Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

63. Sklavenloos

Während des Restes der Nacht, mit der unser voriges Kapitel schließt, ging der Baron Brand einsam durch die Straßen der Residenz. Er schien sich durchaus keinen Weg vorgezeichnet zu haben, sondern schritt gerade aus, und wenn die Straße sich auf der Seite, wo er gerade wandelte, bog, so folgte er dieser Krümmung, unbekümmert darum, daß er vielleicht eine halbe Stunde später wieder auf demselben Platze anlangte, von dem er ausgegangen war.

Ganz ohne Absicht gelangte er so in die Nähe des Fuchsbau's; hier blieb er dann aber mit einem Male stehen, blickte in die Höhe und murmelte etwas vor sich hin. – »Es sind ihrer zu Viele, die das gehört,« sprach er nach einer Pause mit lauterer Stimme; »ja, beim Teufel; wenn ich gewußt hätte, daß dieser Herr von Steinfeld so sorglos in seiner Postchaise heute durch den dunklen Abend gefahren wäre, ich hätte wohl Mittel gewußt, dem Vorwitzigen ein Schloß vor den Mund zu legen, um ihn zu verhindern, seine leichtsinnigen Geschichten vor der ganzen Welt preiszugeben. – Teufel! Teufel! Ich kann da gar nichts machen, ich bin wehrlos wie ein Kind. Wenn er sie in den nächsten Tagen plötzlich wiedersieht, so muß er sie erkennen, denn sie hat sich nicht viel verändert. – Und wenn er auch wirklich sein gegebenes Versprechen hält und sie nicht wiedererkennen will – oh! da ist ein Wort genug, ein Blick, um den Verdacht des alten eifersüchtigen Mannes zu erregen. – Die Aermste!« –

Während dieses Selbstgesprächs hatte er sich dem uns bekannten Durchgange genähert und trat hinein, um sich vor dem heftigen und kalten Winde zu schützen, der durch die Straßen fegte, denn jetzt, wo er aus dem dumpfen Hinbrüten erwacht war, und wieder anfing nachzudenken und zu überlegen, fühlte er wohl, wie frostig es sei.

»Da bekam ich auch, ehe ich zu dieser verfluchten Soirée fuhr, einen Zettel, den ich nur flüchtig lesen konnte. Laßt mich ihn doch noch einmal schauen!« Er griff in die Brusttasche seines Frackes und zog ein Papier hervor. Auf demselben stand: »Nach dem Kinde wurden Nachforschungen gehalten, die mir verdächtig erschienen; man wußte bestimmt, daß es dort gewesen sei, und man versprach eine große Belohnung, wenn man seinen jetzigen Aufenthalt erfahren könne, eine noch größere, wenn es möglich sei, den Buben nur ein einziges Mal und auch nur ein paar Augenblicke zu sehen.« –

»Schön, schön!« murmelte der Baron mit einem bittern Lächeln; »wir wollen Sorge tragen, daß das vorderhand nicht geschieht. – Armes Kind! – Ja, ja, ich will zu ihm, das wird meine Nerven beruhigen, und wenn ich seinen festen, ungestörten Schlaf sehe, seine regelmäßigen Athemzüge höre, so werden meine Gedanken stiller, geordneter und klarer werden. – Pfui! wie kann man sich überhaupt so leicht aus der Bahn werfen lassen.«

Er nahm seinen Hut ab, fuhr mit der Hand über die Stirne und durch das dichte Haar, trat, nachdem er sich wieder bedeckt, auf die Straße zurück und ging mit eiligen Schritten dem oberen Theile der Stadt zu. In einer der besseren Straßen hielt er vor einem kleinen, aber ziemlich ansehnlichen Hause und blickte in die Höhe, ob sich nicht irgendwo Licht sehen lasse. Aber es war erst vier Uhr, ein Wintermorgen, wer sollte da schon aus dem Bette sein! Das dachte auch der Baron; er zog einen zierlichen kleinen Schlüssel aus der Tasche und öffnete mit demselben das große, aber, wie es schien, äußerst kunstreich gemachte Schloß. Geräuschlos drückte er die Thüre hinter sich zu und stieg mit leisen Schritten die Treppen hinauf.

Das Haus hatte nur zwei Stockwerke; auf dem ersten hielt er, öffnete eine hier befindliche Glasthüre, und zwar abermals vermittelst seines Schlüssels, ging hindurch und trat in ein Zimmer, wo er, ohne lange umherzutappen, ein Feuerzeug fand und ein Licht anzündete.

Bis hierher hätte man glauben können, das Haus sei unbewohnt; doch kaum erfüllte sich das Gemach mit dem hellen Schein des Lichtes und drang durch eine halbgeöffnete Thüre in das Nebenzimmer, als von dort einige Töne gehört wurden, wie von Jemandem ausgehend, der aus tiefem und festem Schlafe geweckt wird.

»Oho!« sagte eine kräftige Stimme; »beim Blaffer! sind wir schon so spät daran? – Sind Sie es, Frau Fischer? – Nach meiner Idee könnte es höchstens Drei oder Vier sein; ich habe darin einen merkwürdigen Treff und irre mich selten. – A – a ah! – Nun, Frau?«

Der Baron nahm aber, ohne zu antworten, das Licht von dem Tische, schritt an das Nebenzimmer und leuchtete hinein.

