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Siebentes Kapitel

»Das Wetter,« murmelte Frau Burton, während sie am Dienstag Morgen ihre Toilette beendete und sich anschickte, zum Frühstück hinunterzugehen »verspricht einen guten Tag.« Dann wandte sie sich laut an ihren Mann: »Harry, hör nur mal, wie hübsch die lieben Kinder singen! Haben sie nicht süße Stimmen?«

»Wer allzu früh singt, geht mit Thränen zu Bett« brummte Herr Burton, ein bekanntes Sprichwort citirend.

»Du solltest Dich schämen!« rief Frau Burton, Sie singen ein frommes Kinderlied – jetzt fangen sie gerade ein anderes an.«

Frau Burton nahm jene anmutige Lauscherstellung ein, welche den Damen eigentümlich ist, ihr Mann dagegen verharrte mäuschenstill in der komischen, militärischen Stellung, welche das Kommando »Stillgestanden!« vorschreibt, und beide hörten folgendes Lied.

»Ich wollt', ich wär 'ein Engel
Im schönen Himmelsland
Auf meinem Haupt' die Krone
Den Hopper in der Hand.«

»Hopper – hm – das steht ihnen ähnlich,« sagte Herr Burton. Sie meinen das Hinterbein einer Heuschrecke, mein Schatz. Ohne ein derartiges originelles Spielzeug würde das Leben im Himmel den beiden jungen Herren freilich recht langweilig vorkommen.«

»Schäme Dich doch!« schalt seine Frau wieder. »Ich hoffe, daß Du 's nicht etwa bist, der ihnen solche Ideen beibringt. Wahrscheinlich würden sie die vielen wunderlichen Vorstellungen vom Jenseits gar nicht haben, wenn nicht gewisse Leute einen nachteiligen Einfluß auf sie ausgeübt hätten – z. B. Du und dein Schwager Tom Lawrence, ihr Vater.«

»Nun,« erwiderte Herr Burton, während er sich mit großer Sorgfalt das Haar bürstete, wenn sie von anderen Leuten so leicht zu beeinflussen sind, so darf ich wohl annehmen, daß Du sie in mancher Beziehung zu besseren Sitten erzogen hast. Du hast sie ja bereits sieben Tage unter deiner Aufsicht.«

»Sechs – erst sechs,« berichtigte Frau Burton rasch. »Ich wollte – «

»Daß ihr Besuch in der That um einen Tag verkürzt werden könnte, nicht wahr?« fragte Herr Burton, seiner Frau voll ins Gesicht blickend.

Frau Burton senkte rasch ihre Augen, drehte sich um und that, als ob sie etwas suchte; aber ihr Mann kannte sie zu gut, als daß er sich durch diese List hätte täuschen lassen. Er sagte also mit all der Zärtlichkeit, die ihm zu Gebote stand:

»Liebes Kind, sag mir jetzt die Wahrheit. Hast du bei deinen Erziehungsversuchen nicht mehr gelernt als die Kinder?«

Frau Burton vermied es noch immer, ihrem Mann in die Augen zu sehen, antwortete aber mit bewunderungswürdiger Fassung:

»Ich habe viel dabei gelernt, wie jeder, der eine neue Aufgabe zu lösen versucht, aber die Erfahrungen, die wir Erwachsenen sammeln, sind die Quelle neuer Macht und kommen den Kindern wieder zu gute.«

Herr Burton sah erst mit Neugier, dann aber mit unverhohlener Bewunderung auf seine Frau; als er aber sein Gesicht wieder dem Spiegel zuwandte, konnte er doch nur den Abdruck des Mitleids in seinen Zügen lesen. Inzwischen hatte das Aufhören des Gesanges, das Trippeln und Stampfen kleiner Füße auf der Treppe und ein Wehgeschrei Terrys angekündigt, daß die Jungen ihre Kammer verlassen hatten. Dann hörte das Burton'sche Ehepaar, daß an dem Griffe ihrer Kammerthür gerüttelt wurde. Der Entdeckung, daß sie verriegelt war, folgte ein ärgerlicher Fußtritt gegen dieselbe, dann rief eine Stimme:

»Macht doch auf!«

»Was wollt ihr denn?« fragte Herr Burton.

»Ich will herein!« antwortete Willi.

»Ich auch,« Piepte Toddi.

»Wozu denn?« fragte Herr Burton jetzt.

Einen Augenblick blieb es still, dann antwortete Willi:

»Na, weil wir wollen; das kann doch woll jeder verstehen, ohne zu fragen.«

»So, so! Und wir haben die Thür verriegelt, weil wir nicht wollen, daß jemand herein kommt,« antwortete Herr Burton. »Ich denke, das kann wohl auch jeder, verstehen, ohne zu fragen.«

»Ach du!« rief Willi. »Na, denn will ich dir sagen, weshalb wir hereinwollen; wir wollen euch mal ganz was Reizendes erzählen.«

»Hast du Lust, ein recht originelles Anliegen entgegenzunehmen, liebe Frau?« fragte Herr Burton.

»Gewiß!« antwortete dieselbe.

»Aber du wolltest ihnen doch beibringen, daß unsere Kammer nicht etwa allgemeines Versammlungszimmer für Frühstücksgäste ist.«

»O, das werden sie nicht gleich denken«, wenn wir sie ein einziges Mal hereinlassen,« erwiderte Frau Burton.

