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Erstes Kapitel

Der Verfasser eines gewissen, vielgeschmähten Buches saß eines Morgens mit seiner Frau beim Frühstück, und die Unterhaltung drehte sich, wie es schon häufig der Fall gewesen war, bald um ein Knabenpaar, welches Freunden lustiger Geschichten vielen Spaß, ihrem Onkel aber argen Verdruß gemacht hatte. Dank jener weiblichen Großmut, die wie ein Gewand die Fehler glücklich verheirateter Ehemänner bedeckt, war Frau Burton so stolz auf ihren Gemahl, daß sie sogar sein mangelhaftes Buch bewunderte. Sie hatte bereits glänzende Versuche unternommen, dasselbe selbst da in Schutz zu nehmen, wo offenbare Mängel zu Tage traten; nur die in dem Werke sich offenbarende Unwissenheit in allen Kindererziehung betreffenden Fragen hatte ihr kritisches Gefühl häufig verletzt.

An besagtem Morgen äußerte sich dieses kritische Gefühl ungewöhnlich lebhaft. Möglicherweise deshalb, weil sie die Woche hindurch von den Alltagssorgen des Lebens ausnahmsweise verschont geblieben war, möglicherweise auch, weil der Mürbebraten nicht gar war und seinen Namen Lügen strafte. Leider hatte der Verfasser keine Zeit, diese Frage auf philosophischem Wege zu entscheiden, denn er war genötigt, seine ganze Aufmerksamkeit der Kunst der Selbstverteidigung zu widmen. Wie ein kluger Feldherr, der die Ueberlegenheit der feindlichen Streitkräfte erkannt hat, versuchte er es mit ablenkenden Kriegslisten, aber alle diese Versuche wurden sofort in ihrer Schwäche erkannt und mit gebührender Verachtung bestraft.

»Wenn ich bedenke, Harry«, sagte Frau Burton, »wie wenig du dich eigentlich um Willi und Toddi gekümmert hast, obgleich du sie mit all der Zärtlichkeit eines Blutsverwandten zu lieben vorgiebst, so muß ich mich doch fragen, ob nicht gewisse Leute sich einbilden, daß Kinder, gleich Waldbäumen, ohne Pflege und Zucht heranwachsen können.«

»Ich verwendete den größten Teil meiner Zeit«, sagte Herr Burton, indem er sich mit größerer Eile über seine Bratenschnitte hermachte, als es bei seinen bequemen Geschäftsstunden nötig gewesen wäre – »ich verwendete den größten Teil meiner Zeit darauf, ihrer Eltern Hab und Gut und sie selbst vor dem Untergange zu bewahren. Wann hatte ich Gelegenheit, noch mehr zu thun?«

Ein ungekünsteltes, aber nichts desto weniger herausforderndes Lächeln bewußter Überlegenheit huschte über Frau Burtons ernste Züge, als sie entgegnete: »Diese Gelegenheit hattest du beständig. Du vertrödeltest deine Zeit mit deinen Bemühungen, wieder gut zu machen, was jugendlicher Unverstand gesündigt hatte, während du die lieben Kinder so hättest anleiten sollen, daß ihre Energie sich nicht in unheilvoller Weise bethätigen konnte. Ein Lot Vorbeugung ist besser als ein ganzes Pfund Heilungsversuche.«

Herr Burton, von jeher ein geschworner Feind aller Sprichwörter, wußte nicht, von wem das Schlußcitat seiner Frau eigentlich stammte, machte aber im stillen den weisen Salomon zum schwerbeladenen Sündenbock und dachte an Dinge, welche orthodoxe Ohren beileibe nicht hören dürfen. Seine Frau aber fuhr fort:

»Du hättest ihnen klar machen sollen, wie schön und notwendig Ruhe, Ordnung, Reinlichkeit und Bescheidenheit sind. Kannst du daran zweifeln, daß ihre kleinen, unverdorbenen Herzen alles willig in sich aufgenommen und danach gehandelt haben würden?«

»Glaubst du denn, liebe Frau«, antwortete Herr Burton, »daß ihnen niemals zu Gemüte geführt wurde, wie herrlich alle diese Tugenden sind? Hast du nie das einfache aber wahre Sprichwort gehört: »Man kann ein Pferd zum Wasser bringen, doch kann man's nicht zum Trinken zwingen.«

Frau Burton ließ sich jedoch durch dieses Sprichwort durchaus nicht irre machen, sondern suchte ihrem Gemahl in anderer Weise beizukommen.

»Du hättest wenigstens versuchen sollen, ihnen die innere Bedeutung der Dinge klar zu machen«, sagte sie, »dann würden sie alles um sich her mit größerem Verständnis betrachtet haben«.

Herr Burton blickte mit nahezu ehrfurchtsvoller Bewunderung auf seine Frau, dieses reine, edle Geschöpf, deren feinfühlige Natur mit unfehlbarer Sicherheit die wahren Triebfedern alles Handelns erkannte, und mit geziemender Demut bemerkte er:

»Willst du mir, bitte, sagen, wie du den Kindern die innere Bedeutung des Begriffes Schmutz so erklärt haben würdest, daß sie über eine staubige Landstraße gehen konnten, ohne sich in dichte Staubwolken einzuhüllen?«

»Scherze doch nicht in ernsten Dingen, Harry«, sagte Frau Burton, nach einer kurzen Verlegenheitspause. »Du weißt, daß das Gewissen und ästhetisches Gefühl alle Menschen, welche sich ihrem Einfluß unterwerfen, zu besseren Sitten erziehen, und du weißt auch, daß die reinsten Naturen dafür am empfänglichsten sind. Wenn sogar Männer und Frauen, deren Vorleben infolge falscher Erziehung eine einzige Kette von Verirrungen war, unter richtiger Leitung wieder zu gesitteten und einsichtsvollen Menschen werden, welche Erfolge kann man da nicht mit Kindern erzielen, von welchen es heißt: Das Himmelreich ist ihrer?«

