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Achter Brief.

Paris, den 26. April.

Das ehemalige Kloster der Kapuzinerinnen schenkte Napoleon dem Marschall Berthier, Fürsten von Wagram. Im Jahre 1821 kaufte die Regierung das Hôtel Wagram an, um hierher das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten zu verlegen, das früher im Hôtel Galifet, Rue du Bac, war.

Mitten zwischen dem glänzenden Gewühle der Boulevards und den vornehmen Umgebungen der Madeleine und des Vendômeplatzes liegt die Wohnung des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten. Eine friedliche, der übrigen Welt entrückte Einsiedelei. Lindenbäume und Pappeln ragen hinter einer hohen Mauer, die das Hôtel des Capucines umringt, hervor. Im Innern selbst laufen die Empfangszimmer des Ministers mit ihren hohen, als Thüren zu öffnenden Fenstern in freie und gefällige, wenn auch nur kleine, grüne Gartenräume. Es ist nicht zu verwundern, daß Jeder, der einmal dieses Hôtel bewohnte, sich dahin zurücksehnt, auch wenn er einige seiner Grundsätze draußen zurücklassen müßte.

Guizot sprach vertraut mit Barante. Es galt den Vorbereitungen einer halbvertraulichen Sendung nach England, deren Zweck ohne Zweifel der sein wird, England darauf aufmerksam zu machen, daß eine so einseitige, hartnäckige und selbstsüchtige Politik, wie die bisher z. B. im Durchsuchungsrecht von England befolgte, die französischen Staatsmänner bei aller Neigung zu Frieden und Eintracht, doch noch, dem französischen Volkswillen zu genügen, zu äußersten Schritten treiben müßte. Man kann sich in Frankreich als Minister erhalten, auch wenn man die Gesetze, nicht aber, wenn man die Nationaleitelkeit verletzt.

An der runden Familientafel, unter Kindern und Hausfreunden, hat Guizot etwas Gemüthliches, etwas Patriarchalisches. Ich war nicht in dem politischen Paris, sondern in dem pädagogischen Genf. Es fehlte nichts als ein Gebet, das eines der Guizot verwandten Kinder laut vorgesagt und die anderen mit gefalteten Händen leise nachgesprochen hätten. Es herrschte jene stille, feierliche Stimmung, deren man in Genf so dringend bedarf, um vor dem Rauschen der Rhone den gleichmäßigen Schlag der genfer Uhren, das Picken dieser Tausende von kleinen Taschenzeitmessern, die Genf hervorbringt, zu unterscheiden. Familien, die viel Unglück erlebten, bekommen etwas Finsteres, zuweilen etwas Heiliges in ihrem Stillleben. Guizot's Vater starb in der Revolution unter dem Beil der Guillotine. Man kann sich aus dieser schmerzlichen Erinnerung, die durch den täglichen Anblick seiner bei ihm lebenden Mutter immer wach gehalten wird, nicht nur Vieles in Guizot's Häuslichkeit, sondern auch in seiner Politik erklären.

»Ist die deutsche Schaubühne national?« fragte mich Guizot.

»Sie war es zur Zeit Schiller's, zur Zeit Iffland's, Schröder's und Kotzebue's. Seither gehört sie Frankreich an, von dem wir uns aber jetzt zu befreien suchen.«

»Ich war früher dem Theater sehr befreundet,« fuhr Guizot fort. »Seitdem ich dem Spiel der Welt angehöre, hab' ich für das Spiel der Breter den Sinn verloren. Damit eine Bühne recht auf das Volk wirke, müssen die Eingangspreise so niedrig als möglich sein. In Paris sind die guten Theater zu theuer. Im Allgemeinen nimmt der Sinn für die Bühne ab. Als ich vor Jahren in England war, fand ich in einer einzigen Straße von Edinburgh allein sieben Theater. Später erhielt sich davon nur noch eines.«

»Es mag an der Zeit, aber auch am Verfall der Kunst liegen,« bemerkte ich; »der Staat sollte die Theater mit derselben Aufmerksamkeit behandeln, wie er für das Interesse der Kirche sorgt. Auf dem Standpunkte unsrer Tage kann diese Zusammenstellung keine Profanation mehr sein.«

»Im Gegentheil, antwortete Guizot. Man hat in Paris die statistisch erwiesene Bemerkung gemacht, daß sich mit der Abnahme des Theaterbesuches die Verbrechen mehren. Geht der Handwerker nicht ins Theater, so geht er auf einen Ball. Die Einsamkeit oder die schlechte Gesellschaft langer Abende führt zu verbrecherischen Handlungen. Zu geschweigen, daß ein gutes Volksschauspiel die Sitten veredelt.«