»Hm – dies eine Mal gilt also nicht,« citierte Herr Burton aus Rip von Winkle mit ironischem Lächeln, welches jedoch vor einem Stirnrunzeln seiner Frau alsbald dahinschwand. Herr Burton schob jetzt pflichtschuldigst den Riegel zurück, und die beiden Jungen purzelten über einander in das Zimmer.

»Wir lehnten uns beide gegen die Thür,« erklärte Willi, »deshalb purzelten wir übereinander; wir wußten woll, daß ihr uns reinlassen würdet.«

Herr Burton warf seiner Frau wieder einen ganz eigentümlichen Blick zu; diese that jedoch, als sähe sie ihn nicht und sagte zu ihren Neffen:

»Nun erzählt doch die reizende Geschichte mal, die ihr uns versprochen habt!«

»Ach ...« fing Willi an.

»I–i–i–ich,« unterbrach ihn Toddi.

»Sei still, Toddi!« befahl Willi. »Ich habe zuerst angefangen.« »Aber ich habe es ausgedacht,« wandte Toddi ein.

»Na, ich will dir was sagen, Toddi – ich erzähle ihnen, was wir wollen, und du quälst sie, daß sie es thun – das is ehrlich Spiel, nich?«

Und ohne das Ergebnis von Toddis Erwägungen abzuwarten, fuhr Willi fort:

»Wir möchten also gar zu gern mal 'n Picknick haben. Papa leiht uns seinen Wagen, und da setzen wir uns alle rein, un' dann fahren wir nach dem Wasserfall un' machen uns einen vergnügten Tag. Das is der allerschönste Platz, den es giebt. Un' dann könnt ihr uns in der großen Schaukel schaukeln und uns schwimmen lassen un' im Boot spazieren fahren un' uns im Wirtshaus Limonade kaufen. Aber wir können Steine ins Wasser werfen un' im Wasser paddeln un' Fische fangen un' um die Wette laufen. Alle diese andern Sachen – nich' die ersten, wo ich von erzählt habe – können wir ganz allein machen, un' du un' Tante Alice, ihr könnt auf dem Gras unter den Bäumen liegen un' Cigarren rauchen un' vergnügt sein, weil ihr uns glücklich gemacht habt. Sieh – so macht's Papa auch. Aber ihr müßt tüchtig was zu essen mitnehmen, denn kleine Jungens haben immer 'n leeren Magen, wenn sie an solche Plätze kommen. Un' dann – o ja – dann könnt ihr Terry ins Wasser werfen un' ihn nach Stöcken schwimmen lassen – ich möchte wetten, er kann da nich' auskneifen, ohne daß wir ihn fangen.«

»Aber nehmt nur ja genug Frühstück mit,« riet Toddi, »sonst giebts keinen rechten Spaß, nich' n' bischen. Un' wir fahren auch wirklich hin, nich? Wir sind den ganzen Morgen schrecklich artig gewesen. Ich habe so viele Sonntagslieder gesungen daß meine Kehle ganz sandig is.«

»Ganz was?« fragte Frau Burton.

»Ganz sandig,« wiederholte Toddi. »Weißt du nicht, wie spaßig das anzufühlen is, wenn du Sand zwischen den Händen reibst, wenn du keine Handschuhe anhast. Wenn du's nich' weißt, will ich mal welchen reinholen.«

»Tante Alice glaubt's dir auch ohne Sand,« sagte Herr Burton, als seine Frau nicht antwortete.

»Un' wir werden woll schrecklich müde sein, wenn das Picknick vorüber is,« sagte Willi, »dann könnt ihr uns im Wagen auf den Schoß nehmen – den ganzen Weg bis zu Hause. So machen's Papa un' Mama auch.«

»Danke für den Wink!« sagte Herr Burton. »Das ist in der That verführerisch und erklärte gleichzeitig, weshalb dein Papa seine neuen Anzüge eher aufträgt, als alle anderen Bekannten, die ich habe.«

»Und ebenso, weshalb die Mäntel und Ueberwürfe eurer Mutter beständig gereinigt und ausgebessert werden müssen,« sagte Frau Burton.

»So Toddi,« rief Willi, »ich habe jetzt alles erzählt. Weshalb quälst du sie denn nich'?«

Toddi umfaßte zärtlich das Kleid seiner Tante und bat flehentlich:

»Bitte, laß uns hinfahren! Bitte, bitte, liebe Tante nich?«

»Papa sagt, es wäre immer leichter für dich gewesen, »ja« zu sagen als »nein«,« wandte sich Willi jetzt an seinen Onkel, »un' ...«

»Da bringt dich dein Schwager ja in ein feines Renommee,« scherzte Frau Burton.

»Un' ich hörte mal 'ne Dame sagen,« fuhr Willi, sich an seine Tante wendend, fort, »du besinntest dich nich' lange, ehe du »ja« sagtest. Ich glaube, sie meinte etwas, was du mal zu Onkel Harry gesagt hast.« Frau Burton errötete vor Aerger, aber Willi fuhr fort: »Un' du mußt gegen uns doch eben so nett sein wie gegen ihn, denn er is 'n großer Mann un' braucht nich' immer erst geholfen zu werden, wenn er mal Spaß haben will. Un' außerdem hast du ihn auch immer bei dir, aber uns hast du nur noch vier Tage, – außer heute man bloß noch einen Tag.«

»Wieder eine Umschreibung einer Bibelstelle – mit packender Nutzanwendung,« sagte Herr Burton zu seiner Frau. »Sollen wir fahren?«

»Kannst du denn?« fragte diese mit strahlender Heiterkeit.

