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Fünftes Kapitel

Mit einem Gefühl der Erleichterung dachte Frau Burton am folgenden Morgen beim Erwachen daran, daß es Sonntag sei. Sogar Schullehrer haben zwei Ruhetage in der Woche – so überlegte sie – und niemand bezweifelt, daß sie dieselben verdienen. Hat aber nicht in weit höherem Grade eine Lehrerin Anspruch auf Ruhe und Erholung, die aus freiem Antriebe nicht allein für einige Stunden, sondern vom Tagesgrauen bis zur Abenddämmerung zwei Kinder beaufsichtigt, deren Lust zum Lernen sowohl, als zum Unheilstiften sicherlich ebenso groß ist wie die einer ganzen Schule voll Jungen? Dann dachte sie wieder daran, daß sie sich ja nur für einige Tage einer Aufgabe unterzogen habe, welche alle Mütter ohne Hoffnung auf Ruhe ihr ganzes Leben hindurch erfüllen, und sie fühlte sich so gedemütigt und unwürdig wie noch nie im Leben. Dennoch konnte sie den Wunsch nicht unterdrücken, die Sorge für die Kinder für diesen Sonntag an ihren Mann abzutreten. Wäre sie aufrichtig gegen sich selbst gewesen, so hätte sie sich eingestehen müssen, daß sie sich hauptsächlich aus dem Grunde so nach Ablösung sehnte, weil es ihr peinlich war, daß ihr Mann Zeuge der Mißerfolge wurde, die ihr offenbar so lange beschieden waren, als sie ihr Erziehungstalent an den Kindern erprobte. Was sollte sie machen? Vielleicht einen Sonntagsausflug vorschlagen und dann unter irgend einem Vorwande nicht daran teilnehmen? Oder für einen Tag das Kindermädchen bei der Schwägerin ablösen – und inzwischen Haus und Kinder der Obhut ihres Mannes unterstellen? Oder sollte sie einen Besuch bei ihrer Mutter machen, was einer jungen Ehefrau ja nie verargt werden kann. Diese und andere, weniger praktische Pläne wurden von Frau Burton ersonnen und geprüft, um dann schließlich alle zu Wasser zu werden, da Herr Burton aufwachte und über wütende Zahnschmerzen klagte. Frau Burton, so mitleidig und teilnehmend sie sonst auch war, fühlte doch einige Erleichterung bei dem Gedanken, daß ihr Gatte wahrscheinlich den ganzen Tag das Zimmer werde hüten müssen, und die Kinder unbedingt von ihm fern gehalten werden mußten. Dann hatte er keine Gelegenheit, Kritik zu üben, mochte sie auch noch so viel Mißerfolge haben, dann würde er nur von ihren Erfolgen hören.

Da klopfte es leise an die Thür und, ohne ein ›Herein‹ abzuwarten, kamen zwei frische rosige Gesichter, zwei Köpfe mit ungekämmtem Haar und zwei lange Nachtkleider zum Vorschein – der Inhaber des längeren Kleides aber rief:

»Sag mal, Onkel Harry, weißt du woll, daß heute Sonntag is? Was willst du heute für uns thun? Wir haben Sonntags immer 'ne Masse Spaß, weil es der einzige Tag is, wo Papa zu Hause is.«

»Ja, ich – glaube, ich hörte – schon – früher etwas Aehnliches,« brummte Herr Burton zwischen den Fingern hervor, welche den schmerzenden Schneidezahn bedeckten.

»O – h!« rief Toddi, »ich glaube, er will Bär mit uns spielen! Komm her, Willi! Wir sind die Hunde!« Und Toddi vergrub sein Gesicht in die Bettdecke und seine Zähne in eine Wade seines Onkels. Ein Weheruf des armen Dulders ließ den seine Rolle ernst nehmenden Neffen ungerührt, und er ließ sein Opfer nicht eher los, als bis dasselbe ihm die Kehle zudrückte.

»Das is kein ordentliches Bär-Spielen,« klagte Toddi. »Du mußt in einem fort brummen und mich immerzu beißen lassen; un' dann giebst du mir Pfennige, daß ich aufhöre – so macht's Papa.« »Kannst du fassen, wie Tom so blödsinnig sein kann?« fragte Frau Burton.

»Das könnte ich vielleicht,« antwortete ihr Mann, »wenn ich nicht solche Zahnschmerzen hätte.«

»Du armer, lieber Mann!« sagte Frau Burton zärtlich. Dann wandte sie sich an ihre Neffen und rief: »Nun hört mal, Jungens! Onkel Harry ist heute sehr krank. Er hat schreckliche Zahnschmerzen, und jeder Lärm und jede Störung machen sie schlimmer. Ihr dürft euch in seinem Zimmer nicht wieder sehen lassen und müßt euch im Hause so ruhig wie möglich verhalten. Wenn jemand Zahnschmerzen hat, dann mag er andere Leute nicht mal sprechen hören.«

»Dann bist du 'ne schlechte Tante,« sagte Toddi, »weil du im Zimmer bleibst und all die ganze Zeit immerzu sprichst; da muß Onkel Harry ja immer kränker werden. Mach, daß du rauskommst!«

Herr Burton mußte trotz seiner Schmerzen recht herzlich über diesen unerwarteten Verweis lachen, und seine Frau war zu sehr verdutzt, um mit einer passenden Antwort dienen zu können. So machten sich denn die Jungen das Vergnügen, die Kammer zu durchstöbern, wobei selbst die Taschen in den Kleidungsstücken ihres Onkels nicht vergessen wurden. Als sie dieses Werk mit hingebendem Eifer vollendet hatten, verlangten sie ihr Frühstück. »Vor acht Uhr giebt's kein Frühstück,« sagte Frau Burton »und es ist jetzt erst um sechs. Deshalb thut ihr am besten, ihr geht wieder zu Bett, sonst werdet ihr noch schrecklich hungrig bis zum Frühstück.«

»Werden wir denn im Bett nich' hungrig?« fragte Toddi mit jenen großen neugierigen Augen, die auf einen empfänglichen Geist schließen lassen.

