Hans Freiherrn von Hammerstein
Ritter, Tod und Teufel
Hans Freiherrn von Hammerstein

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Die Roßmühle

Eine steile Schlucht, an beiden Hängen von wildem Mischwald, Föhren, Buchen und Eichen bestanden und gegen den Grund hin lichtend, zog sie nieder. Unten lag in den Zusammenstoß dreier Gebirgsfalten geklemmt ein armes Dörflein. Die spitzgiebligen, windschiefen und zermürbten Fachwerkbauten ineinander geschoben, rechts am Hang hinauf, von steil abfallendem Bergvorsprung getragen, ein seltsames Kirchlein: ein kurzer, viereckiger Wehrturm von Kreuz und Hahn bekrönt, das Chörlein und ein winziger Wohnbau daran geklebt. Rundum den Kirchhof einschließend eine starke Mauer, daß sie den Toten eine Stätte der Ruhe und eine der Zuflucht den Lebenden vor feindlichem Andrang gewähre. Im Gäßlein friedvoller Mistgeruch, Hühnergegacker, amtseifriges Hundegekläff. Ein paar mühevolle Bauerngesichter, die Wanderer mißtrauisch, und spielfrohe Kinderaugen, sie verwundert betrachtend.

Der Pfeifer sah nach der Karrenspur und fragte einen Alten, ob nicht unlängst zwei mit einem Roß durchgekommen wären. Der überlegte eine Weile, nickte dann und sprach mit düsterem Gleichmut: »Werden in die Roßmühl hinunter sein. Da find't sich dergleichen.«

Den Fortschreitenden blickte er lange nach und raunte mit der Nachbarsfrau, die hinzugetreten war.

Am Dorfausgang brachte eine Kreuzung wieder einen breiteren Weg herab, der einen Bach brückte und an einer kleinen Mühle vorüber das fallende Gewässer entlang 21 hinunterführe, bis im Austritt des Seitentälchens das Tal der Saale sie breiter mit hochwipfligen Buchenhängen empfing.

Da lag einsam im Grund ein düsteres, steilgegiebeltes Steingebäude, das, breitseitig der Straße zugekehrt, mit zerfressenem Gesicht griesgrämig und unvertraut den Weg heraufblickte. Die gotischen Rotsteinfassungen der schmalen Fenster und des Eingangs, ein Wappenstein mit Inschrift über diesem und das hohe verwitterte Ziegeldach gaben ihm etwas vom Ansehen eines festen Hauses. Ein halbhölzerner Nebenbau stand abgetrennt der östlichen Schmalseite des Hauptgebäudes quer und war mit diesem durch einen schwebenden Gangbogen verbunden. Gegen die Straße vorgeschoben ein umzäuntes Gärtchen, von uralter Linde überwölbt. Der Saale zu, die oberhalb durch ein Wehr gebrochen in starker Schleife dem Tal folgend von Nordost herankam und sich hinter der Mühle umbiegend nach Nordwesten hinwegwandte, stand das Haus stockhoch. Gemächlich trieb der Fluß, auch vom niederen Wehr nicht sonderlich beeilt und mit dem Mühlbach ein weidensträuchiges Inselchen ausschneidend, sein braungrünes Wasser durch eine schmale Wiesensohle, die dreieckig in das Seitental heraufbuchtete und den Bach aufnahm, dem entlang der Weg niederzog. Vor der Mühle kehrend, hielt sich die Straße dann am linken Talhang westwärts und wurde weiter unten von steilabfallendem Hochwald hart ans Wasser gedrängt.

Im offenen Gittertürlein des Vorgartens stand jetzt ein niedriger, breiter Mann mit der Haltung eines Verwachsenen, dem ein kurzer, grauschwarzer Bart vom Kinn steif nach vorn starrte. Er trug ein geflicktes Wams halb offen und mißfarbige Strumpfhosen in Bundschuhen. Die Hände hatte er auf den Rücken geschränkt und eine schmierige Schürze überm Bauch zusammengerollt. Als er herannahende Schritte und das Gepfeif des langen Hans vernahm, wandte er mißtrauisch die kleinen, unguten Dunkelaugen den Ankommenden zu.