»Ich denke, es läßt sich einrichten,« erwiderte Herr Burton zärtlich, in der irrigen Annahme, daß einzig die Aussicht, einen ganzen Tag in seiner Gesellschaft verleben zu können, seine Frau so frohgelaunt mache.«

Frau Burton erriet seine Gedanken, zog es aber vor, diese Illusion nicht zu zerstören, obgleich ihr Gewissen sie dazu drängte. War doch der Gedanke, daß sie den ganzen Tag der Verantwortung für ihre Neffen enthoben sein würde, der wahre Grund ihrer Heiterkeit. Die Kinder hatten stets die Gesellschaft ihres Onkels der seiner Frau vorgezogen; letztere hatte sich zuweilen heimlich darüber gegrämt, aber im Laufe der zu Ende gehenden Woche war sie von dieser Empfindlichkeit vollständig geheilt.

Die Ankündigung, daß Onkel und Tante ihren Vorschlag günstig aufgenommen hatten, wurde von den Kindern mit ausgelassenem Jubel begrüßt, und während der nächsten beiden Stunden gab es im ganzen Staate New-York keine emsiger beschäftigten Personen als Willi und Toddi. Sogar ihr Appetit litt unter der Aufregung, und ihr Aufenthalt am Frühstückstisch war von kürzester Dauer.

Willi besuchte seinen Vater und bestellte den Wagen, während Toddi das Einpacken des Frühstücks überwachte, bis die Köchin ihn aus der Küche verbannte und sich gegen etwaige Ueberfälle dadurch sicherte, daß sie die Thür verriegelte. Dann wollten die beiden Jungen so viel Extra-Gepäck mitnehmen, daß man einen Frachtwagen damit hätte füllen können, und erteilten unaufgefordert wohlgemeinte Ratschläge mit einem Eifer, der auch dann nicht nachließ, als ihre Wünsche nicht die geringste Berücksichtigung fanden.

Endlich war das letzte Gepäckstück im Wagen untergebracht, Terry hatte einen Sitz erhalten, und die Gesellschaft fuhr ab. Sie waren etwa fünf Minuten unterwegs, da sagte Willi:

»Onkel Harry, ich möchte mal trinken.«

»Onkel Harry,« meldete sich Toddi, »ich bin beinah totgehungert – ich habe beinah gar kein Frühstück gegessen.«

»Weshalb denn nicht?« fragte Frau Burton. »Es war doch wahrlich genug auf dem Tisch, oder meinst du nicht?«

»Ich weiß nich',« erwiderte Toddi und blickte seiner Tante fragend ins Gesicht, als ob er sein Gedächtnis dadurch auffrischen wolle.

»Warst du denn beim Frühstück nicht hungrig?« forschte seine Tante weiter.

»I–i–i–ich – na, ich meine, mein Magen war woll hungrig, aber meine Zähne nich – ja, so war's. Un' jetzt möcht' ich gern Sardinen und Torte haben.«

»Aetherisches Geschöpf!« rief Frau Burton und gab Toddi einen Zwieback.

»Ich habe gar nich' daran gedacht, daß ich hungrig war,« sagte Willi, »aber nu' Toddi es sagt, fällt mir's wieder ein. Un' ich möchte auch was zu trinken haben.«

Willi erhielt ebenfalls einige Zwiebäcke und am nächsten Brunnen wurde Halt gemacht. Als Herr Burton aus dem Wagen stieg, um Wasser zu holen, war Terry genötigt seinen Platz zu wechseln. Bei dieser Gelegenheit wurde das arme Tier von den beiden Jungen so gedrangsalt, daß es zur Erde sprang und sich Toddis Protest zum Trotz auf den Heimweg machte. Willi aber erklärte:

»Das is nu' mal gewiß, daß Terry nich' in Himmel kommt – er hat doch ganz und gar keine Lust, andere Leute glücklich zu machen.«

Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung und hatte bald die äußersten Grenzen des Stadtgebietes erreicht. Auf einmal meldete Toddi:

»Ich bin furchtbar durstig.«

»Weshalb trankst du denn nicht, als Willi trank?« fragte Frau Burton.

»Weil ich nich' mochte,« erwiderte Toddi. »Ich bin doch nich wie 'ne Loketive, die nur vollgemacht wird, weil grad 'n Wasserplatz kommt. Ich mag bloß trinken, wenn ich durstig bin; un' jetzt bin ich furchtbar durstig.«

Man machte beim nächsten Brunnen wieder Halt, und Toddi trank etwa zwei Schluck Wasser. Als seine Tante dann meinte, daß er gar nicht durstig gewesen sein könne, da zerstreute er ihre Zweifel durch die Erklärung:

»So viel Platz is nich' in mein Magen. Ich bin ja nich' wie so'n Pferd, das ganze Eimers voll Wasser trinkt un' dann noch Platz für Gras hat. Aber ich glaube, ich habe noch Platz für 'n bischen Kuchen.«

»Dann will ich dir noch einen Zwieback geben,« sagte Herr Burton.

