte er es sich auf seinem Stuhl bequem und widmete dem Manuskript seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Augenscheinlich fesselte es ihn. Tom und Rose warteten, ohne ihn zu unterbrechen. Dann und wann Blicke austauschend, beobachteten sie ihn mit dem unruhigen, erwartungsvollen und ängstlichen Gefühl, daß ihr Erzeugnis jetzt seine erste Prüfung bestehe.

Als er bis zum Schluß des ersten Kapitels gelangt war, lehnte sich Pearse zurück, holte tief Atem und schaute mit dem ausdruckslosen, halb um Entschuldigung bittenden Lächeln eines Menschen empor, der aus tiefem Nachdenken erwacht. »Nun, spannend genug ist die Geschichte,« bemerkte er, ohne eine Frage abzuwarten.

»Meinst du wirklich?« fragte Tom lebhaft. »Hat das erste Kapitel dein Interesse erweckt? Macht es den Wunsch in dir rege, weiterzulesen? Das ist ein sehr wichtiger Punkt, wie du weißt.«

»Ganz entschieden thut es das,« entgegnete Pearse, »es bricht ja an einer sehr spannenden Stelle ab. Man ist von der ersten Seite an gefesselt, und wenn man zum Schluß des ersten Kapitels kommt, ist die Neugier im höchsten Grad erregt. Es ist eine ganz neue Verwickelung. Ich will mal sehen, was nun kommt.«

Und er nahm Kapitel II vor.

Um mich kurz zu fassen, Pearse las Toms Roman an jenem Abend von Anfang bis zu Ende durch, während der Verfasser und dessen Frau gespannt auf ihren Marterstühlen saßen, beobachteten, wie er Blatt um Blatt umschlug, auf seine gelegentlich hingeworfenen Bemerkungen lauschten, seinen Gesichtsausdruck eifrig zu ergründen suchten und auf den Augenblick warteten, wo er sein Urteil fällen würde, nachdem er das Ganze übersehen konnte. Die erwähnten Bemerkungen waren die Strohhalme, die anzeigten, aus welcher Ecke der Wind blase, und sie waren ermutigend: »Gut! – ah, bei Gott, famos! – o! – ha, ha, ha!« und so weiter.

Es war fast ein Uhr, als er das letzte Blatt hinlegte.

Tom nahm das Manuskript auf und ordnete die losen Bogen; Rose, die in einem Schaukelstuhl saß, brachte dies Möbel zur Ruhe und wurde zu einem kleinen bewegungslosen Fragezeichen.

»Nun,« begann Pearse, »ich glaube, die Sache wird sich machen.«

Weder Tom noch Rose redeten, aber ihre Gesichter sprachen deutlich: »Weiter, weiter!«

»Ihr habt gesehen,« fuhr er fort, »wie ich mich nicht davon los machen konnte, und ich glaube nicht, daß jemand die Geschichte anfangen kann, ohne das Verlangen zu fühlen, sie ganz durchzulesen. Das Interesse wird gleich im allerersten Kapitel gefesselt und bis zum Schluß rege erhalten. Es ist viel Handlung darin, damit hast du nicht gegeizt, und wenn man durch ist, fühlt man sich befriedigt. Der Schluß ist so, wie man ihn wünscht – es endigt gut, wie man zu sagen pflegt. Und das Ganze ist sehr originell. Ja, mein Lieber, es ist ein ungeheuer interessanter Roman.«

»O, wie mich das freut!« seufzte Rose, augenscheinlich mit großer Erleichterung. »Ich habe ganz dasselbe gedacht, wie Sie – daß der Roman sehr originell und interessant sei, und daß jeder, der ihn einmal angefangen hat, auch das Verlangen haben müsse, ihn durchzulesen. Allein ich fürchtete, das wäre so, weil Tom ihn geschrieben hat. Es ist mir eine große Beruhigung, wenn das, was Sie ausgesprochen haben, Ihre wahre Meinung ist.«

»Das versteht sich von selbst,« antwortete Pearse. »Ich würde es für einen schlechten Freundschaftsdienst halten, wenn ich irgend etwas darüber sagen wollte, was nicht meine ehrliche Meinung wäre. Es ist eine wirklich gute Erzählung, und das will es ja auch von vornherein sein. Ich weiß nicht, ob ich jemals etwas Derartiges gelesen habe, was mich mehr angesprochen hätte, und ich kann wohl annehmen, daß ich den Durchschnitt des Lesepublikums vertrete.«

