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Sechsundvierzigstes Kapitel.
Auf der Polizei


Es war schon vollkommen Nacht geworden, obgleich noch nicht so spät, daß nicht, noch hier und da sich Leute auf der Straße gezeigt hätten. In der Entenpforte war dies freilich nicht der Fall; hier begab man sich früh zur Ruhe, um auch wieder früh aufstehen zu können. Es war dies, wie schon bemerkt, ein ziemlich abgelegenes Quartier, und wenn man hier Jemand begegnete, so huschte er eilfertig vorüber, wie sich vor sich selber fürchtend; auch sah man an den Fenstern nur. ausnahmsweise ein Licht: die meisten Bewohner schienen sich schon dem süßen Schlafe zu überlassen.

Als der Polizeisoldat vorhin zur Thür hinaus befohlen hatte: »Ruft mir die Anderen herein!« machte er es ungefähr wie jener Corporal mit zwei Mann, der Angesichts einer starken feindlichen Patrouille mit lauter Stimme kommandirte: Das sechste Bataillon vor! Die Anderen, die übrigens gehorsam jenem Rufe hereinkamen, reducirten sich auf einen alten Stadtsoldaten, der manchmal zur Aushülfe gebraucht wurde, und der es verstand, von Weitem durch ein großes Maulwerk einen ungeheuren Muth zu entwickeln, welcher Muth aber beim Näherkommen zusammenschrumpfte und sich, nachdem die lärmenden Parteien auf der Straße waren, häufig in ein sanftes: »Ja, was ist denn das, ihr Männer?« auflöste. Der Stadtsoldat hatte denn auch anfänglich, zurückgeschreckt vom wilden Geschrei, nur schüchtern das Haus betreten und fand sich jetzt wieder ermuthigt und zum finsteren Stirnrunzeln bereit, als er sah, wie der lange Mann, ohne Widerstand zu versuchen, mit dem Polizeisoldaten ging, und wie die kleine dürre Gestalt schwankend vor Angst hinter ihm drein schritt.

»Das,« sagte er, indem er die Faust drohend erhob, »das ist euer Glück, ihr Lumpen, daß ihr gutwillig mit geht, denn ich versichere euch, Himmelsakermenter, wir hätten euch krumm geschlossen wie einen Fidelbogen. So eine Bande!«

Der kleine Kellner war gewiß nicht in der Verfassung, auf diese einschüchternden Worte irgend eine Widerrede zu wagen. Doch schnauzte ihn der Stadtsoldat auf der Straße an

»Will Er Sein Maul hallen, Er –? Glaube Er mir, mit so Einem macht man wenig Federlesens.«

So schritten sie dahin, Don Larioz im Gefühle der Unschuld mit aufrechtem Haupte, der Andere dagegen gebeugt unter dem Bewußtsein, ein schrecklicher Mörder zu sein.

Bei dem Bogen angekommen, der den Eingang zur Entenpforte bildete blickte der Spanier in die Höhe und dachte: Welcher Unterschied, als ich vor einiger Zeit hier vorbeiging, und jetzt! Dann versank er in tiefes Nachsinnen. –

Es ist lehrreich, mit der Polizei einen Gang durch die nächtlich finsteren Straßen der Stadt zu machen; man kann da sehen, wie die öffentliche Gewalt gehandhabt wird, mit welcher Unparteilichkeit und aufopfernden Tapferkeit die Diener dieser öffentlichen Gewalt zu Werke gehen. Wehe dem Handwerksburschen, der, aus dem Wirthshause kommend, in der Freude seines Herzens vielleicht singt:

Es kann ja nicht immer so bleiben
Hier unter dem wechselnden Mond!

Nein, Unglücklicher, es wird nicht immer so bleiben, das lehrt dich die nächste Minute, wo du von der still lauernden Gerechtigkeit heldenmüthig gepackt und wegen nächtlicher Ruhestörung die Nacht über eingesperrt wirst. Es ist dabei rührend anzusehen, wie die Polizei unter Entfaltung all ihrer Schreckmittel, mit klirrendem Säbel, lautem Ruf etc., den ruchlosen Handwerksburschen ergreift.