»Nein, im Bette nicht,« antwortete Frau Burton. »Aber wenn ihr umherrennt, so erschüttert ihr euern Magen, und wenn der Magen unruhig wird, so werdet ihr hungrig.«

»I so was!« rief Toddi. »Was kleine Jungens nicht alle lernen müssen, nich' wahr? Komm, Willi! wir wollen unsere Magen zu Bett bringen, daß sie nich' geschüttelt werden.«

»Denn man zu,« sagte Willi. »Aber sag doch mal, Tante Alice, meinst du nich', daß unsere Magen schläfriger und ruhiger sind, wenn da 'n paar Theekuchen oder Butterbrote rein kommen?«

»Es ist niemand unten, der euch welche geben könnte,« erwiderte Frau Burton.

»O,« sagte Willi, »wir finden sie schon. Wir wissen, wo alles steht – in der Speisekammer und in den Schränken.«

»Ich wollte, ich wäre auch so gescheit,« seufzte Frau Burton. »Nun geht fort! Nehmt euch, was ihr mögt, aber kommt nicht wieder in Onkels Zimmer! Und daß ich unten ja alles in bester Ordnung finde, sonst dürft ihr nie wieder in die Küche.«

Die Kinder eilten hinaus, aber Frau Burton gewann dadurch nichts, denn sie wurde alsbald in anderer Weise heimgesucht. Ihr Gemahl hielt plötzlich mitten im Rasieren inne und sagte zu ihr:

»Deinetwegen, mein Schatz, habe ich den Sonntag still herbeigesehnt. Wie du schon häufiger bemerkt hast, haben die Kinder die wunderlichsten Vorstellungen von religiösen Dingen, obwohl sie von Natur ein frommes, religiöses Gemüt haben. Du hast nicht allein das letztere, sondern bist auch frei von Aber- und Buchstabenglauben, die beide auf Abwege führen. Da nun die mystischen Einflüsse des Sonntags sich wohl auch diesen unschuldigen kleinen Herzen fühlbar machen werden, so bietet sich dir heute Gelegenheit, falsche Vorstellungen zu berichtigen und neue Gefühle und Wahrheiten einzustoßen.«

Die Stimme Herrn Burtons klang etwas unsicher, als er diese erbauliche Ansprache schloß, so daß seine Frau mißtrauisch in seinen Zügen forschte, ob nicht der Schalk irgendwo verborgen laure. Die eine Backe ihres Eheherrn war jedoch mit Seifenschaum bedeckt und der böse Zahn hatte die andere schief gezogen, so daß Frau Burton nicht umhin konnte, mit dem Lobe zugleich auch die Mahnung an ihre religiösen Pflichten als Erzieherin entgegen zu nehmen.

»Ich will die Kinder beaufsichtigen, so lange du in der Kirche bist, liebe Frau,« sagte Herr Burton. »Gegen Kranke betragen sie sich musterhaft.«

Frau Burton stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie nahm sich vor, gleich nach dem Frühstück einen Morgengottesdienst mit den Kindern abzuhalten und ihnen die Heiligkeit des Sonntags recht zu Gemüte zu führen. Wenn dann ihr Mann das so begonnene gute Werk einfach fortführte, so konnten die Kinder in den wenigen Stunden von Mittag bis Abend unmöglich schon wieder auf Abwege geraten. Von diesem Plan erfüllt, dachte sie nicht daran, daß sie dem Hausmädchen den Besuch des Frühgottesdienstes erlaubt und ihr versprochen hatte, danach zu sehen, daß die Kinder sauber gekleidet zum Frühstück erschienen. Als ihr aber dann am Frühstückstisch auffiel, daß ihre Neffen dem Rufe der Glocke nicht mit gewohnter Pünktlichkeit folgten, da erinnerte sie sich wieder an die vergessene Pflicht und eilte sofort in das Zimmer der Jungen. Hier sah sie zu ihrem maßlosen Erstaunen, daß die Kinder bereits eine Mahlzeit hielten, die in Bezug auf Zusammenstellung der Gerichte in der That merkwürdig war. Auf einem kleinen an das Bett gerückten Tische standen, appetitlich anzuschauen, eine Torte, ein Glas mit Pickles, ein Teller mit Scheibenhonig und eine kleine Schale mit gestoßenem Zimmt, und die Jungen waren mit Löffeln, Messern, Gabeln und Fingern emsig beschäftigt, diese Delikatessen zu verzehren. Toddi sah etwas schuldbewußt aus, als er seine Tante erblickte, aber Willi war nicht im mindesten betroffen und sagte lächelnd:

»Nu' weißt du doch wenigstens, was kleine Jungens gern essen mögen, Tante Alice. Ich hoffe, daß du's nich' wieder vergißt, so lange wir hier sind.«

»Schämt ihr euch nicht, diese Sachen hier mit raufzubringen?« fragte Frau Burton in strengem Ton.