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr du mich ermutigst,« warf Tom dazwischen. »Natürlich weiß ich, daß es kein Roman ist, der die Welt in Brand setzen wird oder etwas Aehnliches. Es ist keine tiefe Charakterstudie und wird auch seines Stils wegen schwerlich zu den klassischen Werken gerechnet werden. Aber ich glaube, es ist eine packende Erzählung – ebenso interessant, wie die Mehrzahl der Romane, die man gewöhnlich liest, und es ist natürlich ungeheuer ermutigend, daß du dasselbe denkst. – Und der Schluß hat dir also wirklich gefallen? Das letzte Kapitel? Es schien dir nicht übers Knie gebrochen, oder was man ›übereilt‹ nennt?«

»Nein, keineswegs. Ich meine, es ist gerade so, wie es sein sollte. Das Ende war da, und es war nichts mehr zu sagen. Wenn du meine aufrichtige Meinung hören willst, so will ich sagen, daß es weit besser, viel origineller ist, als ich erwartet habe. Aber sage mir doch mal, Tom, wo hast du denn den Gedanken her? Wie bist du darauf gekommen?«

»Das kam so,« begann Tom und suchte Pearse eingehend zu befriedigen. Als er fertig war, trat ein kurzes Schweigen ein.

»Und was willst du jetzt damit anfangen?« fragte Pearse endlich.

»Ich werde natürlich versuchen, einen Verleger zu finden.«

»Welchen Verleger?«

»O, das weiß ich noch nicht. Carver, – Wilmot, – Wynn, Barker & Comp. – ich weiß noch nicht, wem ich es schicken werde. Alle diese Verlagsgeschäfte geben viele Romane heraus.«

»Nun, du weißt ja, bei derartigen Geschäften spielen Empfehlungen eine große Rolle. Ich will dir was sagen, gib mir das Manuskript mit, ich will's St. Marc vorlegen und ihn veranlassen, seinen Einfluß zu deinen Gunsten zu verwenden. Ein empfehlendes Wort von ihm würde eine gewaltige Hilfe sein.«

»O, das glaub' ich schon. Aber welches Recht habe ich, Mr. St. Marc damit lästig zu fallen? Ich fürchte, er würde mich für aufdringlich halten, wenn ich, auf seine frühere Freundlichkeit fußend, eine neue erbitten wollte. Nein, er hat schon genug für mich gethan. Man darf einen Brunnen nicht trocken pumpen.«

»Nein,« stimmte Rose zu, »das geht nicht. Wir haben gar keine Ansprüche an Mr. St. Marc. Ich weiß nicht, was er von uns denken würde.«

»Na, nicht so hitzig,« widersprach Pearse. »Ich kann eure Empfindungen natürlich vollkommen begreifen, und wenn weiter nichts in Betracht käme, würde ich euch ohne weiteres zustimmen. Ich weiß aber zufällig, daß St. Marc es durchaus nicht in dem Licht betrachten würde. Das Briefchen, wodurch du ihm für deine Stelle gedankt hast, hat ihm ungeheuer gefallen, und er nimmt großen Anteil an deinen schriftstellerischen Bestrebungen. Ich habe ihm etwas von deinen unmenschlichen Arbeitsstunden und so weiter erzählt. Er würde gewiß gern jede Gelegenheit, dir unter die Arme zu greifen, willkommen heißen und sich freuen, dein Manuskript zu sehen. Außerdem würde ich es als einen mir persönlich zu erweisenden Gefallen erbitten und Sorge tragen, ihm klar zu machen, daß das Verlangen von mir ausgeht.«

»Es ist wirklich furchtbar liebenswürdig von dir,« sagte Tom, »daß du dich dazu erbietest, und es wäre für mich gewiß das größte Glück, wenn ich St. Marcs Hilfe erhielte. Und wenn du ganz sicher bist, daß das, was du gesagt hast, so ist, – ganz sicher –, daß er uns nicht für unbescheiden hallen würde –«

»Das bin ich,« versicherte Pearse, »vollkommen gewiß.«

Die Folge war, daß, als Pearse gegen zwei Uhr morgens nach Haus ging, er Grandison Mathers Manuskript unter dem Arme mit forttrug.