Bei den letzten Worten seiner Gemahlin hatte Herr Burton unwillkürlich das Haupt gesenkt; aber er erhob es sogleich wieder, als die Dame, angeregt durch die eben von ihr citierte Bibelstelle, in ihren religiösen Ermahnungen fortfuhr:

»Und dann. Wie konntest du nur dulden, daß die Kinder so unschickliche Gespräche über heilige Dinge führten?«

»Dafür, liebes Kind«, verteidigte sich ihr Gemahl, »mußt du in erster Linie ihre Eltern verantwortlich machen. Ich habe mit den Gewohnheiten der Kinder nichts zu thun, und speziell ihre drollige Manier, über das, was du heilige Dinge nennst, zu sprechen, ist ihnen von ihren Eltern anerzogen. Tom Lawrence vertritt die Ansicht, daß nicht alle in der Bibel erwähnten Personen schon an und für sich ein Patent auf Heiligkeit haben, und Helene stimmt ihm darin bei.«

Frau Burton hüstelte. Es ist erstaunlich, wie ausdrucksvoll ein bloßes Hüsteln unter Umständen sein kann. Jedenfalls bereitete der leichte Kehlkopfreiz, welchen Frau Burton simulierte, ihren Gemahl genügend auf das Kommende vor:

»Mir scheint«, sagte Frau Burton langsam, als ob sie laut überlegte, »daß Kinder recht viel häßliche Eigenschaften von ihren Eltern erben, die den armen kleinen Dingern dann selbst zur Last gelegt werden. Ich kann mit der Ansicht Toms und Helenens nicht im geringsten sympathisieren, denn sowohl in der Mayton'schen Familie als auch in der meiner Mutter wurden religiöse Dinge stets mit besonderer Ehrfurcht behandelt. Ich weiß sehr wohl, daß du recht hast, wenn du den Eltern und nicht den Kindern die Schuld beimißt, aber ich kann nicht verstehen, wie Tom und Helene ihre Kinder zu solchen Gewohnheiten erziehen können. Auch verstehe ich nicht, wie sie das aneinander dulden können; aber eine Familie ist nicht wie die andere.«

Frau Burton hatte ihre Serviette ergriffen und wischte bei den letzten Worten einige Krümchen von ihrem Kleide. O, dieses bevorzugte Geschöpf! Es war in der That Zeit, daß etwas menschliche Schwachheit bei ihr zum Vorschein kam, um ihren Gemahl zu überzeugen, daß sie nicht ganz und gar zu gut für diese Welt sei. Glücklicherweise war ihre Anspielung auf ihre bessere Herkunft, diese Lieblingsidee jeder Frau, (Eva ausgenommen) überzeugend genug. Ihr Gatte ließ sich den Hieb ruhig gefallen, was gute Ehemänner in ähnlichen Fällen immer zu thun pflegen. Er überreichte ihr nur seine Kaffeetasse etwas hastig mit der Bitte um mehr Zucker und fragte in leicht erregtem Ton: »Bist du fertig, mein Schatz?«

Frau Burton, welche die Sachlage sofort begriff, erhob sich von ihrem Stuhl, versöhnte ihren Gemahl mit einem Kuß und sagte dann:

»Nur eins möchte ich noch sagen, lieber Herzensmann, und ich glaube, daß ich es eigentlich nur wiederhole. Eltern verfallen oft in denselben Fehler, wie zärtliche Onkel: sie beaufsichtigen die Kinder nur, anstatt sie zu erziehen. Kinder sollten schon in ihrer frühesten Jugend von älteren, vernünftigen Leuten so erzogen werden, daß ihr Charakter gebildet wird und nicht zufälligen Einflüssen überlassen bleibt.«

»Und nichts ist natürlich nach deiner Ansicht leichter als das. Meinst du, daß sogar ein verliebter Onkel während einer kurzen Ferienzeit in diesem Sinne wirken kann.«

»Gewiß! Werden doch selbst wilde Tiere oft durch den ersten Blick eines überlegenen Geistes gezähmt.«

»Aber wenn nun die erziehungsbedürftigen kleinen Wesen ihre eigenen Ansichten und Wünsche haben?«

»So muß man sie in vernünftiger Weise davon abbringen.«

»Und wenn sie eigensinnig darauf bestehen?«

»Das bleibt sich gleich«, sagte Frau Burton, welche plötzlich einige Zoll zu wachsen schien.

»Glaubst du wirklich, daß du sie dahin bringen könntest, dir zu gehorchen?« fragte Herr Burton mit so ehrfurchtsvoller Miene, als erwarte er die Antwort einer unfehlbaren Autorität.

»Gewiß!« antwortete die Dame.

»Bei Gott!« rief ihr Gemahl. »Das stimmt auffallend! Ganz derselbe feste Entschluß beseelte mich, als ich mich damals der Aufgabe unterzog, die beiden Jungen zu beaufsichtigen.«

»Und doch schlug es dir fehl«, sagte Frau Burton. »O, ich wollte, ich wäre an deiner Stelle gewesen!«

»Das wollte ich auch, liebes Kind«, sagte Herr Burton, »oder vielmehr, ich würde diesen Wunsch äußern, wenn mir nicht zur rechten Zeit einfiele, daß von all den wunderbaren Ereignissen, die ein Paar aus uns gemacht haben, nichts passiert sein würde, wenn du anstatt meiner die Kinder beaufsichtigt hättest.«

Die Dame antwortete mit anmutigem Lächeln: »O, ich finde wohl noch Gelegenheit, meine Ueberlegenheit in pädagogischen Fragen zu beweisen; ich habe in der That bereits bestimmte Verabredungen gerade zu diesem speziellen Zweck getroffen und die Kinder zu uns eingeladen, du solltest es eigentlich noch nicht wissen, aber leider habe ich noch nicht gelernt, etwas vor dir geheim zu halten. Ich bin überzeugt, daß Helene und Tom und du bald zu der Einsicht kommen werdet, daß ich recht habe«.