»Grüß Euch der Teufel, aller Wirte und Müller oberster Lehnsherr,« rief ihm der Pfeifer entgegen. »Ich hoff, Ihr zapft ein Bier, das weniger sauer als Eure Miene ist.« 22

Der Angeredete musterte die Wanderer geringschätzig, deutete wortlos mit dem Daumen nach hinten in den Garten und ging einen Schritt auf die Straße hinaus.

»Die Höflichkeit hat er noch immer nit als Schild ausgesteckt,« sagte der Pfeifer eintretend. »Das Geschäft blüht auch ohnedem, solang Füchs, Wölf und Geier was zu schleifen haben.«

Der Roßmüller überhörte die Worte und spähte bald links, bald rechts den Weg entlang.

Im dunkelsten Winkel des Gärtleins hinter einen der feuchten Holztische gedrückt, den der Lindenstamm halb verdeckte, saßen der Landsknecht und der Böhme vor Zinnkrügen.

Hans zwinkerte dem Schüler zu und schritt nach der entgegengesetzten Seite des Gartens, die gegen die Wiese und den Bach hin lag. Dort ließ er sich auf eine Bank nieder und heischte lärmend Bewirtung.

Ein kropfiges Weib mit hochgeschürzten Röcken und aufgekrempten Ärmeln erschien in der Haustür und schoß einen bösen Blick nach ihm.

Der lang Hans tat, als bliese ihn ein Windstoß rücklings die Bank hinab.

»Bäschen Bärbel!« rief er, »schau noch einmal so giftig, und der Seiler hat den Strick umsonst für mich gedreht.«

»Je, der Pfeifer!« staunte die Alte, indem sie ein heiteres Grinsen überkam. Die Röcke losbindend, trat sie an den Tisch und streckte die nasse Hand zur Begrüßung hin.

»Das ist aber schad,« begann sie sogleich eifrig zu plappern, »das ist schad, daß du nit gestern schon daherkommen bist. War Kirmeß in Weikersgrüben, alle Bauernschaft auf den Beinen, Tag und Nacht Garten und Stube voll. Itzt noch putz ich und scheuere an der Schweinerei, die sie dagelassen, gab Räusch genug, Brocken, Scherben und blutige Nasen, wie immer bei so was. Hätt'st ihnen aufspielen können, wär lustiger und weniger grob worden. Gesäuft ohne Musik, das geht ins Geschirr. Denn Lärm müssen sie haben und Klingklang, sonst ist ihnen nit wohl. Wo hat's dich umtrieben zeither? Drei Jahr gewiß, daß du nimmer vorbeikommen.« 23

»Mag sein,« erwiderte der Pfeifer, »und bist annoch so hübsch wie ehedem, alte Blocksbergerin. Traun, hätt'st du den Schwamm nit am Hälschen, ich stieg dir heut Nacht ins Fenster.«

Er kniff sie in die verrunzelte Backe.

»Immer spotten, immer spotten!« kicherte die Alte. »Wann Bosheit das Maul zerfräß, deins wär nimmer zu flicken, du Gauch! Was beliebt den Herren: Bier oder Wein?«

»Was du raten kannst, so du Mitleid mit unseren Gurgeln hast. Zahlen können wir gut, und ich hab dir auch Dachsschmer für's Kröpfel mitbracht. Damit schmierst du's ein, wann der Mond voll ist, und bis er neu wird, drehst du einen Hals so schlank und weiß als ein Schwan. Nit wahr, du machst uns Eierkuchen und tust auch ein Scheiblein Speck drauf?«

»Den Speck haben die Bauern allsamt gefressen. Aber mit Wurst will ich dir die Schmer vergelten. Es ist nit um die Schönheit. Der Hals allein macht's nimmer aus, wann anderswo schon so mannigs fehlt. Aber bessern Luftzug, den könnt ich noch brauchen für ein paar Jahr. Ich will Euch Wein bringen. Er ist nit gar süß, aber das Bier ist von gestern und hat schon einen Stich,« setzte sie flüsternd hinzu. »Der Alte hat wohl angeschafft, ich soll's weiterbringen. Mögen's die Lumpenhund dort saufen, die Mordbuben. Haben wieder grausigs Zeug bracht. Mein Gott, mein Gott! Was so neben der Straß fürgeht! Ich wollt auch schon in ein sauberer Gewerb kommen! Wer hätt mir das an der Wiegen gesungen, daß ich meinen ehrlichen Namen so aufs Spiel setzen müßt! Aber weißt du, er ist halt mein Ohm, hat sonst keine Sippschaft und Erben, muß mich dazuhalten, ein paar Jahr länger tu ich's doch noch. Wann Reiter kommen und du spielst am Abend ein wenig auf, läßt er wohl vom bessern her. Jetzt müßt Ihr mit dem Grüninger fürlieb nehmen.«

Der Roßmüller hatte sich umgewendet. Sie schlappte eilig ins Haus hinein.