Das Dejeuner ging unter ähnlichen Erörterungen über das Schauspiel vorüber. Guizot führte mich darauf in sein Cabinet. Wir sprachen von der Politik. »Ich habe,« sagte er, »Deutschland stets geliebt und bewundert. Meine Studien führten mich früh auf die Geschichte, Literatur, auf die Gelehrsamkeit der Deutschen. Ich hatte eine Periode von vier Jahren, wo ich nur deutsche Schriften las und dann und wann mit englischen abwechselte. Der deutsche Nationalcharakter ist mir stets heilig gewesen. Es liegt etwas Ernstes, Edles, etwas Biedres und Frommes im Wesen der Deutschen. Soviel ich mir über den politischen Charakter Ihres Volkes klar machen konnte: so schien mir dieser aus zwei Triebfedern zusammengesetzt. Die eine ist die des Fortschrittes. Sie haben ein ungestümes Verlangen der Neuerung, einen schnellen Reiz an neuen Ideen, sie haben den Trieb, de marcher en avant, de marcher, comme vous l'appellez vorwaerts. Das andere Element ist ein stabiles, etwas Träumerisches, Unentschlossenes, ja Unpraktisches. Dies verhindert Sie, von Ihren Ideen eine dem allgemeinen Wohle ersprießliche Anwendung zu machen. Ich gestehe Ihnen indessen doch, daß mir an dem gegenwärtigen Gange der Angelegenheiten in Deutschland Vieles fremd und sogar befremdlich ist.«

Ich würde die Stellung eines Mannes wie Guizot und sein Vertrauen wenig zu schätzen wissen, wollt' ich die lange Erörterung, die sich über dies Thema zwischen uns anspann, hier wiedergeben. – – – – Daß seine Richtung eine friedliche ist, weiß man. »Nur im Frieden, sagte er, kann das Glück der Völker blühen.« Doch als Franzose, als Vertreter einer ihm anvertrauten Stellung, als Minister einer Dynastie, die sich befestigen will, mag er doch im Allgemeinen über Deutschland mit Thiers übereinstimmen. Er charakterisirte übrigens Thiers sehr treffend mit folgenden Worten: »Herr Thiers, mein unermüdlicher Rival, hat das Unglück, bei allem Talent doch nur ein Nachahmer zu sein. Bald ahmt er Ludwig XIV., bald die Jakobiner, bald das Direktorium, bald Napoleon nach. Es scheint, als wenn er sich bei seiner Kenntniß der neuern Geschichte Frankreichs nicht anders aus seinen Verlegenheiten helfen kann, als daß er sich fragt, wie würde es das Königthum, wie würde es die Republik, wie würde es das Kaiserreich in dieser Lage gemacht haben.«

Prozesse führen, ist unangenehm, krank sein, wohl noch widerwärtiger. Louis Philippe verliert nicht gern Geld, aber noch weniger gern das Leben. Wenn er Thiers ins Ministerium ruft, so ist es, als rief er einen Advokaten, der ihm einen Prozeß führen soll. Ruft er Guizot, so ist es, als rief' er einen Arzt, der ihm seinen Puls fühlen soll.

Guizot hat alle würdevollen, aber auch die etwas beängstigenden Eigenschaften eines Arztes. Er ist kein Damenarzt, der statt nach dem Befinden seiner Patienten sich zu erkundigen, nach ihrer neuesten Lektüre fragt, Anekdoten erzählt und nicht eher geht, bis er für seine nächste Visite nicht etwas Neues weiß. Guizot's Auge zeigt Wohlwollen und doch Strenge. Die Haltung des nur kleinen Wuchses ist sicher und entschlossen, die Bewegung, die eine Hand in der Brust- und die andere in der Pantalontasche zu halten, bleibt sich fast immer gleich. Die Sprache deutlich und bestimmt. Er hört mit Ruhe an, ergänzt, wie ein Lehrer, die Aeußerung des Andern, wenn dieser sie selbst nicht ganz klar aussprechen kann, und tritt dann erst mit seiner Antwort hervor, die allerdings etwas von der Unwiderrufbarkeit eines Richterspruchs, etwas Apodiktisches hat.