»Alle Teufel!« rief nun plötzlich die Stimme; zu gleicher Zeit krachte das Bett und man hörte, wie Jemand eilfertig heraussprang. – »Sie sind es, gnädiger Herr? Das hätte ich mir nicht träumen lassen. Bitte nur um zwei Sekunden Zeit, damit ich im Stande bin, meinen äußeren Menschen mit meinen Gefühlen von Hochachtung und Ergebenheit in Einklang zu bringen.«

»Thun Sie das, lieber Beil!« erwiderte der Baron lachend, indem er das Licht auf den Tisch zurücktrug und sich in die Ecke des Sopha's setzte.

»Unverhofft kommt oft,« sagte die Stimme im Nebenzimmer, »aber diesmal hat das Sprichwort nicht Recht, denn Sie kommen mir gar nicht unverhofft, gnädiger Herr.«

»Wie so?«

»Nun, ich träumte vorhin von Ihnen, aber – bei Blaffer und Compagnie! – es war ein garstiger Traum.«

»So, so, Herr Beil. Lassen Sie hören.«

»Ein böser Traum; ich kann ihn wahrhaftig nicht erzählen; es wäre wider den Respekt.«

»Wir sind ja unter uns. Nur heraus damit!«

»Nein, bei allen Blaffern der ganzen Welt! er ist unästhetisch.«

»Jetzt haben Sie meine Neugierde rege gemacht und die müssen Sie nun auch befriedigen.«

»Aber es war ein zu garstiger Traum. Das heißt, wie man es nimmt; für mich war er unangenehm, weil ich ihn mit ansehen muhte. Da aber die Träume immer das Umgekehrte bedeuten, Steine: Geld, Thränen: Freude, so wird er auch Ihnen ein Glück prophezeien. Mir träumte nämlich, Sie wären aufgehenkt worden. Ist das nicht eine große Lächerlichkeit?«

»Allerdings,« meinte der Baron. Obgleich aber dabei der Ton seiner Stimme ein heiterer war, so zog er doch die Augenbrauen düster zusammen und sein Mund zuckte ein klein wenig. »Seien Sie ganz ruhig,« sagte er nach einer Pause, »der Traum bedeutet auf jeden Fall etwas Anderes, denn gehenkt werde ich niemals, darauf können Sie sich verlassen.«

In diesem Augenblicke erschien Herr Beil unter der Thüre des Nebenzimmers, sein Nachtlicht in der Hand. Ehe er aber heraustrat, sprach er mit komischem Ernste: »Ich befinde mich da zwischen zwei Feuern, wenn ich eine gewählte Toilette mache, wie es sich gehört, so muß ich Sie warten lassen, lasse ich Sie aber nicht warten, so muß ich erscheinen, wie ich eben bin.«

»Vortrefflich!« entgegnete lachend der Baron. »Setzen Sie sich dahin, wenn es Ihnen nämlich nicht zu kühl ist; sonst können Sie auch auf und abspazieren.«

»Ich werde mich setzen,« erwiderte Herr Beil. Darauf zog er seinen Schlafrock vorn so züchtig als möglich übereinander und ließ sich mit einer ziemlich steifen Kopfneigung nieder, was in der That so komisch aussah, daß der Baron laut lachte.

»Ich war heute Abend recht verdrießlich,« sagte dieser darauf. »Sie müssen mir verzeihen, lieber Beil, wenn ich dachte, eine kleine Unterredung mit Ihnen würde mich freundlicher stimmen. Und ich bin überzeugt, daß ich Recht hatte, ich fühle mich schon viel leichter und angenehmer. Wenn Sie mir ferner eine gute Auskunft über den Kleinen geben, so werde ich Ihre Wohnung heiter verlassen.«

»Der Kleine befindet sich vollkommen wohl,« gab Herr Beil zur Antwort. »Das ist ein merkwürdiger und gescheidter Bube, etwas eigensinnig, etwas gewaltthätig, aber ich liebe das und hasse die Duckmäuser.«

»Er schläft?«

»Ob? Seine zehn Stunden, daß es kracht.«

»Und waren Sie gestern mit ihm aus?«

»Versteht sich; wie alle Tage, Ihrem Befehle gemäß.«

»Aber mit der gehörigen Vorsicht?«

»Wir fahren vor die Stadt, jeden Tag anderswohin, dort spazieren wir umher, bis es dunkelt. Es kommt Niemand Unberufenes in unsere Nähe; ich wurde es aber auch Keinem rathen.«

»Das freut mich,« sagte der Baron. »Also Sie bemerkten bis jetzt Niemand, der sich Ihnen zudringlich genähert hätte?«

»Ein einziges Mal etwas derart vor ein paar Tagen. Ein schäbig gekleideter Kerl – er trug trotz des kalten Wetters einen dünnen schwarzen Frack – begegnete uns, wie es schien ganz zufällig.«

»Er war lang und mager?« fragte aufmerksam der Baron.

