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XI

In Haßfurt (in Unterfranken) verließ der Schriftsteller Johannes Amende den D-Zug, schleppte seinen Koffer mühsam die Treppe hinunter und auf der andern Seite wieder in die Höhe, um die Lokalbahn nach Hofheim zu erreichen, die in zehn Minuten abgehen sollte. Er hatte den Koffer nicht aufgegeben und vertraute ihn auch nicht dem Gepäckträger an, weil ganz obenauf, über seinem zweiten Anzug und der Holzfällerjacke, die erste Hälfte seines neuen Manuskripts eingepackt war. Die Arbeit eines halben Jahres, deren Verlust ihn mit einer wirtschaftlichen und geistigen Katastrophe bedrohen konnte. Johannes Amende liebte die Seitentäler des fränkischen Gebirges, und so fuhr er auch jetzt für ein oder zwei Wochen hinauf, um in einem Gebirgsdorf der sogenannten Haßberge seine angefangene Arbeit zu fördern und womöglich zu beenden, obwohl die Jahreszeit schon vorgeschritten war und der Kamm der Berge bereits in frischem Schnee glänzte.

Die drei Männer, die von Berlin an in seinem Abteil gesessen hatten, schienen denselben Weg zu nehmen. Auch sie trugen ihre Koffer zu dem Hofheimer Zug hinüber. Es gab nur einen halben Wagen zweiter Klasse. So kam Amende wieder mit den drei Männern zusammen. Der eine, ein großer stämmiger Vierziger, mit dicken schwarzen Augenbrauen, die wie ein hochgerutschter Schnurrbart aussahen, polterte entweder mit einer dröhnenden Stimme Witze und Erlebnisse heraus oder knurrte böse vor sich hin. Amende hätte sich über diese Erscheinung nicht gewundert, wenn die Kleidung des Mannes mit ihrer soliden Eleganz nicht zu seinem Gebaren in einem seltsamen Gegensatz gestanden haben würde. Amende wußte nicht, was er aus diesem Mann machen sollte. Seine Begleiter, die ihn Stahl nannten, schienen ihm unterstellt zu sein. Es war ein großer Schlacks von vierundzwanzig Jahren, dessen Wasserscheitel sich mit zwei Wirbeln gegen den Kamm sträubte, und ein kleiner stämmiger Dreißiger, über dessen Stirn eine breite Narbe lief.

Eigentlich hatte Amende seinen Fensterplatz schon belegt, aber der kleine Stämmige mit den krummen Beinen drängte ihn ziemlich brüsk fort und verstaute den bereits auf den Platz gestellten Koffer ins Gepäcknetz. Dem jungen Schriftsteller schien es nicht geraten, mit den drei jungen Leuten anzubinden, und so setzte er sich wortlos in die andre Ecke.

Der Zug schob sich in idyllischer Lässigkeit durch das breite Wiesental. Der Nebel hing in grauen Fetzen von den Waldbergen. Dörfer lagen wie ausgegossen in den Geländefalten. Manchmal leuchtete von den Bergen in der Abendsonne eine alte Schloßruine oder eine weiße Kapelle herüber. Alle Viertelstunden ruckten die Bremsen an, und man hielt vor einem kleinen Bahnhof. Nach fünf Stationen schienen die Männer sich zum Aussteigen zu rüsten. Amende bemerkte, daß sie das gleiche Reiseziel wie er hatten. Er zog seinen Mantel an und stellte sich in den Gang. Immer bekannter wurde ihm der kleine Weg, der neben dem Bahnhof herlief. Er besann sich auf einzelne Sträucher und Baumgruppen, zu denen in den vergangenen Jahren seine einsamen Wanderungen gegangen waren. Hier traten die Berge näher zusammen und schienen das kleine Dorf fast zu erdrücken. Oben in der dunklen Waldkuppe lag, von Nebeln fast verhüllt, Maria in der Scharte, die kleine Waldkapelle, die er schon um ihres Namens willen liebte. Einige Menschen standen hinter dem Staketenzaun des Bahnhofs. Er erkannte die Magd des Gasthofs, die auf seine Anmeldung gekommen war, um ihm den Koffer zu tragen.

