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Paris, den 12. April 1842.
Das französische Studienjahr an der Sorbonne und dem mit ihr verbundenen Collège de France dauert neun Monate hintereinander. Drei Monate der schönen Jahreszeit sind den Ferien gewidmet. Eine Einrichtung, die unstreitig besser als die unsere ist. Unsere Sommersemester an den Universitäten sind meist verloren. Die Hitze, die Reiselust, die sommerlichen Vergnügungen lassen es mit dem Sommercursus bei uns keinen Ernst werden. In Frankreich werden nur die Osterfeiertage eingehalten und dann sogleich die kurz vorher eingestellten Vorlesungen wieder aufgenommen. Vor einigen Tagen haben an der Sorbonne und dem Collège de France alle Course wieder begonnen. Die Sorbonne besteht aus einer Kirche, die im Geschmack des siebzehnten Jahrhunderts gebaut ist und einem großen, nicht eben freundlichen Hofe, dessen Wände im untern Stockwerk die Hörsäle enthalten, im obern einige Wohnungen der Professoren. Das College, ähnlich eingerichtet, nur moderner, liegt nicht weit von der Sorbonne ab. Die naturhistorischen Vorlesungen finden im jardin de plantes, die ärztlichen in den Krankenhäusern statt. Über neuere und ältere Sprachen wird in der königlichen Bibliothek gelesen, wo man sogleich die kunstgeschichtlichen und sprachwissenschaftlichen Sammelwerke zur Hand hat.
Im Catalog der Vorlesungen findet man berühmte Namen, Namen, die in die Politik des Tages verwickelt sind. Man findet die Namen der Minister, die diesen Hörsälen die Anfänge ihres Rufs verdanken. Villemain, Guizot, sind als Lehrer angekündigt, ohne daß sie lesen. Sie haben Stellvertreter, junge Privatdozenten, wie wir sie nennen würden, die das dem Professor zugewiesene Fach an der Stelle des verhinderten Inhabers ausfüllen. Man macht hier sein Glück, wenn man eine Zeitlang der Stellvertreter eines Andern war. Die eigentliche Bedeutung von Paris, als Universität, liegt nur in den Experimentalstudien, in der Naturwissenschaft und der Arzneikunde. Fast alle übrigen Branchen werden ohne eigentliche Hingebung behandelt. Die Professoren bekleiden eine Menge andrer Ämter und betrachten ihre Professorate als Sinekuren, als Retraiten von ihren politischen Ausflügen, als Mittel, sich in bündigem Vortrage auszubilden. Die Studenten lernen wenig, wenn nicht durch sich. Die Professoren sind Redner, die einzelne Fragen hervorheben, ihnen eine für den Augenblick blendende Seite abgewinnen und die Vorlesung mit einem effektreichen Schlusse, der applaudirt wird, beschließen. Hier gibt es keine nachgeschriebenen Hefte, keine »Schwänze«, die man »nachreiten« muß, keine Dintenstecher, keine zerschnittenen Pulte, denn wenigstens in den Auditorien, in die ich hineinblickte, entdeckte ich nur Bänke zum Sitzen, keine Pulte zum Schreiben. Der Student zieht seine Brieftasche und notirt sich einzelne Gedanken, einzelne Thatsachen, die ihn interessiren. Man kommt und geht. Damen sitzen, wenigstens im Collège de France, mitten unter den jungen Studenten, die in ihrer Tracht, in ihrem Wesen nichts Auffallendes haben.