Der Pfeifer gähnte und lümmelte, die Hände über der Bauchhöhle gefaltet, auf der Bank hin. Jörg Dietz trieb Neugier, den Ort zu besichtigen. Er stand auf und mühte sich 24 vorerst, die Inschrift über der Haustür zu entziffern, die unbeholfen in eine Steinplatte unter einem geistlichen Wappenschild gehauen war. Er las.

»Die Roßmühl an der Saal bin ich genanndt
Dem Kloster Schöna zu Lehn verwandt
Kein Mühlrad mag ohn Wasser seyn
Kein fröhlich Hertz ohn Birr und Wein.«

Darauf ging er langsam den Weg hinab, der vom Gärtchen zwischen dem Haupthaus und dem Anbau unter dem Schwebebogen her zum Ufer der Saale führte. Ein dunkles, spitzbogiges Tor, von rotem Sandstein gefaßt, wie die Haustür, öffnete da das flußwärtige Untergeschoß des Hauses. Jörg blickte scheu hinein und sah, daß der düstere Raum einen verspinnwebten Mühlgang barg. Gegenüber im Anbau schien der Stall zu sein. Als Jörg eben die Nase durch die Tür stecken wollte, rief oben eine herrische Stimme: »Was schnobert der Kamesierer da herum?« Er schrak heftig zusammen und sah, sich umwendend, den Landsknecht mit grimmigem Einblick auf dem Weg herabkommen. Jörg hätte laut aufgeschrien, wäre der Pfeifer nicht gleich dem Soldaten nachgegangen.

»Der schnobert nichts,« sprach der Pfeifer. »Ist ein armer Gesell und froh, wann er's Leben hat.«

Der Landsknecht, den Pfeifer mit verkniffenem Lächeln von oben bis unten munsternd: »Und du? – Bist ein quanter Gleicher? – Ein Freyschupper? – Hauzenfopper? – Kannst Diftschrenken, Jägglputzen, einfahren, verpaschen? – Stell mir ein Erller, wann wir in die Leilen holchen. Ich laß dir gut Schapolis.« (»Und du? – Bist ein guter Gesell? – Ein Falschspieler? Bauernfänger? Kannst Kirchenrauben, Opferstöck ausangeln, einbrechen, verbringen? Stell mir eine Schildwach, wenn wir nachts auf Raub ausfahren. Ich laß dir gut Beuteteil.«)

Der Pfeifer mit den rundesten Treuaugen, die er konnte: »Was red't ihr da für ein Gezung? Das ist wohl Schwyzerisch? Ich versteh schier kein Wörtlein.«

Der Landsknecht mit Beruhigung lachend: »Bist ein Wittischer? Na, vor mehr als ein Stirischnalzer (Hennendieb) hätt ich dich ohnedem nit geacht.« 25

Dem Pfeifer zuckte was über's Gesicht.

Der Landsknecht: »Woher kommt Ihr heut?«

Der Pfeifer: »Von Schweinfurt über Hammelburg.«

Der Landsknecht sinnend: »So. Und haben Euch etwan Reiter übereilt?«

Der Pfeifer: »Nit übereilt, aber gegnet haben wir etwelche.«

»Haben sie Euch angeredt?«

»Ei freilich. War ein guter Gesell und meiniger Freund dabei.«

»Wem dient er?«

»Einem Junker in Hessenland, glaub ich.«

»Wo habt Ihr die gegnet?«

»Droben bei dem Dörfel, glaub, es heißt Aschenroda oder so.«

Der Landsknecht nickte: »Und was wollten sie?«

»Ich glaub, auf's Schloß dort, ein Post bestellen.«

»Ist schon gut,« schloß der Landsknecht und kehrte befriedigt zu seinem Tisch zurück.