Guizot ist in Genf erzogen worden. Er ist Protestant und hat etwas von der herben Strenge des Calvinismus. Die genfer Erziehung bringt weit mehr Erzieher, als Erzogene hervor. Sie erzeugt eine große Regelmäßigkeit im täglichen Lebensverkehr, ein großes Selbstvertrauen in die erhaltene Bildung. Man bringt in Genf Alles auf Grundsätze zurück. Die überzahlreiche Geistlichkeit könnte man protestantische Jesuiten nennen; sie erziehen, sie leiten die Familien, sie leiten den Staat, sie haben es verstanden, in Genf alle Erscheinungen des dortigen Lebens unmittelbar mit sich in Verbindung zu setzen. Durch diese etwas düstre Atmosphäre zucken zuweilen die Flammen einer augenblicklichen ekstatischen Begeisterung. Die genfer Predigten erheben sich von trocknen Begriffsspaltungen oft plötzlich zu unmittelbaren Visionen, die Stimme der Redner zittert, das Auge starrt, die Gemeinde zerfließt in Thränen. Genf bildet in Wissenschaft, Kunst und Leben eine so eigenthümliche Welt für sich, daß Guizot, der eilf Jahre lang von der Hinrichtung seines Vaters an, 1794 bis 1805, daselbst lebte, in seiner Bildung wol nach jenen Elementen beurtheilt werden kann.

Im Jahre 1805 kam Guizot nach Paris. Er schilderte seinen Tischgenossen diese Ankunft, die Entfernungen der Straßen, die Uebermüdung und das ewige Einerlei in der großen Abwechselung mit vieler Gemüthlichkeit. Der jetzige Minister der auswärtigen Angelegenheiten war im Jahre 1805 so arm, daß er, um seine Rechtsstudien zu verfolgen, Hauslehrer werden und für Buchhändler Compilationen und Uebersetzungen liefern mußte. Seine Kenntniß der deutschen Sprache bewies er damals durch eine Bearbeitung des von unserm geistvollen Rehfues herausgegebenen Gemäldes von Spanien im Jahre 1808. Sein Ziel wurde eine Professur. Er erhielt sie durch Royer Collard, dem er im Jahre 1814 nach der Restauration auch eine Anstellung im Ministerium des Unterrichts verdankte. Von diesem Augenblick an trat Guizot in die politische Laufbahn, gab seine Stelle auf, als die Bourbonen ihre Intriguen gegen die Sache des Volkes einleiteten, und erörterte in einer Menge von Flugschriften die Fragen der Zeit, in jenem Sinne, den man damals spottweise den doktrinairen nannte. Daher der Name der Doktrinairs. Einige Mal seines Katheders entsetzt, kam Guizot kurz vor dem Ministerium Polignac in die Kammer. Er stand unter den 221 Deputirten, die dem König die Gefahren des Staates ans Herz legten. Der König hörte nicht, bis die Revolution redete.

Die Julirevolution wurde gleich anfangs zwiefach beurtheilt. Dem Einen brachte sie etwas völlig Neues, den Andern nur Das, was sie dem bisherigen Alten als Spiegel, als Warnung vorgehalten hatten. Zu den Letztern gehörte Guizot. Während die Einen die Julirevolution zu einer unmittelbaren Fortsetzung des Jahres 1789 machen wollten, sah Guizot in ihr nur die vollkommene Ausführung und die endliche Bewahrheitung des Jahres 1815.

Guizot war nie ein Freund der Jahre 1789 bis 1815, doch als Kenner der Geschichte wußte er, daß sich Epochen aus dem Volksleben nicht ausstreichen lassen. Er wußte noch mehr, er wußte, daß große Epochen die Nationen erschöpfen. Frankreich hatte keine Kraft mehr, das Jahr 1830 an das Jahr 1789 anzuknüpfen: fünfzehn unbehagliche Friedensjahre hatten das Blut, die innern Zerrüttungen, den Ruin des Familienglückes nicht ersetzt, die Opfer, die die Jahre von 1789-1815 Frankreich gekostet hatten. Funfzehn magre Jahre reichten nicht hin, um sich von dreißig bluttriefenden zu erholen. Das Frankreich von 1830 war in der That grade nur stark genug, das Frankreich von 1815 wahr zu machen. Guizot wußte, daß es mehr nicht tragen würde, und wurde einer der ersten Taufzeugen des 9. Augusts, des Geburtstages der Orleanischen Dynastie.

Das erste Ministerium der Julirevolution bildete sich in den Redactionsbureaux der Zeitungen, unter den Barrikaden der Boulevards, bildete sich so zu sagen unter freiem Himmel. Guizot nahm an ihm Theil. Es dauerte nicht volle drei Monate und zerfiel in sich selbst. Jener Kampf der Parteien sollte beginnen, der noch bis zur Stunde in Frankreich fortdauert und dem die Julirevolution eine so große Einbuße an moralischem Vertrauen und physischer Kraft zu verdanken hat.