Er ließ die Männer aussteigen und winkte ihr durch das Fenster zu. Damit eröffnete er gewissermaßen seine Ferientage. Mit einem glücklichen Lachen reichte er den Koffer über den Zaun und ging selbst langsam zur Sperre, um seine Karte abzugeben. An der Seite der Dorfstraße gab es einen breiten trockenen Rand, auf dem die Magd ihren kleinen Karren bequem hinter sich herziehen konnte. Sie gingen an der Kirche vorbei, deren Dach von alten Linden rötlich umwölkt war. Fünfzig Schritte vor ihnen schlenkerten die Männer mit ihren Koffern.

»Die waren schon vor acht Tagen einmal hier und sind dann mit dem Auto weitergefahren«, sagte die Magd auf seine Frage.

Als er einen Blick in sein Zimmer geworfen hatte und zum Abendessen in die Wirtstube hinunterkam, spielten die drei in der Ecke einen geräuschvollen Skat. Ihre Koffer hatten sie neben den Tisch gestellt. Es waren einfache Vulkanfiberkoffer, wie Amende selbst einen hatte. Er setzte sich möglichst weit fort von ihnen ans Fenster und genoß das langsame Dunkelwerden draußen.

Herr Weißmüller, der Wirt, hatte ihn schon begrüßt. Frau Weißmüller buk draußen den Pfannkuchen, den sie gleich selbst hereinbringen würde. Die Skatspieler in der Ecke bildeten noch eine letzte Verbindung mit der großen Welt. Er wartete auf ihren Aufbruch. Resi, die Kellnerin, schaute stumm zu dem neuen Gast hinüber und taxierte ihn.

Da der Pfannkuchen noch immer nicht fertig war, stieg Amende noch einmal in sein Zimmer hinauf, um den Anzug und die Wäsche auszupacken. Er konnte sich gleich die dicke Brasil mit hinunternehmen, von der er sich eine Kiste mitgebracht hatte. Während er oben an seinem Fenster stand und das dunkle Rauschen des Tannenwaldes in sein Ohr aufnahm, hörte er, wie draußen ein Auto vorfuhr und die drei Reisegenossen mit lautem Halloh einstiegen, wobei die dunkle Baßstimme des Herrn Stahl sogar den fauchenden Motor überdröhnte. Erst als der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte, machte sich Amende an seinen Koffer. Zu seinem Erstaunen wollte der Schlüssel nicht passen, oder er hatte überhaupt vergessen, den Koffer zu verschließen. Die Federn gaben nach, der Deckel tat sich auf, aber kein Manuskript lag über einer blauen Holzfällerjacke, sondern es gab da unter einigen Wäschestücken merkwürdige Gegenstände, aus denen man nicht ohne weiteres klug wurde. Nach zwei Sekunden begriff er, daß sein sorgsam gehüteter Koffer vertauscht war. Es war durchaus ein Augenblick, um die Nerven zu verlieren.

»Herr Weißmüller!« rief er hinunter. »Kommen Sie doch bitte einen Augenblick herauf!«

»Das tu ich schon!« rief der Wirt zurück und kam langsam die Treppe hoch.

»Mein Koffer ist mit dem Auto fort! Dies hier ist ein falscher.«

Herr Weißmüller wußte nichts von den Passanten, als daß sie vor acht Tagen einmal mit dem Zug angekommen und mit einem Auto abgefahren waren. Der Nummer nach, die er aber nicht behalten hatte, war der Wagen aus Franken. »Wissen's was, Herr Doktor, wir schauen halt nach, ob der Inhalt einen Anhaltspunkt ergibt.«

Auch Amende war für den Anhaltspunkt. Herr Weißmüller wühlte in den Sachen herum. Ein fremder Koffer war ihm eine Sensation. »Ei schau da!« rief er plötzlich und hielt mit dem Kramen ein. »Was ist denn nacha dös?« Er legte sorgfältig die Zigarre fort und bedeutete auch Amende, mit seiner Zigarette vorsichtig zu sein. »Das sind ja merkwürdige Geschichten!«