Am Mittwoch morgen erhielt Tom ein Briefchen von ihm, worin er schrieb:

 

»St. Marc nahm es genau so auf, wie ich Dir vorausgesagt hatte, sehr freundlich und mit großem Interesse. ›Ist es eine Liebesgeschichte?‹ fragte er. Ich sagte ja, und darauf entgegnete er: ›Sie kennen das Lied: Die alte Geschichte ward wieder erzählt, um fünf Uhr frühe am Morgen, das ist ja wohl die Stunde, in der sie Mr. Gardiner geschrieben hat, he?‹ Ich sagte wieder ja, und wir lachten herzlich. Er hat mir versprochen, das Manuskript sofort in die Hände seines Freundes Oglethorpe zu legen, der erster litterarischer Koch und Flaschenspüler für Carver & Comp. ist. Wie bald Oglethorpe sein Urteil abgeben werde, konnte er nicht sagen, aber er wollte ihn bitten, sich möglichst zu beeilen … Er meinte, er hätte es gern selbst durchgelesen, würde aber in den nächsten vierzehn Tagen nicht dazu kommen, weil er zu viel zu thun habe. Deshalb wolle er es zunächst Oglethorpe schicken und sich selbst die Durchsicht für später vorbehalten … Es ist also für jetzt weiter nichts zu thun, als den Wahrspruch der Geschworenen abzuwarten. Wenn Oglethorpe keine alte Dohle ist, wird er es verschlingen, wie eine heiße Kartoffel.

Dein Pearse.«

 

Daß Tom wieder an die Arbeit gehe, etwas Neues beginne, konnte nicht in Frage kommen, ehe das Schicksal der »Träume in einem Traum« entschieden war. Anfänglich hatte er davon gesprochen, es thun zu wollen, allein Rose hatte ein sofortiges und gebieterisches Veto eingelegt.

»Wenn der Schuster ein Paar Stiefel fertig hat,« meinte er, »fängt er sofort ein neues an.«

»Das ist ein ebenso malerischer Vergleich, wie es eine höchst wertvolle Belehrung für mich ist, für die ich dir pflichtschuldigst danke. Aber du bist kein Schuster, mein Lieber, und ich bin keine Schustersfrau.«

»Aber der Grundsatz gilt auch für mich.«

»O, um Grundsätze kümmre ich mich keinen Pfifferling,« meinte sie. »Du bedarfst der Ruhe, der Erholung, und ich ebenfalls. Ich habe mich jetzt lange genug ohne deine Gesellschaft behelfen müssen, und jetzt sollst du leben, wie andre vernünftige Menschen, bis diese Geschichte entschieden ist.«

Tom war schließlich nur ein amerikanischer Ehemann und unterwarf sich.

»Wahrscheinlich würde ich gar nichts Gescheites zu stande bringen,« tröstete er sich. »Die Ungewißheit und Spannung würden mich stören, ich habe nicht die nötige geistige Ruhe. Und was kann es überhaupt nützen? Wenn es mir nicht gelingt, für dies Buch einen Verleger zu finden, hat es gar keinen Zweck, mit der Schreiberei fortzufahren. – Schön,« sagte er laut, »wir wollen das Ergebnis unsres Versuchs ab warten.«