»Ne – den mag ich nich',« sagte Toddi. »Zwieback rutscht nich' so gut wie Kuchen.«

»Ich glaube nun bald,« sagte Frau Burton, »daß die tierische Natur bei dem Kinde vollständig zur Herrschaft gelangt ist. Essen und Unheilstiften hat diese ganze Woche hindurch seine Zeit ausgefüllt; und er war doch früher so gemütvoll und nett.«

»Der Sinn der Kinder ist wie der Wind, liebe Frau,« sagte Herr Burton. »Du weißt nich', von wannen er kommt und wohin er fährt – du setzest deine Segel nach ihm und siehe! er ist nicht mehr da, aber wenn du ihn gar nicht erwartest, kommt er plötzlich daher.«

»Du Onkel Harry,« sagte Willi. »Heute wollen wir aber mal ordentlich Pläsier haben.«

»Ach was,« sagte Toddi, »wir wollen ja 'n Picknicks haben.«

»Schafskopp,« erwiderte Willi. »Pläsier un' Picknick is ja dasselbe.«

»Is woll nich,« rief Toddi. »Pläsir is doch nichts zu essen wie Picknicks. Picknicks is was süßes, so wie liebes, kleine Schwesterkindchen.«

»Ach Tante!«, seufzte Willi, »wir haben das Schwesterchen nun schon seit zwei Tagen nich' gesehen – laß uns gleich umkehren un' sie besuchen.«

»Willi, Willi,« schalt Frau Burton. »Sei doch zufrieden, mit dem, was du hast, und wünsche dir nicht stets etwas anderes. Du kannst sie besuchen, wenn wir nach Haus kommen.«

»Ich brauche gar nich' nach Haus zu gehen, ich kann sie doch sehen,« sagte Toddi. »Ich kann jeden sehen, den ich sehen will, wenn es mir gerade gefällt.«

»Sei nicht albern, Toddi,« schalt Frau Burton trotz eines Warnungswinkes ihres Gemahls.

»Wie fängst du denn das an, Toddi?« fragte Herr Burton.

»O, ich denke an all die Leute, un dann kommen sie vor meine Augen, un dann sehe ich sie. Ich kann ganz viele, viele Menschen so sehen: Abraham un' Isak un' Goliath un' Klein-David un' die Isruliten un' George Washington, wie er seinem Papa seinen Baum umhaute; ich brauche man bloß dran zu denken. O, da läuft ein Kaninchen! Laß uns mal halten un' es fangen!«

»O nein, laß es laufen,« erwiderte Herr Burton. »Es geht vielleicht zum Mittagessen nach Hause, und die ganze Familie erwartet es am Tische.«

»Jemine«, rief Toddi, indem er die Augen weit aufriß und dann einige Minuten lang nachdenklich schwieg, darauf erzählte er: »Ich habe mal 'ne Kaninchenfamilie beim Mittagessen gesehen. Sie hatten 'n ganz kleinen Tisch un' ganz kleine Stühle: un' der Kaninchen-Papa sagte sein Gebet un' ...«

»Toddi, Toddi, lüge uns doch nichts vor!« rief Frau Burton.

»Ich lüge euch gar nichts vor,« erwiderte Toddi. »Un' ein kleiner Kaninchenjunge sagte: »Papa, ich möcht mal trinken,« da nahm sein Papa 'n kleines Glas; grad so groß wie'n Fingerhut, un' hielt 'n großes Blatt schief, un' da lief der Tau in das Glas, un' er gab es seinem kleinen Jungen; un' als sie gegessen hatten, da gab die Kaninchen-Mama all' ihren Jungen 'ne Erdbeere zu lutschen. Un' keiner brauchte Schürzen vorzubinden, weil sie nur einen Anzug hatten, un' der hatte so'ne Farbe, wo kein Schmutz an zu sehen is – wie Mama sagt, daß ich einen haben muß.«

»Waren es lauter Kaninchen-Jungen und gar kein Kaninchen-Mädchen?« fragte Herr Burton.

»Doch, da war auch 'ne kleine Kaninchenschwester dabei, aber sie war ganz klein un' kam nich' an den Tisch. Un' die Mama nahm sie auf ihren Schoß und spielte damit. Un' da wurde das Schwesterchen müde, un' die Mama wiegte es im Schaukelstuhl un' sang:

»Papa is auf die Jagd gegangen
Un' will ein klein Kaninchen fangen.
Un' wenn er es gefangen hat
Dann zieht er ihm das Fellchen ab.«

Un' da wollte die Kaninchen-Schwester nich mehr bei der Mama sein un' kam runter auf die Erde un' kroch auf ihren Händen un' Knieen umher; aber sie machte ihr Kleid nich' schmutzig un' ihre Kniee nich wund, weil da hübsche weiche Blätter und Farnkräuter lagen, wo sie auf kriechen konnte, un' nich' so häßliche alte Teppiche. Weißt du woll, daß ich schon mal 'n Kaninchen gewesen bin?

»Wirklich?« erwiederte Herr Burton. »Erzähl uns das mal.«

»Harry!« schalt seine Frau.