»Ich hoffe, du wirst dein Erziehungstalent erproben, wenn ich meine Frühjahrstour mache und die Kunden besuche«, sagte Herr Burton ängstlich. »Oder« fuhr er fort, »wenn das nicht der Fall ist, so weiß ich, hast du mich lieb genug, um mich vorher zu warnen, damit ich mich rechtzeitig aus dem Staube machen kann. Wann werden die Kinder hierherkommen?«

Frau Burton antwortete mit einem Blick, den ihr Gemahl vergeblich zu enträtseln suchte. In dieser Verlegenheit kam ihm plötzlich Hilfe von einer Seite, von welcher er sie am wenigsten erwartet hätte. Die Thürglocke wurde anhaltend und heftig in Bewegung gesetzt, und gleichzeitig ertönten dröhnende, offenbar mit einem Backstein ausgeführte Stöße gegen die Hinterthür. Dann folgte ein heftiges Zuschlagen von Thüren, ein Getrampel im Hausflur wie von zahlreichen Kriegsrossen, dann jauchzte eine helle Kinderstimme: »Ich kam zuerst herein!« und eine lautere, tiefere ließ sich hören: »Ich aber auch!« Und dann, als Herr und Frau Burton bestürzt und erwartungsvoll von ihren Stühlen aufgesprungen waren, wurde die Thür des Eßzimmers aufgestoßen und Willi und Toddi kamen herein geschossen wie von einer Wurfmaschine geschleudert.

»Hallo!« rief Willi gleichsam zum Gruß, während Toddi sich den Umarmungen seiner Tante entwand und den Familien-Dachshund am Schwanz ergriff. »Was sagt ihr aber nu'? Wir haben ein kleines Kind gekriegt, und Toddi und ich sind hierhergekommen und sollen ein paar Tage bei euch bleiben; Papa hat uns geschickt. Euer Frühstück gefällt mir aber gar nicht«, schloß Willi nach einem kritischen Blick über den Speisetisch.

»Und so groß is es man«, sagte Toddi, aus dessen Händen der Hund Terry seinen Schwanz befreit hatte, um sodann seine ganze werte Persönlichkeit zur Thür hinaus in Sicherheit zu bringen. »So groß is es man«, wiederholte Toddi, indem er seine quabbeligen Hände einige Zoll auseinanderhielt und jede Miene seines Gesichts zusammenzog, als ob er die außerordentliche Kleinheit des neuen Erben dadurch veranschaulichen wollte.

Frau Burton küßte ihre Neffen und ihren Gatten mit ungewöhnlicher Herzlichkeit und erkundigte sich nach dem Geschlecht des neuen Erdenbürgers.

»O, das ist gerade das Netteste dabei«, sagte Willi. »Es is ein Mädchen. Die vielen Jungens habe ich satt – Toddi is so schlimm wie ein ganzer Haufen Jungens, weißt du, wenn ich auf ihn aufpassen muß. Aber jetzt sind wir in Verlegenheit und wissen nicht, wie es heißen soll. Mama sagte uns, wir möchten mal das Schönste ausdenken, was es auf der Welt giebt, un' da dachte ich gleich an Plumpudding und Toddi dachte an Apfeltorte. Aber Papa sagte, das wären keine Namen für ein kleines Mädchen. Und ich sehe doch nicht ein, weshalb die nicht ebensogut sind wie Rosen und Veilchen und all die anderen Dinge, wo die kleinen Mädchen nach genannt werden«.

Während Willi diese Neuigkeiten auskramte, hatte Toddi beständig: »Ich – ich – ich – ich« gerufen, wie ein kluger Parlamentsredner, der sich beim Präsidenten zum Worte melden will. In seiner Aufregung merkte er einige Sekunden lang gar nicht, daß sein Bruder bereits ausgeredet hatte, aber endlich rief er eifrig: »Un' ich – ich – ich schenke ihr meine Schildkröte und zeige ihr Sandtorten zu backen mit Rosinen drin.«

»Pah!« rief Willi mit unsagbarer Verachtung im Ton. »Mädchen mögen so was nicht leiden. Ich schenke ihr mein blaues Halstuch und fahre sie in meinem Ziegenwagen spazieren.«

»Ich weiß noch was Schöneres«, rief Toddi, mit der Miene eines Mannes, der seinen Gegner übertrumpfen kann. »Ich schenke ihr Raupen, die haben so hübsche Pelzjacken an, so wunderschön grün und rot und braun, wie Damenkleider, die mag sie ganz gewiß gern leiden.«

»O, wenn ihr wüßtet, was Toddi und ich haben beten müssen, um das Kind zu kriegen«, rief Willi. »Mir wird ganz schlecht, wenn ich nur dran denke. Ganze Tage und Wochen und Monate!«

»Ach ja«, sagte Toddi. »Und Willi wollte manchmal aufhören, weil er dachte, der liebe Gott hätte keine Zeit, auf ihn zu hören. Aber da hab' ich ihm gesagt, daß der liebe Gott unser größter Papa is un' grad so, wie Papas sein müssen, un' unser Papa zu Haus is auch grad', wie Papas sein müssen – und der hört immer zuerst auf das, was kleine Jungens sagen, sagt Mama. Wenn ihr recht brav seid und immerzu betet, dann kriegt ihr vielleicht auch ein liebes, süßes, kleines Kind«.