Seit dem 11. August 1830 hat Frankreich siebenzehn Ministerien gesehen. Man kennt diese furchtbare Absorption von Namen, die heute auftauchten und morgen wieder verschwanden. Fast alle Ansprüche des Ehrgeizes sind wenigstens ein Mal befriedigt worden. Fast Alle, die sich die Erben der Julirevolution dünkten, saßen ein Mal am Ruder und versuchten es, das Schiff des Staates von Ungewitter zu Ungewitter zu lenken. Vierundfunfzig Namen haben seither in den ministeriellen Combinationen, wie die Gebilde eines Kaleidoscopes, gewechselt. Immer neue Gestaltungen, immer neue Abwechslungen und keine, die es zu einer mehr als zweijährigen Dauer gebracht hatte. Wird dieses System andauern? Ist es eine Bedingung jener Staatsform, die die Grundlage der französischen Charte ist? Fällt sie der Unbeständigkeit und der Politik Louis Philippe's zur Last?

Es muß den Freunden der constitutionellen Monarchie viel daran gelegen sein, daß die 17 Ministerien der Julirevolution richtig erklärt werden. Die Umwälzung des Jahres 1830 hatte Alles in Gährung gebracht, die grollenden Zurücksetzungen der Vergangenheit, die ehrgeizigen Ansprüche auf die Zukunft. Um der Beruhigung dieses Sturmes der Leidenschaften ihren friedlichen Charakter zu lassen, war es kaum anders möglich, als Jedem die freie Bahn zu öffnen, die er sich durch sein Talent ebnen konnte. So drängte sich Alles an die Portefeuilles. Versetzt man sich in die Entwickelung dieser 17 Ministerien, so sind sie mehr als ein Würfelspiel. Sie sind nothwendig in ihrer Entstehung, organisch in ihrer Fortbildung. Wiederholen sie sich in denselben Namen, in denselben Schattirungen, so wird man sogar in ihnen ein stetiges Gesetz erblicken müssen. Alle nächsten Erben der Julirevolution haben sich nacheinander an den Geschäften versucht. Die Kammer, ein kochender Vulkan, schleuderte aus ihrem Schooße hervor, was sich in ihr vorfand an Intelligenz, an Ehrgeiz, an eingebildetem oder wirklichem Organisationstalente, das Nothwendige hat sich vom Zufälligen endlich ausgeschieden. Nur wenige Namen sind zurückgeblieben, die man jetzt noch als unumgängliche bezeichnen kann.

Die Ministerialkrisen werden in Frankreich noch aus andern Gründen seltener werden. Die Kammer ist der Ausdruck der materiellen Interessen geworden: der Advokatengeist in ihr schwindet immer mehr. Kein fähiger Kopf, der etwas auf sich gibt, kann sich in Paris noch darnach sehnen, Minister zu werden. Ein gefallener Minister bietet einen zu kläglichen Anblick dar. In seiner geistigen Bedeutung absorbirt, hat ein solcher Staatsmann nicht einmal einen materiellen Ersatz. Ein ausscheidender Minister erhält keinen Gehalt, keine Gesandtenstelle, keine Sinecure als Ersatz. Ein ancien ministre kann nicht gut wieder vor das Barreau treten und Prozesse führen, wie früher, er kann nicht wieder Präfekt werden, was er früher war. Es ist mit dem französischen Ministerium jetzt wie mit der Hand in dem Räthsel der Turandot. Wer das Räthsel nicht löst, verfällt einem moralischen Tode. Daher werden die Freier schon seltner.

Man irrt sich sehr, wenn man ferner glaubt, daß die Ministerialkrisen mit dem Kampf der Parteien zusammenhängen. Es sind freilich Parteien da, die sich verdrängen wollen, Parteien, auf die sich einzelne politische Köpfe stützen, um in der Kammer Majoritäten und auf der Ministerbank Collegen zu haben. Ob Doktrinaire und Tiersparti gegeneinanderkämpfen, ist so gleichgültig geworden, daß man von diesen Unterschieden wenig mehr reden hört. Die Geschichte dieser 17 Ministerien beweist eben auch, daß die Verlegenheiten, an welchen sie gewöhnlich scheiterten, gänzlich außerhalb ihres politischen Glaubensbekenntnisses liegen. Für Thiers war es ein großes Unglück, daß die Franzosen diese Ueberzeugung erst seit dem Julitraktat gewonnen haben.

