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XXIII

»Wo ist Sibylle?« schrie Gabi auf. »Was sollte das alles heißen? Denkt ihr, ich habe nicht bemerkt, daß hier etwas los war?«

Sie sah sich fragend in dem Kreise um. Wessollek hatte Mühe, sie zu beruhigen. »Sie wissen etwas!« fuhr sie Günther Filscher an. »Sie haben ihr heute irgend etwas gesagt, was sie furchtbar aufregte!«

»Ich – ich weiß nicht.«

»Geh, Kurt! Bringe Gabi nach Hause!« entschied der Schriftsteller. »Bring Gabi nach Hause und paß auf Sibylle auf! Sie wird zu Hause sein, oder sie wird vielleicht ein wenig später kommen und euch brauchen.«

»Ich will wissen, was hier los ist!« fuhr Gabi von neuem hoch.

Wessollek und Amende warfen sich einen Blick zu. »Komm, Gabi! Es ist besser, wir sehen, wo Siby geblieben ist!« Sie ließ sich widerstrebend hinausführen.

»Gott sei Dank!« seufzte Amende auf. Er sah sich um. »Ich ahne merkwürdige Zusammenhänge. Aber wir wollen nicht hier darüber sprechen. Gehen wir in ein Café, wo uns niemand beobachtet. Ich fühle hier Blicke wie Dolche gegen uns gezückt.«

»Ich muß mich von meiner Schwester verabschieden«, sagte Dr. Durlacher und erhob sich.

»Ihre Fräulein Schwester ist fort!« Filscher sah dem Bankier bei diesen Worten scharf in die Augen.

»Fort? Aber wir wollten zusammen nach Hause fahren!«

»Das wird kaum möglich sein. Ihre Fräulein Schwester wird vielleicht in dieser Nacht gar nicht nach Hause kommen.«

Johannes Amende pfiff bei diesen Worten leise durch die Zähne. »Ich ahne merkwürdige Zusammenhänge!« sagte er nochmals.

»Und wo ist sie?« fragte der Bankier ängstlich.

»Verzeihen Sie, Herr Durlacher, aber wollte Ihre Fräulein Schwester etwa in dieser Zeit eine große Reise machen?«

Hans Durlacher sah ihn erstaunt an. »Woher wissen Sie das? Ja, sie wollte in der Tat dieser Tage abreisen. Südsee oder so, glaube ich.«

»Dann glaube ich, daß sie bereits jetzt diese Reise angetreten hat.«

»Und wieso?«

»Torner ist fort!«

»Pst, Herrschaften!« machte der Schriftsteller. »Nennt bloß hier keine Namen mehr. Hinaus, hinaus!

Eine Viertelstunde später saßen sie in einem Café zusammen. Merkwürdig, wie der Zufall sie zusammengeführt hatte. Und doch hätten sie sich über kurz oder lang begegnen müssen, weil sie in das gleiche Geheimnis verschlungen waren. Alex Schrötter hatte die Leidenschaft zwischen Torner und Hildegard Durlacher entstehen sehen. Johannes Amende war Herrn Edmund Stahl auf die Spur gekommen. Dr. Durlacher war eines der Opfer eines unerhört raffinierten Betruges geworden. Bei Günther Filscher kreuzten sich alle Fäden.

»Es ist mir alles klar«, fing der Schriftsteller die Diskussion an. »Sie, Herr Dr. Filscher, halten Erich Torner für den Verfertiger dieses ganzen sogenannten Fundes von Cati wie der zuletzt besprochenen fränkischen Madonna.«

»Es tut mir leid, hier nichts darüber sagen zu dürfen. Strengste Verschwiegenheit in allen dienstlichen Angelegenheiten ist meine wichtigste Pflicht.«

Der Schriftsteller schüttelte den Kopf. »Hier müssen Sie aber nun einmal sprechen, wenn Sie weiterkommen wollen. Wenn Ihnen daran liegt, werden wir drei Ihnen unser feierliches Ehrenwort geben, über alle Eröffnungen, die Sie uns in dieser Angelegenheit machen, absolut zu schweigen.«

Die Ehrenworte wurden gegeben.