»Er glaubt es, mein Schatz,« erklärte ihr Mann. »Er ist jetzt in der poetisch-schwärmerischen Stimmung, die du vor einigen Minuten so schmerzlich an ihm vermißtest. Nur weiter, Toddi!«

»Schön. Ich war mal 'n Kaninchen, un' lebte ganz allein in 'm Loch unten im Baum. Un' manchmal besuchten mich andere Kaninchen, un' wir setzten uns alle auf die Hinterfüße un' machten Männchen. Manchmal wollten mich auch Hunde besuchen, aber ich ließ sie bloß klingeln un' rief nich »herein.« Un' da kam ein vornehmer Mann un' sagte, ich möchte doch in sein' Circus kommen un' ihm helfen, kleine Jungens lachen zu machen. Da lief ich denn im Circus rum un' hebte Menschen un' andere Sachen mit meinem Rüssel auf –.«

»I bewahre, Toddi,« unterbrach ihn Herr Burton. »Kaninchen haben ja gar keinen Rüssel.«

»Ich weiß woll,« sagte Toddi, »aber ich war ja 'n Ephalant geworden, un' ich eßte 'ne Masse Heu un' annern Kram mit mein Rüssel, un' die Leute gaben mir 'ne Masse Kuchen und Zuckerwerk un' wollten sehen wie ich es mit mein' Rüssel essen würde, un' ich war so groß, daß ich alles aufkriegen konnte, un' da war keine Ephalanten-Mama, die immer sagte: du darfst nich' so viel Kuchen un' Bonbons essen, Toddi; sonst wirst du krank.«

»Kommt noch mehr?« fragte Herr Burton. »Wir können ziemlich alles ertragen.«

»Warte mal,« antwortete Toddi nachsinnend. »Ja, nachher wurde ich 'n Löwe un' mußte soviel brüllen, daß meine Kehle ganz sandig wurde. Deshalb wurde ich wieder 'n kleiner Junge un' war furchtbar hungrig, un' ich glaube, das war eben jetzt.«

»Kannst du diesem Wink widerstehen, liebe Frau?« fragte Herr Burton.

Frau Burton öffnete seufzend einen Korb und gab Toddi ein Stück Kuchen, welches dieser mit den Worten in Empfang nahm:

»Das giebst du mir, weil ich nur die Wahrheit gesagt habe, nich?«

Inzwischen hatte man sich dem Reiseziel genähert und Willi schlug vor:

»Ich denke, zu allererst frühstücken wir mal ganz tüchtig.«

»Jetzt noch nicht,« sagte Frau Burton. »Wir wollen das zweite Frühstück zur gewohnten Zeit einnehmen.«

»Aber trinken kannst du so viel, wie du magst,« sagte Herr Burton. »Hier ist 'n ganzer Fluß voll Wasser.«

»Ach, ich fühle so, als ob ich in mein ganzen Leben keinen Durst mehr kriegte,« sagte Willi. »Aber ich wollte, Terry wäre hier un' könnte nach 'm Stock schwimmen. O, thu du es mal! nich? – Du spielst Hund un' ich spiele Onkel Harry un' werfe dir was zu.«

Inzwischen war Toddi an das Ufer des Wassers getreten und hatte sich in gebückter Stellung nach Fischen umgesehen. Der abschüssige Stein, auf dem er stand, war etwas feucht, und Toddi war so erpicht auf die Fische, daß er sich immer mehr vornüber beugte. Da hörte man auf einmal ein Platschen und einen Angstschrei, und Toddi stand bis an die Kniee im Wasser. Ihn auf's Trockene zu bringen war das Werk eines Augenblicks, aber seinen Thränenstrom zu hemmen war keine so leichte Aufgabe.

»Was machen wir nun?« fragte Frau Burton.

»Zieh ihm Schuhe und Strümpfe aus und laß ihn barfuß laufen,« erwiderte Herr Burton. »Bei dem warmen Wetter kann er sich nicht erkälten.«

»Ei!« rief Toddi, »darf ich den ganzen Tag barfuß laufen. Ich wollte, der Fluß wäre dicht an unserm Hause, dann wollt' ich jeden Tag hineinpurzeln. Willi, Willi, wenn du Spaß haben willst, brauchst du nur mal in den Fluß zu plumpsen.«

Aber Willi hatte sich entfernt und war eben damit beschäftigt, ein Moosbüschel aus einer Felsenspalte loszureißen. Hier fand ihn seine Tante, und er erklärte, während er emsig zog und zerrte:

»Ich denke, dies is 'n schönes Kissen für dich, drauf zu sitzen.«

Das letzte Wort hatte den letzten Ruck begleitet, und das Moos löste sich los; gleichzeitig sprang Willi mit einem Schrei des Schreckens zurück; denn eine kleine Schlange, die sich unter dem Moose häuslich niedergelassen hatte, legte in ihrer Schlangenmanier große Entrüstung über den Hausfriedensbruch an den Tag.

»Nie un' nimmer thu ich nichts für andere Leute nich wieder,« schluchzte Willi. »Jedesmal, wenn ich die Augen zumache, werd' ich jetzt die scheußliche Schlange sehen.«

»Du armer, kleiner Bursche,« sagte Frau Burton, ihn zärtlich liebkosend, »ich wollte, ich könnte etwas dazu thun, daß du es bald wieder vergißt.«

»Ne, das kannst du nich',« schluchzte Willi; »außer – außer vielleicht, wenn du mir 'n Stück Torte giebst. Es kann wenigstens nich' schaden, wenn wir's mal versuchen, nich'?«

Frau Burton machte sich eiligst daran, eine Torte auszupacken, und ihr Mann gab bei dieser Gelegenheit seiner Ueberzeugung Ausdruck, daß Willi ein geborener Diplomat sei. Als sie dann mißtrauisch umherspähte, aus Besorgnis, daß Toddi Willis Medizin erblicken und sich irgend ein Leiden andichten werde, was mit Torte kuriert werden müsse, machte sie die Entdeckung, daß Toddi spurlos verschwunden war.