»Wie so?« antwortete Willi. »Du hast uns doch gesagt, wir sollten nehmen, was wir wollten; un' da dachten wir, du sagtest die Wahrheit.«

»Un' ich bin nich' mehr so hungrig, wie ich war,« sagte Toddi; »aber mein Magen fühlt so, als ob er immerzu groß un' dann wieder klein würde, un' weh thut er auch. Ich wollte, wir könnten unsere Magen weglegen, wenn wir sie nich' mehr nötig haben, so wie Hüte un' Gummischuhe.«

Die Ueberbleibsel des originellen Frühstücks zusammenraffen, und vor ihren Neffen in Sicherheit bringen, war für Frau Burton das Werk einiger Sekunden, und gleich nachher fanden sich die beiden Jungen mit beispielloser Geschwindigkeit angekleidet. An der Frühstückstafel angelangt, hatten sie für ein delikates Kotelett, für die leckersten, braun gebratenen Kartoffelscheiben von oblatenähnlicher Zartheit und einen Haufen appetitlicher, schneeflockenleichter Wecken nur verächtliche Blicke.

»Von solchem alten Frühstück mögen wir kein bischen mehr,« sagte Willi.

»Kein bischen mehr,« bestätigte Toddi, »weil wir so viel andere Sachen im Magen haben; ich weiß noch gar nich', wo ich das Mittagessen hinthun soll, wenn's so weit is.«

»Aergere dich da man nich' über, Toddi,« sagte Willi. »Weißt du nich', was Papa manchmal sagt? Er sagt, in der Bibel steht, man soll sich nich' früher ärgern, als bis es nötig is.«

Frau Burton zog vor Verlegenheit und Grauen ihre Augenbrauen in die Höhe, und ihr Gemahl beeilte sich, die Stelle der Bibel anzuführen, aus welche Willi sich berief: »Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage hat.«

Frau Burtons Verlegenheit war durch diese Erklärung teilweise gehoben, ihr Entsetzen dagegen nicht, und sie sagte hastig:

»Kinder, gleich nach dem Frühstück wollen wir im Besuchzimmer ganz gemütlich unter uns Sonntagsschule halten.«

»Hurra!« rief Willi. »Un' du giebst uns Billets un' reichst 'ne Pfennigbüchse rum, wie sie's in der großen Sonntagsschule machen?«

»Ich – glaube – ja,« erwiderte Frau Burton, die an diese Magnete der erfolgreichen Sonntagsschule noch gar nicht gedacht hatte.

»Laß uns gleich rein gehn, Toddi, weil der Hund da drin is,« sagte Willi. »Ich sah ihn, als ich runter kam, un' ich machte alle Thüren zu, daß er nich' raus kann. Wir können 'n bischen Spaß mit ihm haben, ehe die Sonntagsschule anfängt.«

Die beiden Kinder eilten an die Thür des Besuchzimmers und Terry, geleitet von jenem wunderbaren Instinkt, mit welchem die Vorsehung die Minderzahl gegen die Mehrzahl und die Schwachen gegen die Starken waffnet, näherte sich der Thür gleichzeitig von innen. Als die Thür geöffnet wurde, hörte man gleichzeitig ein krampfhaftes Geheul und ein Uebereinanderpurzeln kleiner Jungen, während Terry unmittelbar darauf in das Speisezimmer stürmte und sich in dem faltenreichen Morgenkleide seiner Herrin versteckte. Einige Minuten später betrat Willi das Speisezimmer mit sehr betrübtem Gesicht und erklärte:

»Ich glaube, wir haben die Sonntagsschule recht bald nötig, Tante Alice. Terry will nich' mit uns spielen, un' wir müssen deshalb getröstet werden.«

»Sie machen's da wieder genau wie die Erwachsenen,« sagte Herr Burton lachend.

»Was willst du damit sagen?« fragte seine Frau.

»Nur soviel – daß sie sofort nach den Tröstungen der Religion verlangen, wenn ihre eigenen Anschläge mißlingen,« antwortete Herr Burton. »Darf ich der Sonntagsschule beiwohnen?«

»Ich werde dich schwerlich daran hindern können,« seufzte Frau Burton, indem sie in's Besuchzimmer voranging. »Hört mal Kinder,« wandte sie sich an ihre Neffen, »wir wollen zuerst ein kleines Loblied singen, welches soll es sein?«

»Das vom alten Onkel Ned,« antwortete Toddi prompt.

»Ach, das ist ja kein Sonntagslied,« sagte Frau Burton.

»Is woll doch,« sagte Toddi, »denn da kommt doch drei- oder viermal drin vor: ›Er ist hingegangen, wo die guten Neger hingehen‹ – un' das is doch der Himmel, nich' wahr? Deshalb ist's ein Sonntagslied.«

»Ich glaube ›Nun danket alle Gott‹ is viel hübscher,« sagte Willi, »un' ich weiß gewiß, daß es 'n Sonntagslied is, weil ich es in der Kirche gehört habe.«

»Man zu,« sagte Toddi und begann sofort, nach jener wohlbekannten Melodie zu singen:

»Da liegt die Whisky-Flasche,
Doch leider ist sie leer«

wurde aber von seiner Tante sofort durch Schütteln zur Ruhe verwiesen, während sein Onkel im Nebenzimmer einen Ausbruch von Heiterkeit niederkämpfte, der mit seinen Zahnschmerzen jedenfalls wenig zu thun hatte.

»Pfui, Toddi!« rief Frau Burton. »Das ist erst recht kein Sonntagslied, das ist ein ganz häßliches, gemeines Lied. Wo hast du das gelernt?«

»Um die Ecke von unserm Haus,« erwiderte Toddi. »Un' du kannst deine alten Lieder selber singen, wenn du meine nich' leiden magst.«

Frau Burton setzte sich ans Klavier, ließ ihre Finger wie suchend über die Tasten gleiten und spielte und sang sodann ein frommes Lied, in welches Toddi so lieblich mit einstimmte, als ob er gegen musikalische Geschmacksverirrungen stets gefeit gewesen sei.