Der lang Hans nahm den Schüler um den Hals und zog ihn, ein Liedlein pfeifend, ganz zum Fluß hinab. Dort sah er sich um und kicherte heraus:

»Vor mehr als ein Stirischnalzer acht er mich nit! Der Esel meint, er kunnt mir was lernen. So ein dummer Lenninger ist mir noch nit fürkommen. Dem schnalz ich den Scheinling (Auge), den er noch über hat, und er meint immer noch, ich wär sein quanter Gleicher.«

Jörg Dietz starrte ihn an wie den baren Satan: »Was ist das für eine nachtige Sprach?« fragte er voll Entsetzen.

»Pst!« machte der Pfeifer. »Das ist freilich kein Latein, du Weishulm (einfältiger Mensch). Das ist ein Wälsch, so sie auf den Straßen reden.«

»Und in solchem Wälsch seid Ihr wohl Magister oder gar Doktor?«

»Das mein ich. Darin könnt ich manchen zum Doktor machen. Doch halt fein das Maul, Bursche. Ich muß wieder nauf und lusen, was die weiter barlen.«

Damit schlenderte er in den Garten zurück.

Der Jörg sah sich unten um. Er stand am Rand des 26 Mühlbachs, in den, wie er jetzt sah, am Haus ein verfallenes Schaufelrad tauchte, das stille stand. Die Mühle hatte von dieser Seite her ein etwas freundlicheres Gesicht und noch mehr ein burgartiges Ansehen. Eine Erkernase hing vom ersten Stock über den Bach hinaus, die Fenster wurden teils von schön gehauenen Doppelbogen gehalten. Aber der Müller schien auf sein Gewerb nicht angewiesen und noch Einträglicheres als Getreide zu mahlen.

In dem alten Bau und umher war nichts von dem frohen Treiben, das sonst diesem Handwerk eigen ist. Die Saale zog still in die Waldberge, die Wolkendecke, aufgelockert und durchleuchtet, ihr entgegen übers Tal. Ein Kahn angepflockt, wo der Mühlarm in den Fluß kehrte. Am andern Ufer ein leerer Weg. Ein paar Feldstreifen von Hecken unterbrochen, in Stufen zum laublosen Wald ansteigend. Das schwarze Bergschloß halb hinterm diesseitigen Waldhang versunken. Im Einschnitt des Seitentals, durch das sie gekommen, noch das wehrhafte Kirchtürmlein von Weikersgrüben über den Bergrücken lugend.

Ein silberner Glanz über der Gegend. Bleiche Spiegelung im Gewässer. Das düstere Haus steinern und steildachig gegen die Wolkenzüge. Alles totstill, traumhaft, unwahrscheinlich. Ihn schauderte. Er ging wieder ins Gärtchen hinauf.

Der Pfeifer lungerte anscheinend schlummernd auf der Bank. Der Soldat und sein Kumpan ratschlagten rotwälsch miteinander. Der Roßmüller stand noch immer vorn an der Straße.

Zögernd begab sich Jörg zu ihm, stand in seiner Nähe, legte auch die Hände auf den Rücken, räusperte sich und hub endlich an:

»Guter Mann, wollt Ihr mir nicht sagen, wie das Schloß da oben heißt?«

Der Müller, ohne ihn anzusehen, brummte: »Der Sodeberch.«

Der Schüler nickte, spuckte verlegen aus und fragte weiter: »Und das andere, das diesem gegenüberliegt, wenn man oben auf der Straße bei – bei – wenn man von Hammelburg kömmt . . .« 27

»Der Reußeberch,« knurrte der Wirt, indem er nach der andern Seite sah.

Jörg: »Und weß ist dieses Schloß, das erste mein ich, das auf so dunklem Fels . . .«

»Thüngisch,« grollte es zurück.

Eine Pause. Jörg scharrte mit dem Fuß in einem Häuflein von altem Laub, das am Gitter lag.

»Und das andere – der Reußenberg?« flüsterte er beinah.

»Thüngisch,« fuhr der Wirt auf.

Jörg schrak zusammen. Er zwinkerte, biß die Zähne aufeinander und fragte noch einmal:

»Und der schöne Wald, da, dort – ein schöner Wald – der ist . . ?«

»Thüngisch,« brüllte der Wirt ihn an, daß er wie umgeblasen an den Zaun sank.