Und nicht minder lehrreich ist es, zu bemerken, wie an manchen Orten die Diener der öffentlichen Gewalt ein den Umständen angemessenes ganz anderes Verfahren beobachten – dort zum Beispiel, wo es in einer dunkeln Gasse unter tobendem Geschrei tüchtige Hiebe setzt und wo die Handhaber der Ordnung still vorbei schleichen, um den Tumult nicht noch unnöthigerweise zu vergrößern.

Es mochte eine kleine Viertelstunde vergangen sein, als die Gesellschaft sich der Polizeidirection näherte, um dort für die Nacht in sicheren Gewahrsam gebracht zu werden. Wenn es Tag gewesen wäre, hätte man bemerken können, wie über die Züge des tapferen Spaniers ein leichtes Lächeln flog, aber unter einem massiven Thorbogen in einen von hohen Gebäuden gebildeten Hof geführt wurde, der sparsam von einer Gaslaterne erhellt war. Windspiel folgte schaudernd; was sich von seinen Sinnen allein in reger Thätigkeit befand, das war das Gehör, und er lauschte angestrengt in der Furcht, jetzt plötzlich das Klirren von Ketten zu vernehmen. Doch hörte er nichts von diesen Tönen des Grausens, vielmehr schien es im Polizeiarrest recht lustig zuzugehen, denn aus den vergitterten Fenstern auf der anderen Seite des Hofes hörte er eine Stimme herausschallen, welche in etwas rauhen Tönen sang:

»So leben wir, so leben wir,
So leben wir alle Tage.«

Nach diesem Orte hin richteten auch die neu Angekommenen ihre Schritte, und als ein herbeigerufener Schließer die betreffende Thür öffnete, verstummte der Gesang, und Don Larioz sagte mit leiser Stimme zu seinem Unglücksgefährten:

»Das ist das Leben, mein lieber Freund; immer wechselvoll schwingt es sich herum: bald sind wir oben auf der Höhe der Situation, bald tief unten im sehr gewöhnlichen Treiben der Menge. Erinnern Sie sich, daß wir auch dort vor dem Hause Gesang vernahmen. – Welcher Unterschied!«

»Ja, welch schrecklicher Unterschied!« seufzte Windspiel. »O, du mein Gott! womit habe ich dieses furchtbare Schicksal verdient?«

Mittlerweile hatte das Polizeiarrestlokal den Beiden seine gastlichen Hallen geöffnet, sie traten ein, wobei sich der muthige Stadtsoldat nicht enthalten konnte, dem kleinen Kellner noch einen Puff in den Nacken zu versetzen. Dann schloß er die Thür hinter ihnen zu, und sie befanden sich in einem Gemache, das durch eine gewaltige Oellampe, die hoch an der Decke hing, aufs spärlichste beleuchtet wurde.

So viel ihnen dieses Licht zu sehen gestattete, bemerkten sie eine breite hölzerne Pritsche, die sich an drei Wänden herumzog, und da sie dieselbe in der Gegend der Thür, zu welcher sie herein gekommen waren, noch unbesetzt fanden, so ließen sie sich dort nieder mit jenem schüchternen Gefühle, das uns jedesmal beschleicht, so oft wir einen für uns bisher ungewöhnlichen Ort betreten, mag dieser Ort ein fürstlicher Saal sein oder, ein Polizeigefängniß.

Der kleine Kellner rückte so nahe an seinen Freund und Gönner hin, als es ihm thunlich erschien, und Don Larioz, der mit Recht darin ein Zeichen großer Angst erblickte, fühlte sich verpflichtet, dem, welchen er, obgleich unfreiwillig, hieher gebracht, einigen Trost zu spenden.

»Sie müssen das nicht so schwer nehmen,« sagte der lange, hochherzige Mann; »wir haben freilich eine unangenehme Nacht vor uns, aber morgen früh, wenn man uns, hoffe ich, ein Verhör gestatten wird, werden wir uns ausweisen, wer wir sind, und darauf sogleich in Freiheit gesetzt. Es ist allerdings nicht angenehm, auf solche Weise mit einer hochlöblichen Polizei in Berührung zu gerathen, aber glauben Sie mir, man sollte eigentlich in der Welt Alles kennen lernen.«

»Sie wird man wohl morgen früh in Freiheit setzen,« gab Windspiel mit kläglicher Stimme zur Antwort, »aber ich – o, du mein Gott! ich komme von hier aus wahrscheinlich aus das Criminalamt und dann zeitlebens in Ketten und Bande, wenn nicht gar –« Hier schauderte er.