Philarète Chasles setzt seinen Cursus über nördliche Literatur fort. Ich wohnte seiner ersten Vorlesung im Collège de France bei. Es mochten sich nahe an hundert Zuhörer eingefunden haben, unter ihnen viel Damen. Der junge Professor, der vor kurzem nur noch Feuilletonist war und in seinem Fache für eine »Specialität« gilt, erschien durch eine Nebenthür, in weißem Rock, nach neuester Mode, schönem Schnurrbart und weißen Glaçehandschuhen. Äußerlich war er so angethan, daß man ihn auf einer deutschen Universität augenblicklich in Anklagestand versetzt haben würde. Philarète Chasles hat jedoch unter seinem modischen Äußern Etwas, was den Gelehrten verräth. Man sieht wol, daß ihn die Form der Schriftsteller, die er zu behandeln hat, mehr interessirt als der Inhalt. Man sieht wol die flüchtige Virtuosität eines Kritikers nach der Mode. Dennoch schien mir der Bart, die Frisur, schienen mir die glaçirten Handschuhe im Ganzen doch nur affektirt. Ich sah' unter diesem Costüme einen Gelehrten im Schlafrock, unter staubigen Büchern, in einer dunkelen Mansarde, einen jungen Mann, der es sich einst sauer werden ließ, bis ihm seine Mühe vergolten wurde, ich sah Bettfedern in diesen künstlichen Locken, einen niedergetretenen Pantoffel statt des gefirnißten Stiefels und, daß ich dies sahe, sehen konnte, macht Philarète Chasles Ehre, denn es beweist, daß ich ihm in seiner Häuslichkeit mehr Fleiß, mehr Ernst zutraue, als heute in seiner äußern Erscheinung als Professor lag. Ohne gerade beredt zu sein, trug er klar und einschmeichelnd vor. Man sah, daß die Vorlesung so eingeprägt, so auswendig gelernt, so fertig war, wie sie morgen hätte im Journal de Débats erscheinen können. Ich hörte Dinge, die mir nicht neu waren, aber den jungen Franzosen waren sie neu, und ich kann wol sagen, daß es für einen Deutschen schmeichelhaft sein mußte, einen französischen Professor über Sebastian Brandts geschmackloses, langweilig moralisirendes Narrenschiff, vor jungen Franzosen, die den Mund aufsperrten, wie über ein Werk von seltenem Werthe, eine Stunde lang mit Geist und Geschmack reden zu hören.
Armand Bertin, den jetzigen Besitzer der Debats, sah ich in einer Gesellschaft, wo mir auch Hektor Berlioz, Alfred de Vigny, ein gereister Diplomat, Graf Viel-Castel, und .Herr von Eckstein bekannt wurden.
A. Bertin, ein Vierziger von unfranzösischem Embonpoint, setzt die Vertheidigung der Doktrin so lange fort, bis auch er, wie sein Vater und Oheim, in die Pairskammer »versammelt« werden wird. Herr Bertin ist kein Schriftsteller. Die Artikel seines einflußreichen und unstreitig ersten französischen Blattes schreiben de Sacy, St. Marc Girardin, Michel Chevalier, Jüles Maurel, Xavier Raymond, Adolph Guerout, Antoine de la Tour, Theodor Benazet, Cüvillier Fleury, der Pole Tinsky, ohne die artistischen und unterhaltenden Mitarbeiter. Herr Bertin leitet das Ganze. Er holt sich die Parole von den Ministern, vom Könige, von den einflußreichsten Deputirten. Graf Molé macht bei ihm Visiten und bittet ihn, seiner bei der nächsten Combination zu gedenken. Herr Bertin regiert Frankreich; denn Die, die Frankreich zu regieren das Recht haben, geizen nach seinem Beistande , nach seiner Übereinstimmung. Ob Herr Bertin diese bedeutende Unterstützung, die das »System« ihm verdankt, rein aus seiner Überzeugung und seiner persönlichen Hingebung fließen läßt oder ob ihm das »System« seinerseits dafür erkenntlich ist, weiß ich nicht.