Wenn »Träume in einem Traum« keinen Verleger finden sollte! Diese häßliche Möglichkeit stand stets mit größerer oder geringerer Deutlichkeit vor Toms Bewußtsein. Er kämpfte hart dagegen an, daß seine Gedanken sich allzuviel damit beschäftigten, aber von Zeit zu Zeit flammte sie züngelnd und heiß empor und erfüllte seine Seele mit plötzlichem Schreck. Wenn er keinen Verleger fand, stürzte das ganze Gebäude seiner Zukunft, das er mit so viel Liebe und Mühe aufgerichtet hatte, in Trümmer. Keine Aussicht blieb ihm dann, als der widerwärtige Schreiberdienst mit seinen Demütigungen, seiner Armut und seiner furchtbaren Unsicherheit. Wenn »Träume in einem Traum« von Carver & Comp. abgelehnt werden sollte, dann, so nahm er sich vor, wollte er noch nicht verzagen, denn er entsann sich, gehört zu haben, daß mancher erfolgreiche Roman bei mehreren Verlegern Zurückweisung erfahren hatte, ehe er schließlich von einem angenommen worden war, und wenn Carver & Comp. das Manuskript mit einem Nein zurückschickten, dann wollte er es einfach bei einem andern versuchen. Aber wenn sie es alle mit einem Nein zurücksandten, eine nach der andern, alle angesehenen Verlagsfirmen des Landes? Bei dieser Vorstellung empfand er einen bohrenden Schmerz im Kopfe. Aber – aber – wenn es angenommen würde? Setzen wir einmal den Fall, Carver & Comp. erklärten sich zur Verlagsübernahme bereit. Er malte sich aus, wie die betreffende Zuschrift etwa lauten würde: »Geehrter Herr! Wir haben das Vergnügen, Ihnen mitzuteilen, daß unser Lektor sich günstig über Ihr Werk ausgesprochen hat, und –« und so weiter. Das deutliche Bild eines hübschen kleinen Bandes, in glattes rotes Leinen gebunden, mit aufgepreßtem Goldtitel stieg vor seinem geistigen Auge empor und ließ ihn bis ins Innerste wie von einem elektrischen Schlag erbeben. »Es ist beinahe gerade so, wie eine erste Liebe, Rose,« sagte er. »Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt! Liebt sie dich? Wird sie dich nehmen? Wenn sie dich liebt, wenn sie dich – o, mein Himmel! Wenn nicht, wenn sie dich abweist? – Barmherziger Gott!« So suchte er der Sache eine scherzhafte Seite abzugewinnen, aber, weiß der Himmel, es war ihm gar nicht scherzhaft dabei zu Mute. Auch versuchte er, sich dadurch auf eine Enttäuschung vorzubereiten und dagegen zu wappnen, daß er so that, als ob er gar nichts andres erwarte. »Ich zweifle nicht im geringsten, daß es abgelehnt werden wird,« erklärte er. »Ich weiß, daß die darauf verwandte Zeit einfach weggeworfen ist, und daß ich dir die mit meinen ungewöhnlichen Arbeitsstunden verbundenen Unannehmlichkeiten umsonst zugemutet habe. Jetzt, wo es fertig ist, und ich es aus den Händen gegeben habe und so daran denken kann, als ob es mich persönlich gar nichts anginge, wird es mir klar, daß es elend Fiasko machen muß. Kein Verleger wird es mit einer Feuerzange anrühren. Was meinst du?« fragte er lebhaft, natürlich mit der geheimen Hoffnung, daß sie ihm aufs allerentschiedenste widersprechen und seinen gesunkenen Mut wieder aufrichten werde. »Ja, Tom, wir können weiter nichts thun als warten und das Beste hoffen,« war alles, was sie antwortete. Ihre eigenen Empfindungen waren jetzt, wo ihr Schicksal seine Feuerprobe bestand, ohne Zweifel den seinigen sehr ähnlich. – Er hatte ein unklares, abergläubisches, halb unbewußtes Gefühl, daß es darauf ankomme, ob er Glück habe, und daß das Glück in seiner sprichwörtlichen Launenhaftigkeit sich gegen ihn erklären werde, und um es gewissermaßen in Verlegenheit zu setzen, bot er eine Wette gegen sich selbst an. »Ich wette, was du willst, Rose, daß es niemals veröffentlicht werden wird.« Aber Rose weigerte sich, die Wette anzunehmen. Und doch war er im Grunde seines Herzens eher hoffnungsvoll als besorgt. Er glaubte, der Roman sei gut, und es erschien ihm nicht wahrscheinlich, daß ein verständiger Verleger einen wirklich guten Roman zurückweisen werde. Und dann stand doch auch das ganze Gewicht von St. Marcs Einfluß dahinter. Allein, wie ich schon gesagt habe, er gab sich Mühe, sich in ein gewisses künstliches Verzagen hineinzuarbeiten, nach dem Grundsatz des Negerphilosophen: »Selig ist der Mensch, der nie etwas erwartet, denn er wird nie enttäuscht.« Auf die Gefahr hin, ihm den Makel kindischer Lächerlichkeit und Albernheit untilgbar anzuheften, will ich gestehn, daß er ein Orakel zu Rate zog und ein Vorzeichen zu erlangen suchte. Das heißt, er warf eine Münze in die Höhe mit dem Gedanken, daß Kopf Erfolg, Schrift Mißerfolg bedeuten solle. Aber Orakel sind zweideutig, die Münze rollte auf dem Fußboden hin und blieb schließlich in einer Spalte zwischen den Dielen stecken, so daß der Rand nach oben stand. Daraus ließen sich offenbar keine Schlüsse ziehen. Endlich fing Tom an, sich über die lange Zeit zu wundern, die Oglethorpe brauchte, um zu einem Urteil zu gelangen. Das Manuskript war ihm am Mittwoch dem 2. Juli zugegangen, – wenn man annahm, daß Mr. St. Marc so rasch gehandelt, als er versprochen hatte. Nach höchstens einer Woche hätte eine Antwort kommen können. Aber eine Woche, vierzehn Tage waren vorüber, die dritte Woche nahte sich schon ihrem Ende und noch nichts von Oglethorpe. Ob das ein gutes oder ein schlimmes Zeichen sei, konnte Tom nicht sagen. War der Roman für unannehmbar befunden, dann – so sollte man wohl annehmen – hätte der Leser ihn ohne Säumen zurückgeschickt. Anderseits aber lag es ebenso nahe, vorauszusetzen, daß er sich beeilen würde, sich mit dem Verfasser in Verbindung zu setzen, wenn das Buch ihm gefallen hatte. Sein andauerndes Schweigen war verblüffend; es ließ sich gar nicht enträtseln, was es bedeuten sollte.