Die veränderten Bedingungen des französischen politischen Lebens liegen auf der Hand. Bis zum Jahre 1836 mag sich Europa vor den Gährungen Frankreichs gefürchtet haben, seitdem ist diese Furcht gewichen. Man macht in den Cabineten Europas dem Cabinet der Tuilerien nicht mehr das Compliment, daß von seiner Erhaltung die Ruhe der Welt abhinge. Alle diese Zugeständnisse, die man der französischen Politik seit 1830 im Interesse der Ordnung und der innern Staatenruhe gemacht hatte, sind seit der Frage des Orients weggefallen. Der Prinzipienstreit ist beigelegt und Thiers mit seinen Schläuchen des Aeolus, in denen die Propaganda steckte, wurde ausgelacht. Frankreich, im Interesse der Dynastie Orleans innerlich beruhigt und auf die Forderungen der Bourgeoisie heruntergeschraubt, tritt jetzt wieder mit den andern Staaten Europas in eine Reihe, gleich berechtigt, aber auch gleich verpflichtet. Was es bisher seine Politik genannt hat, war eine Art europäischer Polizei: die eigentliche Politik geht jetzt erst an. Während Thiers vom 1. März 1840 bis zum 29. October in jenem Geiste regieren wollte, den Casimir Perier dem geängstigten Europa gegenüber im Jahre 1831 zeigen durfte, beobachtete Guizot in London auf seinem Botschafterposten ruhig den Umschwung der Dinge und hatte das Glück, an die Leitung in einem Augenblick zu kommen, wo das Regieren auch in Frankreich keine freie Kunst mehr, sondern eine sich von selbst lösende Rechnungsaufgabe geworden ist.

Fast alle Ministerien hatten sich durch irgend eine Frage aufgelöst, die nicht in einem System, sondern in den Umständen lag. Bald gab Spanien, bald England, bald der Orient die Ursache. Auch die Rentenumwandlung und das Recensement sind vom Augenblicke gebotene Fragen, die von der Doktrin und dem Tiersparti völlig unabhängig sind. Thiers, der freier sein will, als Guizot, hat strengere Gesetze gegeben, als dieser. Die Septembergesetze, die Befestigungen von Paris gehören Thiers an. Guizot hat nur das Unglück gehabt, daß er die Gesetze, die Andre gegeben hatten, gezwungen war in Ansehen zu erhalten und anzuwenden.

Ich habe nie zu den Freunden der Doktrinairs weder in Frankreich noch in Deutschland gehört. Aber im Drang der Umstände, im Gewühl der französischen Parteiumtriebe, im Angesicht gewisser für das Glück Frankreichs unumgänglicher Nothwendigkeiten scheint mir Guizot der für den Augenblick berufenste Staatsmann Frankreichs zu sein. Guizot ist den Franzosen unbequem, selbst denen, die mit ihm in seinen Maßregeln übereinstimmen, aber Frankreich ist in der Lage, einen Arzt, keinen Schmeichler haben zu müssen. Der gemeine Bürger hat großes Vertrauen zu Guizot. Es gibt einen gewissen moralischen Ernst, eine gediegene sittliche Würde, eine edle Einfachheit des Lebens, die zum Volke ebenso überzeugend spricht, wie es eine brillante Beweglichkeit, Schmeichelei und glänzende Redefülle mistrauisch machen. Frankreich bedarf nicht so sehr der Ordnung, als des Ernstes. Die Frivolität sollte nicht bis in die höchsten Instanzen des ganzen Daseins einer Nation dringen und wenige Namen ausgenommen, find' ich, daß neben Guizot und seinen besten Freunden selbst die Politik in Frankreich frivol ist. Man hat dort den Staat zur Börsencoulisse gemacht. Man kauft und verkauft nach dem Winde, lebt von der Lüge, hat seine Zwischenhändler, benutzt den künstlichen Schrecken und schlägt die Wahrheit nicht nach ihrem ewigen Grundstocke, sondern nach der Rente des Augenblicks an.

Ich weiß nicht, ob Frankreich mehr eines Politikers oder eines rechtschaffenen Mannes bedarf. Der König, wenn er ein rechtschaffener Mann ist, existirt nicht für Frankreich. Le roi règne mais ne gouverne pas. Aber das weiß ich, daß in Frankreich Politik jetzt einen andern Begriff haben sollte, als den, den sie bei Talleyrand hatte. Guizot ist allerdings nach Talleyrand's Begriffen kein Politiker. Ein Politiker sein ist eine leichte Sache, wenn man eine große, gefürchtete Nation zur Seite hat, die unser Lächeln zu einer Drohung, unsere Drohung zu einem Kriegssturme macht. Talleyrand hatte leicht Politiker sein mit einem Stoffe, der nie ruhte, ewig gährte, ewig gefürchtet wurde, mit einer Nation, die Alles wahr machen konnte, was er künstlich log, und Alles Lügen strafen konnte, was er künstlich versicherte. Man spricht immer von Talleyrand und sollte von dem Frankreich sprechen, das er zu vertreten hatte.

Das Guizot'sche Frankreich ist ein schlummerndes, gähnendes, erschöpftes Frankreich. Dies Frankreich will keinen Krieg, weil es ihn nicht aushalten würde. Es würde den Krieg nur aushalten, wenn die Republik die Flamme schürte und aus der Flamme zuletzt ein Napoleon erstünde. Alle diese mathematischen Wiederholungen sind vielleicht nicht möglich, doch werden sie gefürchtet. Frankreich ist kein junger Stoff mehr, aus dem noch der politische Künstler etwas formen könnte. Es ist nichts als eine Hinterlassenschaft der Zeit an die Zeit, ein anvertrautes Gut, zu dessen Verwaltung es zunächst der Rechtschaffenheit bedarf.