»Ganz recht und grüßte uns, als er vorbeiging. Aber der Kleine benahm sich musterhaft; obgleich er jenen Gruß sah, that er doch nicht dergleichen, und erst, als wir weit voneinander entfernt waren, zupfte er mich am Arme und sprach: ›Den habe ich gekannt. Er war es, der mich aus dem garstigen Hause fort brachte zu dir und der lieben Frau Fischer.‹«

»Und jener Mensch – wo ging er hin?«

»Er schlenderte eine Zeit lang hinter uns drein, ich aber nahm auf dem nächsten Fiakerstand einen Wagen und ließ mich an's entgegengesetzte Ende der Stadt bringen, von wo ich mich vollends zu Fuß nach Hause begab.«

»Bravo, Herr Beil!« lächelte der Baron. »O, ich verstehe mich auf das menschliche Gesicht, ich wußte, daß ich in Ihnen den rechten Mann fand; wahrhaftig den rechten,« setzte er nach einer Pause wie zerstreut hinzu, und wiederholte mit halblauter Stimme: »Ja, den rechten – Jemand, der Vertrauen verdient, vollkommenes Vertrauen; und den zu finden war schon lange mein sehnlichster Wunsch.«

»Sie sind zu freundlich gegen mich,« erwiderte Herr Beil. »Aber was kann Ihnen meine unbedeutende Persönlichkeit sein, Ihnen mit Ihren großen und mächtigen Verbindungen. Ich bin ein Nichts, dessen Sie sich gnädigst annahmen, und um nur Ihre Wohlthaten noch mehr zu versüßen, wiederholen Sie mir beständig, Sie seien mit meinen geringen Diensten zufrieden, Sie setzen Ihr Vertrauen in mich.«

Wir wissen nicht, ob der Baron diese schöne Rede seines Gegenübers gehört; er hatte den Kopf in die Hand gestützt, und als er jetzt nach einem tiefen Seufzer empor fuhr und aufstand, sagte er: »Ich will einen Augenblick den Kleinen sehen; wenn es Sie nicht friert, bleiben Sie hier, ich komme gleich wieder.« –

»Wenn es mich nicht friert,« dachte Herr Beil, als Jener das Zimmer verlassen; »allerdings ist es nicht überflüssig warm, aber dem Manne kann geholfen werden; die gute alte Frau wird den Ofen schon geladen haben, wie sie es immer des Abends zu machen pflegt; ich will das Licht darunter halten, und da werden wir bald im Warmen sitzen.« Er that so, zündete das Feuer an, und bald krachte und prasselte es in dem Ofen; und als der Baron nach einer Viertelstunde zurückkam, entströmte demselben schon eine behagliche Wärme.

»Es ist doch besser so,« meinte lächelnd Herr Beil; »namentlich für Sie, gnädiger Herr,« setzte er forschend hinzu, »denn Ihr Anzug kann den kalten Morgen nicht so gut vertragen als ich. Warum haben Sie Ihren Paletot draußen gelassen? – Soll ich ihn holen?«

»Sie werden ihn nicht finden,« entgegnete der Baron; »ich brachte ihn nicht mit, sondern schickte ihn in meinem Wagen nach Hause.«

»A-a-h! – So!«

Baron Brand hatte sich in einen Lehnstuhl nahe beim Ofen niedergelassen, er legte seine Arme auf die Lehne desselben, so daß seine Hände schlaff herabfielen, ebenso der Kopf, der so tief niedersank, bis sein Kinn die Brust berührte. So blieb er vielleicht zehn Minuten lang in tiefes Nachsinnen verloren, sein Gesicht war bleich, seine Augen geröthet, als habe er vor dem Lager des Kindes geweint. – Jetzt verbarg er seine rechte Hand auf der Brust, sein ganzer Körper schüttelte sich wie im Fieberfrost, er seufzte tief, worauf er seinen Kopf langsam erhob und Herrn Beil, der ihn forschend betrachtete, mit einem erzwungenen Lächeln ansah.

»Jetzt habe auch ich geträumt,« sagte er nach einer Pause, »fast ebenso finster wie Sie, wachend geträumt, und das ist viel schlimmer. Apropos! Erinnern Sie sich auch noch zuweilen jener Nacht, von der Sie mir erzählt, wissen Sie, am Kanale, wo Ihnen das Gespenst erschienen?«

»Ich werde das nie vergessen,« sagte plötzlich sehr ernst werdend Herr Beil.

»Sie waren damals in einer traurigen, gedrückten Stimmung und erzählten dem Phantom Ihre Lebensgeschichte.«

»Ach ja, und ich muß sagen, für ein Gespenst war die Gestalt von damals theilnehmend genug und sprach recht vernünftig.«

»Und als Sie erzählt, fühlten Sie sich sehr erleichtert, und auch auf andere Gedanken gebracht? – – Nun wohlan, auch ich bin heute in einer solchen Stimmung, wie Sie damals. Wollen Sie mein Gespenst vorstellen und mich eine halbe Stunde lang geduldig anhören, so hoffe ich, es soll auch mir eine Erleichterung sein.«

»Ich werde mich dadurch geehrt fühlen,« entgegnete Herr Beil, indem er die Hand auf's Herz legte.