»Ja,« fing Günther Filscher an, »Erich Torner ist der Kunstfälscher!« Er erzählte von der Entdeckung, die er in Torners Atelier gemacht, von den merkwürdigen Beziehungen, in denen Torner Jahre hindurch zu Nora Velten gestanden hatte. Alex Schrötter konnte seine Ausführungen in manchen Einzelheiten ergänzen. Dr. Durlacher erfuhr zu seinem Staunen von der Verbindung seiner Schwester mit dem Maler. Mit einem Schlage wurde ihm klar, aus welcher Quelle Hildegard es erfahren hatte, daß der Engel des Gil de Siloe gefälscht war.

»Glauben Sie, daß Ihre Schwester über die Fälschungen Torners genau orientiert war?« fragte Amende.

»Es muß wohl so sein. Anders kann ich mir ihre Warnung nicht erklären.«

»Sie haben viel Geld daran verloren?«

»Etwa hundertfünfzigtausend Mark!«

»Und jetzt?« wandte er sich an Filscher. »Was wird jetzt geschehen? Wird Ihr Museenverband etwas gegen Torner unternehmen?«

Günther Filscher zuckte die Achseln. »Der Museenverband ist keine Staatsanwaltschaft. Wir werden uns wahrscheinlich damit begnügen, die Fälschungen der Öffentlichkeit bekanntzugeben. Dabei braucht nicht einmal der Name des Fälschers genannt zu werden. Ob allerdings gerade in diesem Falle der Geheimrat schweigen wird, weiß ich nicht.«

»Und Sie sind ganz fest davon überzeugt, daß Erich Torner der Fälscher ist?«

»Ich halte den Beweis für erbracht!«

Amende wiegte den Kopf hin und her. »Nein«, sagte er überraschend. »Sie irren sich. Torner ist nicht der Fälscher. Wir haben alle in einem kleinen und sicher unzureichenden Abbild diese Madonna gesehen. Wer derartige Arbeiten in größerer Anzahl ausführt, kann unmöglich noch nebenbei ein volles Lebenswerk, wie es von Torner vorliegt, aus dem Handgelenk schaffen. Es würde voraussetzen, daß diese modernen Arbeiten heruntergepatzt sind. Aber über den künstlerischen Ernst, der hinter Torners offiziellen Arbeiten steht, kann für mich gar kein Zweifel bestehen. Torner wäre der größte Genius aller Zeiten, wenn er das fertigbrächte!«

»Das habe ich mir auch gesagt«, entgegnete Filscher. »Und doch sind die Beweise zu überwältigend.«

»Nun, es ist Ihre und Ihres Geheimrats Sache!«

Als sie sich in übernächtiger Stimmung an der Gedächtniskirche verabschiedet hatten, fühlte Filscher auf einmal den Bankier hinter sich herkommen. »Begleiten Sie mich in meine Wohnung!« bat er. Seine Schultern waren zusammengesunken, die Augen irrten tief in den Höhlen. Dr. Durlacher war an der äußersten Grenze seiner Kraft. Die Ereignisse der letzten Nacht hatten ihm den Rest gegeben. Die Flucht seiner Schwester wog vielleicht noch schwerer als der Verlust des Geldes.

Sie gingen die Treppe mit den Löwenköpfen in die Höhe. Günther Filscher dachte daran, daß hier vor wenigen Tagen Sibylle hinaufgestiegen war. Was würde nun werden? Vielleicht sah er sie niemals mehr wieder! Als er vor dem Engel des Grabmals stand, gab es einen Augenblick, in dem er von seinem Gefühl überwältigt zu werden fürchtete. Die Spannung der letzten Tage war zu groß gewesen. Er hatte den größten Betrug der Kunstgeschichte aufgedeckt! Aber es war keine Freude mehr dabei. Zu tief hatte er in Sibylles Leben eingegriffen. Da mußten noch unerklärte Zusammenhänge zwischen ihr und Torner bestehen.

Sie saßen in den schweren Sesseln. Die Mokkamaschine brodelte auf dem Ebenholztisch, der von Elfenbein- und Perlmuttintarsien schimmerte. Die alten und seltenen Skulpturen, die goldenen Stickereien, die Altarschreine und Monstranzen, die verdunkelten Bilder vergangener Jahrhunderte umstanden ihr Gespräch, während hinter dem handgeschmiedeten Lettner die ewige Lampe ihr schweres Licht über den Engel strömte.

Hans Durlacher erzählte von sich. Zum erstenmal, seit er der Sammlerleidenschaft erlegen war, sprach er von sich, und Günther Filscher hörte ihm zu, obwohl ihm die Müdigkeit bleischwer in den Gliedern lag. Aber wer konnte in dieser Nacht schlafen! Und Sibylle hatte in dem gleichen Sessel gesessen.