Inzwischen gönnten sie sich die Erholung, wovon Rose gesprochen hatte. Tom, der seine Morgenstelldichein mit seiner Muse aufgegeben hatte, widmete sich seiner Frau. Sie stürzten sich keineswegs in einen Strudel von kostspieligen Vergnügungen, aber sie wußten sich die Zeit doch auf höchst angenehme Art zu vertreiben, und dies trotz ihrer Unruhe wegen des Romans. Es war Hochsommer, und die langen Nachmittage waren herrlich. Sie innerhalb der vier Wände ihres Zimmers zu verbringen, hätte geheißen, schöne Gelegenheiten ungenützt entschlüpfen lassen; wenn also die Schule da unten in der Stadt aus war, traf Tom, statt nach Hause zu gehen, mit Rose am Eingang des Centralparks zusammen, und sie schlenderten durch das frische Grün, bis es an der Zeit war, zum Mahl nach Beekman Place zurückzukehren. In dem weit geöffneten Erkerfenster zu essen, während Fluß und Himmel in der vollen Pracht des Sonnenuntergangs strahlten – rosig und golden, blaßblau, tiefgrün und bernsteinfarbig – das war, als ob man unter den Klängen einer Symphonie speiste, wie Professor Zacchanelli sagte. Nach der Mahlzeit gingen sie vielleicht hinauf nach dessen Zimmer und widmeten eine Stunde der Musik, wie am Abend ihres Einzugs vor hundert Jahren. Oft kam Pearse mit seinem Cello. Etwas später zogen sie sich, begleitet vom Cellisten und Miß Lina, in ihr eigenes Quartier zurück und verbrachten den Rest des Abends mit Plaudern und Lachen. Dann und wann wanderte das Quartett nach Terrace Garden in der 58. Straße, wo die jungen Herren einen Humpen Bier leerten, und die Damen sich mit Eis und Limonade erfrischten. Ins Theater gingen sie nicht mehr; der Samstagabend war nicht mehr ihr besonderer Vergnügungsabend. Sie meinten, die Theater müßten in diesem warmen Juliwetter unerträglich heiß sein, und jetzt, wo Tom jeden Abend frei war, lag kein Grund mehr vor, weshalb sie die Vergnügungen einer ganzen Woche in einen einzigen Abend zusammendrängen sollten.

Vom Erstaunen über Oglethorpes Langsamkeit ging Tom zur Entrüstung über.