»Sie führen absonderliche Reden, mein Freund,« versetzte Larioz erstaunt. »Ich glaube^ was mich trifft, wird auch Sie treffen. Im Gegentheil,« fuhr er würdevoll fort, »Sie werden mir zutrauen, daß ich des größten Theil der Schuld, ja, wenn es möglich ist, das Ganze auf mich nehme und der Wahrheit gemäß sage, daß Sie fast unfreiwillig mitgegangen sind.«

»Sie wissen also nicht,« fragte stockend der Andere, »daß ich – o, mein Gott! – mit der Mistgabel –«

»Was sollte ich wissen?« erwiderte der Spanier; »ich weiß nur, daß Sie mich in einem Uebermaße von Muth fast mit Ihrer Mistgabel verletzt hätten. Zum großen Glück aber hat nur mein Beinkleid einigen Schaden gelitten.«

»Das ist es nicht, das ist es nicht; ich wurde von hinten angefallen,« sprach der kleine Kellner mit einer schauerlich klingenden Stimme, »und wurde heftig im Gesichte gekratzt, und da konnte ich mich nicht mehr halten, sondern bohrte meine Mistgabel tief in etwas Weiches, das ich neben mir fühlte.«

»Das wäre allerdings entsetzlich.«

»Ich glaube, es hat gestöhnt und geseufzt, und dabei war ich Barbar genug, dreimal zuzustoßen. Auch sah ich später am Boden Blutflecken.«

»Das würde unsere Sache allerdings bedeutend verschlimmern,« flüsterte kaum hörbar der Spanier, indem er sich scheu umsah. »Könnte es die im schwarzen Seidenkleide gewesen, sein?«

»Das wäre noch mein Trost,« fuhr der Andere fort, »wenn ich dem Stöpsel einen tüchtigen Stoß versetzt hätte denn der ist doch an meinem ganzen Unglücke schuld. Mich hat meine Tugend ins Verderben geführt. O Gott! wer mir das vorhergesagt hätte! – – Jetzt wäre ich,« sprach er mit weinerlicher Stimme, »still und harmlos im Reibstein; ich hätte meine Lampen hergerichtet, die geputzten Gläser auf den Tisch gestellt, und nun kämen sie an, der gute Herr Wurzel und die Anderen, sie sagten mir freundlich guten Abend, sie klopften mir auf die Schulter, sie tränken am Tische ihr Bier, ich das meinige hinter dem Ofen, ich wäre in Freiheit, ich wäre kein Mörder!«

Bei den letzten Worten schluchzte er laut auf und ließ seinen Kopf in die Hände niedersinken.

»Man muß nicht gleich das schlimmste denken,« sagte Don Larioz nach einer Pause mit sanfter Stimme. »Ich setze den Fall, Fräulein Stöpsel hätte sich wirklich auf dem Sopha befunden, was mir aber unglaublich erscheint – denn wenn mich nicht Alles getäuscht, so fuhr sie behend hinter den Vorhang. – Wenn es aber wirklich so gewesen wäre, wie Sie vorhin sagten, und Sie hätten mit der Mistgabel nach dem Mädchen gestochen, so ist es damit noch nicht ausgemacht, daß Sie sie getödtet haben, wenn auch sogar Blut geflossen. Gewiß, mein Freund, trösten Sie sich, Fräulein Stöpsel scheint mir von einer guten Constitution zu sein, die schon etwas ertragen kann, ohne gleich daran zu sterben. Dabei müssen Sie nicht vergessen, wie man uns behandelt, daß es in dem Zimmer dunkel war, lauter Milderungsgründe; vor allen Dingen, daß ich den größten Theil der Schuld auf mich nehmen werde. – Sie wundern sich vielleicht, mich über diese Sache so ruhig, ja, man könnte fast sagen: heiter sprechen zu hören. Auf dem Gange hieher bin ich ruhiger geworden und sehe nun das, was uns passirt ist, mit anderen Augen an. Glauben Sie mir, junger Freund, man ist so oft leicht geneigt, die Mitmenschen ungerechterweise anzuklagen, und es will mich fast bedünken, als hätten wir an diesem Abend der guten Kathinka Schneller, vielleicht sogar ihrer würdigen Mutter und nicht minder Fräulein Stöpsel, ein großes Unrecht abzubitten.«