Herr von Eckstein gehört uns Deutschen an, ob er gleich seit den vielen Jahren seines pariser Aufenthaltes Franzose geworden ist und es vorzieht, in Paris für einen gebornen Dänen zu gelten. Herr von Eckstein ist ein Mann von Geist, trotz seiner Artikel in der Allgemeinen Zeitung. Ein Publizist, der der Leidenschaft und dem Vorurtheil erliegt, kann im Grunde kein geistvoller genannt werden; doch spricht Herr von Eckstein über seine Briefe in der Allgemeinen Zeitung so, als wenn sie ihm nur halb gehörten. Herr von Eckstein treibt in seinen Mußestunden orientalische Literatur. »Ich schreibe die Briefe in der Allgemeinen Zeitung nur,« sagte er, »um mir indische Bücher zu kaufen.« – Herr von Eckstein gehört zu jenen conservativen Schriftstellern, denen man oft mit Unrecht vorzuwerfen pflegt, ihre Ansichten wären ihnen nicht Ernst, sie glaubten selbst am wenigsten, was sie schrieben. Herr von Eckstein hat ein lebhaftes, blitzendes Auge, eine scharf ausgeprägte Physiognomie, die auf mehr Phantasie, als Charakter deutet, eine Universalität des Wissens, die seinen geschmackvollen, oft witzigen Dialog überall heimisch macht. Mich betrübte die Gleichgültigkeit, mit der Herr von Eckstein über seine publizistische Wirksamkeit sprach. Wenn man in einer der ersten Zeitungen Europas, in einer Zeitung, die Frankreich mit Preußen, Österreich und Rußland vermittelt, fast täglich eine Nation, wie die französische, seit so vielen Jahren herabsetzt, alle französischen Staatsmänner beleidigt, alle Parteien in Bausch und Bogen beurtheilt, und von dem ganzen Geistesreichthum dieser Nation nichts den Deutschen zu empfehlen pflegt, als die Abgeschmacktheiten einer Gazette de France und die Hohlheiten einer Quotidienne, so sollte man von einer so gewagten Aufgabe mit weniger Leichtmuth sprechen, als es Herr von Eckstein that. Alle französischen Staatsmänner klagen über Eckstein's Verunglimpfungen Frankreichs. St. Marc Girardin sagte mir: »Es ist abscheulich, wie man Frankreich in diesen Correspondenzen der Allgemeinen Zeitung hinstellt. Während Frankreich täglich glücklicher, täglich ruhiger wird, stellt man unser Land vor Östreich, Preußen und Rußland hin, als müßt' es täglich an innerer Fäulniß verwesen, täglich wie ein verfaultes Tuch auseinandergehen. Wie Voltaire in seiner Correspondenz vierzig Jahre hindurch schreibt: ›Ich bin krank – Ich sterbe – Ich bin schon todt‹ und doch über achtzig Jahre alt wurde, so schreiben diese Correspondenten: Frankreich ist krank, Frankreich stirbt, Frankreich wird sterben, Frankreich ist schon todt, und Frankreich lebt, trotz dieser Bulletins, glücklicher und gesunder als jemals. Herr von Eckstein gehört zu jenen Conservativen, die revolutionärer, als die Revolutionäre sind.« Ich muß bei dieser Gelegenheit eine Bemerkung machen: Herr von Eckstein, der seit zehn Jahren Frankreich herabsetzt und alle Lebensäußerungen, alle Anstrengungen dieses Landes, um zu Frieden und Ruhe zu gelangen, einseitig, unhaltbar, wenn nicht gar verbrecherisch findet, Herr von Eckstein, der seit Jahren Frankreich benutzt, um Deutschland und Rußland die Schrecken der Volkssouveränetät zu beweisen, der in sieben oder acht Categorien, als da sind, Napoleonisten, Legitimisten, Ralliirte, Advokaten, Kabalenschmiede, Phrasenschmiede u. s. w., das ganze geistige und politische Leben Frankreichs wie in die Schemata eines Paßsignalements hineinzwängt, Herr von Eckstein lebt in Paris unangefochten, lebt geduldet, hier und dort gut aufgenommen, sicher gestellt durch eine Gastfreundschaft, die wir in Deutschland nicht kennen würden. Wie lange dürfte wol ein Franzose in Berlin und Wien sich aufhalten, der dem Journal des Débats solche Schilderungen der gouvernementalen Gewalten in Preußen und Östreich schickte, wie sie Herr von Eckstein über die Julidynastie seit Jahren fast täglich nach Augsburg schickt? Ich bemerke nochmals, daß ich, abgesehen von dieser Herzensmeinung, vor Herrn von Eckstein's Geist die größte Hochachtung habe.
