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XX

Die Rede des Professors bedeutete für sie beide eine Qual und eine Erlösung zugleich. Sie waren in einem Gespräch unterbrochen worden, dessen Ziel mit dunkler Gefährlichkeit reizte und vor dessen Fortsetzung sie sich dennoch fürchteten. An den Tischen hörte man dieser, der vierten Rede nicht mehr mit voller Aufmerksamkeit zu. An den unteren Enden der Tafel wurde die Unterhaltung mit Flüsterstimme fortgesetzt. Einige Vorlaute machten mokante Bemerkungen. Von oben wurde Ruhe verlangt. Von manchen Plätzen stieg bereits Zigarettenrauch auf. Man hatte den Braten hinter sich. Professor Ambrus hatte entschieden keinen rednerischen Erfolg.

»Sie haben mich in den letzten Wochen öfters gesehen?« fragte Filscher einmal verstohlen hinüber.

»Ja«, sagte Sibylle, winkte ihm aber ab. Sie tat, als ob sie dem Redner zuhören wollte, aber er bemerkte, daß sie die kleinen Blumen, mit denen die Tafel geschmückt war, zwischen den Händen zerrieb.

»Ich habe Sie jeden Tag gesehen!« flüsterte sie ihm plötzlich überraschend zu, verhinderte aber mit einer hastigen Handbewegung seine Erwiderung.

Er versuchte der Rede zu folgen. Ambrus ordnete Torners Schaffen kunstgeschichtlich ein. Er zog eine Linie von Marées her, was den Angesprochenen sichtlich nervös machte. Auch Filscher mußte für einen Augenblick lächeln. Der Redner analysierte das Bild von der Akademieausstellung, jenen merkwürdigen Akt ohne Kopf, der den meisten noch frisch im Gedächtnis war, und suchte an diesem Gemälde Torners Schaffen begrifflich zu fassen.

»War das alles falsch?« fragte Sibylle ihn, als der Professor geendet hatte. Sie wollte etwas Gleichgültiges, Fernliegendes sagen, weil sie die Spannung nicht mehr ertrug.

»So ziemlich.«

In diesem Augenblick beugte sich ein dunkler Herr mit einem klugen Affenkopf schräg über den Tisch.

»Fräulein Mareks, ist Wessollek hier?« fragte er.

Sibylle zeigte mit der Hand hinüber. »Dort sitzt er mit meiner Schwester!«

»Wissen Sie vielleicht, ob Johannes Amende gekommen ist? Ich habe ihn noch nicht sehen können.«

»Wessollek hoffte, daß er kommen würde. Er ist jedenfalls seit gestern von seiner Reise zurück. Gabi hat ihm noch eine Einladung schicken lassen.«

»Aber gesehen haben Sie ihn noch nicht?«

»Ich kenne ihn gar nicht. Ich weiß nur, daß er ein Freund von meinem Schwager ist.«

»Ah, danke sehr!« Der Herr mit dem klugen Affenkopf zog sich zurück.

»Wer ist das?« fragte Filscher.

»Der Pianist Schrötter. Alex Schrötter!«

»Und Amende? Ist das der Schriftsteller Johannes Amende?«

»Ja. Aber ich habe noch nie etwas von ihm gelesen.«

»Sie haben bemerkt, daß ich Sie verfolgte?« versuchte Filscher den Faden wieder aufzunehmen.

Wieder wurden sie unterbrochen. Filscher spürte eine leichte Berührung an seiner Schulter. Er fuhr herum. Dr. Durlacher stand vor ihm.

»Verzeihen Sie«, sagte der Bankier und stellte sich vor. »Es hat mich sehr interessiert, was Sie vorher in Ihrer Rede gesagt haben. Sie erwähnten einige spanische Plastiker. Darf ich fragen, wie Sie gerade auf diese kamen?«

»Guten Tag, Herr Dr. Durlacher«, unterbrach Sibylle und reichte ihm die Hand. »Wir haben uns heute noch nicht begrüßt.«

»Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein! Ich dachte, Sie wären mir böse.«

»Durchaus nicht! Ihr Fräulein Schwester sieht zu uns her!« Sibylle winkte mit der Hand.

Auf einmal hatte Günther Filscher die Empfindung, als ob Sibylle eine Unterhaltung zwischen ihm und Herrn Durlacher verhindern wollte. Er spürte ein Atmen hinter dünnen Wänden, vor denen er stand. Er war der Lösung nahe, ganz nahe. Mit jedem Wort berührte er geheime Zusammenhänge, und irgendwo klirrte es leise.

»Das Eis wird gerade bei Ihnen gereicht!« hörte er Sibylle sagen. »Ich an Ihrer Stelle würde schleunigst an meinen Platz zurückgehen.«

Dr. Durlacher wurde rot. Er verbeugte sich. »Wie Sie befehlen, gnädiges Fräulein, aber Herr Dr. Filscher wird vielleicht nachher geneigt sein, mir eine kurze Unterredung zu gewähren.«

»Aber bitte!« sagte Filscher. Er sah dem Bankier nach, der sich mit schleppenden Schritten entfernte, die Augen eingesunken unter den vorspringenden Stirnknochen, das erloschene Gesicht um eine Schattierung blasser. Sibylle nahm gerade Eis, sie schien völlig damit beschäftigt zu sein.