»Aber ich glaube, wir thun jetzt am besten, wir sammeln erst mal, eh die kleinen Jungen ihre Pfennige verlieren,« sagte Willi ins Speisezimmer eilend und mit einer Erdbeerenbüchse zurückkehrend, welche für diesen speziellen Zweck schon bereit gehalten zu sein schien. Dann hielt er sie mit ernster Miene Toddi hin, und Toddi hielt seine Hand so vorsichtig drüber, als ob er Hunderte spenden wolle. Dann nahm Toddi die Büchse und hielt sie Willi hin, welcher dieselbe Geberde des Gebens machte, worauf Willi die Büchse wieder an sich nahm, dieselbe vor seinen Ohren schüttelte und mit den Worten: »Es klappert nich – ich glaube, es is heute lauter Papiergeld« auf den Kaminmantel stellte. Dann setzte er sich wieder hin und sagte:

»Jetzt kannst du Bibelstunde halten.«

Frau Burton öffnete die Bibel mit dem Gefühl der größten Hilflosigkeit. Mit dem natürlichen Instinkt einer Frau, die gern gründlich zu Werke geht, schlug sie die Bibel zuerst ganz vorn auf – blätterte aber gleich weiter, da das erste Kapitel des 1. Buch Mosis auch ihrem eigenen orthodoxen Geiste schon manche Frage eingegeben hatte, um deren Beantwortung sie noch immer verlegen war. Als sie rasch umblätterte, überschlug sie aus Gewissensrücksichten manchen Schlachtbericht, dessen Einzelheiten die Jungen entzückt haben würden, eilte an den Propheten vorbei, deren Weisheit die Kinder noch nicht erfassen konnten, und gelangte so an das neue Testament und die ewig-neue Geschichte jenes einzigen Knaben, der jemals alle Hoffnungen erfüllte, die Eltern und Verwandte auf ihn gesetzt hatten.

»Ich werde euch von Jesus erzählen,« sagte sie dann.

»Von klein' Jesusjungen oder vom großen Mann Jesus?« fragte Toddi.

»Von – von – beiden,« antwortete seine Tante etwas verwirrt.

»Gut,« sagte Toddi, »erzähl weiter.«

»Es war einmal eine Zeit, in der alle Menschen in qualvoller Unruhe lebten, ohne recht zu wissen, weshalb,« erzählte Frau Burton. »Aber der liebe Gott wußte wohl, wie das zuging, denn er weiß alles.«

»Weiß er denn auch, wie 'n kleinen Jungen zu Mut is, der ins Bett muß un' mag nich'?« fragte Toddi.

»Und er beschloß, den Menschen Trost zu bringen, wie er das ja immer thut, wenn die Menschen einsehen, daß sie sich selbst nich' trösten können,« fuhr Frau Burton fort, die Frage ihres Neffen nicht beachtend.

»Aber gab es denn da nich' schon viele, viele kleine Jungens? Un' mußten denn die nich' ebenso gut getröstert werden, wie die großen Leute?« fragte Toddi.

»Das wohl,« erwiderte Frau Burton. »Aber er wußte, wenn er die großen Leute tröstete, daß dieselben die Kinder dann auch glücklich machen würden.«

»Dann wollt' ich, er trösterte dich un' Onkel Harry jeden Morgen,« sagte Toddi. »Erzähl weiter!«

»Gott sandte also seinen eigenen – seinen einzigen Sohn zur Erde nieder als liebes, kleines Jesuskind.«

»Ich glaube aber sicher, Gott hätt 'n kleines Schwester-Kindchen aus ihm gemacht, wenn er wirklich alle Menschen glücklich machen wollte,« sagte Willi.

»Das wußte Gott am besten,« sagte Frau Burton. »Und während die weisen Leute in der ganzen Welt nich' wußten, was den unruhigen Herzen der Menschen Ruhe und Frieden bringen könne.« –

»Sind denn unruhige Herzen so wie unruhige Magen?,« fragte Toddi. »Thun sie kollern un' bullern?«

»Ich glaube wohl,« erwiderte Frau Burton.

»Die armen Leute,« sagte Toddi, seine Hände über seinem Magen faltend, »die thun mir aber leid.«

»Während also weise Leute sich vergeblich den Kopf darüber zerbrachen, was man thun könne,« fuhr Frau Burton fort, »sahen einfältige Schafhirten, die nachts unter Mond und Sternen zu sitzen und über Dinge nachzugrübeln pflegten, die sie nicht begreifen konnten, einen wunderbar hellen Stern am Himmel.«

»War das einer von den Flacker-Flacker-Sternen oder einer von den Stillsteh-Sternen?« fragte Toddi.

»Ich weiß nicht,« antwortete Frau Burton nach kurzem Besinnen. »Weshalb fragst du?«

»Weil ich weiß, warum der Stern da stand – darum,« sagte Toddi. »Un' es muß 'n Flackerstern gewesen sein. Denn die Flackersterne gehen so hin un' her, weil sie lachen un' nich still halten können. Un' ich hätte ganz gewiß gelacht, wenn ich 'n Stern gewesen wäre un' so viele Leute so schrecklich glücklich machen wollte. Erzähl weiter.«

»Da sahen die Schafhirten,« erzählte Frau Burton weiter, indem sie bald die eine und bald die andere der beiden Adventsgeschichten zu Rate zog, »auf einmal einen Engel, und sie fürchteten sich.«

»Die sollten woll bange werden,« sagte Toddi. »Da wird jeder bange, wenn er auf einmal 'n Engel ankommen sieht. Sie dachten gewiß, der sagt nu' gleich: »Müßt nich!«

»Aber der Engel sprach zu ihnen,« fuhr Frau Burton fort, »sie sollten nicht bange sein, denn er sei nur gekommen, um ihnen die frohe Botschaft zu verkünden, daß der Heiland zu Bethlehem geboren und gekommen sei, um alle Menschen glücklich zu machen.«