»Verwünscht! Kann er sich nicht herablassen, mir zu sagen, ob ihm das Ding gefällt oder nicht? Das ist so recht die Art von den Kerls, denen 's gut in der Welt geht. Sie denken gar nicht daran, daß Menschen, die unten liegen, Empfindungen oder Rechte oder Anspruch auf Rücksicht und Achtung haben. Ich wette, wenn ich was andres als ein obskurer Schreiber fünfter Güte wäre, würde er mich nicht so warten lassen. Er könnte mir doch wenigstens das Manuskript zurückschicken und sagen, er könne es nicht brauchen, statt einfach gar nichts zu thun; dann könnt' ich's wo anders versuchen.«

»Er hat's nur etwas über drei Wochen in Händen, Tom. Das scheint uns natürlich sehr lange, weil wir warten und so viel für uns davon abhängt, aber in Wirklichkeit ist's gar nicht lange. Er muß es doch lesen, vielleicht wiederholt, und dann darüber nachdenken und sich ein Urteil bilden; und dann muß er auch mit den Leitern des Geschäfts darüber reden, und die müssen auch zum Entschluß kommen. Einen Monat werden wir, glaube ich, gewiß warten müssen.«

»Einen Monat! Warum sagst du nicht lieber gleich ein Jahr? Eine Woche war hinlänglich genug. Er hat doch weiter nichts zu thun, als es zu lesen und zu sagen, ob's ihm gefällt oder nicht. Meine Handschrift ist wie gestochen, und er könnte das ganze Ding in vier Stunden lesen. Du hast ja doch gesehen, wie wenig Zeit Pearse gebraucht hat. Nein, es ist einfach seine hochmütige Gleichgültigkeit gegen andrer Menschen Rechte und Gefühle. Das ist ja für Leute, die Erfolg im Leben gehabt haben, kennzeichnend. Ich mache dieselbe Erfahrung jeden Tag mit den Advokaten, mit denen ich auf dem Bureau zu thun habe.«

Dies Gespräch fand am Montag dem 28. Juli morgens statt. Tom war im Herzen verletzt und ärgerlich, während er nach der unteren Stadt ging.

Als er seinen Pult erreichte, sah er einen an ihn gerichteten Brief darauf liegen. Er erkannte die Handschrift nicht gleich, hatte aber das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Den Brief so haltend, daß das volle Licht darauf fiel, betrachtete er aufmerksam die Aufschrift und strengte sein Gedächtnis an … O, ja, ja! Es war St. Marcs Hand!

Sein Herz klopfte gewaltig, es schien Purzelbäume in seiner Brust zu schlagen, seine Haut wurde von Kopf zu Füßen eiskalt. Sich an seinen Pult lehnend, weil ihm der Atem stockte, mußte er allen seinen Mut zusammennehmen. Seine Wangen brannten, seine Schläfen hämmerten, seine Finger zitterten, als er das Schreiben endlich aufriß. Er zog einen mit St. Marcs Schriftzügen bedeckten Bogen und einen zweiten Brief hervor, dessen Umschlag in einer Ecke die gedruckte Firma »John Carver & Comp.« und außerdem Mr. St. Marcs Adresse trug.

Tom setzte sich und begann zu lesen.

 

»Nr. – West 34. Straße, New York, 26. Juli.

Lieber Mr. Gardiner!

Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen den eingeschlossenen, soeben erhaltenen Brief von Mr. Oglethorpe zu überschicken, denn wenn er Ihnen auch wehe thun wird, so ist er doch als der ehrliche Ausdruck der Meinung eines gewissenhaften und urteilsfähigen Lehrers von hohem Wert. Sie werden sehen, daß Mr. Oglethorpe keine Zeit verloren hat, Ihr Manuskript zu prüfen, und daß er wider Willen und mit Bedauern zu seinem Urteil gelangt ist. Ich habe Ihre Erzählung noch nicht gelesen, will es aber jetzt sofort thun. Eins dürfen Sie nicht vergessen: es gibt in der ganzen Schriftstellerwelt wohl keinen Einzigen, der nicht im Beginn seiner Laufbahn ebenso schmerzliche Mißerfolge zu verzeichnen hatte, wie Sie jetzt. Deshalb darf Sie dies nicht entmutigen, sondern Sie müssen fortfahren und streben und gerade aus Erfahrungen, wie Sie sie jetzt machen, Nutzen zu ziehen suchen und schließlich den Erfolg erzwingen.

Ich werde Sie benachrichtigen, sobald ich Ihr Manuskript durchgelesen habe, und dann wollen wir überlegen, ob wir es einem andern Hause anbieten sollen.