»Sie hätten auch die fränkische Madonna für eine halbe Million gekauft?« fragte er.

»Ja, ich hätte sie gekauft, um endlich alle Grenzen einzureißen. Der Engel des Grabmals zwang mich zu mancherlei Einschränkungen, aber das konnte noch nicht alles sein. Ich hatte das Verlangen, geradezu meine Existenz aufs Spiel zu setzen. Gerade das wollte ich. Es schien mir im Sinn dieser gotischen Werke zu liegen, die ich über alles liebe. Einmal wollte ich davon fort, zur Mingperiode etwa. Ich blieb bei der Gotik, sie hatte mich völlig ergriffen. Es ist eine Flucht aus der Zeit darin, die mich unwiderstehlich fortriß.«

Nach einer Weile fuhr er mit seiner leisen Stimme fort. »Es ist vielleicht dasselbe Bedürfnis, dem jetzt meine Schwester mit ihrer Reise gefolgt ist. Aber meine Schwester wird wohlbehalten von dieser Reise zurückkehren, und auch mich hat im letzten Augenblick etwas zurückgerissen. Vielleicht ist es unser Verhängnis, daß wir uns nicht verlieren können.«

Immer hielt zu diesen Gesprächen der Engel die ernste Totenwache. Manchmal schlief einer von ihnen für eine halbe Stunde ein. Die Grenzen von Wachen und Träumen schienen in diesem Zimmer ausgelöscht. Das gotische Taufbecken war voll von Asche und Zigarettenresten, von denen ein scharfer und unangenehmer Geruch aufstieg. Die kleine Mokkamaschine aus Kupfer war dreimal gefüllt worden. Das Tageslicht quoll grau durch die Fenster. Es war gegen halb neun, als Durlacher aufstand und das Licht abdrehte. Nur der Schein der ewigen Lampe spielte hinter dem eisernen Blumengerank.

»Ich muß bei mir anrufen!« fuhr Filscher auf.

»Ihr Dienst beginnt um neun?«

»Um neun oder um elf. Es ist gleichgültig, ich muß nur zu finden sein.«

»Der Apparat ist gleich an der Tür im Flur!« Hans Durlacher war so müde, daß er sich nicht entschließen konnte, aufzustehen. Plötzlich schreckte er auf. »Hallo, was haben Sie?«

Filscher hatte am Telephon einen heftigen Ruf ausgestoßen und verlangte dringend nach einer neuen Nummer. Er wehrte Durlacher, der auf den Flur hinausgetreten war, mit der Hand ab. Der Bankier konnte aus seinen Worten nicht klug werden, aber in dem aufgedrehten elektrischen Licht sah er, daß Filscher aschfahl geworden war.

»Was ist los?« fragte Durlacher erschrocken, als er Filschers flimmerndes Auge sah.

»Es ist jemand ermordet worden! Der Kunsthändler Schabrack ist vor einer Stunde ermordet in seiner Wohnung aufgefunden!«

»Um Gottes willen!«

»Ich bin als Kunstsachverständiger der Mordkommission zugeteilt, die gleich in Schabracks Wohnung kommt. Was sagen Sie dazu?«

Sie wurden beide von demselben Gedanken gepackt. Vor wenigen Stunden noch hatten sie gesehen, wie Schabrack sich mit seinem watschelnden Gang durch den Saal schob. Jetzt lag er ermordet in seiner Wohnung! Torners plötzlicher Abgang und die lange vorbereitete Reise fiel ihnen ein.

»Ich muß bei meiner Schwester anrufen!«

Durlacher rief die Dahlemer Villa an. Der Diener meldete sich. Man hatte das Fräulein bisher weder bemerkt noch vermißt. Allerdings wären die Koffer aus dem Flur verschwunden.

»So klopfen Sie an ihr Zimmer, zum Donnerwetter!«

Sie warteten eine Weile schweigend. Unendlich langsam tickte die bunte Barockuhr in ihrem aufgeplusterten Porzellangehäuse. Ihre Zeiger wateten wie im Sande. Drei Minuten, fünf vergingen.

»Ist Herr Doktor noch da?«

»Jawohl!«

»Das gnädige Fräulein ist abgereist und hat einen Brief an Herrn Durlacher hinterlassen.«

»Danke!«

Die beiden standen in dem ungewissen Licht des Korridors. Durch die offenstehende Zimmertür drang das Tageslicht herein. Auf einmal fühlten sie, daß sie noch im Frack waren. Die Hemden waren zerknittert und die Lackschuhe brannten an den Füßen.