Windspiel schaute nun seinerseits verwundert in die Höhe, denn das, was sein Freund und Gönner sagte, kam ihm so merkwürdig vor, daß er sogar auf Augenblicke den Mord vergaß, der auf seinem Gewissen lastete.

»Ich verstehe Sie nicht,« sprach er nach einem momentanen Stillschweigen.

»Ich glaubte wirklich, als ich in das Zimmer trat,« fuhr Larioz fort, wobei er nachsinnend auf den Boden blickte, »daß es der verruchte Breiberg gewesen, der am Tische saß, der höhnische Reden ausstieß, lachte und Punsch dazu trank.«

»Und der war es auch,« sagte eifrig der kleine Kellner, »darauf könnte ich schwören.«

»Urtheilen wir nicht zu vorschnell,« bemerkte der edle Spanier mit weicher Stimme. »Clemens Breiberg ist der Feind der unglücklichen Dolores; – der am Tische könnte aber auch ein Freund jenes armen Mädchens gewesen sein.«

»Ein Freund von ihr?« rief Windspiel im höchsten Erstaunen. »Ein Freund, der es duldet und sich darüber lustig macht, daß man uns in einen Schweinestall sperrt, der lachend Punsch trinkt, während wir im Elende sitzen, der Sie mit der Faust auf die Nase schlägt, daß sie dick angeschwollen ist und so geblutet hat, daß Sie im Gesichte ganz dunkelroth gefärbt sind? Wie Sie mir das erklären wollen, das wäre ich wirklich begierig, zu erfahren.«

Der lange Schreiber hob seinen Kopf in die Höhe, blickte in das Licht der qualmenden Oellampe, und der Kellner, der ihn ansah, bemerkte, daß seine Augen glänzten, daß er wohlgefällig lächelte, daß Zufriedenheit sich auf seinen Zügen zeigte.

»Es ist wahr, was Sie vorhin sagten,« sprach Don Larioz nach einer Pause; »man hat uns an einen Ort verlockt, den Sie für einen Schweinestall halten; man hat über uns gelacht und gespottet; man hat mich mit der Faust auf die Nase geschlagen, sogar sehr bedeutend, denn ich bin noch halb betäubt davon. Aber kann das nicht alles mit Absicht geschehen sein?«

»Mit Absicht allerdings!«

»Mit guter Absicht,« fuhr der Spanier in unerschütterlicher Ruhe fort. »Glauben Sie mir,« sagte er alsdann mit einem freundlichen Blick auf Windspiel, der ihn zweifelnd anschaute, »ich bin älter als Sie und deßhalb ruhiger in meinem Urtheile. Die Jugend ist schnell und behandelt eine Sache nur unter dem Einflusse des Augenblicks. Je mehr ich über die Begebenheiten des heutigen Abends nachdenke, um so klarer wird es mir, daß wir, wie ich schon vorhin sagte, jenen guten Leuten, Entenpforte Numero Bier, großes Unrecht gethan haben, daß diese aber trotzdem mit uns sehr zufrieden sein werden.«

Diese Rede seines Freundes und Gönners erschien dem kleinen. Kellner so voller Widersprüche, daß er mit Besorgniß dachte, der Faustschlag des Mannes im Zimmer könnte etwas zu hart getroffen haben, und darauf malte er sich mit seiner aufgeregten Phantasie in aller Geschwindigkeit die für ihn so jammervolle Situation aus, wenn der lange Schreiber plötzlich verrückt würde, und der Himmel mochte es wissen, was für Schreckliches alles dann beginnen würde. Er rückte leise ein klein wenig auf die Seite, indem er seinen Nachbar scheu anblickte.