»O Himmel! Toddi ist fort! Vielleicht ist er bei dem Wasserfall, Harry. Ich wollte, wir hätten uns weiter stromabwärts gelagert.«

Herr Burton eilte im Laufschritt das Ufer des Flusses entlang, konnte aber keine Spur von Toddi entdecken. Endlich hörte er jedoch durch das Rauschen des Wasserfalls eine schrille Stimme, welche den Anfang einer alten Methodistenhymne sang und immer von neuem wiederholte.

»Rauschende Flüsse, mächtige Quellen«

Er folgte dem Klange der Stimme, spähte über die Uferbank und erblickte Toddi in einem sonnigen Felseneckchen unterhalb des Wasserfalls. Der Junge befand sich in einem wahren Rausch des Entzückens. Bald streckte er die Hände aus, als ob er das herunterstürzende Wasser auffangen wollte, bald warf er sein Köpfchen zurück, um mit kräftigerer Stimme zu singen, dann wieder sprang und tanzte er wie toll umher, als ob sein kleiner Körper seiner großen Seele nicht Raum genug biete.

Plötzlich erschien auch Frau Burton, welche, von Angst getrieben, sich ebenfalls auf die Suche nach Toddi gemacht hatte und jetzt die Sandbänke unterhalb des Wasserfalls heraufkam.

»O, Tante Alice,« rief Toddi, auf sie zueilend und ihre rechte Hand mit seinen beiden Händen fassend, »sieh doch mal das Wasser tanzen! Siehst du woll die vielen schönen Lichter, die der liebe Gott angesteckt hat? Möchtest du da nich' hineingehen un' zwischendurch fliegen un' alles über dich geschüttelt haben un' dich drin schütteln un' nachher alles abschütteln un' wieder hineinfliegen? Oben im Himmel giebt's auch solche Plätze. Das weiß ich, weil ich sie mal gesehen habe – ja, das hab' ich. Un' alle Engel standen drum rum un' flogen hin un' her un' mittendurch und lachten, was sie nur konnten. Un' Jesus saß oben am Ufer un' sah zu un' lachte mit.«

Herr Burton versteckte seine ganze werte Persönlichkeit bis auf Augen und Hut, weil er einen Meinungs-Konflikt der beiden für nahe bevorstehend hielt. Es folgte jedoch kein Konflikt, denn Frau Burton zog ihren Neffen an sich und küßte ihn herzhaft. Aber Toddi entwand sich ihren Armen und rief:

»Das darfst du nich' thun, sonst krieg ich andere Augen, un' ich habe keine nötig.«

Wie lange das Entzücken Toddis noch gedauert haben würde, konnte das Burtonsche Ehepaar nicht feststellen, denn ein unheilverkündendes Pferdegetrappel nahm die Aufmerksamkeit Herrn Burtons in Anspruch. Als er sich hastig umwandte, sah er eins der beiden Pferde in wildem Galopp in der Richtung nach Hillcrest dahinjagen, während die Gestalt des Knaben Willi, der gerade einen Zügel fahren ließ, durch den Staub der Landstraße geschleift wurde, wobei seine Stimme in schrillen Tönen das Rauschen des Wasserfalles übertönte.

Mit dem natürlichen Instinkte eines alten Kavalleristen versuchte Herr Burton zunächst das Pferd einzufangen, aber das Tier sprang so scheu zur Seite und hatte eine so freie Strecke Weges vor sich, daß die Sorge um Willi, der inzwischen am Wege liegen geblieben war, in seinem Herzen die Oberhand gewann und er zu seinem Beistand herbeieilte.

»Ich – bu – hu wollte das Pferd gerade zum Wasser führen, wie's – bu – hu – hu – hu – Papa macht, da riß – oh! wie mein Ellbogen wehthut! – da riß es sich los un' lief weg. Un' ich faßte die Zügel un' wollte es halten, un' au! – da schleifte es mich fort, mit mein' Mund im Staub, woll zehn Meilen weit. Ich habe so viel Staub schlucken müssen, wie ich konnte, aber ich glaube, ich habe noch immer einen ganzen Mund voll.«

Herr Burton schirrte das andere Pferd geschwind ab und galoppierte ohne Sattel hinter dem Durchbrenner her, während seine Frau, die ahnte, daß etwas passiert sein mußte, mit Toddi rasch die Klippe hinaufstieg und beide Jungen in den Schatten des Wagens führte, mit dem strikten Befehl, sich dort bis zur Rückkehr ihres Onkels ganz ruhig zu verhalten.

»Dürfen wir auch nich' sprechen?« fragte Toddi.