Das plötzliche Wiedererscheinen Terrys machte der Unterhaltung ein Ende, da beide Knaben sich nach ihm umwandten und sogleich eine lebhafte Jagd auf ihn eröffneten. Terry, der die Jungen schon kannte und wußte, daß er nichts Gutes von ihnen zu erwarten hatte, suchte und fand ein Versteck im nahen Walde, und die Jungens kamen bald atemlos zurück und setzten sich mißmutig auf das Brunnengehäuse. Frau Burton, welche auf ihres Gatten Schulter gelehnt am Fenster stand, beobachtete sie liebevollen Blicks.

»Die armen lieben Kinder haben schon Heimweh«, sagte sie leise. »Jetzt ist für mich die Zeit gekommen, mein Erziehungswerk zu beginnen – Kinder!«

Beide Knaben blickten zu dem Fenster auf. Frau Burton lehnte in malerischer, anmutiger Haltung über die Fensterbrüstung und bewundernd lauschte ihr Mann ihren Worten: »Kommt herein, Jungens! Wir wollen uns mal recht hübsch was von Mama erzählen.«

»Mag nichts von Mama hören«, sagte Toddi, dessen Stimme etwas verdrießlich klang. »Will mit Terry spielen.«

»Aber Mama und kleine Kinder sind doch viel netter als Hunde«, sagte Frau Burton eindringlich nach einem vernichtenden Blick auf ihren Gemahl, der über Toddis Bemerkung gekichert hatte.

»Das mein' ich aber doch nich«, sagte Willi nachdenklich. »Mama und Schwesterchen können wir alle Tage sehen, aber Terry können wir nur manchmal sehen, und dann will er nie was mit uns zu thun haben.«

»Mein Schatz«, sagte Herr Burton demütig, »wenn du auf meine Erfahrungen etwas giebst, möchte ich dir raten, die Jungen sich selbst zu überlassen, damit sie ihre Enttäuschung allein verwinden. Sie thun das in ihrer Weise, ganz ohne dich.«

»Es giebt Erfahrungen«, antwortete Frau Burton mit kühler Würde, »welche nur dann etwas nützen, wenn man sich ihre Wertlosigkeit recht klar macht. Kinder sich selbst überlassen – das kann jeder. Hört mal, Kinder! Habt ihr schon einmal die Geschichte von Else Mai gehört?«

»Ne«, brummte Willi in einem Ton, der jeden eingeschüchtert haben würde, der sich nicht als geborener Herrscher fühlte.

»Also gut, hört mal zu! Else Mai war ein kleines, niedliches Mädchen; aber wenn nicht alles nach ihrem Wunsch ging, dann fing sie an zu schmollen. Eines Tags hatte sie eine schöne Zuckerstange und spielte Verstecken und Wiederfinden damit. Da passierte es ihr, daß sie die Zuckerstange so schön versteckte, daß sie dieselbe nicht wiederfinden konnte. Da setzte sie sich hin und schmollte. Aber plötzlich kam ein Regenschauer und schmolz die Zuckerstange, welche die ganze Zeit ganz in der Nähe, grad' um die Ecke, gelegen hatte.«

»Is Terry grad' um die Ecke?« fragte Toddi und sprang plötzlich auf, während Willi mißmutig mit den Spitzen seiner Schuhe im Sande scharrte.

»Hätte sie die Zuckerstange aufgegessen, als sie sie hatte«, sagte er, »dann hätte sie keinen Aerger davon gehabt.«

Herr Burton eilte in das hintere Besuchszimmer, um ohne auffällige Respektswidrigkeit recht herzlich lachen zu können, Frau Burton aber fiel jetzt ein, daß es Zeit sei, der Köchin und dem Hausmädchen zum Frühstück zu klingeln. Als sie gleich darauf an das Fenster zurückkehrte, waren die Kinder verschwunden und mit ihnen ein großer Steinkrug, eins jener Familienerbstücke, welche Männern ein Greuel, Frauen aber weit teurer sind als ererbte Staatskleider oder Edelgestein. Nun war Frau Burton mit jener Einmacheleidenschaft behaftet, welche man selbst bei den besten und glänzendsten Vertreterinnen des schönen Geschlechtes antrifft, und der fragliche Krug war denselben Morgen erst sorgfältig gereinigt und in die Sonne gestellt, um sodann mit Himbeersaft gefüllt zu werden.

»Harry«, fragte Frau Burton, »willst du nicht so gut sein und den Krug wieder herbeischaffen? Er muß jetzt trocken sein.«

Herr Burton sah nach seiner Uhr und antwortete:

»Ich habe kaum noch Zeit, den Schnellzug zu erwischen, aber die Jungen werden sich zur Essenszeit schon wieder einfinden; dann kannst du leicht erfahren, wo der Krug geblieben ist.«

Herr Burton eilte vorn zur Hausthür hinaus, während seine Frau ebenso geschwind in entgegengesetzter Richtung verschwand.

Die Jungen waren nirgends zu sehen und auch bei sorgfältigster Besichtigung der Gegend ringsumher war ihre Spur nicht aufzufinden. Frau Burton rief die Köchin und das Hausmädchen herbei, und die drei Frauen suchten nun das hinter dem Hause liegende kleine Gehölz nach den Kindern ab. Bald hörte Frau Burton bekannte Stimmen und als sie ihrem Klange nachging, stand sie plötzlich am Saume des Waldes und sah das Besitztum ihres Schwagers Tom Lawrence vor sich liegen. Als sie darauf zuschritt, hörte sie, daß die Stimmen aus der Lawrenceschen Scheune kamen, und kaum hatte sie die Thür derselben erreicht, als sie ihren schmerzlich vermißten Krug erblickte. Er stand mit grünen Tomaten gefüllt, mitten auf der Tenne, und die Jungen waren eben dabei, den Inhalt zweier Flaschen mit den Etiketten »Mexikanische Pferde-Salbe« und »Patent-Wagen-Schmiere« darüber auszuleeren.