»Aber Sie wissen, daß die Gespenster ein unverbrüchliches Stillschweigen bewahren über das, was man ihnen anvertraut, daß sie schweigsam sind wie das Grab.«

»Aus welchem sie kommen,« sagte schaudernd Herr Beil. »Ich höre und werde ebenso schweigsam sein, stumm wie das Grab, – ganz Gespenst.«

Der Baron lehnte sich in seinen Sessel zurück, blickte an die Decke empor und drückte die Fingerspitzen beider Hände fest gegen einander. »Sie haben noch nie Deutschland verlassen,« sagte er, »Sie gingen noch nie südlich, überstiegen noch nie die schneebedeckten Alpen, um von ihnen herabsteigend Italien zu erreichen. Ah! das ist ein schönes, herrliches Land, ein angenehmer Himmel, prächtige Gegenden, schöne Menschen; glücklich wer dort hindurch fliegen kann mit einem leichten, fröhlichen Herzen, sich bald hier aufhaltend, bald dort, wie es ihm gerade gefällt, bald in großen, lebhaften Städten, bald in der malerischen Einsamkeit des Landes; jetzt an des Meeres prächtigen Felsgestaden, bewundernd dem Tosen der Wellen zulauschend, jetzt in die Berge hineinfliehend, wo man nichts mehr vernimmt, als das Rauschen der Lorbeer- und Orangenzweige und den Gesang eines Vogels. –

»O Palermo, reizende Stadt! Mit deinem prächtigen Hafen, mit dem Monte Pellegrino, deinem Wahrzeichen und riesenhaften Leuchtthurme; denn glänzt er nicht weit in die See hinaus namentlich Abends und Morgens, in immer wechselnden, brennenden Farben! Ja, bis zum späten Abend, wo die violetten Schatten seiner Schluchten immer größer und bedeutender werden, langsam die Gluth seiner Lichter auslöschen, und ihn endlich mit dem nächtlichen Schleier überziehen. O Monte Pellegrino, wie oft hing mein Auge an deinen seltsamen, zackigen Formen, wie oft verfolgte es den Weg, der dich in den eigensinnigsten Wendungen erklimmt; – und ruhig blickst du auf Palermo, die prächtige glänzende Stadt mit ihren gelben Kuppeln und strahlenden Zinnen, rings umgeben von den zahllosen Orangen- und Citronengärten, die mit ihrem tiefdunklen Laube einen Kranz um dich bilden, so daß es aussieht, als läge sie ganz von Bergen eingefaßt – eine kostbare goldglänzende Frucht, mitten in einer ungeheuren Felsenschale, sanft gebettet auf dem saftigen Grün. –

»Laßt uns still die Stadt durchschreiten, ich will nicht sehen und gesehen sein, gehen wir hinaus zu einem der Landthore, dem Wege folgend, dessen hohe Ränder mit uralten Aloen bewachsen sind, theils im frischen Safte prangend auch wohl mit verwelkten Blättern, denn sie trieben einen Blütenstengel, der, dreißig Fuß hoch, nach allen Seiten seine zahlreichen Kronen hinaus streckt, und nun, als er seine Bestimmung erfüllt, vergehen mußte. – Ueber eine Brücke führt uns der Weg, unten rauscht über die glatten Kiesel ein klares Wasser still und behaglich dahin; es fließt im Schatten großer Oleanderbüsche, deren prächtige Blumen sich kokett in seinen Wellen spiegeln. An einfachen gelben Häusern kommen wir vorüber, meistens uralten Gebäuden von eigentümlicher, malerischer Bauart; man glaubt, hinter den vergitterten Fenstern müßte noch heute Turban und Kaftan erscheinen. Schmucklose, aber kunstreiche Wasserleitungen lehnen sich an ihre Ecken oder laufen auch wohl auf schlanken Bögen von einem zum andern; Schlingpflanzen umranken sie, schauen aber neugierig in die offene Rinne und das rieselnde Wasser, und die tiefer hängenden Blätter schaukeln sich auf der Fluth, aufwärts gekehrt und ihre Blüten blicken zu den schlanken Palmen empor, welche die spitzigen Blätter wie schützend über das alte Gemäuer ausstrecken. – Alles hier ist Gluth und Glanz, strahlende Lichter und die tiefsten Schatten nebeneinander, keine nebelhaften, matten Uebergänge, wie im kalten Norden. –

»So immer weiter wandelnd sind wir langsam aus der Ebene emporgestiegen, und sehen, rückwärts blickend, die Stadt, die sie umgebenden Gärten, den wunderbaren Berg der heiligen Rosalie, zu seinen Füßen die ruhige, dunkle Bucht, und weiter hinaus das gewaltige Meer, tiefblau und nur an einem Streifen am Horizont bedeckt von Sonnenglanz und Flimmer.