Der Schriftsteller wußte mit den ans Licht gebrachten Sachen nichts anzufangen, aber Herr Weißmüller übertraf ihn an Sachkenntnis. »Brandzeug!« konstatierte er. »Spiritus in Würfeln, Brandraketen, Celluloidstreifen, eine Zündschnur! Ich glaube, da sollte etwas brennen.« Er breitete die gefährlichen Dinge sorgfältig auf dem Bett aus. Auch zwei Anzüge von einer derben amerikanischen Eleganz nahm er heraus und ein Paar feste gelbe Stiefel. Er suchte in den Taschen, brachte ein Zigarettenetui, einen Bleistift, Streichhölzer und schließlich eine Ansichtskarte zum Vorschein. Sie war mit Bleistift geschrieben und ziemlich verwischt. »Señor Edmund Stahl, Berlin-Charlottenburg, Pätzoldstraße 37, Pension Falk«, konnten sie mit einiger Mühe entziffern. Der Koffer gehörte also dem großen Dunklen mit den Augenbrauen. Die Karte war aus Buenos Aires abgesandt. Amende verstand kein Wort Spanisch. Immerhin hatte er jetzt eine Adresse.

Herr Weißmüller war bedenklich. Die Brandutensilien gefielen ihm nicht. »Es ist da etwas los!« sagte er mehrmals hintereinander und kratzte sich am Kinn. Er hatte das Gefühl, daß dieser Herr Stahl sich in der Gegend nicht mehr blicken lassen würde.

»Dann muß ich nach Berlin zurückfahren!«

Frau Weißmüller rief von unten, daß der Pfannkuchen fertig sei.

»Sagen Sie nix von dem Koffer!« mahnte der Wirt, als sie die Treppe hinuntergingen. »Man muß herumhorchen!«

Unter solchen Umständen gewährte selbst Frau Weißmüllers Pfannkuchen mit Kräutern keinen Genuß. Das Schlimme war, daß das Auto jeden Augenblick zurückkommen und den Koffer bringen konnte. Bei jedem Geräusch schrak Amende zusammen. Vielleicht saß man morgen oder übermorgen noch da und wartete.

Auf einmal wurde seine Aufmerksamkeit durch ein merkwürdiges Lichterspiel in dem dunklen Fensterrahmen erregt. Er sah einen seltsamen roten Fleck, der zu leben und sich zu bewegen schien. Es war wie eine rote Spinne, die mit kurzen dicken Beinen um sich schlug, oder wie ein Feuerrad, das in wirbelnder Bewegung war. Und nun hörte man Rufe von draußen, noch nicht zu verstehen und deuten.

»Herr Weißmüller, schauen Sie! Was ist denn los?«

»Jessas!« rief die Kellnerin Resi. »Maria in der Scharte brennt!«

Was im Zimmer war, stürzte hinaus. Draußen standen schon die Menschen und sahen der tollen Spinne zu, die sich oben in der entrückten Waldkuppe wälzte. Maria in der Scharte, die kleine Waldkapelle, brannte lichterloh. Mindestens sechs Kilometer lag sie fort, aber man sah durch den Nebel die einzelnen Flammen, wie sie um den dunklen Kern züngelten und ihn auffraßen. Ein Feuerwehrmann blies aufreizend in die Trompete.

»Die andern haben auch Spirituswürfel in ihren Koffern gehabt«, sagte der Wirt zu Amende. »Ihre Sachen kriegen Sie nun nicht mehr wieder.«

»Ich verstehe das nicht: eine alte Waldkapelle!«

»Ich verstehe es auch nicht, aber da handelt es sich um ein ganz großes Geschäft. So um eins von sehr reichen und vornehmen Leuten, wissen's!«

Am nächsten Morgen brach Johannes Amende nach einer durchwachten Nacht auf, um nach Berlin zurückzufahren. Den Koffer des Herrn Stahl nahm er mit sich. Am Abend stand er wieder auf dem Anhalter Bahnhof, von wo er vor sechsunddreißig Stunden abgefahren war. Herr Weißmüller hatte ihm ein Nachthemd geborgt. Einige Toilettensachen trug er in dem Reisenecessaire bei sich, das er Gott sei Dank nicht in den Koffer gepackt hatte. Gleich vom Bahnhof aus rief er die Pension Falk an. Eine Frauenstimme antwortete.