Als die Kinder ihre Tante erblickten, sagte Toddi mit zutraulichem Lächeln und mit Genugthuung über ihr gelungenes Werk:

»Wir machen Pickles für dich, weil du uns so'ne schöne Geschichte erzählt hast. Sieh, gerade so macht Mama sie auch. Nur heiß machen konnten wir das nich, was in der Flasche is.«

Frau Burton schien ihre Redefertigkeit auf einmal eingebüßt zu haben; sie machte sich, mit einem Neffen an jeder Hand, sofort auf den Heimweg. Die Gefühle aber, welche sie beseelten, kennzeichnete Willi durch den Schmerzensruf:

»Au! Tante Alice, quetsche meine Hand doch nich' so!«

»Jungens«, fragte Frau Burton, »wie konntet ihr ohne Erlaubnis meinen Krug fortnehmen?«

»Was sagst du?« antwortete Willi. »Weißt du, weshalb wir ihn genommen haben?«

»Allerdings!«

»O, wir wollten dir eine Überraschung zurecht machen.«

»Das ist euch vorzüglich gelungen«, sagte Frau Burton erbost.

»Nu' mußt du uns aber auch Überraschungen schenken«, sagte Toddi. »Überraschungen sind schön; Papa schenkt uns oft welche. Manchmal ist es Zuckerwerk, aber die von Bananen sind doch die schönsten.«

»Wie würde es euch gefallen, wenn ich euch den ganzen Tag in ein dunkles Zimmer sperrte, damit ihr über eure Missethat nachdenken könnt?« fragte Frau Burton.

»Pfui«, sagte Willi, »das is gar keine Ueberraschung. Das können wir ja thun, wenn wir mal was Böses gethan haben, und Papa und Mama haben es rausgekriegt. Aber du hast ja ganz vergessen, deine Pickles mitzunehmen; ich meine, das ist nicht hübsch von dir, wie du es mit Geschenken und Überraschungen machst.«

Frau Burton ließ sich auf Erklärungen weiter nicht ein und die Unterhaltung hörte damit auf. Als sie aber bei ihrer Hausthür anlangten, wandte sie sich um und sagte:

»Nun, meine Lieblinge, könnt ihr im Hofe spielen, wo es euch gefällt, aber ihr dürft nicht wieder fortlaufen und auch nicht eher ins Haus kommen, bis ich euch um 12 Uhr rufe. Ich habe heute Morgen noch viel zu thun und ihr dürft mich nicht stören. So, jetzt zeigt einmal, daß ihr artige Jungens seid, wollt ihr?«

»Ich will«, rief Toddi, indem er der Tante sein treuherziges kleines Gesicht zum Kusse hinhielt und sie zu sich niederzog, bis er beide Arme um sie schlingen und sie herzlich liebkosen konnte. Willi dagegen schien in Nachdenken versunken, aber das Geräusch der sich schließenden Hausthür weckte ihn aus seinen Träumen auf, er machte die Thür geschwind wieder auf und rief:

»Tante Alice!«

»Was denn?«

»Komm mal her – ich möchte dich was fragen.«

»Es schickt sich, daß du zu mir kommst, Willi, wenn du mich um etwas bitten willst«, rief Frau Burton aus dem Wohnzimmer zurück.

»O, ich möchte man bloß eins wissen. Wie machte der liebe Gott die erste Hornis – die allererste, die überhaupt da war?«

»Genau so, wie er alles andere schuf«, antwortete Frau Burton, »ganz einfach durch sein Wort«.

»Hat denn Noah auch Hornisse mit in die Arche gerettet?« fragte Willi weiter. »Ich weiß nämlich gar nich', wie er es einrichtete, daß sie seine Jungens und Mädchen nich' stachen und nachher totgemacht wurden.«

»Frage mich alle diese Sachen nach Tisch, lieber Willi«, antwortete Frau Burton. »Dann will ich dir nach bestem Wissen Auskunft geben. Jetzt gehe aber hin und spiele!«

Die Thür schloß sich wieder und Frau Burton setzte sich etwas verwirrt, aber ihres Entschlusses eingedenk zum Klavierüben nieder. Sie hatte etwa 10 Minuten gespielt, als ein langgezogener Seufzer aus fremder Brust sie veranlaßte, sich geschwind umzudrehen. Sie erblickte ihren Neffen Willi. Ein scharfer Verweis schwebte bereits auf ihren Lippen, und doch kam der junge Mann ohne denselben davon. Frau Burton erklärte später, sie habe geschwiegen, weil Willi so unsagbar kummervoll aussah, daß sie nur annehmen konnte, sein Gewissen sei erwacht und er käme, um der Krug-Geschichte wegen um Entschuldigung zu bitten.

»Tante Alice«, sagte Willi, »weißt du was? Ich halte nicht viel von eurem Garten. Da is keine einzige Schildkröte drin zu finden von einem Ende bis zum andern. Und 'ne hübscher Grasberg wo man runterrutschen kann, is da auch nich.«

»Kannst du wohl begreifen, liebes Kind, daß wir Haus und Garten nach unserem Geschmack eingerichtet haben und nicht kleinen Jungens zu Liebe die uns hier besuchen?«

»Aber Tante, das finde ich gar nich' hübsch von euch«, sagte Willi. »Papa sagt, wir müssen sorgen, daß wir anderen Leuten ebensoviel Freude machen wie uns selbst. Sieh, ich hatte eigentlich gar keine Lust, dir den Krug mit Pickles zu machen, aber Toddi sagte, das wäre was Schönes für dich. Da ging ich denn mit und that es; ich hätte aber viel lieber den Mann, der gerade vorbeifuhr, gefragt, ob ich nich 'n bischen mitfahren könnte. Sieh, so müßt ihr es mit eurem Garten auch machen?«

»Du thust jetzt am besten, du gehst wieder hinaus«, sagte Frau Burton. »Ich hatte dir doch gesagt, du solltest nicht eher hereinkommen, als bis ich dich riefe.«

»Ach ja! Aber ich suche meinen Kreisel. Ich hab' ihn ins Eßzimmer hingelegt, als ich kam, un' jetzt is er da weg. Ich möchte gern wissen, was du damit gemacht hast un' weshalb große Leute kleine Jungens ihre Sachen nich in Ruhe lassen können.«

»Hör' mal, Willi«, sagte Frau Burton und drehte sich plötzlich auf dem Klaviersessel herum. Es scheint mir so, als ob ein recht unartiger kleiner Junge hier bei mir ist. Was meinst du wohl wenn ich nun etwas Gewisses verlöre –?«

» Es war 'n Kreisel für dreißig Pfennig, es war nich' bloß so'n etwas,« antwortete Willi.