»Hier find wir auch am Ziele. Wir stehen vor einem großen Thore, das halb von überhängenden Bäumen verdeckt ist, einem Thore mit Eisengittern und tadellosen Wappenschildern. Hinter dem Thore beginnt ein weitläufiger Park, in dem Parke liegt ein großes Schloß und in dessen prachtvollsten Zimmern ward ich seiner Zeit geboren. Meine Mutter war die Tochter einer der mächtigsten Familien Palermo's, mein Vater aber ein Engländer, der auf einer großen Vergnügungsreise eines Tages mit seiner Yacht in der Bucht ankerte, an's Land stieg, sich durch gute Empfehlungsbriefe in den besten Häusern einführte, meine Mutter sah, sich in sie verliebte und nicht eher ruhte, bis ihr Vater, der Marchese von B., zu einer Heirat mit dem Fremden willigte. Die Geburt meines Vaters stand übrigens der meiner Mutter nicht nach; er war der älteste Sohn des Lord K., einer reichen schottischen Familie, deren Einwilligung zu der Verbindung mit meiner Mutter zu erhalten er als sehr leicht darstellte. Der alte Marchese, dessen Gunst er sich zu erringen gewußt hatte, gab die Heirat zu und etablirte das junge Paar auf dem Schlosse, von dem ich Ihnen sprach.

»Wenn auch mein Vater von seinem Vermögen noch nichts erhalten hatte, so besaß er doch Gelder genug, um bis zur erlangten Einwilligung seiner Eltern glänzend leben zu können. Diese Einwilligung aber blieb aus, ja, auf viele Briefe, welche sowohl der Marchese als mein Vater nach Schottland schrieben, erfolgte keine Antwort, und als man sich endlich eines Geschäftsmannes bediente, berichtete dieser, Lord K. habe sich in Folge dieser Heirath von seinem ältesten Sohne losgesagt, ihn enterbt und er existire für ihn gar nicht mehr in der Welt.

»Das muß ein harter Schlag für meine Eltern gewesen sein; die Schwestern und Brüder meiner Mutter, in ihrem Stolze gekränkt, zogen sich von ihr zurück, der Marchese von B. starb bald darauf, und da nur ein geringer Theil seines Vermögens meiner Mutter zufiel, auch die Gelder meines Vaters ziemlich aufgezehrt waren, so mußte man sich einschränken. Uebrigens schien das dem jungen Paare keinen Kummer zu verursachen, sie liebten sich herzlich; ihre Kinder – das war ich und eine Schwester – wuchsen zu ihrer Freude gesund und kräftig heran, kurz, es war immer noch eine glückliche Familie.

»Ob und welche Schritte nun während dieser Zeit mein Vater in Schottland gethan, weiß ich nicht, genug aber, plötzlich kam die Nachricht, Lord K. wolle sich mit seinem Sohne aussöhnen, er sandte Gelder und Briefe, er schrieb, das Geschehene soll vergessen sein, nur stellte er die Bedingung, meine Eltern sollten Sicilien verlassen und nach der Heimat meines Vaters zurückkehren. So sehr meine Mutter auch ihre schöne Insel liebte, so hatte sie doch in der letzten Zeit so viele Kränkungen erfahren, daß sie ihre Vaterstadt, ihre Familie nicht ungern verließ.

»Wir schifften uns also ein; ich zählte damals zehn Jahre, meine Schwester vier. Unser Beider einziger Kummer war, daß wir die alte bekannte Dienerschaft unseres Hauses zurücklassen mußten; so hatte es Lord K. gewünscht. Die Abreise aus Sicilien schmerzte uns Kinder nicht besonders; uns freute das schöne Schiff, welches wir bestiegen, die bevorstehende Reise – und als wir Neapel gesehen, Rom und die hohen schneebedeckten Berge der Schweiz, dachten wir nicht mehr an unseren Monte Pellegrino, nicht mehr an die schöne Bucht Palermo's und noch viel weniger an die thränenerfüllten Augen der alten Diener unseres Hauses.

»Die Erinnerung an Sicilien trat auch nicht eher wieder lebendig vor uns, als bis wir uns der Küste Schottlands näherten. Es war ein frostiger und unheimlicher Herbstabend, das Meer bewegt, die grauen Wellen schwankten hin und her, und wo sie zusammenstießen, bildeten sich weiße Schaumkronen auf dem schmutzigen Wasser. Vor uns wurde das Land sichtbar, die hellen, zerklüfteten Felsen blickten unbestimmt und geisterhaft aus dichtem Nebel hervor. Schwer zerrissene Wolkenmassen hingen am Himmel, und dort am Lande hatten sie sich tief herabgesenkt, daß die aufsteigenden Dünste sichtbar mit ihnen in Verbindung traten. Weiße Möven mit ängstlich gellendem Schrei umflatterten in Schaaren unser Schiff, flohen vor den Windstößen dem Lande zu oder schaukelten einige Augenblicke vor und neben uns auf den Wellen. Mein Vater war unten in der Kajüte beschäftigt, die Mutter und wir auf dem Verdeck. Ich vergesse diesen Augenblick nie, in meinem ganzen Leben nicht; wie schon gesagt, wir dachten so lebhaft an unsere heimatliche Bucht, die namentlich Abends bei untergehender Sonne so prächtig glüht und glänzt – unser neues Vaterland wollte uns gar nicht gefallen. Die Mutter war traurig und bewegt, wie ich sie nie gesehen, sie hielt uns Beide in ihren Armen, sie drückte unsere Köpfchen an sich, und wenn sie sich zu uns herab beugte, um uns zu küssen, so fühlte ich deutlich, wie ihre heißen Thränen auf meine kalten Wangen fielen. Ich werde das nie vergessen.