Ihr aufrichtiger
Everett St. Marc.«

 

»Oho,« dachte Tom, »ich werde mein Schiff noch lange nicht aufgeben. Oglethorpe hat abgelehnt, aber das beweist noch nicht, daß der nächste nicht annehmen wird. Wir wollen mal sehen, was Oglethorpe eigentlich sagt.«

Das schien nach Form und Inhalt ein tapferer Gedanke zu sein. Aber thatsächlich war es einfach eine Art von automatischer geistiger Reflexbewegung und hatte mit Toms wirklichen Empfindungen gar nichts gemein. Diese waren zu verwickelt und verwirrt, um sie hier auseinanderzusetzen. Ihre physischen Aeußerungen bestanden in einem Summen des Kopfes, einem Gefühl brennender, trockener Hitze in den Augen und einer eigentümlichen schmerzhaften Schwäche des Herzens.

Mr. Oglethorpes Brief lautete folgendermaßen:

 

»Nr. – Broadway, New York,
25. Juli 1884.

Mein lieber St. Marc!

Ich habe meinem Ihnen gegebenen Versprechen gemäß mich beeilt, Ihres Freundes, Mr. Mathers, Manuskript durchzulesen, und um von vornherein offen zu sein, will ich Ihnen gleich sagen, daß ich in hohem Grade enttäuscht bin, und zwar sowohl in Beziehung auf Inhalt, als auf Form. Ich kann das um so mehr frei aussprechen, als ich überzeugt bin, daß Sie vollkommen mit mir überein stimmen werden, wenn Sie es gelesen haben. Es kann darüber überhaupt keine Meinungsverschiedenheit aufkommen. Die Fehler treten klar zu Tage und sind verhängnisvoll. Ich hätte von Herzen gewünscht, es wäre anders, aber ich konnte meine Augen nicht dagegen verschließen.

Sie wissen, daß ich der letzte Mensch in der Welt bin, der überkritisch sein könnte. Alle Fehler der Technik und die Unbeholfenheit und Ungewandtheit, die in Werken von Anfängern stets zu Tage treten, hätte ich gern übersehen. Aber in diesem Falle machen die Fehler den innersten Kern ungesund und berühren die Lebenswahrheit der Erzählung, und auch der nachsichtigste Richter würde gezwungen sein, so zu urteilen, wie ich es thue. Hätte Mr. Mathers Manuskript auch nur ein einziges greifbares Zeichen geboten, woran sich Hoffnungen für die Zukunft knüpfen ließen, so wäre es etwas andres. Allein es scheint ihm ganz und gar und in erschrecklicher Weise an Geschmack, an Gefühl für richtige Verhältnisse, an der Fähigkeit, den Faden festzuhalten, kurz an all den Eigenschaften zu fehlen, die man in ihrer Gesamtheit, mangels einer bessern Bezeichnung ›schriftstellerischen Instinkt‹ nennt. Seine Verwickelung, der es nicht an einigen Spuren der Originalität fehlt, ist im übrigen vollkommen unmöglich; sein Stil schwankt zwischen den hochtrabenden Phrasen eines Sekundaners und trostloser Alltäglichkeit.

Wie gesagt, Sie werden mir vollkommen beistimmen, wenn Sie Mr. Mathers Manuskript lesen. Ich war im höchsten Grade enttäuscht, weil ich nach dem, was Sie mir mitgeteilt, mich der Hoffnung hingegeben hatte, ich würde einen neuen Stern am litterarischen Firmament entdecken und ihn der Welt zeigen können.

Mit besten Grüßen
Ihr brüderlicher
K. M. Oglethorpe.«

 

Betäubt, zerschmettert, in jeder Faser seines Stolzes gekränkt, von den Trümmern seines zusammengestürzten Luftschlosses umgeben, heiß, krank und in einer Verwirrung, daß er kaum wußte, was er that oder warum er es that, holte Tom Feder und Papier hervor und schrieb mechanisch folgende Zeilen:

 

»53 Beekman Place, 28. Juli.

Lieber Mr. St. Marc!