»Wenn ich also einen Kreisel verlöre«, sagte Frau Burton, »was meinst du wohl, was ich thun würde, um ihn wiederzubekommen?«

»Du würdest das Mädchen rufen, damit sie ihn wiederfindet«, antwortete Willi: »Und ich möchte, daß du das jetzt auch thust.«

»Ich würde nichts dergleichen thun«, sagte Frau Burton. »Denke mal drüber nach, was ein verständiger Mensch in solchem Falle am besten thut.«

Willi zog mißvergnügt mit der Fußspitze eine Figur des Teppichs nach und schien sich tief in Gedanken zu verlieren. Plötzlich erheiterte sich sein Gesicht; er blickte etwas scheu zur Tante auf und sagte mit wunderbar melodischer Stimme:

»Jetzt weiß ich's.«

»Ich dachte mir, daß du darauf kommen würdest«, sagte Frau Burton, ihn zur Belohnung küssend und umarmend. Willi jedoch riß sich ungestüm aus ihrer Umarmung los und eilte davon:

»Ein Sieg bereits, worüber ich meinem gestrengen Eheherrn, dem thörichten alten Knaben berichten kann«, sagte Frau Burton leise, als sie sich wieder ans Klavier setzte. Aber ehe sie noch die unterbrochene Uebung wieder aufnehmen konnte kam Willi mit strahlendem Gesicht und dem wiedergefundenen Kreisel ins Zimmer gestürmt.

»Ich sagte dir ja, daß ich wußte, wie du es machen würdest«, rief er. »Und da bin ich gleich hingegangen un' habe es auch so gemacht. Ich habe den lieben Gott darum gebittet. Ich ging oben in die Kammer und machte die Thür zu und kniete nieder und betete: »Lieber Gott, segne uns alle un' laß mich nichts Böses thun un' hilf mir, daß ich den Kreisel wiederfinde un' gieb, daß ich nich' so lange darum zu beten brauche, wie ich um das Kind gebittet habe – um Christi willen, Amen«. Und da, als ich runter kam, da lag der Kreisel auf demselben Platz, wo ich ihn hingelegt hatte. Sag' mal, Tante Alice, ich glaube Frühstück is schon schrecklich lange her. Hast du nich' Kuchen un' Apfelsinen für kleine Jungens?«

»Kinder dürfen nie außer der Zeit essen«, antwortete Frau Burton prompt. »Das verdirbt ihre Magen und macht sie verdrießlich.«

»Ach Tante! ich glaube, dann is mein Magen schon lange verdorben, denn ich bin manchmal ganz schrecklich verdrießlich. Und Michel sagt: an 'm faulen Ei is weiter nichts zu verderben. Deshalb kann ich ganz gut 'n bißchen Kuchen essen – ich mag den mit Rosinen und Citronen am liebsten.«

»Dies soll 'mal eine Ausnahme sein«, sagte Frau Burton vor sich hin, als sie ins Eßzimmer voranging und auf den Speiseschrank zuschritt, indem sie gleichzeitig ein Lächeln zu verbergen suchte. »Ich will Harry aber nichts davon sagen«, fuhr sie energischer fort. »Da ist auch ein Stückchen für Toddi«, wandte sie sich dann laut an Willi. »Nun denkt aber beide daran, daß ihr nicht eher hereinkommen dürft, als bis ihr gerufen werdet.«

Willi verschwand, und seine Tante hatte eine so überaus friedliche Stunde, daß sie sich wieder nach Abwechslung sehnte und ihre Neffen ins Haus rief. Willi kam eiligst angesaust, als er gerufen wurde und überbrachte die wichtige Neuigkeit, daß der Burton'sche Hühnerstall weit, weit netter sei als der zu Hause, denn letzerer wäre so eingerichtet, daß kleine Jungen nicht hineinklettern könnten. Toddi dagegen näherte sich mit sichtlichem Widerstreben, machte unterwegs halt, setzte sich auf den Rasen und führte die wunderlichsten Rutschbewegungen darauf aus.

»Was fehlt dir denn, Toddi?« fragte Frau Burton, deren scharfes Auge schnell erkannt hatte, daß ihrem jüngeren Neffen nicht wohl zu Mute war.

»Ach, Tante Alice,« antwortete Toddi, ich setzte mich auf ein Nest mit Eiern un' that so, als ob ich 'ne Henne wäre un' kleine Kükens ausbrüten thäte. Un' welche sollten braun werden, un' welche weiß un' welche schwarz. Un' alle sollten so hübsche kleine runde Dinger werden, un' dann wollte ich sie jede Nacht in mein Bett nehmen. Un' eins von den weißen wollte ich der lieben, kleinen Schwester geben, un' eins wollte ich dir geben, weil du so gut bist. Un' ich saß man ganz sachte auf dem Nest, weil ich ja keine weichen Federn habe, un' als ich aufstehte, war da weiter nichts als ekliges Mus. Un ich fühle mich nich' ganz wohl.«

Frau Burton zeigte sich der Situation sofort gewachsen und rief: »Bleib ganz ruhig auf dem Rasen sitzen, Toddi! Und du, Willi, laufe geschwind nach Hause und laß dir von Anna einen reinen Anzug für Toddi geben! Johanna! mache sofort ein Bad für Toddi zurecht.«