Unter Hektor Berlioz hatt' ich mir nicht den gedrungenen, untersetzten Mann vorgestellt, den ich fand. Es liegt in seinen Feuilletons mehr Phantasie, in seiner Gestalt mehr Kritik. Berlioz hat einen ausdrucksvollen Kopf, eine strenge Physionomie, in der sich die tiefste Erkenntniß des Wahren in der Musik, aber theilweise auch das Unvermögen, seinen Idealen selbst nachzukommen, ausspricht. Es fehlt der Stirne das Gepräge des freien Wagnisses, die Glätte des heitern Entschlusses, während sie edel genug den denkenden Ernst und eine gewisse brütende Melancholie des Verstandes ausdrückt. Berlioz vertritt vor Frankreich die classische Musik, er ist der Feind der großen Trommel, der Pickelflöte, des Bassethornes und der Ventiltrompete; er basirt die Musik auf Harmonie und Melodie, verlangt Genie in der Auffassung und Fleiß in der Durchführung. Hektor Berlioz ist nicht frei in seinen kritischen Urtheilen von den Einflüssen dieser oder jener persönlichen Beziehung. Es ist unmöglich, sich in Paris ganz zu isoliren, oder, was dasselbe sagt, immer wahr zu sein. Sonst steht sein keuscher, kritischer Sinn in einem betrübenden Widerspruch mit dem eigenen Unvermögen. Ich kann nicht glauben, daß es eine Verschwörung ist, wenn man die Musik, die Berlioz selber schreibt, nicht hören und gegenwärtig sogar nicht mehr aufführen will. Für die Harmonien, die in seiner Seele tönen, hat er nicht die Logarithmen der irdischen Technik, die verrechenbaren Zahlen und hörbaren Noten finden können. Da, wo er in seinen Symphonien bis in die Sphären besserer Welten schwebt, findet die Menge nur ein wüstes Chaos von Tönen, in welchem einige klare Gedanken vergebens ringen, das Dunkel zu besiegen und mit triumphirendem Wohlklang alle Gefühle in dem einen des ergriffensten Behagens aufzulösen. Berlioz will lachen, weinen, sterben, wie Beethoven, aber sein Lachen ist Grinsen, sein Weinen Greinen, sein Leben Übermuth, sein Sterben Ermüdung. Berlioz malt die Empfindungen, die er haben, die er wecken sollte. Er malt sie mit einem Aufgebot von Kraft, das grade dies Gefühl der innern Schwäche verräth. Ich hörte von ihm eine Ouvertüre, die die Sinne schwindeln macht. Blechinstrumente, Pauken, Contrabässe, Alles rast in wildem, orgiastischem Taumel. Eines will das Andre niederschmettern, eine Kraft will die andre überbieten. So schön das Ganze als Kunstwerk gearbeitet war, so lieblich das Cantabile eines Zwischensatzes, man erliegt dieser massenhaften Anhäufung, man flieht sie, weil sie den Nerven wehthut. Die Absichtlichkeit des Kritikers überwuchert den freien Schaffenstrieb des Genies, und so bestätigt sich aufs Neue jener ohne Zweifel weise überlegte aber grausame Plan der Schöpfung, dem Einen zu geben, was er oft selbst nicht versteht, und dem Andern zu versagen, wornach er mit allen Poren seines Herzens dürstet, worauf er mit Tantalusqual die schmachtenden Blicke wendet.