»O Tante, wäre das nich' wunderschön, wenn der Engel bald wieder käme un' alles noch mal thäte?« rief Willi. »Nur müßt' er sich kleine Jungens aussuchen un' keine Schafhirten. Ich wäre nich' bange vor 'n Engel.«

»Ich auch nich,« sagte Toddi. »Aber ich gingte geschwind mal hinter ihn rum un' sähe mal nach, wie seine Flügel festgemacht sind.«

»Darauf kamen noch viele andere Engel herbei,« fuhr Frau Burton fort »und sangen wunderschöne Lieder. Die armen Schafhirten wußten gar nicht, was sie daraus machen sollten; als aber der Gesang vorbei war, da machten sie sich auf den Weg nach Bethlehem, um das Jesuskind zu sehen.«

»Gerade so,« meinte Willi, »wie wir neulich hingingen, um das Schwester-Kind zu sehen.«

»Jawohl,« sagte Frau Burton. »Aber sie fanden Jesus nicht in einem schönem Hause und einer gemütlichen Kammer bei Freunden und Ammen, die für ihn sorgen konnten; er lag draußen im Stall in einer Krippe.«

»Das kam davon,« sagte Willi, »weil er so klug war, daß er thun konnte, was er wollte, und weil er sein konnte, wo es ihm am besten gefiel. Un' er war ja doch 'n kleiner Junge, un' kleine Jungens mögen Ställe immer lieber leiden als Häuser. Ich wollte, ich könnte in 'm Stall wohnen für immer un' ewig.«

»Ich auch,« sagte Toddi, »un' in 'ner Krippe schlafen. Dann thäten die Pferde alle Leute mit den Hinterbeinen schlagen, die mir reine Kleider anziehen wollten, wenn ich das nich haben möchte. Un' sie brachten ihm doch Geschenke, nich' wahr?«

»Jawohl, lieber Toddi,« sagte Frau Burton, »Gold, Weihrauch und Myrrhen.«

»Weshalb brachten sie ihm denn keine Klappern und Piepbälle, wie sie Bruder Philli von den Leuten kriegte, als er noch ganz klein war?« fragte Toddi.

»Weil,« antwortete Frau Burton, erfreut darüber, daß sich ihr Gelegenheit bot, ihren beiden Neffen über das göttliche Wunder der Geburt des Heilandes recht eindringliche Worte zu sagen, woran sie die Fragen derselben bislang gehindert hatten, »weil das Jesuskind kein gewöhnliches Kind war, wie andere Kinder. Es war Gott selbst, der Sohn Gottes.«

»Was?« rief Toddi. »Gott war mal 'n kleines Kind?«

»Ja,« erwiderte Frau Burton, ganz entsetzt bei dem Gedanken, daß Toddi vielleicht noch nie über das Wesen der heiligen Dreieinigkeit belehrt sei.

»Un' spielte umher, wie andere Kinder?« fragte Toddi weiter.

»Ich – ich glaube wohl,« antwortete Frau Burton zögernd, da sie besorgte, daß sie bei dem Versuche, ihren Neffen religiöse Ehrfurcht einzuflößen, es selbst daran fehlen lassen möge.

»War da auch jemand, der immer ›Mußt nich‹ zu ihm sagte, jedesmal, wenn er was that?« fragte Toddi.

»N–ei–n, das war nicht nötig,« erwiderte Frau Burton, »denn er war immer gut und brav.«

»Das hilft nichts,« sagte Toddi. »Wenn ich mal ganz – ganz artig sein will, dann sagen die großen Leute erst recht ›Mußt nich!‹ zu mir. Da hat der kleine Jesus gewiß gar nichts anderes zu hören gekriegt.«

»Wie ging's ihm denn weiter?« fragte Willi mit so großem Interesse, als ob er die ihm wohl bekannte Geschichte zum erstenmal hörte.

»Er wurde stark an Leib und Seele und jedermann hatte ihn lieb. Aber als er noch recht klein war, wurde sein Papa im Traum von einem Engel erschreckt. Der Engel kam und sagte ihm, daß der König des Landes den kleinen Jesus töten würde, wenn er ihn finden könnte. Deshalb standen Josef, sein Vater, und Maria, seine Mutter, mitten in der Nacht auf und flohen nach Aegypten.«

»Da war Aegypten damals woll ebenso'n Land wie jetzt Europa?« fragte Willi. »Jedesmal, wenn Papa von jemand erzählt, den niemand finden kann, sagt er: ›Is wahrscheinlich nach Europa durchgebrannt‹ Was machten sie denn da in Aegypten?«

»Ich weiß nich',« erwiderte Frau Burton nachsinnend. »Ich glaube aber, Josef wird wohl tüchtig gearbeitet haben, um Geld zu verdienen und seiner Frau und dem Jesuskind Nahrung und Wohnung zu verschaffen. Und die Mama, denk' ich mir, ging mit Jesus in die Felder und pflückte hübsche Blumen für ihn zum Spielen, und wenn Jesus die Blumen kriegte, dann freute er sich und lachte und tanzte und spielte, bis er müde wurde. Dann kam er und legte sein kleines Gesicht in seiner Mama Schoß und wurde von ihr auf den Arm genommen und hin und her gewiegt. Und wenn er dann einschlief, sah seine gute Mama ihm recht zärtlich ins Antlitz und dachte darüber nach, was wohl aus ihrem Kinde werden würde, wenn es erst groß sei, und ob es wohl von ihr genommen würde, und dann schien es ihr, als ob das Leben keinen Wert mehr für sie habe, wenn sie ihr Kind nicht fest ans Herz drücken könnte, und ...«

Frau Burton's Stimme wurde schwächer und schwächer und versagte ihr zuletzt ganz. Willi trat vor sie hin, sah sie mit forschenden Blicken an, stützte seine Ellbogen auf ihre Kniee und sein Gesicht in seine Hände, blickte ihr dann teilnehmend ins Gesicht und sagte:

»Hör' mal, Tante Alice, die war doch gerade so, wie meine Mama, nich' wahr? Un' ich glaube du bist gerade so, wie die alle beide.«

Frau Burton nahm Willi hastig in ihre Arme, bedeckte sein Gesicht mit Küssen und versäumte dabei zum zweiten Mal eine Gelegenheit, ihren Neffen den Unterschied zwischen himmlischen und irdischen Dingen klar zu machen. Toddi sah mit unverhohlenem Mißtrauen auf das Paar und erklärte:

»Nu' hörst du mitten im Erzählen auf un' hast Willi lieb. Ich glaube, es wäre netterer, wenn du mal nachsähest, ob das Mittagessen noch nich' fertig is'. Mein Magen is schon wieder ganz klein geworden.«

Frau Burton versetzte sich mit einem Seufzer aus der Welt der heiligen Geschichte wieder in die des Alltaglebens zurück, während Terry, welcher die friedliche Natur der Sitzung geahnt und sich erlaubt hatte, unter dem Stuhle seiner Herrin Platz zu nehmen, sich so schmal wie möglich machend, zur Thür hinaus schlich und eiligst in der Richtung des nahen Gebüsches davontrabte. Toddi hatte ihn jedoch entfliehen sehen und Willi davon benachrichtigt, und beide Jungen machten sich sofort an die Verfolgung des Hundes. Dieser kriegte aber rechtzeitig Wind davon und begab sich schleunigst in ein sicheres Versteck, wie es jeder Hund, der kleine Jungen aus Erfahrung kennt, so gut zu entdecken und zu behaupten weiß.

Im Verlaufe des Vormittags wurden die Jungen unruhig: sie balgten sich, trommelten auf dem Klavier, murrten, als das Instrument geschlossen wurde, untersuchten alle Gegenstände, die ihnen erreichbar waren, und wurden zuletzt so lästig, daß ihre Tante bald die Ueberzeugung gewann, daß sie sich am besten stände, wenn sie den Kindern das Feld räumte. Sie suchte daher ihren kranken Gemahl auf und nahm neben dem Sofa Platz, auf welches er sich hingelegt hatte. Der Spürsinn der beiden Kinder hatte sie hier jedoch bald entdeckt und Willi kam und mahnte:

»Du, Tante Alice, wenn du zur Kirche willst, mußt du dich jetzt aber bald 'n bischen beeilen.«

»Ich kann nicht zur Kirche gehen, Willi,« seufzte Frau Burton. »Wenn ich hinginge, würdet ihr Jungen das ganze Haus auf den Kopf stellen und euern armen Onkel zur Verzweiflung bringen.«

»Nein, das thun wir nicht,« antwortete Willi. »Du weißt gar nich', was wir für nette Krankenpfleger sind! Papa sagt, keiner hat 'ne blasse Ahnung, wie schön wir andere Leute pflegen können, bis er's mal sieht. Wenn du's nicht glauben willst, so laß uns mit Onkel Harry allein und bleib von der Kirche weg un' guck durch's Schlüsselloch.«

»Geh nur, Alice!« sagte Herr Burton. »Wenn du gern zur Kirche willst, so laß mich ohne Besorgnis allein. Nach deinen Erfahrungen von heute Morgen halte ich es für das beste, daß du hingehst. Ich glaube, du wirst deine Gemütsruhe nicht eher wiederfinden, als bis du in den Gesang der Gemeinde einstimmst und reumütig bekennst, daß auch du nur ein armes sündiges Geschöpf bist.«

Frau Burton zuckte leicht zusammen, zog sich aber doch zurück und kam bald für die Kirche angekleidet zurück. Dann küßte sie ihren Mann und ihre Neffen, erteilte zum Abschied allerlei gute Ratschläge und ging fort. Willi folgte ihr mit den Augen, bis sie die letzten Verandastufen hinuntergeschritten war und sagte dann mit einem Seufzer der Erleichterung:

»So jetzt können wir mal recht gemütlich unter uns sein, wie Papa sagt – jetzt sind wir sie erst mal los geworden.«

»Willi!« rief Herr Burton und sprang entrüstet auf, »weißt du, von wem du sprichst? Weißt du nicht, daß eure Tante Alice meine Frau ist, daß sie euch schon manche Strafe erlassen und manchen Gefallen gethan hat, und daß sie immer eure beste Freundin gewesen ist?«

»O doch,« erwiderte Willi mit außerordentlich vielsagender Betonung der einzelnen Worte. »Aber manche Leute hat man Sonntags gern un' andere alltags, meinst du nich? Sie kann weder Flöten machen, noch Frösche fangen, noch uns alle beide huckepack den Berg rauftragen oder singen: »Die Schwerter klirren.«

»Erwartet ihr denn, daß ich das heute alles thue?« fragte Herr Burton.

»N–ei–n,« erwiderte Willi, »außer, wenn es dir besser geht und du auch Lust dazu hast. Aber wir möchten gern bei jemand sein, der so was kann, wenn er bloß will. Manchmal mögen wir lieber bei Tante sein un' manchmal lieber bei dir. Tante Alice is beinah wie 'n Engel, glaub' ich, un' du, du bist's nich. Un' wir möchten erst dann immer bei Engeln sein, wenn wir selber welche sind.«

Herr Burton's Zorn schwand bei diesem ehrlichen Eingeständnis einer der größten menschlichen Schwächen plötzlich dahin und er betrachtete nachdenklich die Rückseite seines Ruhelagers. Willi aber fuhr fort:

»Wir möchten nich', daß du auch 'n Engel wirst. Deshalb möchte ich gern wissen, wie ich dich gesund machen kann. Meinst du nich', wenn ich Papas Pferd und Wagen borge und dich ausfahre, daß du dann besser wirst? Ich weiß, er würde sie mir leihen, wenn ich ihm sagte, daß du damit ausfahren willst.«

»Besonders, wenn du ihm sagst, du willst mitfahren und auf mich passen,« scherzte Herr Burton.