»Nein, es sei denn, daß ihr durchaus müßt,« antwortete Frau Burton, die wie die meisten sorgengequälten Menschen jede Art Zerstreuung von sich fern zu halten suchen, welche sie hätte abhalten können, sich ihrem Kummer hinzugeben. »Können denn kleine Jungen nie den Mund halten?«

»O, doch,« sagte Willi, »wenn sie 'n guten Happen zu essen haben.«

In ihrer Verzweiflung packte Frau Burton alle Frühstückskörbe aus und lud die Kinder ein, sich selbst zu bedienen. Dann begab sie sich auf die Landstraße und spähte nach ihrem Mann aus. Als sie endlich, des vergeblichen Hoffens und Harrens müde, zum Wagen zurückkehrte, da stellte sich heraus, daß die Jungen den ganzen Kuchen- und Tortenvorrat aufgegessen hatten; außerdem hatten sie die Milch getrunken und den Zucker vernascht, welche zu dem köstlichen Kaffee verwendet werden sollten, den Frau Burton à la militaire zu machen beabsichtigt hatte. Eine Sardinenbüchse, welche die Kinder mit einem Stein zu öffnen versucht hatten, war zu einer formlosen Masse zerstampft.

»Ihr unartigen Jungen!« schalt Frau Burton. »Was soll denn nun unser armer Onkel essen, wenn er müde, hungrig und durstig zurückkommt? Un' das alles nur deines dummen Streiches wegen, Willi!«

»Na nu', Tante Alice,« sagte Willi, »wir haben ja den Zwieback gar nich' angerührt, un' Zwieback gab er uns auch, als wir sagten, wir wären so furchtbar hungrig. Un' da is ja auch ein ganzer Fluß voll Wasser – das hat er uns auch gesagt, als er dachte, wir wären durstig.«

Diese Erklärung schien Frau Burton keinen besonderen Trost zu gewähren; sie begab sich wieder auf die Landstraße und sagte sich, daß sie immerhin schon den Gedanken ertragen könne, daß ihr Mann Hunger leide, wenn er nur erst unversehrt wieder zurück wäre. Langsam verstrich eine Minute nach der andern. Die Jungen wurden erst ungeduldig, dann eigensinnig, aber endlich gegen 3 Uhr nachmittags kam Herr Burton zurück. Das durchgebrannte Pferd war beinahe bis nach Hillcrest gelaufen und hatte unterwegs ein Hufeisen verloren, so daß Herr Burton genötigt war, einen Hufschmied aufzusuchen. Das Pferd, welches er geritten hatte, war offenbar niemals zugeritten worden, und er hatte seiner scheinbaren Ungeschicklichkeit wegen allerlei Spöttereien der lieben Dorfjugend über sich ergehen lassen müssen. Jetzt war ihm vor allen Dingen das eine klar, daß er riesigen Hunger habe.

»Armer Mann,« seufzte Frau Burton, »bis auf Brot und Zwieback haben die Jungen alles aufgegessen; ich habe noch keinen Bissen genossen.«

»Unmöglich!« rief Herr Burton und befühlte den Leibgürtel der Kinder. »Da haben sie sicher was fortgeworfen.«

»Nur in unsern Magen runter,« versicherte Toddi.

»Dann will ich zum nächsten Wirtshaus gehen und ein gutes Mittagessen genießen,« sagte der enttäuschte Mann.

»Wir wollen mit!« rief Willi. »Von Kuchen un' Torte un' so was wird man auf Picknicks nich' ordentlich satt.«

»Dann wird ein wenig Hunger jedenfalls das beste für euch sein,« erwiderte Herr Burton. »Ihr bleibt hier bei eurer Tante.«

»Gut, aber dann beeile dich,« mahnte Willi. »Tante Alice sagt, der Nachmittag ist schon halb hin, un' du hast uns noch keine Flöten gemacht, un' hast uns noch nich' schwimmen un' noch keine Fische fangen lassen. Du hast auch noch keine dicken Steine für uns ins Wasser geworfen, un' all so was nich'.«

Herr Burton ging ziemlich gedemütigt fort, da ihm die Vorwürfe seines Neffen in den Ohren klangen; die Kinder aber umkreisten ihre Tante in feierlichem Schweigen, bis diese erstaunt fragte:

»Weshalb macht ihr solchen Hokuspokus, Kinder?«

»Ach, wir fühlen uns so verlassen un' möchten getröstet werden,« erwiderte Willi.

»Wollt ihr dann aber auch Onkel Harry trösten, wenn er zurückkommt?« fragte Frau Burton. »Wozu denn?« antwortete Willi. »Ich habe doch mal gehört, daß er zu dir sagte, du wärst sein einziger Trost; da hat er uns doch nich' nötig.«

Frau Burton küßte ihre beiden Neffen und fragte sie, ob sie etwas für sie thun könne.

»Ich weiß nich',« erwiderte Toddi.

Höhere Eingebung kam Frau Burton in ihrer Ratlosigkeit zu Hilfe, und sie erklärte:

»Ihr dürft euch beide amüsieren, wie ihr wollt.«

»Hurra!« rief Willi.

»Un' willst du auch nich' 'n einziges Mal »Müßt nich'« sagen?« fragte Toddi vorsichtshalber.

»Nein,« antwortete Frau Burton.

Da ließen beide gleichzeitig einen Ruf des Staunens hören, reichten sich die Hand und gingen langsam und schweigend hinweg. Sie blieben sogar einmal stehen, um sich zu küssen, während Frau Burton ihnen in stummer Verwunderung nachblickte.

War dies wirklich die Folge davon, daß sie kein wachsames Auge – ein Luchs-Auge, wie ihr Mann es nannte – auf die Kinder hatte?