»Kann ich Herrn Stahl sprechen?«

»Herr Stahl? Kenne ich nicht.«

»Doch! Der hat noch vor ganz kurzer Zeit bei Ihnen gewohnt.«

»Jetzt wohnt er nicht bei uns.«

»Dann ist er wohl verreist?«

»Ich besinne mich auf keinen Herrn Stahl.«

»Ist die Pensionsinhaberin nicht da?«

»Das bin ich!«

»Dann müssen Sie doch wissen, daß Herr Stahl bei Ihnen wohnte!«

Aber die Person hatte schon abgehängt. Es war klar, daß er auf diese Weise nichts erreichen konnte. Noch bevor er die eigene Wohnung aufgesucht hatte, fuhr er mit dem Auto zur Pätzoldstraße. Das Haus war mit der Pracht der neunziger Jahre ausgestattet, das großartige Marmorvestibül roch nach Katzen.

Er erkannte die Frau, die ihm öffnete, an der Stimme wieder. Es war eine kleine kräftige Person, die an energisches Zugreifen gewöhnt schien. »Ein Zimmer?« fragte sie. »Für wie lange?«

»Vorläufig für einige Tage. Ich weiß noch nicht, wie lange ich in Berlin zu tun habe. Vielleicht bleibe ich auch ganz hier.«

»Ja, Sie können ein Zimmer bekommen«, sagte Frau Falk und führte ihn in einen freundlich möblierten Raum. »Wer hat Ihnen mein Pensionat empfohlen?«

»Ich sagte es Ihnen schon telephonisch: Herr Edmund Stahl.«

»Ach, das ist der große schwarze Herr, der hinten gewohnt hat. Ja, der war schon öfter hier, aber seit mindestens zwei Monaten nicht mehr.«

Sie standen sich einige Augenblicke ratlos gegenüber.

»Ich will Ihnen etwas sagen«, versuchte er es auf andre Weise. »Ich habe nämlich mit Herrn Stahl gestern auf der Eisenbahn meinen Koffer vertauscht. Es war unten in Bayern. Ich muß meinen Koffer unbedingt wiederhaben. Ich habe den fremden Koffer aufgemacht und fand diese Karte an Herrn Stahl darin. Sehen Sie? Ihre Pension ist als Adresse angegeben. Herr Stahl hat also hier noch vor kurzem gewohnt. Können Sie mir sagen, wie ich zu meinem Koffer komme? Es soll Ihr Schaden nicht sein!«

Frau Falk zuckte die Achseln.

»Ach,« sagte er, »wenn es mit Ihnen nichts ist, dann muß ich mich eben an die Polizei und an die argentinische Gesandtschaft wenden.«

»Lassen Sie doch den Koffer hier! Ich werde dann sehen, daß ich Ihnen Ihren Koffer besorge.«

»Nein, den Koffer gebe ich nur, wenn ich meinen eigenen bekomme. Wie ist es, wollen Sie mir nichts über Herrn Stahl sagen?«

»Ich weiß nichts von dem Herrn. Es sind so viele Gäste hier, und sie wechseln immer.«

Amende hatte den bestimmten Eindruck, daß Stahl oder irgendeiner seiner Komplicen hinter einer der Türen lauerte. »Gut,« sagte er, »dann muß ich mich eben an die Polizei wenden.«

»Sie nehmen das Zimmer nicht?«

»Nein!«

Er erwartete den Zornesausbruch der enttäuschten Vermieterin, oder noch Schlimmeres: daß sich eine Tür öffnete und ein Rowdy heraustrat. Aber nichts erfolgte.

»Können Sie mir nicht Ihre Telephonadresse sagen? Vielleicht rufe ich Sie dann morgen an.«

»Ach Frau Falk, wir wollen uns nichts vormachen. Morgen vormittag um elf Uhr werde ich Sie anrufen, und dann werden Sie mir angeben, wie ich meinen Koffer wiederbekomme, oder ich gehe zur Polizei.«

»Ich werde sehen«, sagte die Frau.