»Bald wurden die Segel eingezogen, die Matrosen eilten auf's Verdeck, das Schiff legte bei und wir schwammen langsam in das Innere einer kleinen Bucht, die rings von drohenden Felsen umgeben war. Es war schon so dunkel, daß wir auch diese nur in schwarzen Umrissen an dem helleren Nachthimmel bemerken konnten. Am Ufer sahen wir ein paar Lichter, welche einsam durch die Nacht leuchteten. Die Brandung toste, der Wind sauste, es war ein recht unheimlicher Abend. Bald darauf kamen Boote heran; wir wurden mit Vater und Mutter hinein gebracht, und in kurzer Zeit erreichten wir das Ufer. Dort standen Wagen bereit; sie waren mit Reitern umgeben, die Fackeln trugen. Ein alter Mann – ich sehe sein widriges Gesicht heute noch vor mir – hielt eine solche, stand neben seinem Pferde und grüßte meinen Vater ehrerbietig.

»Wir stiegen ein und fort ging's im vollen Galopp, einen Berg hinauf, lange, lange über eine öde Haide. – ›Du findest wohl Schottland nicht so schön wie Italien?‹ sagte mein Vater zur Mutter, die hinaus in das Dunkel starrte und ihre Hand auf die seinige gelegt hatte. – ›Ich weiß nicht, mein Herz friert,‹ versetzte sie; ›es ist aber ein zu häßlicher Abend; auch die Kinder scheinen ängstlich‹. – ›Nur Geduld,‹ entgegnete der Vater, ›morgen bei Sonnenlicht und an Ort und Stelle wird es euch schon gefallen. O, Schottland ist berühmt wegen seiner prachtvollen Gegenden.‹

»Wir fuhren vielleicht zwei Stunden beständig, sehr schnell durch die Nacht dahin; endlich hielt der Wagen. Ein eisernes Thor knarrte und seufzte in seinen Riegeln; wir fuhren hindurch, die Räder rollten sanft auf einem Sandwege. Wir befanden uns in einem großen und, wie es schien, sehr schön angelegten Parke. Gebüsche standen am Wege, und hohe Bäume, deren Zweige vom Winde hin und her gejagt wurden, hingen über unserem Wagen. Zuweilen öffnete sich auch die Aussicht auf Wiesengründe, und auf denselben sah man glänzende Linien und Punkte, kleine Bäche, Teiche und Seen. –

»Verzeihen Sie mir, bester Beil,« unterbrach hier der Baron lächelnd seine Erzählung, »daß ich etwas zu umständlich bin; ich könnte Ihnen das Alles mit wenigen Worten berichten, aber es ist so wichtig für mich, daß ich meinen Zuhörer in eine passende Stimmung bringe.«

»Was Ihnen gelungen ist,« antwortete der Andere mit leiser Stimme; »ich fühle mich bewegt und erwartungsvoll.«

»Endlich hielt der Wagen,« fuhr der Baron ruhig fort, »wir standen vor einem großen Schlosse; der alte Mann, den ich schon drunten am Ufer bemerkt, näherte sich meinem Vater und überreichte ihm ein Schreiben. Dieser riß den Umschlag ab, durchflog den Inhalt und rief aus: ›Ah! das ist mir unangenehm.‹ Darauf wandte er sich zu meiner Mutter und sagte: ›Mein Vater, der uns hier empfangen wollte, wurde plötzlich unpäßlich und mußte in dem Städtchen C., einige Meilen von hier, die Nacht zubringen. Er wünscht mich aber sogleich zu sprechen, und du wirst einsehen, daß es meine Pflicht ist, zu ihm hinzueilen.‹

»Das sah meine Mutter allerdings ein, bat aber schüchtern, ihn begleiten zu dürfen. Es sei ihr ängstlich hier allein in dem fremden Schlosse, setzte sie mit leiser Stimme hinzu. – ›Wo denkst du hin?‹ entgegnete der Vater. ›Es ist dunkel und nach E. ein schlechter Weg. Und dann, liebes Kind, was fabelst du von einem fremden Schlosse, es ist ja dein eigenes; hier werden wir künftig wohnen. Morgen mit dem Frühesten bin ich wieder bei dir.‹

»Nach diesen Worten traten wir in das große Gebäude und wurden von zahlreicher Dienerschaft empfangen. Lakaien mit silbernen Leuchtern trugen mich und die Schwester die breiten Steintreppen hinan, zwei Kammerfrauen küßten ehrerbietig den Saum des Mantels meiner Mutter und folgten ihr, welche, vom Vater geführt, vor uns ging.

»Die Gemächer oben waren wohl prächtig und schön, aber groß und ernst. Wände und Decken waren dunkel, mit Schnitzwerk bedeckt, und die Vergoldung an denselben blickte uns im Glanz der Lichter wie verstohlenerweise mit glühenden Augen an. Wir speisten zu Nacht, der Vater zeigte uns unsere Zimmer, dann drückte er, Abschied nehmend, die Mutter herzlich an sich, küßte mich und die Schwester und entfernte sich.