»Weshalb wollen Sie nicht, daß ich mit Herrn Durlacher spreche?« fragte er vorsichtig.

»Meinetwegen können Sie mit ihm sprechen, soviel Sie wollen. Ich finde ihn nur furchtbar unsympathisch.«

Das war völlig in einem schnippischen Jungmädchenton gesagt, aber Filscher merkte auf einmal an ihren Augen, daß sie sich mit Mühe zurückhielt, nicht in Weinen auszubrechen.

»Ich habe Sie aber vorgestern abend mit diesem Ihnen unsympathischen Mann zusammen gesehen«, fuhr er schonungslos fort.

»Wie gut Sie aufpassen! Ja, ich fuhr nach dem Theater zu ihm, weil er mir etwas bei sich zeigen wollte.«

»Den Engel des Grabmals!« sagte er geradeheraus und sah sie scharf an.

»Ja, Dr. Durlacher hatte sich eine wunderbare spanische Plastik gekauft. Er wollte sie mir zeigen.«

»Hauptsächlich wohl wegen der Ähnlichkeit mit Ihnen?«

»Ja, er behauptete, daß dieser Engel mir ähnlich sähe. Ich fand die Ähnlichkeit nicht groß.«

»Sie ist immerhin beträchtlich, da Sie – –Ihrer Frau Mutter sehr ähnlich sind«, sagte er. Er wollte Sibylle weiter scharf ins Auge sehen, aber plötzlich schämte er sich seiner Rolle und schlug die Augen nieder.

»Meiner Mutter sieht die Plastik allerdings sehr ähnlich«, sagte sie zögernd.

»Die heilige Katharina, die Herr Durlacher besitzt, ebenfalls!«

»Ja.«

»Sie kennen vielleicht auch die andern Stücke aus dem Fund von Cati?«

»Ich – – habe einige Abbildungen gesehen.«

»Diese merkwürdige Ähnlichkeit liegt bei allen diesen Figuren vor. Finden Sie es nicht auch?«

»Man kann wohl von einer gewissen Ähnlichkeit sprechen.« Plötzlich schlug sie die Augen zu ihm auf. »Was wollen Sie eigentlich von mir?«

Sie saßen inmitten der geräuschvollen Tafel wie auf einer einsamen Insel. Selbst ein guter Beobachter konnte von dem Kampf zwischen ihnen nichts bemerken. Für ihre Tischnachbarn waren sie ein Paar, das sich krampfhaft und ruckweise unterhielt.

»Ich wollte Sie kennenlernen«, sagte er verlegen.

»Nein, Sie wollen ja etwas anderes. Quälen Sie mich doch nicht so!« Sie stieß die Worte heraus.

In diesem Augenblick wurde die Tafel aufgehoben. Zwischen das Stühlerücken und das angeschwollene Geräusch der Gespräche hinein sprach Sibylle einige Worte, die er nicht verstand.

»Wie bitte? Wirklich, ich habe Sie nicht verstanden!«

Sie war bleich geworden und schüttelte den Kopf. »Es war Unsinn, was ich sagte. Gut, daß Sie es nicht verstanden haben.«

Er reichte ihr den Arm und führte sie, dem allgemeinen Strom folgend, fort. In den Gesellschaftsräumen waren kleine Kaffeetische gedeckt. Die bekannten Gruppen bildeten sich langsam zurück. In ihrer Ecke fanden sich Kuhnens und ihr Kreis zusammen. Erich Torner und seine Frau kamen mit dem Ministerialrat angegangen. Alex Schrötter hatte sich zu Fräulein Durlacher gefunden und sprach auf sie ein. Der Kunsthändler Schabrack kam mit einer alten Theaterberühmtheit vorbei. Günther und Sibylle ließen sich treiben. Keines wagte zu sprechen, und doch war es, als ob eine unsichtbare Macht sie zusammenhielt.

»Verzeihen Sie,« sagte er endlich mit einem plötzlichen Entschluß, »Sie halten mich für Ihren Feind. Sie nehmen an, daß ich einen Menschen, der Ihnen nahesteht, bekämpfe. Wenn Sie es wünschen, verabschiede ich mich jetzt und sehe Sie nie wieder.«

Sie stand unschlüssig vor ihm. »Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte sie nach einer Weile zögernd und sah ihn von unten herauf mit großen Augen an. »Glauben Sie mir, es ist alles ganz anders, als Sie annehmen. Weshalb sind Sie nicht offen?«

Ehe er antworten konnte, kam Professor Ambrus an ihnen vorüber und berührte seine Schulter. »Einen Augenblick, mein Lieber!« Es war, als schnitte ein Messer sie auseinander. »Störe ich?« fragte Ambrus. »Um Gottes willen!«

In diesem Augenblick bemerkte Filscher zum zweitenmal, wie sich Torners und Fräulein Durlachers Blicke quer durch den Saal trafen. Und dann sah er Torner langsam dem Ausgang zustreben. Mit einem seltsamen Lächeln um die Lippen ging der Maler hinaus. Filscher war gespannt, ob Hildegard ihm folgen würde. Noch stand sie im Gespräch mit dem Pianisten zusammen. Die Szene spielte sich hinter dem Rücken des Professors ab. Der bemerkte an Filschers gespanntem Gesicht, daß hinter ihm etwas vorging, und wandte sich mechanisch um. Aber er sah nur noch, wie Fräulein Durlacher sich von Alex Schrötter verabschiedete und hinausging. Das alles spielte sich in wenigen Sekunden ab.