Hell klang des Pfeifers Lachen hinter ihm.

»Ja, mein Junge,« rief er, »das ist hier wie mit dem König im Märlein vom gestiefelten Kater: von Würzburg bis zum Fuldischen hinauf, wo du frägst, schier jedes Schlößlein und Dörflein, Wald, Fluß, Strauch, alles ist der Herren von Thüngen. An manchem Ort sitzen gleich ihrer drei bis sieben zuhauf.«

»Ein mächtiges Geschlecht,« stammelte der Jörg.

»Ja,« fuhr der Pfeifer fort, »und wer ist der Bischof von Würzburg? Ein Thüngen. Und wer sein Haushofmeister? Ein Thüngen. Und wer sein Rat, wer Amtmann da und dort: Thüngen, Thüngen, Thüngen. Zwischen Rhön und Spessart allerorts Thüngen, als wär dem Teufel ein ganzer Schwarm dieser Art hier auskommen, da er mit des Herrgotts Verlaub ging, die Junker in die Welt zu streuen, auf daß ihr nit zu wohl werde.«

Der Müller, sich halb kehrend: »Jetzt soll die Mühl auch noch Thüngisch werden. Der Herr Neidhardt da oben am Sodeberch handelt schon an die drei Jahr mit'm Abt, sie mögent sich nit einiche.«

Der Pfeifer: »Nun, und wär Euch der neue Herr recht?«

Der Müller sah wieder hinaus und zuckte die Schultern: »Vom Kloster kommt's ganze Jahr oft keiner herauf.« 28

»Je weiter der Herr, je herrlicher der Knecht,« sagte der lang Hans.

Der Müller schwieg und ging ein paar Schritte den Weg hinunter.

Jörg kehrte zum Tisch zurück.

Das Wolkengeschiebe hatte sich im Westen abgerissen. Ein Streif grünklarer Luft klaffte quer überm Wald. Glanz brach herein. Ein Schuß tiefgelber Strahlen. Müdes, mildes Licht. Es streifte den Lindenwipfel, wie ein bebendes Frühlingsahnen, und noch einen Teil des Dachfirsts, auf dessen Schuppen ein paar Hauswurzschöpfe wucherten, die goldig aufglommen. Und der Rauch, der eben kräuselnd aus dem baufälligen Schornstein stieg, gebärdete sich wie ein gutes, fröhliches Geistlein. Sonst schlug über Haus und Garten der Bergschatten, nur ostwärts durchs Tal von Weikersgrüben herunter fand ein Glanzbündel über die Bachwiese herein, die auf einmal zeigte, daß sie von erblühenden Schneeglöckchen spärlich überstreut war. Ein Teil der Flußschleife unten leuchtete auf und spiegelte lebhafter. Die kahlen Buchenhänge drüben übergoß ein rötlicher Schein. Am Himmel aber begab sich Wildes. Das Gewölk bäumte sich wider die Auflösung, mit der es der Abend bedrohte, der klare Bahn machen wollte für Mond und Sterne. Graue Riesenleiber blähten sich in goldroten Feuerbränden mit kämpfender Gebärde auf, glühende Fetzen lösten sich ab und zergingen im Blau, hohe Häupter blickten finstern Gesichts von fern in die heranzüngelnde Lohe. Wie flammendes Werg verfielen die mächtigen Gestalten. Bald war's nur mehr ein glimmender Flaum, über den von Osten her lichte, aufgetürmte Gebilde wie sichere Schneegipfel ruhvoll hinwegblickten. Und immer tiefer und träumender sank das Glühen aufs stille Tal und den einsamen Fluß nieder.

Der lang Hans hatte seine dürren, roten Beine über die Tischecke gehängt und träumte, zurückgelehnt, zufrieden pfeifend in den Lindenwipfel. Jörg Dietz aber saß in seinem steifen, schwarzen Mäntelchen peinvoll aufrecht wie in der Schule und starrte in gottergebenem Grauen vor sich in den Strudel, der ihn so unversehens erfaßt hatte. Ihn umgaukelten 29 heimische Bilder. Vater, Mutter, die Klosterschule, der er entlaufen war, der Lehrer, den er haßte, und es raunte ihm ins innere Ohr: »Das ist nun die Landstraße, von der du Wunder geträumt hast! Ein abgründig Ding – eine saubere Zunft! Mordgeruch, hexisches Wesen, Reuterrohheit, totkalter Galgenwitz, und eine schauerlich-geheime Umgangssprache. O Wandern! Gesungen so schön – geübt so bitter . . .«

Eine rasche Bewegung des Pfeifers machte ihn heftig erschrecken in seinem trüben Gesinn. Er blickte auf und sah, daß der Gefährte sich umgewendet hatte, lauernd wie ein Luchs am Zaun hing und über die Latten spähte.