Dieser sprach aber in sehr ruhigem, durchaus nicht exaltirtem Tone also: »Sie werden sich erinnern, daß ich die göttliche Dolores nur ein einziges Mal sah, und ich habe Ihnen schon gesagt, welchen Eindruck das herrliche Mädchen auf mich gemacht. Daß auch sie mich nicht mit ganz gleichgültigen Augen betrachtet, glaube ich aus der Bereitwilligkeit entnehmen zu können, mit der sie mich zu ihrem Retter erkoren, mit der sie mir ihre geliebten Zeilen zukommen ließ, mit der sie mich an ihre gute Freundin Kathinka Schneller verwies.«

»Eine schöne Freundin!« sagte Windspiel mit einem tiefen Seufzer. »O Entenpforte! an dich will ich denken.«

»Sollte aber die schöne Dolores mir so gänzlich vertrauen, ohne Beweise zu haben für die Festigkeit meiner Gesinnungen, für meinen Willen, ihr zu dienen? Sollte dieses kluge Mädchen geneigt sein, mir, einem gänzlich Unbekannten, zu folgen, wenn es auch gelingt, sie aus den Klauen der Breibergs zu befreien, ohne von meiner Redlichkeit überzeugt zu sein? Gewiß nicht. Und deßhalb unterwarf sie mich einer Probe, wie es auch in früheren Zeiten alle edlen Damen mit ihren Rittern zu machen pflegten.«

Windspiel blickte wiederholt fragend in die Höhe, und seine Züge sahen recht besorgt aus.

Der lange Spanier achtete aber nicht darauf und schaute immer noch mit einem schwärmerischen Blicke in das Licht der Oellampe; man hätte glauben können, er sei, unempfindlich für die Gegenwart, mit seinen Gedanken gänzlich in anderen Regionen, wenn man nicht bemerkte, daß er zuweilen leicht mit den Fingern die Stelle über seiner Nase berührt hätte, wohin der Schlag jenes Mannes getroffen. –

»Ja, es war eine Probe,« sprach er endlich, »alles was uns in jenem Hause widerfahren; aber ich fürchte, ich habe sie nicht vollkommen zur Zufriedenheit meiner Dame bestanden. Es würde ihr lieber gewesen sein, wenn ich in meinem Kerker geduldiger ausgeharrt hätte, wenn wir uns nicht gewaltsam befreit, wenn wir darauf nicht in jenes Zimmer gedrungen wären.«

»So hätten wir also ruhig in jenem Schweinestall sitzen bleiben sollen?« fragte der Kellner in höchster Verwunderung.

»Nach reiflicherer und ruhigerer Ueberlegung würde ich das allerdings gethan haben.«

»Bis es der Schneller oder dem Stöpsel gefallen hätte, uns heraus zu lassen?«

»Ja, mein Freund.«

»Und dann hätten wir ruhig abziehen sollen und Sie nicht jenen Breiberg prügeln, der so höhnisch über Sie gelacht?«

»Gewiß nicht, mein Freund, selbst wenn es in der That der Breiberg gewesen wäre.«

»O!« rief der Kellner schmerzlich aus. Und darauf dachte er: Es kann nicht anders sein, jener Faustschlag ist zu heftig gewesen.

Der edle Spanier schüttelte in Gedanken versunken den Kopf, auch zog er die Augenbrauen zusammen, wie Jemand, der sich selber grollt.

»Dolores wird nicht mit mir zufrieden sein,« flüsterte er leise; »ich hätte standhafter die Probe bestehen sollen, die sie mir auferlegte; ich kann mein Vergehen nur dadurch wieder gut machen, daß ich nicht ein Wort von jenen Unbilden spreche, die uns widerfahren, und indem ich alles, was kommen mag, geduldig hinnehme zum Preis und zur Ehre meiner Dame.«

»Und für wen soll ich alles das hinnehmen?« fragte Windspiel mit einem etwas verdrießlichen Tone. »Soll auch ich vielleicht dulden für eine unbekannte Dame, von der ich nicht einmal glaube, daß sie Freude an unserer Duldung hat?«