Ob Sibylle etwas bemerkt hatte? Ihre Blicke waren ebenfalls nach der Tür gerichtet. Ihre Augen schauten aufmerksam, als müßten sie den Vorgang sich einprägen, und dann ging ein merkwürdiges Lächeln über ihre Züge, schmerzlich und verachtend zugleich.

»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« fragte der Professor nochmals.

Filscher fühlte, wie Sibylles Augen an seinen Lippen hingen. Auch sie hatte Erwartungen an dieses Zusammensein geknüpft, und nun hatten sie kaum angefangen, miteinander zu sprechen.

»Dort sitzen meine Geschwister«, fiel ihr die Lösung ein. Sie zeigte auf einen nahen Tisch. »Kommen Sie nachher dorthin?« Ihre Frage war wie eine leise Bitte. »Ich möchte Sie sprechen!«

»Ja!« antwortete er und sah ihr nach, wie sie sich zu den andern setzte. Er fühlte, daß die Entscheidung kam.

»Tja«, fing der Professor an. »Die Herren Maler haben sich über meine Rede aufgeregt. Was sagen Sie dazu, Verehrtester?«

»Darum will ich Feindschaft setzen zwischen dem Kunsthistoriker und dem Künstler«, variierte Filscher. Am liebsten hätte er Ambrus den Rücken zugekehrt. »Ich kann mir denken, Herr Professor, daß Ihr Vergleich mit Hans von Marees den Malern nicht gefallen hat.«

»Nein, gar nicht hat er ihnen gefallen, obwohl gewisse Vergleichsmomente einleuchten sollten. Ich verglich, wie erinnerlich, Marées abgeschnittene Bäume und Tierleiber mit jenem Aktbild Torners, bei dem einfach der Kopf fortgelassen ist. Ein sehr ehrenvoller Vergleich, dünkt mich.«

»Gewiß!«

»Und nun hat mir unser verehrter Jubilar vor einigen Minuten ein merkwürdiges Photo zugesteckt. Bitte, sehen Sie!«

Er zeigte dem Assistenten eine kleine Photographie. Sie stellte jenes Aktbild, aber mit dem richtigen Kopf, dar, genau, wie es Filscher in Torners Atelier hinter dem Vorhang gesehen hatte.

»Was soll das, Bester?«

Filscher starrte verdutzt auf das Blatt. Im Augenblick überschaute er den Zusammenhang. Von diesem Bild schlug sich die Verbindung zu Torners Fortgang. Er begriff, daß Torner nicht nur dieses Fest verlassen hatte, sondern Berlin, vielleicht Deutschland, vielleicht sein ganzes vergangenes Leben. Und jenes Fräulein Durlacher war mit ihm gegangen! In dieser kleinen Photographie, die er dem Professor gegeben hatte, brach Torner die Brücken hinter sich ab. Er warf sein Geheimnis der Gesellschaft vor die Füße.

»Was soll das, Bester?« fragte der Professor noch einmal.

»Kennen Sie dieses Gesicht nicht? Es ist das Gesicht, das sich auf allen Plastiken des Fundes von Cati wiederholt!«

Der Professor sah erstaunt auf das Bild. »In der Tat!« sagte er. »Es ist das gleiche Gesicht! Und was ist daraus zu schließen?«

»Daß die sämtlichen Stücke des Fundes von Cati gefälscht sind und daß Torner der Fälscher ist!«

»Um Gottes willen! Ich habe mich sehr für die Echtheit dieser spanischen Stücke eingesetzt!« rief der Professor aus.

»Vielleicht sind diese Fälschungen Torners echteste Arbeiten!«

»Wie das?«

»Weil er in diesen Arbeiten etwas von sich mitteilte, was er sonst ängstlich zu verschweigen suchte. Hinter der fremden Maske konnte er sich vielleicht am unmittelbarsten aussprechen.«

Das scharfe Faungesicht des Professors bekam einen hilflosen Ausdruck. »Es ist da ein Unterschied in den Generationen«, sagte er. »Ich verstehe nicht einmal, was Sie sagen. Es sind doch Fälschungen!« Er ging kopfschüttelnd ab.

Günther Filscher sah ihm nach, wie er durch dieselbe Tür verschwand, durch die vor wenigen Minuten Erich Torner seinen Weg ins Freie genommen hatte. Vielleicht konnte der Professor unten das Auto noch fortfahren sehen.


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