Wird sich das jetzige Ministerium halten? Diese Frage hört man in Frankreich weit seltner aufwerfen als im Auslande. In Frankreich weiß man recht gut, daß die Ministerien nachgerade anfangen müssen, sich zu erhalten. Nach siebzehn Combinationen sind die Möglichkeiten so ziemlich erschöpft. Die Namen der funfzig Ministercandidaten bleiben so ziemlich dieselben: neue kommen aus dem obengenannten Grunde nicht hinzu. Thiers bildet sich zwar eine Schule für sich aus, eine Pflanzschule künftiger Minister, z. B. den jungen talentvollen Redner Billaut, aber ganz Frankreich weiß, daß Thiers der Mann nicht ist, dessen Frankreich bedarf. Das jetzige Ministerium besteht seit dem 29. October des vorigen Jahres. Die neue Kammer fällt im Sinne der Regierung aus. Wird Lamartine ihr Präsident, so verstärkt sich Thiers allerdings durch Sauzet, der unter seiner Präsidentschaft schon am 22. Febr. 1836 Minister war, aber die Ministerchance Lamartine's fällt weg und es bliebe dann außer Thiers nur noch Molé als Guizot's Rival übrig.

Ein Molé'sches Ministerium würde liberaler sein, als das jetzige. Nicht, daß Guizot illiberal wäre, aber da ihm vom Staate ein bestimmtes, nothwendiges Schema vorschwebt, da er für das gegenwärtige Frankreich eine ganz bestimmte Richtung der Politik für notwendig hält, so wird er schroffer auftreten, als Molé. Molé ist ein Mann des Augenblicks, ein politischer Dilettant, der von der Stunde seine Regel nimmt, ein Vermittler, ein Versöhner. Die Doctrinairs, fühlend, wie groß der Vorsprung ist, den ein solches System in den Gemüthern findet, würden sich auch keiner Politik so widersetzen, als grade dieser Molé'schen, die sie eine principienlose, sybaritische, eine frivole nennen. Es ist zwischen Guizot und Molé ein Gegensatz, wie zwischen einem conservativen Robespierre und einem conservativen Danton.

Molé, aus einer alten adligen Familie, die in den Parlamentern glänzte, verlor, wie Guizot, seinen Vater auf dem Schaffote. Unter Bonaparte zurückkehrend, trieb ihn sein Ehrgeiz, sich an das geltende System mit aller Kraft seines Talentes anzuschließen. Principienlos vertheidigte er die absolute Regierungsform, erregte dadurch Napoleon's Aufmerksamkeit und zeigte sich diesem so schmiegsam, daß er von Stufe zu Stufe klomm und im Jahre 1813 Minister war. Napoleon umgab sich gern mit den bedeutenden Namen des alten Frankreich. Graf Molé gehörte zu ihnen. Dennoch söhnte sich dieser Staatsmann schneller mit der Restauration aus, als ihm Ehre macht. Molé stimmte für Ney's Hinrichtung, wurde Pair, Minister und trennte sich erst 1820 von den Royalisten, als der Pavillon Marsan, die Partei Karl's X., in seinen Reactionen jedes Maß überschritt. Molé opponirte nun gegen Villèle und Polignac. Die Dynastie Orleans nahm ihn in ihr erstes Ministerium, das sich schnell wieder auflöste. Erst am 6. September 1836 trat Molé wieder auf die Bühne. Er hat als Minister für sich, daß er unter den siebzehn Ministerien am längsten am Ruder war. Sein Ministerium vom 6. September erhielt sich 221 Tage, und als Guizot ausschied, noch ganzer 715 Tage. In diese Epoche fiel manches Gute, die Amnestie, der Tractat an der Tafna, die Eroberung Constantines, die Einnahme St. Jean d'Ulloas, die Anerkennung des Principes der Rentenumwandlung. Molé mußte fallen, weil er sich zuletzt in der Kammer dem vereinigten Widerstande Guizot's und Thiers' gegenüber nicht mehr halten konnte. Die hermetische Blokade der Schweiz und die Spionengeschichte des Conseil in Bern hatte zugleich viel dazu beigetragen, das Molé'sche Ministerium in der europäischen öffentlichen Meinung zu untergraben.