»Abgereist!« sagte Durlacher kurz. Sie sahen sich an. Zwei Menschen jagten in diesem Augenblick im Expreßzug oder im Auto in die Welt hinaus, ein dritter lag ermordet in seiner Wohnung. Auf eine dunkle Art schienen sie an den Ereignissen teilzuhaben.

»Ich muß schnell nach Hause, mich umziehen.«

»Was werden Sie machen?« fragte Durlacher ängstlich. Er dachte an seine Schwester. Ob die alles wußte?

Filscher ging schon die Treppe hinunter. Die rote Schnur glitt heiß durch seine Hände. Draußen fiel ein feiner kalter Regen, der Wind pfiff um die Ecken. Filscher mußte zwei Minuten im Sturmschritt zurücklegen, ehe er eine Taxe fand. Es war fast neun Uhr. Spätestens um zehn mußte er im Nordosten sein.

Es war fünf Minuten vor zehn, als sein Auto vor dem Haus hielt. Er sah es zum erstenmal. Um die Ecke herum befand sich die Kunsthandlung. Schabrack konnte von seiner Wohnung über den Hof zu den Geschäftsräumen gehen. Auf den Briefbogen der Handlung und im Telephonbuch war gewissenhaft neben der Geschäftsadresse auch die Privatwohnung angegeben, aber niemand wäre je auf den Gedanken gekommen, Schabrack in seiner Wohnung aufzusuchen. Man fand ihn tagsüber in dem kleinen Hinterzimmer, das zwischen die luxuriös ausgestatteten Ausstellungsräume eingeklemmt war.

Filscher hatte erwartet, daß das Haus von einer Menschenmenge umlagert sein würde, aber es lag unbeachtet in der langen Reihe ähnlicher Häuser. Unaufhaltsam flutete der Verkehr. Wagen, Elektrische, Autobusse donnerten vorüber. Manchmal kreischte eine Bremse wie ein verwundetes Tier auf. Das jagte vorbei, vorwärts. Die Wohnungen in dieser Gegend waren stille Dschungelverstecke. Ein Verbrecher brauchte nur auf die Straße herauszutreten, und eine fremde Welt nahm ihn auf und trug ihn weiter.

Innen wartete ein Polizeibeamter und kontrollierte den Ausweis.

»Sind die Herren von der Kommission schon da?«

»Die Mordkommission ist seit anderthalb Stunden da.«

Filscher ging die Treppe in die Höhe. Es war eine wackelige Holztreppe ohne Absätze. Durch ein Fenster konnte man in den Hof sehen. In einer Ecke stand eine alte Linde mit einer Holzbank. Sonst war jeder Quadratmeter für hölzerne Schuppen, Verschläge, einige Lastautos, Stapel von Kisten ausgenutzt. Durch eine Toreinfahrt auf der hinteren Seite sah man ein Stückchen Rasen, ein kleines Petersilienbeet und einen Stachelbeerstrauch. An diesem Garten von zwei Quadratmeter Umfang hatte Schabrack vorübergehen müssen, wenn er zu seiner Kunsthandlung wollte.

Oben auf der Treppe fand Filscher das Messingschild mit dem Namen Schabrack. Aus der Erzählung Amendes wußte er, daß eine Etage höher »Peiser« wohnte. Man würde die Polizei auf die Beziehungen zwischen Schabrack und Peiser aufmerksam machen müssen, fiel ihm ein.

Die Wohnung Schabracks war wie gewöhnlich geschlossen. Niemand konnte ahnen, daß hinter dieser Tür ein Ermordeter lag. Filscher klingelte. Ein Schupomann öffnete und ließ sich die Legitimation vorzeigen. Die Herren der Kommission waren im Wohnzimmer. Filscher stellte sich vor. Fünf oder sechs Herren unterbrachen ihr leise geführtes Gespräch. Der Untersuchungsrichter nickte ihm kurz zu. Ein Polizeirat machte den Kunstsachverständigen mit den Räumlichkeiten und dem Befund bekannt.

»Es soll in diese Sache eine Kunstfälschergeschichte hineinspielen?« fragte er.

»Man hat eigentlich noch nichts herausbekommen«, sagte Filscher verlegen.

»Immerhin, es wird Anhaltspunkte geben!«


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