»Sie sollen durchaus nicht dulden, mein Freund,« sprach Larioz mit sehr ernster Stimme. »Denken wir der alten Zeiten, wo der Knappe bei allen ernstlichen Verwicklungen aus dem Spiele blieb, und wo der Ritter für ihn einstand und alles, was geschehen war, auf seine starken Schultern nahm.«

»Ja, aber jene Zeiten der Knappenschaft sind vorüber, und wenn wir morgen früh vor dem Polizei-Commissär stehen, so wird er sich wenig darum bekümmern, wenn Sie, hochverehrter Herr' Don. Larioz, die Sache auf sich nehmen wollen. Da heißt es: mitgefangen, mitgehangen. Ja, in früheren Zeiten, da war so ein glücklicher Knappe, so ein Edelpage nur ein willenloses Werkzeug in der Hand des Ritters oder – der schönen Dame, die hoch auf dem Zelter saß, und der er gern folgte.«

Dabei seufzte der kleine Kellner tief auf und dachte an die gemalte Fensterscheibe im Künstlerzimmer der Kneipe zum Reibstein.

Hierauf schwiegen Beide still, Jeder seinen Gedanken nachhängend, und je mehr sie sich in Betrachtung der jüngsten Vergangenheit versenkten, um so verschiedenartiger gestalteten sich ihre Gefühle.

Ja, es kann nicht anders sein, dachte Windspiel mit tief betrübtem Herzen, morgen früh, wenn die Sonne erscheint, werde ich wegen Mords angeklagt, wegen Mords unter erschwerenden Umständen, denn ich habe mich einer Mistgabel statt eines ordentlichen schneidenden Instrumentes, wie das sonst wohl der Brauch zu sein pflegt, bedient.

Don Larioz aber lächelte in sich hinein und dachte: Es ist nicht anders möglich, es war eine Probe, die sie mich bestehen ließ. Und wenn sie auch erfährt, daß ich den mir zum Versteck angewiesenen Schweinestall auf gewaltsame Art verlassen, so kann sie mir deßhalb doch nicht zürnen, denn sie wird es selbst finden, daß es mit meiner ritterlichen Ehre unverträglich ist, an einem solchen Orte länger zu verweilen. »Wäre es ein ehrlicher Kerker gewesen,« sprach er schwärmerisch vor sich hin, »so würde ich unbedingt den Tod vorgezogen haben, statt diesen Kerker gegen den Willen meiner Gebieterin zu verlassen.«

Daß Keiner von Beiden, so gewaltig von ihren Gefühlen bewegt, auf seine Nachbarschaft achtete, ist leicht begreiflich. Diese Nachbarschaft bestand in zwei Individuen, von denen eines vorhin jenen Gesang angestimmt, jetzt aber in tiefen, sehr hörbaren Schlaf versunken war; das andere war auf der Pritsche langsam, aber unbemerkt näher gerückt, und obgleich er sich jetzt mit leiser Stimme an die Neuangekommenen wandle, so fühlte sich Don Larioz unangenehm aus seinen Träumereien erweckt.

»O mein Gott!« seufzte die heisere Stimme des Mitgefangenen, »es ist ein trostloser Aufenthalt, so ein Polizei-Gefängniß. – Sie sind wohl zum ersten Male hier?«

Der lange Schreiber besah sich den Fragenden etwas genauer, soweit das trübe Licht der Oellampe dies zuließ, und bemerkte einen langen, schmächtigen Menschen in einem dunkeln, einfachen Anzuge, mit außerordentlich langem und dürrem Halse, der zwischen etwas, das wie zerknitterte Wasche aussah, hervorstand, und den er Mit der Gelenkigkeit eines Vogels hin und her bewegte, wodurch es ihm möglich war, daß er dem Spanier von unten herauf in die Augen sehen konnte, obgleich er Hals und Kopf tief auf die Brust herabgesenkt hatte. Dazu hielt er die Hände gefaltet auf dem Schooße, und es befremdete Don Larioz einiger Maßen, dieselben mit hellen baumwollenen Handschuhen bedeckt zu sehen. – »Ja,« wiederholte dieses Individuum, »es ist ein entsetzlicher Aufenthalt, namentlich für den, der ihn das erste Mal und gänzlich unverschuldet kennen lernt. So ist es Ihnen auch wohl ergangen?«