Auf der Wiese ging was vor. Große, weiße Dinge schwebten um das nächste Waldeck herum, leises Gezisch und schrilles Geschnatter ging langgezogen übers Gras. Gänse. Weiße Gänse, graue Gänse. Große, feiste, steilhalsige, die ihr spitzes Hängebäuchlein mühsam watschelnd über den Rasen schleppten, und kleine ockergelbe Flaumknollen, die bänglich piepend hinter den breiten, rötlichen Hautfüßen einherdrängten. Und dahinter kam ein Mädchen. Ein schmales, knospendes Wesen in einem Bettel von braunrotem Röckchen, das ihr mit ausgefransten Säumen kaum über die Knie und nicht an die Ellbogen reichte. Schlank und durchscheinend wie Wachskerzen stachen Hals, Arme und Waden hervor. In der Hand hielt sie eine Weidenrute, die schon Silberkätzchen getrieben hatte, bog sich nieder, pflückte Schneeglocken, tat sie zueinander und sang leise in den Strauß hinein.

Sie kam näher. Ein armer Frühling, ein Frühling in Lumpen, ein Schneeglöckchen selbst, das mit spitzer Knospe ein welkes Blatt durchbricht und es fröstelnd um die Schultern trägt. Der Schmutz an ihren nackten Füßen hob nur klarer das Lichte ihres Wesens hervor.

Sie kam und sang. Sie blickte im Vorübergehen auf. Da sah man ein paar große Augen, hellgrau wie Morgenhimmel, der kristallen tagendes Licht und einen großen, einsamen Stern hat, und die den spähenden lang Hans kaum verwundert und ganz frei anlachten. Die Lippen aber, fein und blaßrot wie Zeitlosen, schlossen sich vor dem letzten Ton des Liedchens. 30 Und der Abendschein lag auf ihrem flachshellen Haar, das ein Geflecht aus lauter Sonne schien.

Der Pfeifer fand kein Wort der Begrüßung. Das Mädchen blieb stehen und wartete auf ein Gänschen, das in das Loch einer Kuhfährte gefallen war und erbärmlich piepte. Als es sich herausgemacht hatte und hastig nachgewackelt kam, breitete sie die Arme aus und ging mit halbem Gesang lockend hinter der Herde, die sich gegen den Fluß zu schwätzend und weidend verstreuen wollte, nun aber wie gebannt in den Zauberkreis ihrer Hände sich sammelte und steil drängend dem Weg zustrebte. Die Gänse bogen um den Gartenzaun und zischten den Müller an, der noch immer breitspurig, die Hände auf dem Rücken verschränkt, dort stand. Etwas schneller und ohne ihn anzublicken, drückte sich die Kleine vorüber. Und dann quoll der ganze Federsegen durch die Gartentür herein und zog an den Wanderern vorbei hinunter in ein dem Nebenhaus angelehntes Schuppenwerk, das den Geflügelstall enthielt.