»Die Mutter sank auf einen Fauteuil nieder und nahm meine Schwester in ihre Arme. Ich schlich mich an das Fenster, schlüpfte hinter den schweren Vorhang, der es bedeckte, und blickte m die Nacht hinaus. Drunten im Hofe war es lebendig; ich sah den Qualm der Fackeln, und zuweilen, wenn ihn ein Windstoß auf die Seite jagte, flackerten die dunkelrothen Flammen hoch empor und erleuchteten das finstere Schloß mit seinen vielen Fenstern. Der Vater stieg zu Pferde und gleich darauf sah man ihn wegreiten; der alte Mann ihm zur Seite, die Reiter mit den Fackeln vor und hinter ihm. Ich weiß nicht, wie sie so dahin galoppirten durch die grünen Gebüsche, über den geschlungenen Weg, jetzt verschwanden, so daß man nichts mehr sah als die überhängenden Zweige, von der rothen Gluth der Fackeln angestrahlt, jetzt wieder zum Vorschein kamen, da schnürte eine unerklärliche Angst mein Herz zusammen. Sie sahen so unheimlich aus, die finsteren Gestalten auf den dahinjagenden Pferden; mir war gerade so, als entführten sie gewaltsam meinen Vater, als gehe er einem Unglück entgegen und wisse es selbst nicht. Ich wollte ihn zurückhalten – er mußte gerade den Park verlassen haben; man sah nur noch einen unbestimmten Schein zwischen den Bäumen, der aber plötzlich erlosch. Ich klopfte an die Scheiben, ich wollte das schwere Fenster öffnen, indem ich ausrief: ›Vater! Vater! reite nicht hinweg, verlasse uns nicht, o du kommst nicht zu uns zurück!‹«

Bei diesen letzten Worten war der Baron, von der Erinnerung überwältigt, empor gesprungen, streckte die Hände von sich ab und hatte die Augen starr und weit geöffnet. – »Ah!« sagte er nach einer Pause, während welcher sich seine Züge wieder belebt hatten, »ich kann es mir nun einmal nicht abgewöhnen, zu lebhaft zu denken. Ich bin ein schlechter Erzähler. Jetzt will ich mich aber zusammennehmen.

»Es war das für uns alle Drei ein trauriger Abend. Die Mutter saß in ihrem Lehnstuhle, hielt uns Beide in den Armen und starrte nachdenkend vor sich hin, fuhr aber bei dem geringsten Geräusch, das sich im Schlosse hören ließ, erschreckt in die Höhe und drückte uns ängstlich an sich, als wolle sie uns vor irgend einer Gefahr beschützen. Endlich gingen wir zur Ruhe – wir schliefen in zwei Zimmern nebeneinander, ich und meine Schwester in dem einen, die Mutter in dem anstoßenden; die Thüre blieb natürlicherweise offen. Ich weiß nicht, um welche Stunde es war, als ich erwachte; ich glaubte Stimmen im Nebenzimmer zu vernehmen, und als ich mich in meinem Bette aufrichtete, hörte ich wohl, daß ich mich nicht getäuscht hatte.

»Der Morgen dämmerte, aber da es spät im Herbste war, drang auch nur ein schwaches, trübes Licht durch die zugezogenen Fenstervorhänge. Ich blickte nach meiner Schwester, die ebenfalls aufrecht in ihrem Bette saß. – ›Was ist das?‹ fragte ich sie. – ›Ich weiß nicht,‹ gab sie mir zur Antwort. ›Die Mutter weint und bittet.‹ – ›Ich will zu ihr!‹ rief ich aus; ›ich will ihr helfen.‹ – O ich war damals ein energisches Kind; Furcht kannte ich nicht. – ›Die Thüren haben sie zugeschlossen,‹ sagte meine Schwester. Und so war es in der That. Ich glitt von meinem Lager herab, um sie wieder zu öffnen; doch kaum hatte ich mich auf einige Schritte dem Nebenzimmer genähert, als eine starke Hand meinen Arm faßte. Ich zuckte zusammen, blickte empor und sah neben mir jenen alten Mann mit den finsteren, unangenehmen Zügen, der uns am Ufer der See empfangen hatte und später mit meinem Vater fortgeritten war. –