»Allerdings,« erwiderte der Gefragte, »sehe ich heute zum ersten Mal das Innere dieses Gemachs, und wenn auch vielleicht nicht ganz unverschuldet, so doch jedenfalls unschuldiger Weise.«

»Es ist hart,« sprach der Andere, nachdem er einen Seufzer ausgestoßen, »daß die Polizei so gar keine Unterschiede macht. Man sollte Leute von ordentlicher Erziehung doch nicht mit Trunkenbolden und allerlei verdächtigem Gesindel einsperren.«

Dabei wies er nach der Ecke des Gefängnisses, wo der Sänger von früher tüchtig schnarchte. »Mir war es deßhalb ein Trost, als ich Sie vorhin eintreten sah und an Ihrem gesetzten Wesen bemerkte, daß auch noch andere anständige und gebildete Leute hieher gebracht werden. Sie haben vielleicht auf der Straße ein bischen randalirt? O mein Gott! das kann leicht vorkommen an einem Sonntag-Abend, wenn man jung ist und einiges Geld besitzt.«

»Ich weiß nicht, was Sie unter Randaliren verstehen,« erwiderte ernst der Spanier; »deßhalb kann ich mich dieses Vergehens auch nicht schuldig erklären.«

»O lieber Himmel! man kann sehr unschuldig randaliren; man kann ausrutschen und ein Fenster einstoßen; man kann seinen Stock etwas zu heftig schwingen und so eine Gaslaterne zerbrechen; man kann stolpern und über Jemand fallen, der uns gerade im Wege ist; man kann sich gedrungen fühlen, ein Lied etwas laut vor sich hinzusingen. Das alles begreift eine wohllöbliche Polizei unter dem Namen randaliren.«

»Und haben Sie vielleicht auf eine der eben genannten Arten randalirt?«

»Ich? Gott soll mich in Gnaden bewahren! Ich bin ein armer Familienvater, ich bin gänzlich unverschuldet hier.« – Er stieß bei diesen Worten einen so liefen Seufzer aus, daß es Larioz ordentlich in das weiche Herz einschnitt.

»Ein Familienvater?« fragte er besorgt. »Und da wissen wohl die Ihrigen zu Haus gar nicht, wo Sie heute Abend geblieben sind?«

»Wegen meiner,« versetzte der Andere mit dumpfer Stimme, »befinden sich in diesem Augenblicke sechs arme, hungrige Würmer in trostloser Ungewißheit.«

»Das ist hart. Aber Ihre Frau wird ihnen Trost geben.«

»Meine Frau? – Ja so, meine Frau, richtig! – Aber nein, mein lieber Herr, sie ist nicht im Stande, diesen armen Geschöpfen Trost zu spenden, denn sie lebt nicht mehr. – Es sind jetzt in meiner armen Stube sechs vater- und sechs mutterlose Waisen.«

»Und was hat Sie hieher gebracht?« fragte der Spanier mit dem Gefühle des regsten Mitleids.

»Die Noth, mein lieber Herr; ja, die Noth wollte mich zum Verbrechen verführen, vor dem mich die Hand der Polizei eigentlich rettete und hier einsperrte, damit ich wieder zum Bewußtsein meines besseren Selbst, meiner Menschenwürde komme. – Ich danke eigentlich der Polizei dafür. O mein lieber Herr – Sie kennen wahrscheinlich die Gefühle eines Vaters?«

»Ich bin unverheirathet.«

»Danken Sie Gott, daß Sie unverheirathet sind! Vatergefühle sind etwas Schönes, etwas Erhebendes, wenn man auf gesunde, blühende, gesättigte Kinder blickt. Aber Entsetzliches bewegt den Busen eines Vaters, wenn er blasse, hohläugige, hungrige Geschöpfe um sich fleht, wenn er Brod! Brod! schreien hört und nicht im Stande ist, welches anzuschaffen.«

»Das ist allerdings ein entsetzlicher Zustand, und ich bedaure Sie aufrichtig. Aber –«