Während das Mädchen noch mit dem Eintreiben der Gänse beschäftigt war, gab es neuen, derberen Lärm von der andern Seite. Gegrunz und Getrappel kam den Weg herunter, drei halbwüchsige Schweine mit einer hochrückigen, schmalen Dorfsau drängten in den Garten, hintennach schläfrig und brummig ein feister, grindiger Eber mit eingeknicktem Rüssel und Schlappohren über den kleinen, bösen Augen. Ihn ermunterte die Peitsche des Hirten, der eilig nebenher trottete und in der Schweinesprache zu reden schien, denn die Laute, die er hervorstieß, waren kaum von denen des Borstenviehes zu unterscheiden. Ein greulicher Bursche, halbnackt und verwahrlost. Auf dünnem Hals hing ihm windschief der übergroße Kopf, ein Gewächs der Verblödung mit Stumpfnase und hervorquellenden Augen, das steife Haar tief über die niedere Stirn und in den Nacken starrend. Das Mädchen, das eben wieder aus dem Stall herauskam, begrüßte er mit einem seltsamen, plumpen Freudentanz, der von stürmischen Grunztönen begleitet war. Sie beachtete ihn nicht und eilte der Haustür zu, wo eben die Bärbel mit dem dampfenden Eierkuchen und einer Kanne erschien. Während die Alte 31 auftischte und mit dem wortkargen, ganz verträumten Pfeifer ein neues Gespräch anzuknüpfen suchte, trat das Mädchen mit einem irdenen Krüglein und einem Holzlöffel in der Hand wieder aus der Tür, ließ sich auf der Schwelle nieder, klemmte das Krüglein zwischen die Knie, strich, den Pfeifer betrachtend, die Locken aus dem Gesicht und begann darauf das Süppchen mit Bedacht zu verzehren.

Nun ging auch der Sauhirt ins Haus, um bald darauf mit einem ähnlichen Napf zu erscheinen. Er setzte sich auf das andere Ende der Schwelle und hub gierig zu löffeln an, wobei ihm die Froschaugen noch gräßlicher hervorquollen.

Die Bärbel sagte, sie müsse den Schweinen das Tränkel richten, und schlappte ins Haus. Der Pfeifer schob dem Jörg den Eierkuchen zu, tat einen Schluck aus der Kanne, faltete die Hände überm spitzen Knie und sah die Gänsehirtin an. Sie blickte auf und begegnete seinem Auge, senkte das Gesicht, nahm langsam ein paar Löffel, sah wieder auf und fand sich noch immer in der zwingenden Bahn seines Schauens. Sie lächelte, schlug die Augen nieder, neigte den Rest des Kruges in das Löffelchen, schlürfte es aus und zog's, zu den Lindenwipfeln aufsehend, durch die feinen Lippen. Dann blinzte sie wieder nach dem Pfeifer hin, der jede ihrer Bewegungen unablenkbar aufsog. Nun tat sie, als müßte das letzte Tröpfchen ausgescharrt werden, und lachte dabei still in den Krug hinein. Der Sauhirt schielte sie an und schmatzte weiter.

Der lang Hans stand auf und stellte sich vor sie hin, bückte sich, stemmte die Handflächen auf die Knie und sah ihr nah in die Augen.

Der Trottel klapperte mit dem Löffel am Napf und gab einen zornig grunzenden Ton von sich.

Der Pfeifer sprach zum Gänsemädchen: »Du bist das Lied.«

Das Mädchen sah ihm mit großerstaunten Augen ins Gesicht.

Der Pfeifer sprach: »Vor vielen hundert Jahren hört ich dich singen. Der alte Hirt sang dich. Im Traumland, als ich ein Kind war, hört ich dich wieder. Eine schöne Frau sang dich. Der rote Abend tönte dich nach. Ich weiß nicht, 32 wer sie war. Sie ist vergangen wie die Abendwolke und ein Stern geworden.«

Sie sah verloren hinaus wie in dämmernde Erinnerung.

Der Pfeifer fuhr fort: »Ich hab dich vernommen, als mir die Welt noch Lied und Traum war. Ich hab dich gesucht und bin viel nach dir gefahren durch Wüstheit und Sünde.«

Ihre Blicke gingen unruhig zur Erde. Sie schabte verlegen mit dem Löffelchen im Krug herum.

Der Pfeifer ließ sich auf ein Knie nieder und sprach: »In den blauen Schluchten der Abendberge blüht eine Blume, die noch niemand gefunden hat. Die bist du. Sieben Meilen hinterm Abendrot liegt ein Rosengärtlein. Da bist du singend gegangen. Du bist der Wolkenschein in den Fernen, wenn es Frühling wird. Du bist der klingende Windhauch in den Zweigen, eh sie grün werden.«

Er faltete die Hände.

»Du bist die junge Sonne, die durch die Pfützen im Dorf geht. Du bist der Quell am Weg, den jeder trinkt und keiner trübt. Sei gegrüßt, ewiges Mädchen, an Sünd und Gnade reich. Sei gegrüßt, ewiges Lied. Ich möcht jauchzen, da ich dich fassen kann. Sei auch mein. Erlöse mich. Amen.«

»Mich dünkt, Ihr lästert die heilige Jungfrau,« warnte das Mädchen. Aber ihr Gesicht war lustig dabei.