»Mag nich' auf dein Rasen sitzen» wimmerte Toddi. »Ich bin krank, un' du sollst mich liebhaben.«

»Tante hat dich herzlich lieb, Toddi,« tröstete Frau Burton ihn zärtlich. »Macht dich das nicht glücklich?«

»Nee!« rief Toddi mit großer Entschiedenheit. So'n Art Liebhaben kann kleinen Jungens nichts nützen, die in Eiermus gesessen haben. Du mußt rauskommen un' dich zu mir setzen un' mich liebhaben.«

Toddi's Augen baten beredter als seine Lippen, und Frau Burton eilte zu ihm hinaus, nachdem sie vorsichtshalber ein leichtes Tuch umgeworfen hatte. Toddi bewillkommnete sie mit überströmender Zärtlichkeit, die verhängnisvoll für ihr Morgenkleid wurde, was zur Zeit, als Willi zurückkehrte, selbst dem sorglosesten Auge auffallen mußte. Sorgfältig in ein Badelaken gefüllt, wurde Toddi dann ins Badezimmer getragen und zeigte sich, als er wieder zum Vorschein kam, so zufrieden mit der ihm widerfahrenen Behandlung, daß er fragte:

»Tante Alice, willst du mich jeden Tag tüchtig baden lassen, wenn ich mir Mühe gebe, kleine Küken für dich auszubrüten?«

Die Ereignisse des Morgens hatten zur Folge, daß das zweite Frühstück eine Stunde später eingenommen wurde, so daß Frau Burton sich sehr mit ihrer Toilette für eine beabsichtigte Visitenrunde beeilen mußte. Indes, sie war zu umsichtig, als daß sie die Gefahren, denen ihr Haus während ihrer Abwesenheit möglicherweise ausgesetzt sein konnte, nicht erwägt hätte. Sie rief daher ihre Neffen herbei und belehrte sie über die Pflichten und Rechte, die der Nachmittag ihnen bringen würde. Ihr Gemahl würde freilich mit seiner den meisten Männern eigenen Blindheit gegen die besseren Seiten der Kindesnatur seine Zuflucht zu listigen Drohungen und plumpen Bestechungen genommen haben; Frau Burton aber blieb ihrem Geschlecht und den von ihr bekannten Grundsätzen getreu und appelierte an die bessere Natur der Kinder:

»Liebe Kinder,« sagte sie, die beiden Knaben an sich ziehend und einen Arm um jeden Knaben schlingend, »Tante Alice muß heute Nachmittag einige Stunden fort und möchte gern wissen, wer so lange das Haus für sie hüten kann.«

»Ich will mit,« sagte Toddi mit einem Kuß.

»Ich kann dich nicht mitnehmen, lieber Toddi,« sagte Frau Burton, seinen Kuß erwidernd. »Der Weg ist zu weit für dich; aber Tante Alice kommt, sobald sie kann, zu ihrem lieben, kleinen Toddi zurück.«

»O, du willst zu Fuß dahin gehen, wo du hin willst?« fragte Toddi und suchte sich dem Arm seiner Tante zu entwinden. »Dann möchte ich nich' mit dir gehen um alles in der Welt.«

Der zärtliche Druck von Frau Burtons Arm ließ bedeutend nach, aber sie blieb ihrer Pflicht eingedenk.

»Nun hört mal, Jungens!« sagte sie. »Das mögt ihr doch gewiß gern, wenn Häuser recht nett und hübsch eingerichtet sind, wie Mamas Haus und meins?«

»Ich mag's gern«, antwortete Willi. »Ich denke mir immer, so muß es im Himmel auch sein, mit guten Stuben un' Bildern un' Büchern un Pianos. Nur zu fegen brauchen sie im Himmel nich', weil da ja kein Dreck is', nich' wahr? Aber ich möchte wissen, womit der liebe Gott die kleinen Engel glücklich macht, wenn sie Sandtorte backen wollen un' können nich?«

»Ich will dir das erklären, wenn ich zurückkomme, Willi. Aber das kann nie vorkommen, daß die kleinen Engel Sandtorte backen wollen.«

»O du, Tante! Papa sagt, wenn man auch stirbt, der Geist bleibt so, wie er war,« sagte Willi. »Sieh', da geht's den kleinen Engel-Jungens doch ebenso.«

Frau Burton that ein stilles Gelübde, ihre Neffen zu gelegenerer Zeit einen systematischen, theologischen Kursus durchmachen zu lassen, um die lockeren Lehren ihres Schwagers zu berichtigen. Es war aber jetzt schon ziemlich spät am Nachmittage, und sie war mit der beabsichtigten Versicherung ihrer beweglichen und unbeweglichen Habe gegen Unglücksfälle noch nicht weiter gekommen.

»Ihr mögt also beide hübsch eingerichtete Zimmer gern leiden?« fragte Frau Burton in Verfolgung ihres Zieles. Aber Toddi protestierte:

»Ich mag sie nich' leiden,« versicherte er mit großer Entschiedenheit. »Da sagen die großen Leute immer »Mußt nich'« zu den kleinen Jungens, die vergnügt sein wollen.«

»Aber Toddi,« belehrte ihn Frau Burton, »du mußt lernen, dich über alles zu freuen, was nett und hübsch ist, dann kannst du immer vergnügt sein. Schon von Anbeginn der Welt her sind die Menschen darauf bedacht gewesen, ihre Wohnungen nett und hübsch einzurichten.«

»Adam und Eva aber nich'!« kritisierte Toddi. »Der liebe Gott hat es doch für sie gethan – sieh! Un' Kain un' Abel hatten mehr Spaß als alle anderen kleinen Jungens nachher.«