»Sie wollen fragen, wie ich hieher komme? O Himmel! wenn Sie den verzweifelten Zustand meiner sechs Würmer recht ins Auge fassen, auf die einfachste Art von der Welt. Ich wankte in halber Verzweiflung durch die Straßen, das Geschrei meiner Kinder nach Brod tönte in meinen Ohren, alle guten Regungen, die ich mir mühsam bewahrt, fielen zusammen, und ich strecke die Hand aus, um an einem Bäckerladen ein Brod mitzunehmen, als ich von der Polizei gefaßt wurde. – O, dieser Augenblick war der schrecklichste meines Lebens. Sie müssen wissen, es macht sich Mancher nichts daraus, von der Polizei aufgegriffen zu werden; aber ich habe Grundsätze, mein lieber Herr; ich bin von ordentlicher Familie; ich habe trotz meiner Armuth mein Aeußeres so ziemlich anständig zu bewahren gewußt. Und nun so zu enden!«

Bei den letzten Worten zog er seinen Rock etwas in die Taille, betrachtete seine baumwollenen Handschuhe und preßte die Hände alsdann mit einem abermaligen Seufzer vor das Gesicht. Doch hätte ein Unbefangener dabei bemerken können, daß er zwischen den Fingern hindurch nach seinem Nachbar schielte, um zu sehen, welche Wirkung seine Worte auf diesen gemacht.

Wir müssen nun der Wahrheit gemäß sagen, daß sich Don Larioz bei jeder Schilderung menschlichen Elends aufs tiefste gerührt fühlte, und daß er nie unterließ, nach besten Kräften Gutes zu thun, auch daß er hierzu einen ziemlichen Theil seines Einkommens verwandte. Es lag in diesem außerordentlichen Charakter ein Edelmuth und eine Herzensgüte seltener Art; sein Bestreben, den Menschen zu helfen, äußerte sich freilich oftmals in einer solchen Richtung, wie sie mit unseren bestehenden Verhältnissen nicht immer vereinbarlich war; wie er aber auch dies im besten Glauben that, so kam auch das wirkliche und zahlreiche Gute, welches er ausübte, so aus edlem Herzen, daß schon die Art, wie er gab oder überhaupt Hülfe leistete, den Werth der Gabe selbst vielfach überstieg.

Er hatte dem unglücklichen Familienvater neben sich das Gesicht, zugekehrt, und ein inniges Bedauern malte sich, auf seinen Zügen, als dieser nun sagte: »Und wenn ich aus dem Gefängniß entlassen werde, so habe ich nichts mehr, gar nichts, um den Hunger meiner armen Kinder zu stillen.« Worauf er in Vorempfindung der schrecklichen Stunden, die seiner alsdann harrten, vollständig zusammen knickte.

Der lange Schreiber griff in seine Tasche, holte seine kleine Börse hervor und nahm einige Geldstücke, die er mit einer fast schüchternen Bewegung seinem Nachbar in die Hand drückte. Anfänglich war es, als zucke derselbe bei dieser Berührung zurück, doch faßte er gleich mit seinen beiden Händen die Linke des Spaniers, in welcher sich das Geld befand, drückte sie innig zwischen seinen baumwollenen Handschuhen und ließ zu gleicher Zeit die Silberstücke mit einer außerordentlichen Geschwindigkeit in seine Finger gleiten.

»Dank, edler Mann!« sagte er mit solchem Uebermaß von Rührung, daß seine Worte wie ein leises Schluchzen erschienen. »Dank Ihnen, Sie haben sieben Wesen glücklich gemacht!«

Er wollte noch mehr hinzusetzen, doch wehrte ihm der lange Mann mit der Hand, worauf Jener, achtend das großmüthige Gefühl des Gebers, der sogar den Dank verschmähte, leise etwas auf die Seite rückte.

Der Spanier fühlte sein Herz erhoben, daß es ihm möglich gewesen, an dem heutigen verhängnißvollen Abend etwas Gutes zu thun, und dieses Bewußtsein machte ihm die harte Pritsche weich. Nachdem er noch dem kleinen Kellner einigen Trost gespendet, legte er seinen biegsamen Hut unter den Kopf, band sein Schnupftuch um die Stirn, deckte sich mit dem Mantel und seinem Bewußtsein zu, und bald verkündeten regelmäßige lange und tiefe Athemzüge, daß er sanft entschlafen war.


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