Vor einigen Tagen hat Molé in der Akademie eine Rede gelesen. Sie beantwortete den Einführungsvortrag des Herrn von Tocqueville, eines jüngeren Gelehrten, der sich durch seine amerikanischen Reisen einen Namen gemacht hat. Tocqueville hatte in seinen Empfehlungen der amerikanischen Demokratie ein Wort gegen Napoleon und das Empire fallen lassen. Molé griff es auf und vertheidigte das Empire. Man fand die Molé'sche Rede außerordentlich. In allen Salons nahmen die Damen für den galanten Hofmann Partei und die Expectanten auf das nächste Ministerium liefen von Zirkel zu Zirkel, um Molé's Ruhm zu verkündigen. Diese einfache, in ihren historischen Voraussetzungen unrichtige und nur durch Höflichkeit der Form gefällige Rede wurde zu einer Niederlage Guizot's. In Frankreich hat grade immer Der Recht, von dem grade die Rede ist oder der selbst das letzte Wort redete.

Molé kann nicht durch die Kammer zum Ministerium kommen. Er sitzt unter den Pairs. Aber leicht möglich, daß ihn diese Entfernung aus den Debatten unterstützt. Durch nichts macht sich Thiers unmöglicher, als durch seine Anwesenheit, durch seine Theilnahme an allem Streit, durch den unverkennbaren Mismuth seiner Gesichtszüge. Fällt Guizot diesmal, so wird auch bei ihm der Ehrgeiz schärfer hervortreten, als er es sollte. Gegen Molé würde ein Principienstreit ohne Interesse für die Nation sein. An den Doctrinairen nimmt Frankreich keinen Theil; es nimmt nur insofern an ihnen Theil, als sie ihre Philosophie in die Herrschaft der Ordnung und des Gesetzes auslaufen lassen. In diesem Punkte trifft Molé's praktischer Dilettantismus mit der Doctrin vollkommen überein und Guizot dürfte sich verrechnen, wenn er glaubt, die Franzosen von der Nothwendigkeit eines philosophischen Regierungssystems überzeugen zu können. Die Umstände regieren Frankreich, nicht die Principien. Den Umständen sich mit Enthaltsamkeit und einiger Würde unterzuordnen, ist die ganze Weisheit, die Frankreich im jetzigen Augenblick erhält. Guizot schilderte mit folgenden Worten die Politik Molé's: »Eine Politik ohne Princip, ohne Fahne: nichts als Palliative und leerer Schein. Stets schwankend, stützt sie sich nach allen Seiten hin und schreitet keinem Ziele zu. Eine Politik, die noch mehr ausbeutet, noch mehr nährt und erschwert diese allgemeine Unsicherheit der Gemüther, diese Erschlaffung der Herzen, diesen Mangel an Glauben, Beharrlichkeit, Ausdauer, Kraft, einen Mangel, dem wir das Unglück des Landes und die Schwäche der Regierung verdanken.« Daß sich aber dennoch Guizot nicht täuscht! Was ihn seit dem 29. October an die Regierung gebracht hat, ist nicht sein Princip, seine Fahne, nicht sein System des Widerstandes, sein Fanatismus für Ordnung, seine Andacht vor dem Gesetze, nichts von alle Dem, das er an Molé vermißt, sondern eben dieselben Palliative, eben der falsche Schein, eben die Nothwendigkeit, die nicht in den Principien, sondern in den Umständen liegt. Für den bewaffneten Frieden vertritt er den entwaffneten. Das ist vorläufig Alles. Die Zeiten der Organisation, die Zeiten der Schöpfungen, Neugestaltungen, die Zeiten einer moralischen Umwälzung der Gemüther sind für Frankreich noch nicht da. Ja, ich glaube sogar, daß es mit zu den wunderlichen Eigenheiten des neunzehnten Jahrhunderts gehört, mit sich von oben aus keine Experimente anstellen zu lassen. Nichts lästiger, als die Herrschaft der Systeme. Sie verwandelt das Leben im Staat in die Abhängigkeit einer Schule. Ich fürchte sehr, daß es den Franzosen gleichgültig ist, ob der Friede, den sie halten müssen, bei Molé eine Kunst oder bei Guizot eine Wissenschaft ist.