»J–a,« sagte Willi so zögernd, als ob ihm etwas Derartiges nie eingefallen wäre. »Un' meinst du nich auch, daß jemand, der krank is, am besten thut, er fährt nach der Habichtsklippe oder nach dem Wasserfall? Wenn du nich' mehr fahren magst, dann kannst du ja anhalten un' uns Stöcke schneiden oder Flöten machen oder Pfingster-Aepfel (Samenkapseln der wilden Azalie) für uns suchen oder, wenn du uns satt hast, uns in einem Bache schwimmen lassen.«

»Hm!« brummte Herr Burton.

»Un' du mußt auch was zu essen mitnehmen,« riet Toddi; »un wenn du dann recht müde wirst un' dich elend fühlst, dann hälst du an un' machst ein kleines Picknick. Ich glaube, das is das beste für jemand, der Zahnweh hat. Un' wir könnten dir helfen – tüchtig!«

»Ich will mal sehen, wie es mir nach Tische geht,« sagte Herr Burton. »Aber was wollt ihr bis dahin für mich thun, damit ich wieder besser werde?«

»Wir wollen dir Geschichten erzählen,« antwortete Toddi; »die mögen kranke Leute immer am liebsten leiden.«

»Schön,« sagte Herr Burton. »Erzähle mal eine!«

»Denn man zu,« sagte Toddi. »Magst du lieber 'ne traurige oder 'ne lustige Geschichte?«

»Irgend eine,« antwortete Herr Burton. »Leute die Zahnweh haben, können ziemlich alles ertragen. Aber spanne deine Phantasie nur nicht zu stark an.«

»Ich spanne niemals Phantasinen an, ich spanne bloß die Ziege mit an,« versicherte Toddi.

»Auch gut, Toddi. Nun leg mal los!«

»Schön,« sagte Toddi, in einem kleinen Schaukelstuhle Platz nehmend und unverwandt die Zimmerdecke betrachtend, »dann will ich mal von Abraham un' Isak erzählen. Der liebe Gott sagte mal zu Abraham, er sollte auf den Berg raufgehen un' seinen kleinen Sohn die Kehle durchschneiden un' ihn auf 'm Altar aufbrennen. Un' Abraham ging wahrhaftig hin un' wollte es thun. Un' er ließ seinen kleinen Sohn Isak, den er totmachen un' aufbrennen wollte, das Holz tragen, wo das Feuer mit angemacht werde sollte. Un' nu' möcht' ich gern wissen, ob du meinst, daß das sehr nett von ihm war?«

»Hm – nein,« antwortete Herr Burton.

»Will dir mal was sagen,« sagte Willi. »Da laß ich mich nich zu kriegen, daß ich Holz auf 'n Berg rauf trage – auch nich', wenn mein Papa es haben will.«

»Als sie raufkamen,« fuhr Toddi fort, »da baute Abraham 'n Altar un' legte den kleinen Isak drauf un' nahm 'n Messer un' wollte ihm gerade die Kehle durchschneiden – da kam auf einmal 'n Engel vom Himmel un' rief: »Thu's nich'!« Un' Abraham that 's nich un' Isak laufte weg. Un' Abraham sah ein Schaf, das saß im Gebüsche fest, un' da fing er das Schaf un' machte es tot. Nu' war er den Berg doch nich' umsonst raufgeklettert un' hatte 'n schönes blutiges Messer. Un' da brannte er das Schaf auf un' ging wieder nach Hause.«

»Ich möchte mit dir wetten, daß Isak seine Mama da gar nichts von gewußt hat, was sein Papa mit ihm machen wollte,« erklärte Willi, »sonst hätte sie ihren kleinen Jungen nicht mitgehen lassen. Willst du wetten?«

»Nein, am Sonntag nicht,« antwortete Herr Burton. »Aber ich möchte euch vorschlagen, daß ihr jetzt mal hinausgeht und draußen eine Zeitlang spielt, damit ich etwas schlafen kann.«

Die Jungen folgten diesem Wink und verschwanden. Als Frau Burton eine halbe Stunde später unter dem Schutzgeleit des alten Generals v. Stachelschwein aus der Kirche nach Hause ging und mit der Standhaftigkeit einer Heiligen seine Komplimente über ihre Kindererziehung über sich ergehen ließ, da wurden die beiden plötzlich durch ein Angst- und Klagegeschrei erschreckt, welches von der Besitzung des Generals her, an welcher sie soeben vorübergingen, an ihr Ohr drang.

»Schwerenot! was ist das?« fluchte der General, während sein kurzes Haupthaar sich wie die Stacheln seines Namensvetters emporsträubte. »Wir haben doch keine Kinder.«

»Ich – glaube, ich kenne die Stimmen,« hauchte Frau Burton erbleichend.

»Gott sei mir gnädig!« rief der General in einem Tone, welcher bewies, daß er das Gegenteil der göttlichen Gnade gewissen Seelen wünschte, die derselben wohl weniger bedürftig waren, als seine eigene. »Sie meinen doch nicht –«

»Ja doch,« erwiderte Frau Burton, ihre Hände ringend, »Bitte, eilen Sie.«

Pustend und schnaubend eilte der General seinen Kiesweg hinab auf ein Gebüsch zu, hinter welchem ein Fischteich lag, von dem das Geschrei herzukommen schien. Frau Burton folgte ihm eiligst und kam gerade noch zur rechten Zeit, um zu sehen, daß ihr Neffe Willi seinem Bruder aus dem Teiche heraushalf, während der General an einem großen Bachkrebs zerrte, der seine Schere in Toddis Finger gezwickt hatte. Der Krebs hielt krampfhaft fest, aber – ein mächtiger Ruck von seiten des Generals und ein übermenschlicher Schrei von seiten Toddis – und Schere und Leib des Krebses rissen auseinander, und der General, welcher den Krebs noch immer festhielt, stolperte rückwärts und fiel nun selbst in den Teich.