»›Was willst du?‹ fragte er mit strenger Stimme. – ›Ich will zu meiner Mutter,‹ sagte ich ihm; ›hörst du nicht, daß sie weint? Wer hat es gewagt, ihr etwas zu Leide zu thun?‹ – ›Gewagt!‹ lachte er höhnisch; ›geh' in dein Bett, Knabe, und bekümmere dich nicht um Sachen, die dich nichts angehen.‹ Damit ließ mich seine Hand los und stieß mich mit der Faust an die Schulter, daß ich ein paar Schritte in das Zimmer hinein taumelte und gefallen wäre, wenn ich mich nicht an meinem Bette gehalten hätte. – Ich war gestoßen worden, zum ersten Male in meinem Leben und von der Hand eines Dieners; ich ballte meine Fäuste, ich biß meine Lippen blutig; was sollte ich machen? Das da war ein starker, wohl bewaffneter Mann, ich ein kleiner, fast unbekleideter Knabe; ich zitterte vor Zorn und Kälte, setzte mich auf mein Bett und strengte Ohren und Augen an, um zu sehen und zu hören. – Ja, es war die Stimme meiner Mutter, die ich nun im Nebenzimmer wieder vernahm; sie bat, sie weinte, sie rief nach uns. – ›So gebt mir wenigstens meine Kinder,‹ sprach sie; ›ich will ja weiter nichts, o Gott! o Gott! nur meine Kinder, meine armen kleinen Kinder!‹ – Ich weinte mit ihr und rief so laut ich konnte: ›Mutter! Mutter! hier sind wir, laß uns nicht allein!‹ – Der alte Mann, der an's Fenster getreten war, er, der mich gestoßen, streckte mir drohend die Faust entgegen und sagte hohnlachend: ›Schrei nur, kleine Schlange; man wird dich dafür züchtigen.‹

»Im Nebenzimmer war es stille geworden; der Mann wandte sich gegen die Scheiben und öffnete einen Flügel des Fensters. Unten im Hofe rollten Räder auf dem Sande, Fußtritte erschallten auf der Freitreppe vor dem Hause, und ich glaubte die Seufzer meiner Mutter zu vernehmen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte ich um mich her, ich suchte eine Waffe; ich wollte Mutter und Schwester, ich wollte mich vertheidigen. Ah! neben meinem Bette befand sich eine Trophäe von Dolchen und Messern aller Art; er hatte mich gestoßen, er hatte mich eine Schlange genannt, ich wollte es sein – ich wollte ihn stechen. Ich kroch auf mein Lager zurück, ich faßte nach einer der Waffen – es war ein schuhlanges Messer, zweischneidig, oben breit, unten spitz, das mir am nächsten hing, es ging leicht aus der Scheide, ich hielt es in meiner Hand, und verbarg es hinter dem Rücken. – Ah! da vernahm ich abermals die Stimme meiner Mutter; in herzzerreißendem Tone rief sie vom Hofe zu den Fenstern herauf: ›Meine Kinder! laßt mir meine Kinder!‹

»Der alte Mann beugte sich hinaus und rief hinab: ›Nur fort! Nur fort! Werft sie in den Wagen und macht, daß ihr von dannen kommt.‹ – Darauf hörte ich noch einen einzigen Schrei drunten, aber einen Schrei, dessen gräßlichen Ton ich nie vergessen werde. Man hörte den Wagen schließen, Peitschen knallen, dann knirschten die Räder aus dem Sande. –

»Ich faßte das Messer fest in die Rechte, er am Fenster verschloß die Scheiben wieder und trat in das Zimmer zurück. ›Jetzt zu dir, Bürschlein,‹ sagte er, und ging direkt auf mein Lager zu. In dem Augenblick war ich kein Kind mehr, ich fühlte nichts Menschliches in mir, ich war ein reißendes Thier, eine Schlange, eine wilde Katze. – ›Komm nur!‹ rief ich ihm entgegen, ›ich bin keine wehrlose Frau; komm nur, ich will mich vertheidigen.‹ Damit sprang ich in die Höhe, so daß ich auf meinem Bette stand. Die rechte Hand mit dem Messer hielt ich hinter meinem Rücken verborgen; er ahnete davon nichts, sondern sprach lachend: ›Die Peitsche wird dich geschmeidig machen.‹ –

– »Das waren auf dieser Welt seine letzten Worte; er war mir ganz nah, ich streckte plötzlich meine rechte Hand vor, und klug berechnend, daß mir zu einem Stoße die nöthige Kraft fehle, hielt ich den Arm steif und warf mich vom Bette herab ihm entgegen. Die Wucht meines kleinen aber doch schon schweren Körpers trieb ihm das zweischneidige Messer in die Brust – ja in die Brust, und zwar tief hinein bis an's Heft.«

»Gott im Himmel!« rief Herr Beil entsetzt, »das war ja ein Mord.«

Der Baron hatte das Letzte mit steigender Heftigkeit erzählt; sein Arm zuckte, seine Augen flammten, er warf sich mit dem Oberkörper vorwärts wie damals, als er jenen Stoß gethan; dann flogen seine Finger weit auseinander, als lasse er das Heft des zweischneidigen Messers fahren; doch versuchte er hierauf zu lächeln, strich sich mit der Hand über das Gesicht und sagte nach einem längeren Stillschweigen und nachdem er sich wieder vollkommen gesammelt: »Eigentlich war es kein Mord, es war eine Nothwehr; auch rächte ich meine Mutter. – Ich versichere Sie, bester Beil, eine höhere Macht hatte die Hand des Knaben gelenkt; jener alte Mann war der Vertraute und schlechte Rathgeber des Lord K., er hatte zu allem Dem beigetragen, was gegen die Mutter und uns unternommen wurde.« –

Hier schwieg der Erzähler, ein finsteres Lächeln flog über seine Züge, während er die Glieder seiner goldenen Uhrkette langsam durch die Finger gleiten ließ.


 << zurück