Es war schon spät, als er in seiner Wohnung eintraf, die er erst gestern verlassen hatte. Die Betten waren unbezogen, die Gardinen abgenommen, die Aufwärterin natürlich nicht zur Hand. Die letzten Vorräte an Kaffee, Brot, Aufschnitt, Butter hatte er der Frau mitgegeben. Hausschuhe und Schlafanzüge waren mit dem Koffer verschwunden. Nicht einmal die Schuhe oder den Anzug konnte er wechseln.

Verzweifelt rief er seinen Studienfreund Wessollek an. »Höre mal, Kurt, du hast doch eine vorzüglich hausfrauliche Braut!«

»Gabi! Ja, wieso?«

»Ich lade euch zu einem Bummel ein. Lokalitäten und Getränke dürft ihr bestimmen. Bedingung: daß ihr nachher zu mir heraufkommt und Gabi mir das Bett bezieht.«

»Schade! Leider haben wir nach dem Theater eine Verabredung. Es geht beim besten Willen nicht, mein Junge!«

Verdrießlich legte Amende den Hörer hin und warf sich über die roten Betten. Sein letzter Versuch, die Stimmung aufrechtzuerhalten, war mißglückt. Seine Nerven begannen zu schmerzen. Alle Folgen, die der Verlust des Koffers nach sich ziehen mußte, standen auf und zogen an ihm vorüber. Ihm graute davor, die verlorene Arbeit von vorn zu beginnen. Schließlich schlief er vor Erschöpfung ein.

Aber es waren die gleichen Gedanken, mit denen er aufwachte. Unlustig verrichtete er die notwendigen kleinen Arbeiten für sein Aufstehen und war, angesichts der zerwühlten Betten, froh, in einem Café frühstücken zu müssen. Es war gerade halb zehn Uhr, als er damit fertig war. Um elf hatte er Frau Falk anrufen wollen. Er schlenderte die Tauentzienstraße entlang. Der Verlust des Koffers drückte noch immer wie ein Alp. Endlich war es spät genug, in die Wohnung zurückzukehren. Er zitterte, als er den Hörer hob.

»Frau Falk selbst dort? Wie steht es mit meinem Koffer?«

»Ihren Koffer können Sie bei Peiser zurücktauschen.« Die Frau nannte eine Adresse in der inneren Stadt.

»Wohnt Herr Stahl dort?«

»Nein, Herr Stahl ist bereits abgereist. Er rief gestern abend zufällig bei uns an, ob sich vielleicht wegen des Koffers jemand gemeldet hätte. Mehr weiß ich nicht.«

Amende ergriff den falschen Koffer und stürzte die Treppen hinunter. In zwanzig Minuten konnte er sein Manuskript wiederhaben. Die Taxe führte ihn über den Alexanderplatz in Gegenden, die er noch nie betreten hatte. Es ging durch lange breite Alleen, deren Namen er nicht kannte, durch enge Straßen, die ganz still wie in einer kleinen Provinzstadt dalagen. Dann bog der Wagen wieder in die Verkehrsadern ein und hielt unvermutet. Als Amende das alte schmale Haus sah, in das er sich hineinbegeben wollte, überkam es ihn plötzlich wie Angst. Wenn er nur hierher gelockt wurde, um aus dem Wege geräumt zu werden? Er dachte an die drei Männer aus der Eisenbahn, an den merkwürdigen Inhalt des Koffers, den er in der Hand hielt, an den plötzlichen Brand der Waldkapelle. War es so undenkbar, daß man einen lästigen Zeugen beseitigen wollte?

Der Verkehr der Weltstadt donnerte an dem kleinen Haus vorüber. Das staute sich mit Wagen, Elektrischen, Autobussen, kreischte mit Bremsen und ließ sich dann wieder vorwärtsgleiten. Das brauste gefühllos und erbarmungslos an den kleinen Wohnungen vorüber, unbekümmert um das, was darin geschah.