Ich muß Ihnen für alle Ihre Güte, die Sie mir in Beziehung auf meinen verunglückten Versuch, einen Roman zu schreiben, erwiesen haben, danken, und ich schäme mich des Verdrusses, den er Ihnen verursacht haben muß. Mr. Oglethorpe war sehr freundlich, mein Manuskript so sorgfältig durchzusehen und sein Urteil so offen auszusprechen. Ich zweifle nicht im geringsten, daß er vollständig recht hat. Natürlich habe ich von vornherein gewußt, daß das Ding erbärmlich unvollkommen war, aber ich hatte mich der Täuschung hingegeben, daß es nicht schlechter sei, als eine große Menge Romane, die gedruckt werden, und ich bildete mir ein, es sei interessant genug, um Anklang zu finden. Ich unterwerfe mich jedoch Mr. Oglethorpes Urteil darüber und sehe ein, wie groß mein Irrtum war. Es wäre zu bedauern, wenn Sie sich auch noch die Mühe nehmen wollten, es zu lesen.

Was mein Weiterarbeiten anlangt, so bin ich Ihnen für Ihre ermutigenden Worte aufrichtig dankbar, allein ich bin ziemlich überzeugt, daß es eine Verschwendung von Zeit, Papier und Tinte wäre. Hätte Mr. Oglethorpe irgend ein hoffnungsvolles Anzeichen für die Zukunft in meiner Arbeit entdeckt, dann würde ich vielleicht den Mut gefunden haben, es noch einmal zu versuchen, selbst wenn er dies noch nicht für druckreif erklärt hätte. Allein er sagt, es sei kein solches Zeichen zu finden. Er hat nicht den geringsten Beweggrund, etwas Derartiges auszusprechen, wenn es nicht vollkommen wahr wäre, und ich halte es demnach für zweifellos, daß er recht hat. Sein Brief scheint jede, auch die kleinste Spalte, durch die ein Hoffnungsstrahl dringen könnte, zu verschließen. Aus diesen, Grunde halte ich es auch nicht für der Mühe wert, den Versuch zu machen, mein Manuskript an einer andern Stelle anzubieten.

Mit nochmaligem Dank für Ihre Güte und der Bitte, mir die verursachte Mühe zu verzeihen, verbleibe ich aufrichtig der Ihrige

Thomas Gardiner.«

 

Nachdem er diesen Brief geschlossen hatte, lehnte Tom sich in seinen Stuhl zurück und starrte die gegenüberliegende Wand mit schmerzenden, ausdruckslosen Augen an. Es kam ihm nichts weiter zum Bewußtsein, als ein Gefühl dumpfen Schmerzes, als ob er an einem wichtigen Organ verletzt und ihm alles, woran ihm in der Welt etwas gelegen war, geraubt worden wäre. Hätte Mr. Oglethorpe seinen Roman einfach abgelehnt, so wäre das nicht so schlimm gewesen. Er würde ihn anderswo angeboten, einen neuen begonnen haben. Aber Oglethorpe hatte ihn mit Worten zurückgewiesen, die Toms Vertrauen in sein Können vernichteten. Kein greifbares, zu Hoffnungen für die Zukunft berechtigendes Anzeichen sei zu entdecken, es verrate einen erschrecklichen – ja, das war das Wort – erschrecklichen Mangel an Geschmack und allen den Eigenschaften, die den schriftstellerischen Instinkt ausmachen, das hatte er gesagt. Sein Brief schloß jeden Hoffnungsstrahl aus – und das Schlimmste war, Tom bezweifelte keinen Augenblick, daß Oglethorpe vollkommen recht habe.

Der ganze Tag lag vor ihm. Bis vier Uhr mußte er dort an seinem Pult in dem geräuschvollen Bureau ausharren, das heute wirklich das war, was Temple es genannt hatte, eine Marterkammer. Er meinte es nicht ertragen zu können. Die geistige Qual, die er ausstand, machte ihn fast wahnsinnig vor Verlangen nach frischer Luft und Bewegung, Bewegung, Bewegung. Auch nach Hause, zu seiner Frau zu kommen, sehnte er sich. Er würde es so viel leichter ertragen können, wenn sie an seiner Seite wäre, wenn er ihre Hand berühren, ihre Stimme hören könnte. Aber wenn er sich das Zusammentreffen mit ihr vorstellte, schreckte er zurück. Sein Stolz war so empfindlich, daß er das Gefühl hatte, als ob er die ihm widerfahrene Demütigung keiner lebenden Seele, nicht einmal seiner Frau eingestehen könne. Und doch wußte er, daß ihm, so schwer es ihm auch ankam, so hart es für die Arme sein würde, nichts anderes übrig bliebe.


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