Die Jungen setzten ihren Spaziergang schweigend fort und ließen sich endlich auf einem großen Felsblock nieder. Dann umfaßten sie sich mit den Armen und blickten still in die Landschaft hinaus. So blieben sie sitzen, bis ihr Onkel zurückkehrte und von seiner Frau auf das Paar aufmerksam gemacht wurde. Die beiden Erwachsenen folgten bald dem Beispiel der Kinder, und eine Stunde lang herrschte süßer Frieden an den Ufern des Flusses, bis die alte Sonne, die einst stillstand, um einer Schlacht zuzusehen, die ihren Lauf aber noch niemals hemmte, um sich an dem Anblick friedlicher, naturkneipender Touristen zu erfreuen, die Gesellschaft mahnte, daß es Zeit sei heimzukehren.

»Wir müssen wieder nach Hause, Kinder,« sagte Herr Burton mit einem Seufzer.

Diese Worte bannten den Zauber, der die Kinder wie mit unsichtbaren Fäden gefangen hielt, und sie waren sofort wieder die alten Jungen, freilich nicht, ohne noch einen sehnsüchtigen Blick auf das Paradies zu werfen, welches sie verlassen mußten.

»Nun, Onkel Harry,« sagte Willi, »is da noch etwas, das zu jedem ordentlichen Picknick un' zu jeder Spazierfahrt mit dazu gehört, un' das is, daß ich die Zügel führe.«

»Un' daß ich die Peitsche halte,« fügte Toddi hinzu.

»O, ich glaube, ihr habt eure Schuldigkeit heute schon reichlich gethan – ihr alle beide,« antwortete Herr Burton, indem er die Zügel unwillkürlich fester faßte.

»Wir glauben das aber nich',« sagte Willi, »un' ganz gewiß, wir können fahren. Wenn's bergauf geht, läßt uns Papa immer fahren; er sagt, die Pferde merken es gleich, wenn wir sie in die Hand nehmen.«

»Das wundert mich nicht,« sagte Herr Burton. »Gut, hier geht's bergauf. Halte fest!«

Willi ergriff die Zügel, und Toddi zog die Peitsche aus ihrem Lederhalter. Die edlen Tiere bestätigten sofort die Behauptung ihres Herrn, denn sie begannen sich in einer Weise zu bäumen, die sich für wohlerzogene Familienpferde durchaus nicht schickt. Frau Burton klammerte sich an den Arm ihres Mannes und dieser legte vorsichtig eine Hand auf die Zügel.

Der Gipfel des Hügel war erreicht, und Herr Burton nahm Willi die Zügel wieder ab. Ehe aber Toddi seine Würde niederlegte, gab er dem Handpferd einen tüchtigen Peitschenhieb. Tom Lawrence würde nie ein Pferd behalten haben, das auch nur ein Berühren mit der Peitsche nötig gehabt hätte, obwohl dieses Zeichen der Gewalt stets seinen Wagen zierte. Da nun die Pferde derartige Liebkosungen nicht gewohnt waren, so entbrannte das geschlagene Tier in edlem Zorn, und da sein Gefährte seine Gefühle durchaus teilte, so schlugen beide Tiere mit den Hinterbeinen aus und rasten dann mit einer Geschwindigkeit, die sie selbst nicht mehr zu mäßigen vermochten, den felsigen, holperigen Weg hinunter. Bald ging die tolle Fahrt direkt auf einen im Wege liegenden, hell schimmernden Steinblock los. Herr Burton sah die Gefahr und versuchte die Pferde zur Seite zu lenken. Aber was bedeutete für die entrüsteten Tiere ein solches Hindernis? Jetzt waren sie unmittelbar vor dem Steinblock, den die Räder unbedingt treffen mußten. Frau Burton, auf die Zertrümmerung des Wagens und das Schlimmste gefaßt, schlang den einen Arm fest um ihren Mann, während sie mit dem andern zwischen die Zügel fuhr; die Jungen stimmten die Negerhymne an: »O, Felsenpfad zu Zion's Stadt«, die Räder trafen den Steinblock, und vier Personen beschrieben weitgeschweifte Bogen in der Luft und gelangten erst wieder auf die Erde, als ihr weiterer Flug durch die am Wege stehenden Büsche aufgehalten wurde. Der Wagen richtete sich selbst wieder auf und wurde von den Pferden mit Windeseile nach Hause gebracht, während die früheren Insassen, von denen zwei sehr vergnügt und die beiden andern sehr schweigsam waren, zu Fuß nach Hause pilgerten und nur einmal anhielten, um ihre zerkratzten Gesichter in einem Bache zu baden.

Eine Stunde später, als die beiden Kinder ohne jedwede Hilfe die zum Schlafengehen nötigen Vorbereitungen getroffen hatten, und während ihre derzeitigen Hüter abwechselnd lachend und wehklagend die Ereignisse des Tages besprachen, ließ sich auf einmal oben an der Treppe eine Stimme vernehmen:

»Du, Onkel Harry, werden wir morgen unser Picknick zu Ende kriegen? Wir sind heute noch nich' halb damit fertig geworden. Da sind noch ganz viele Picknicksachen, wo wir noch gar nich' haben an denken können.«

Und eine andere Stimme rief:

»Un' laß uns mehr Frühstück mitnehmen. Ich bin den ganzen Tag furchtbar hungrig gewesen.«


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