Ganz besonders wohlthuend war mir die Nähe Alfred de Vigny's. Graf de Vigny war früher Militair und verließ nach sechszehnjährigem thatenlosen Garnisondienste die Linie als Hauptmann einer Compagnie. Die Liebe zur Dichtkunst hatte den jungen Offizier mitten in der Langenweile eines Dienstes ergriffen, dem er sich mit Hoffnung auf Thaten und Ruhm gewidmet hatte. Alfred de Vigny erinnerte mich an unsern verstorbenen Gaudy, nur daß de Vigny's Kraft größer, sein Wille ernster, sein Gemüth harmonischer ist. Der Dichter der »Eloah«, des »Cinq Mars«, des »Stello« und »Chatterton« ist 43 Jahre. Sein Äußeres verräth den Edelmann, seine Haltung den Offizier. Alles Übrige ist Dichter. In dem Auge streiten ein edler Ehrgeiz und Schwärmerei mit ihren blendendsten Lichtern, seine Rede ist melodisch, sein Styl gewählt, seine Gedanken rudern immer der Tiefe zu, fliehend die Seichtigkeit, selbst wenn diese nur die allein verstandene ist. Alfred de Vigny ist keines jener Genies, die mit einer ursprünglichen Prädestination sich in die Strömung des Lebens und der Dichtung werfen. Man sieht und hört und liest ihm an, daß seine Dichtkunst nur geweckt wurde durch den Zufall, daß sie hätte schlummern können, ohne der Welt zu fehlen, daß sie zuweilen mehr eine Frucht der Begeisterung, als des Naturells ist. Aber dafür sind ihm auch die nie ausbleibenden Schlacken des ursprünglichen Genies fremd. Er ist nie flüchtig, nie unüberlegt, er wagt sich nie in Gebiete, für die er seine Kraft nicht gemessen hat. Er faßt seine Pläne mit großem Entzücken auf, dann bezweifelt er sie, er läßt sie liegen. Nun locken sie ihn wieder: er arbeitet den Plan weiter aus, verwirft ihn wieder, beginnt ihn aufs neue. Sind alle seine Materialien zurecht gelegt, dann geht er an die Ausführung selbst und bewährt hier eines der sinnigsten Talente unsrer Zeit. Ein sicherer Genius führt ihm die Feder, die nie über das vorgesteckte Ziel hinausgleitet. Es ist eine Musivarbeit im feinsten Sinne, was er nur immer geben wird. Es ist eine harmonische Schöpfung, in der nichts sorglos vorausgesetzt, nichts nachlässig verschwiegen bleibt, sondern wo Alles in festen, sicheren Umrissen vollständig und mehr als einmal überarbeitet ans Tageslicht tritt. Alfred de Vigny besitzt vielleicht nicht die ursprüngliche Kraft Victor Hugo's, jedenfalls nicht das lyrische Selbstvertrauen des uns Deutschen als Dichter ganz entschieden gleichgültigen Lamartine, aber er übertrifft Beide an Sauberkeit des Details und künstlerischer Meisterschaft in der Behandlung der Einzelnheiten.
Vor dem Diner, das diesen Kranz von bedeutenden Namen vereinte, sprach A. de Vigny über Thränen. Die Taschentücher der Boulevardstheater hatten uns auf Thränen gebracht. »Man will jetzt nur,« sagte der Verfasser des vielbeweinten Chatterton, »man will nur Kunstwerke gelten lassen, in denen sich das Rührende nicht höher versteigen darf, als bis zu einem Gefühl erhabenen Staunens. Man will nicht Thränen, sondern nur die Andeutung, hier wäre eine Stelle, wo man allenfalls weinen könnte.« Alfred de Vigny hat ein Recht, über Thränen zu reden. Seine Eloah ist geboren aus einer Christuszähre.