Molé hätte eine andre Schwierigkeit, nämlich die, Collegen zu finden. Von seinen frühern sind Persil und Barthe der Politik entrückt, Bernard, sein früherer Kriegsminister, ist todt, sein erster Minister des Innern, Gasparin, ist abgenutzt, sein zweiter, Montalivet, ist als Hofkreatur zu unbeliebt, Martin du Nord gehört bereits zum gegenwärtigen Ministerium, Salvandy ist als Politiker abgenutzt, Duchatel und Lacave-Laplague stehen in der gegenwärtigen Verwaltung. Kein französisches Ministerium kann sich ohne Rednertalente halten und an diesen mangelt es sehr. Soll ich aufrichtig meine Meinung sagen? Ich glaube, daß diese Unsicherheit sich schwankend hinziehen wird, bis Louis Philipp, der seit einiger Zeit fortdauernd kränkelt, den Schauplatz verläßt. Das Ministerium, welches sich der Herzog von Orleans im ersten Augenblick bildet, hält sich keine drei Monate. Es muß und wird der anschwellenden Flut erliegen, den Folgen eines solchen Wechsels auf die Massen, in den Journalen, in den Kammern. Möglich, daß dann Lamartine mit einer Politik reif ist, die Frankreich von diesem ewigen Einerlei des Parteiengeschwätzes, von dem Ehrgeiz der Professoren und der Eitelkeit der Advocaten, von der Ruhmsucht der Generale und der Servilität der Beamten befreit. Lamartine hat das Redetalent, den politischen Einfluß, die Umstände, Alles für sich, einst die Worte, die er schrieb, wahr zu machen »Welch ein schöner Blick in Frankreichs nächste Zukunft! Eine Generation, die, Dank ihrer Jugend, nichts mehr wissen wird von dem Gezänk und den Gehässigkeiten der letzten 40 Jahre! Gleichgültig wird es ihr sein, ob man zu dieser oder jener Partei gehörte; ihr gelten alle diese Zwiste nichts, sie hat keine Vorurtheile, keine Rache im Busen, rein und kräftig tritt sie in die Laufbahn, mit Begeistrung für den Gedanken! O, wie glücklich wär' ich, daran Theil zu haben! Die Stunde wäre gekommen, den Leuchtthurm der Vernunft anzuzünden, den Leuchtthurm der Moral unsern politischen Stürmen, und dem neuen gesellschaftlichen Bande, das die Welt zu ahnen und zu begreifen beginnt, einen Ausdruck in der Wirklichkeit zu geben. Liebe und Huld unter den Menschen, eine evangelische Politik! Wecke doch der Himmel die Menschen! Unsre jetzige Politik läßt die Menschen erröthen und die Engel weinen. Jedes Jahrhundert bekommt die Menschheit eine Stunde, um sich von Grund zu erneuern: Diese Stunde ist immer eine Revolution: und die Menschen verlieren diese Stunde, indem sie sich zerreißen. Diese Revolutionen gab Gott zur Wiedergeburt und zum Fortschritt, und die Menschen widmen sie der Rache.«

Es schmerzt mich, daß im Angesicht dieses neuen Testamentes Guizot noch am alten steht. Thiers, ein so großes Talent, ist untergegangen in den Machinationen der Börse, in den Begriffen über Gleichgewicht, Telegraphen, Einmischung, untergegangen in dem Lärm der Welt und in der Eitelkeit, sie einmal beherrscht zu haben. Guizot, ein so großes Genie, droht zu scheitern an dem finstern Mistrauen gegen seine Zeit, an dem Phantom der Revolution, an der Idee von Ordnung und Gehorsam, die wie ein Alp auf seinem Herzen liegt. Wozu diese finstern Theorien: »Nur diejenige Gewalt ist da, die respectirt wird«; oder: »Frankreich bedarf nichts, als eine Regierung!« Sind diese Sätze falsch? Nein, sie sind richtig, aber nicht gut gestellt. Sie athmen Haß statt Liebe. Sie schrecken die Schuldigen, aber sie beängstigen auch die Unschuldigen. Sie sind des alten, nicht des neuen Testamentes.

Louis Philipp, Molé, Guizot – allen Dreien ist ihr Vater auf der Guillotine gestorben. Louis Philipp fürchtet die Franzosen, Molé schmeichelt ihnen, Guizot verachtet sie. Keiner zeigt ihnen Vergessenheit, Versöhnung, Liebe.

Guizot hat große Zeiten gesehen, aber wahrlich keine tugendhafteren. Warum nun die unsern hassen? Dies schöne Gemüth, das mit fester Stimme seiner sterbenden Gattin aus Bossuet vorlesen kann, dieses männliche Gefühl, das die Thräne verbergend die erste Handvoll Erde auf den Sarg seines Sohnes werfen konnte, warum der Zeit, warum einem ganzen Volke gegenüber nur beseelt von Mistrauen? Schwindet der Glaube an die Menschheit mit der Jugend? Sind nur Die weise, nur Die der Hingebung würdig, deren Haupt der Schnee der Jahre deckt? Könnte man Guizot und Lamartine zusammenschmelzen, es gäbe vielleicht keine Majorität in der Kammer, aber eine Majorität in den Herzen Aller, die in der Politik jenen Proceß sehen, den seit Jahrtausenden der Mensch gegen die Natur führt und noch immer nicht gewinnen will.

Nach einem langen, besonders Deutschland betreffenden Gespräche mit dem Minister war die Zeit verflossen, Guizot fuhr zum Könige.


 


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