»O nein,« sagte Frau Burton, »das hatten sie wohl nicht, denn sie waren niemals im Paradiese. Ihre Eltern aber mußten lange, lange nachdenken und arbeiten, bis sie ihre Wohnung gemütlich eingerichtet hatten. Ihr wißt gar nicht, wie viele, viele Leute haben nachdenken und arbeiten müssen, bis die Welt so hübsch eingerichtet war, wie es heute der Fall ist. Wenn ihr euch die schönen Sachen in Mamas und meiner Stube mal anseht, werdet ihr schon besser begreifen, daß Tausende und Millionen haben lange denken und arbeiten müssen, um so etwas herstellen zu können.«

»O Tante,« rief Toddi mit leuchtenden Augen, »das is ja wunderschön!«

»Jawohl! Und alle netten Leute machen es auch heute noch so,« fuhr Frau Burton fort, sehr ermutigt durch den Eindruck, den ihre Worte gemacht hatten. »Und auch kleine Jungen sollten es so machen und all' die hübschen Sachen, die sie sehen, nicht ruinieren, sondern sich nur darüber freuen und womöglich versuchen, sie noch schöner zu machen. Ja, auch kleine Jungen sollten da immer dran denken.«

»Ich will dran denken,« sagte Toddi, abwesenden Blicks. »Ich glaub', es is furchtbar nett, wenn kleine Jungens dasselbe denken wie große Leute.«

»Süßer kleiner Toddi,« sagte Frau Burton, sich erhebend, »du willst also dafür sorgen, daß in Tante Alices Hause nichts ruiniert wird, nicht wahr? Du giebst hübsch auf alles acht, gerade wie ein großer Mann – willst du das?«

»Ja, ich will,« antwortete Toddi.

»Un' ich auch,« erklärte Willi.

»Ihr seid ein Paar prächtige kleine Burschen, und ich will euch auch recht was Schönes mit nach Hause bringen«, sagte Frau Burton, indem sie sich mit einem Kuß von ihren Neffen verabschiedete.

»Das ist ein Erfolg!« flüsterte Frau Burton vor sich hin, als sie aus der Gartenpforte schritt. »Ich bin neugierig, was mein Herr und Gemahl zu diesen meinem Siege über den Eigenwillen der Kinder sagen wird – zu ihrem Gefühl für das Schickliche. Er würde die Kinder der Aufsicht der Dienstboten unterstellt haben, ich bin stolz darauf, daß ich sie ohne Besorgnis sich selbst überlassen kann.«

Als Frau Burton zwei Stunden später zurückkehrte, wurde sie vor der Hausthür von ihren beiden Neffen, die recht schmutzig und müde aussahen, mit wichtigen und erwartungsvollen Gesichtern in Empfang genommen.

»Wir haben grad' gethan, was du haben wolltest,« rief Toddi. »Wir haben nichts kaput gemacht aber nachgedenkt, die Welt hübscher zu machen un' alles gethan, was wir konnten. Sieh dir's mal an!«

Frau Burton folgte ihren Neffen eiligen Schrittes in das hintere Besuchzimmer. Möbel, Gemälde, Bücher und Nippsachen – alles war genau so, wie sie es verlassen hatte, aber einige Verschönerungen waren geplant und zum Teil auch ausgeführt. Eine mehrere Fuß breite Wandfläche, die, von einem einzigen Bilde abgesehen, vom Fußboden bis zur Decke keinerlei Schmuck aufwies, hatte schon lange Frau Burtons Künstlerauge beleidigt, jetzt sah sie zu ihrem Erstaunen, daß ihre kunstsinnigen Neffen ebenso empfanden wie sie.

»Sieh Tante, Zimmer ohne Blumen gefallen mir gar nich', un' Papa un' Mama auch nich'; deshalb dachten wir, wir wollten dich mal mit Blumen überraschen.«

Auf dem Fußboden lag, nicht ohne Geschmack angeordnet, beinahe eine Wagenladung Steine, die eine Grotte vorstellen sollten, und obendrauf und zwischen den Ritzen eine große Menge Erde. Aus einigen Ritzen ragten welke Farnkräuter empor, denen man ansah, daß sie schon öfters umgesteckt und auf die staubige Erde gefallen waren, welche ihre Wurzeln bedeckte. Unten waren Schlingpflanzen um die Grotte gelegt, während oben auf der Spitze ein üppiges Exemplar des gewöhnlichen Stechapfels ( datura stromonium, Stinkkraut) prangte.

Die drei Hüter des Schönen schauten einen Augenblick stumm auf das Kunstwerk; dann blickte Toddi mit bezauberndem Lächeln zu seiner Tante auf und fragte:

»Is das nich' wunderschön?«

»Ich hoffe, du hast uns recht was Schönes mitgebracht,« sagte Willi. »Wir haben uns furchtbar quälen müssen, um die Grotte fertig zu kriegen. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nich' so müde gewesen. Mama ihre steht auf einem großen Kasten; aber Kasten waren hier nirgends zu finden, un' die Mädchen konnten wir auch nich' finden. Diese Sorte Datura obenauf hat keine Blumen, die wie hübsche Vasen aussehen, aber Papa sagt, sie is noch üppiger als die zahme Art. Die Farnkräuter sehen ein bißchen welk aus, aber ich wußte nich', wie ich sie begießen konnte, ohne den Teppich naß zu machen. Deshalb dachte ich, ich wollte nur warten, bis du kämest, und dich fragen.«

Ein plötzliches Rauschen seidener Kleider – und die beiden Jungen fanden sich allein gelassen. Als Herr Burton eine halbe Stunde später aus der Stadt zurückkehrte, fand er seine Frau schweigsamer, als er sie je gekannt, während zwei dienstbare Geister mit großen Marktkörben Sand auf die Teppiche des Hauses siebten und auf dem Platz vor dem Hause einen großen Steinhaufen aufbauten.


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