»Ihre Werke erschienen in langen Zwischenräumen?«
»Ich bin,« antwortete de Vigny, »in Sorge, mit unreifen Dingen vor das Publikum zu treten. Ich arbeite jeden Tag. Ich habe immer einen Roman, ein Drama, ein Gedicht unter der Feder, aber ich kann mich nicht entschließen, etwas herauszugeben. Mein letztes Werk: Freuden und Leiden des Kriegerstandes (servitude et grandeur de la vie militaire), erschien vor sechs Jahren.«
Ich konnte nicht umhin zu bemerken: »So preisen Sie Ihr Geschick, das Ihnen erlaubt, so zurückhaltend zu sein. Wären die andern Dichter nicht arm, ihre Werke würden besser sein. Sie sind reich, wissen aber, was Armuth ist. Sie haben es in ihrem Chatterton gezeigt.«
»Ist Chatterton in Deutschland aufgeführt?«
»Ich entsinne mich nicht.«
»Frau von M. in Berlin sagte mir, er wäre in Lübeck gegeben.«
Ich war so grausam zu lächeln. In Lübeck! In Lübeck beim Grafen Hahn! Mir fiel der Unterschied zwischen dem Theater français und einer sogenannten deutschen concessionirten Theaterentreprise so auf, daß ich durch meine Ironie einen Fehler beging, den ich gut machen mußte. »Ich habe Ihren Chatterton gegen J. Janin vertheidigt. Ich hatte ein persönliches Interesse, da ich einen Helden in Richard Savage wählte, der mit Chatterton Ähnlichkeit hat. Es ist sehr leicht, für nichtsnutzige Schreibereien jährlich 20 000 Franken verdienen und einem wahren Dichter vorwerfen, wenn seine Gedichte ihm nichts eintrügen, lieber ein Holzsäger zu werden.«
»Mein Chatterton,« bemerkte de Vigny, »ist nicht der historische, das räum' ich ein. Ich habe ihn mir aus der Masse der leidenden Dichter herausgenommen, um zu zeigen, daß die Vorsehung etwas hart mit ihren Lieblingen umgeht. Man glaubte in Paris, ich wollte, weil Chatterton Gift nimmt, den Selbstmord lehren, den Selbstmord beschönigen. Trotz dieser Verfolgungen hat die große Masse Antheil an meinem Werk genommen und mich besser verstanden, als die Kritik, die nun einmal das Privilegium des Misverstehens hat.«
Wir kamen auf die Stellung der anderen Künste zur Gesellschaft. Alfred de Vigny bemerkte: »Meine Überzeugung ist die, daß die Regierungen die Dichter schützen, ihnen Mittel geben müssen, um rein ihren Ideen zu leben. Soll ich Ihnen aber sagen, warum man die Musik und die Tanzkunst beschützt? Die Könige geben den Sängern, den Tänzerinnen, nichts den Dichtern. Die Dichter singen die Hoffnungen des Volkes, sie singen die Freiheit. Aber die herumreisenden Virtuosen, die Klavierspieler, die Geiger können kein Volk aufklären, keine Sklaven befreien. Darum werden diese mit offenen Armen aufgenommen, diese mit Orden belohnt. Einer Taglioni hängt die russische Kaiserin Diamanten um.«
Im Journal des Débats war an demselben Tage ein Artikel über Strauß und sein Leben Jesu erschienen. Ich beklagte mich über den absprechenden Ton dieser seinsollenden Kritik. De Vigny lächelte: »Ich will Ihnen sagen, wie es damit steht. Strauß' Buch ist ins Französische übersetzt, ich habe es mir selbst gekauft und mit großem Interesse studirt. Das Buch hat auch bei uns in Frankreich viel Aufsehen gemacht. Warum das Journal des Débats dies leugnet, das ist ein Geheimniß, das ich Ihnen hier nicht erklären kann.«
Sein Blick auf den König der Debats, Herrn Bertin, erklärte mir hinlänglich das Geheimniß.