Der lang Hans sprach weiter: »Wann die Welt einmal so sündhaft rein und so unschuldig lustvoll geworden ist wie du, dann ist sie erlöst. Ich beichte dir: ich bin ein Dieb, ein Mörder, ein Hurenvogel, ein Ehebrecher, ein Gaukler, ein Erzschelm. Und ich bereu nichts, aber ich liebe dich. Sprich: Ich hab dich lieb, und ich bin losgesprochen.«

»Mir scheint, Ihr seid ein Narr,« lachte sie, stand auf, stellte den Krug in die Fensternische und strich das Röckchen glatt.

»Das bin ich,« sprach der Pfeifer, sich auch erhebend. »Ein Narr von ganzem Herzen, ein Narr, dem Herzen nach. Und das ist mein Heil. Weil mein Herz ein ganzer Narr ist, hat es nicht schuld an allen Schelmereien des Hirns, des Mauls, der Finger und sonstiger Sinne. Nimm es in deine klaren Schneeglockenhände, und es wird dir ein närrischer Frühling voll bunter Lieder draus blühen.« 33

Sie wollte ernst werden: »Ihr seid ein Schelm und fahrt auf den Straßen. Ich will mich in acht nehmen.«

»Es nützt dir nichts, denn ich will dich singen,« erwiderte der Pfeifer eindringlich, legte den Arm um ihre Hüfte und flüsterte ihr ins Ohr.

Ihr Blick träumte zu Boden, um ihre Lippen zuckte es, halb Lächeln, halb Bangen.

Der Sauhirt war aufgestanden und betrachtete die zwei mit albernem Grimm. Jetzt stampfte er mit dem Fuß auf den Boden und ließ einen gurgelnden Laut hören.

Der lang Hans wandte sich und blickte ihn streng an: »Kusch!« Und sein Finger wies gebieterisch nach der Tür.

Dem Burschen fiel der Kopf auf die Brust. Scheu kroch er ins Haus, stellte den Napf in der Küche ab und kauerte dann im Vorraum nieder, so daß er zur Tür hinaussehen konnte. Der Hans erzählte dem Mädchen was Lustiges. Sie wand sich in hellstem Gelächter, und ihre Augen waren wie blitzende Frühlingsquellen.

Jörg Dietz hatte den halben Eierkuchen aufgegessen und räusperte sich vernehmlich. Als es nichts nützte, stand er auf kam zögernd heran und stellte sich hinter den Pfeifer, der ruhig weiterredete. Der Jörg stupfte ihn am Ellenbogen und sagte leise: »Der Kuchen wird kalt.«

»Iß ihn auf,« versetzte Hans, sich umkehrend, »ich bin ganz satt.«

Jörg blieb stehen und betrachtete das Mädchen von oben bis unten. Sie lächelte ihn spöttisch an.

»Wie heißest du?« fragte er.

Der Pfeifer lachte hellauf.

»Schulmeister ganz und gar! Die Blumen blättert er im Büchel nach, die Sterne guckt er durchs Rohr an, und die Mädchen fragt er, wie sie heißen. Junge, du wirst's weit in der Gelahrtheit bringen, aber nicht bei den Weibern.«

»Trudel« sagte das Mädchen.

Der Jörg machte eine verlegene Stirn und wußte nichts weiter.

»Ihr wollt dann wirklich nicht essen . . .?« zog er schließlich heraus. 34

»Nein,« sagte der lang Hans. »Bring das Zeug hinter den Latz, sonst schnappt's der Hund.« Wirklich hatte sich inzwischen ein dürrer Köter verstohlen irgendwo hervor und an den Tisch gemacht, wo er mit traurigen Augen stand.

Jörg ging zur Bank zurück. Der Pfeifer nahm die Trudel bei der Hand und sprach auf sie ein. Der Wirt ging gleichgültig vorüber und wandte sich zum Landsknecht und dem Böhmen. Die Bärbel erschien in der Tür und verschwand wieder. Der lang Hans neigte sich und küßte die Trudel auf den Mund.

Da kamen Hufschläge die Straße herab. Drei Reiter bogen aus dem Seitental.

 


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