»Warten Sie«, sagte er zum Chauffeur. »Ich habe hier zwei Treppen hoch zu tun.«

Der Mann nickte. Nun wußte wenigstens irgend jemand auf der Welt, wo er geblieben war. Diese Vorstellung beruhigte ihn. Wenn er nicht nach einer Weile hinunterkam, würde der Mann ihm nachgehen. Konnte man wissen, ob sich beim nächsten Treppenabsatz nicht die Drei aus der Eisenbahn auf ihn stürzten? Er sah die Gestalten vor sich: den langen blonden Schlacks mit dem doppelten Wirbel auf dem Kopf, den kleinen Krummbeinigen mit der Narbe und diesen unheimlichen Herrn Stahl.

Es war eine schmale wackelige Holztreppe, die er hinauf mußte. Der Koffer stieß an der Wand an. Eine Treppe hoch sah er das Namensschild »Schabrack«. Ein komischer Name, dachte er. Ob das der Kunsthändler ist? Eine Treppe höher fand er den Namen Peiser. Eine alte Frau machte ihm auf.

»Ich komme, meinen vertauschten Koffer zu holen«, sagte er.

Sie reichte ihm den Koffer heraus. »Hier ist er!« Das Schloß war erbrochen. »Ja,« sagte die Alte, »man hat das Schloß aufgemacht.«

Er öffnete. Obenauf lag das Manuskript über der blauen Holzfällerjacke. Er mußte es in die Hand nehmen und durchblättern, um zu sehen, ob alle Seiten vorhanden waren. Es war wie eine Liebkosung. Er hob den Einsatz hoch. Seine Sachen lagen darin.

»Wollen Sie nicht diesen Koffer durchsehen?« fragte er. »Er war nicht verschlossen.«

»Nicht nötig«, sagte die Alte, ergriff den Koffer des Herrn Stahl und machte die Tür zu.

Draußen stand noch das Auto und wartete. Er hatte den Koffer sich gegenübergestellt und berührte ihn mit den Füßen. Ihm war, als dürfte er ihn nicht aus dem Bereich seines Gefühls herauslassen. Eigentlich war es wunderbar, daß er das Stück wiedererhalten hatte. Eine unheimliche Ordnung herrschte in diesem tollen Durcheinander, das sich mit jeder Sekunde neu verschob, sich ineinanderstaute und fortströmte.

An einer Ecke, als das rote Licht Halt gebot, riefen die Verkäufer die Mittagsblätter aus. Amende kaufte eine Zeitung. Die Füße in ständiger Berührung mit dem wiedergefundenen Koffer, überflog er die Überschriften. Plötzlich sprang der Name der Stadt Haßfurt in gesperrtem Druck aus den Zeilen auf. Merkwürdig, daß er gerade jetzt etwas über diese Stadt zu lesen bekam.

»Der Brand der Kapelle Sancta Maria in der Scharte bei Haßfurt (Unterfranken) hat erneut die Aufmerksamkeit auf jene wundervolle Madonna gelenkt, die sich in der Sakristei der völlig eingeäscherten Kapelle befand und wie durch ein Wunder gerettet wurde. Es handelt sich hier um eines der kostbarsten Monumentalwerke der fränkischen Gotik aus dem 13. Jahrhundert. Wie wir erfahren, wurde die Plastik, die den Vergleich mit den größten Bildwerken jener Zeit aushält, von einem holländischen Sammler erworben.«

Er las die Meldung noch einmal. Was konnte das bedeuten? Er hatte nie etwas von der Madonna gehört. Und dieser merkwürdige Brand! War das ein Anschlag auf das kostbare Werk gewesen? Oder hatte jemand gehofft, sich der Madonna in dem Tohuwabohu eines Brandes bemächtigen zu können? Plötzlich fiel ihm ein, was Herr Weißmüller gesagt hatte, als sie die Feuerspinne durch das Dunkel zucken sahen. »Da handelt es sich um ein ganz großes Geschäft. So um eins von sehr reichen und vornehmen Leuten.« In dem Augenblick sprang der Motor an. Amende überlegte sich, daß er morgen früh wieder in den Haßbergen sein konnte, und ließ die Zeitung fallen.


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