»Au – au – au!« heulte Toddi, indem er das Kleid seiner Tante in verderbenbringender Umarmung umfaßte, während der General schnaubte und zappelte wie ein Walfisch im Todeskampf und Willi so vergnügt lachte, als ob die ganze Scene zu seinem Privatvergnügen aufgeführt würde. Frau Burton trieb ihre Neffen zu eiliger Heimkehr an und vergaß in ihrer Aufregung ganz, dem General für seine aufopfernden Dienste zu danken; dagegen hielt sie ihrem schreienden Neffen Toddi mit einer Hand den Mund zu.

»Es thut so weh!« murmelte Toddi hinter ihrer Hand hervor.

»Wozu hast du denn den Krebs auch angefaßt?« fragte seine Tante.

»Es war 'n kleiner Baby-Krebs,« schluchzte Toddi, »un' ich mag Babies so gern, alle Sorten Babies – un' ich wollte ihm gern mal ei-ei machen. Un' dann wollte ich ihn wieder loslassen.«

»Weshalb thatest du es denn nicht?« fragte seine Tante.

»Weil er mich nich' loslassen wollte,« erwiderte Toddi. »Er hat immer noch nich' losgelassen.«

Wahr genug. Die Schere des Krebses hing noch an Toddis Finger, und Frau Burton verdarb ein Paar vierknöpfiger Handschuhe, als sie dieselbe losmachte. Willi hatte die ganze Zeit hindurch herzlich gelacht. Endlich machte jedoch seine Heiterkeit brüderlicher Liebe Platz und er fragte zärtlich:

»Lieber Toddi, hast du deinen Bruder Willi denn nich' lieb?«

»Ja, d-o-ch,« schluchzte Toddi.

»Na, dann freu' dich doch,« sagte Willi, »denn du hast mich gräßlich glücklich gemacht. Wenn der Krebs dich nich' gekniffen hätte, dann hätte der General ihn auch nich' abreißen können, un' dann wär' er auch nich' in den Teich gepurzelt, un' – ha! – ha! – wie schön war das, als er da drin rumplantschte.«

»Nu' mußt du dich aber auch von 'm Krebs beißen lassen,« antworte Toddi, »un' den General noch mal reinpurzeln lassen, daß ich auch was zu lachen habe.«

»Ihr seid ein Paar nichtsnutzige Jungen,« schalt Frau Burton. »Also so macht ihr's, wenn ihr euren kranken Onkel pflegen sollt?«

»Hab' ihn schon gepflegt,« erwiderte Toddi. »Hab' ihm 'ne hübsche biblische Geschichte erzählt un' du doch nich' – un' er hätte ganz gewiß keinen Sonntag gar nich gehabt, wenn ich das nich' gethan hätte. Un' heute Nachmittag wollen wir ihn auch noch spazieren fahren.«

Frau Burton beeilte sich, mit ihren Neffen nach Hause zu kommen, aber es schien ihr, als ob ihr auf einem so kurzen Wege noch nie so viele neugierige Bekannte begegnet seien. Als sie endlich zu Hause ankamen, schickte sie ihre Neffen auf ihr Zimmer, setzte sich dann weinend an das Krankenlager ihres Gatten und schluchzte:

»Harry!«

Herr Burton musterte mit erfahrenem Blick ihr übel zugerichtetes Kleid und sagte nur das eine Wort:

»Die Jungen!«

»Was soll ich mit ihnen anfangen?« fragte die unglückliche Frau.

Herr Burton war ein zärtlicher Ehemann. Er war überdies ein warmer Verehrer des schönen Geschlechts im allgemeinen und nahm innigen Anteil an allen Leiden, welche dasselbe zu tragen hat; dennoch konnte er der Versuchung nicht widerstehen, seine Frau an die Unterredung zu erinnern, welche sie vor fünf Tagen gehabt hatten, und er flüsterte ihr zu:

»Erziehe sie doch!«

»Ich ...«

Schwere Männertritte verhinderten für diesmal, daß Frau Burton ein demütigendes Bekenntnis ablegte. Sie wandte sich um und sah ihren Schwager Tom Lawrence herankommen, der scherzend fragte:

»Zarte Geheimnisse, wie? Thut mir leid, daß ich gestört habe. Kein Eheglück ohne solche Geheimnisse. Aber Helene fühlt sich heute recht wohl und stirbt vor Sehnsucht nach ihren Jungen, und mir geht's beinahe ebenso. Könnt ihr sie für kurze Zeit entbehren?«

Der schalkhafte Humor, welcher aus Tom Lawrences Augen blitzte, während er auf Antwort wartete, würde zu jeder andern Zeit den ganzen Trotz Alice Burtons wachgerufen haben, aber jetzt blickte sie nur kummervoll auf ihr übel zugerichtetes Kleid und sagte dann:

»Nun – ich denke, wir können sie wohl ein bis zwei Stunden entbehren.«

»Du arme, liebe Spartanerin,« sagte Tom mit aufrichtigem Mitgefühl, »du sollst Ruhe vor ihnen haben, bis sie zu Bett gehen.«

Frau Burton aber machte sich an der Kopfbinde ihres Mannes zu schaffen und flüsterte ihm ins Ohr:

»Gott sei Dank!«


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