In Allem, was Alfred de Vigny sprach, erkannt' ich den Denker, den Dichter, den edlen Menschen. Alfred de Vigny ist reich und spricht für die Armuth; er ist Graf und spricht für die Freiheit. Am 21. wird er bei der Academie durchfallen. Er bewirbt sich mit St. Beuve und Vatout um einen Sitz neben Victor Hugo und Scribe. Er wird ihn nicht bekommen, er wird ihn später bekommen. Mit der Academie ist es, wie mit dem Senat einer gewissen freien Stadt in Deutschland, der jedes Gesuch erst zwei Mal abschlägt, ehe er es beim dritten Male mit einigen Bedingungen bewilligt.
Diesen für mich ohne Zweifel merkwürdigen Abend verdank' ich der Gräfin d'A. Ein Wesen, dem es möglich ist, Dichter um sich zu versammeln, muß selbst ein Gegenstand für Dichter sein. Ich kann an diese Frau nie denken, ohne die Macht der Kunst zu bewundern. Welch ein Zauber muß in dem Umgang mit den Musen liegen! Hör' ich die Gräfin d'A. im französischen Gespräch mit Geist, im vollendetsten deutschen Dialog mit Gemüth reden, seh' ich sie am Clavier, durcheilt sie mit prüfendem Kennerblick die Galerien der Gemälde, deren Schönheiten und Fehler ihr auf den ersten Blick entgegen springen, führt sie selbst mit jenem schönen intuitiven Styl, der den Frauen eigenthümlich ist, die Feder und denke ich mir dann unter diesem glänzenden Spiegel doch einen dunkeln Grund von Leiden und Schmerzen, eine Vergangenheit und eine Gegenwart, gehüllt vielleicht in düstere Schatten der Melancholie, beweint von einem weißen Engel, der klagend sein Haupt stützt, zur Erde blickt und die umgekehrte Fackel auf dem Boden langsam verlöschen sieht, denk' ich mir diesen Schmerz und diesen Trost, diese Klage und diese Linderung, so begreif' ich, warum die Alten die Musen so oft die Töchter der Nacht genannt haben. Die Gräfin d'A. ist jene Arabella, die in der der Verherrlichung G. Sand's gewidmeten Voyage à Chamouny mitten aus den Wirren eines geistreich wilden Künstlerkreises stets wie ein Marmorbild aus dunkelgrüner Myrten- und Pinienwaldung leuchtet, schweigend, hingegeben, anmuthig und doch voll Hoheit, ein Bild des verklärten Schmerzes, ein Bild jener Liebe, die die Zahl der Opfer, deren sie fähig ist, nicht nach den Stunden ihres Glückes wägt.
Und hier muß ich gestehen, daß ich nun doch bei Georg Sand gewesen bin. Sie hatte mir geschrieben: »Sie finden mich jeden Abend zu Hause. Sollten Sie mich aber in Verhandlung mit einem Advokaten treffen oder gezwungen, schnell auszugehen, so müssen Sie mir dies nicht als Unhöflichkeit auslegen. Ich bin jeden Moment den Folgen eines Prozesses ausgesetzt, den ich in diesem Augenblick mit meinem Verleger führe. Sehen Sie darin einen Zug unserer französischen Sitten, über den mein Patriotismus erröthen muß. Ich klage gegen meinen Verleger, der mich körperlich zwingen will, ihm einen Roman zu schreiben nach seinem Gefallen, d. h, nach seinen Grundsätzen. Unser Leben vergeht in den trübsten Nothwendigkeiten und erhält sich nur durch Kümmernisse und Opfer. Übrigens werden Sie die Züge einer Frau von vierzig Jahren finden, die ihr ganzes Leben darauf verwandt hat, nicht durch Anmuth zu gefallen, sondern durch ihre Offenheit zu misfallen. Misfall' ich Ihren Augen, so werde ich doch in Ihrem Herzen die Stelle behalten, die Sie mir eingeräumt haben. Ich verdanke sie der Wahrheitsliebe, einer Leidenschaft, die Sie auch aus meinen literarischen Versuchen herausempfunden haben.«
Ich ging nun eines Abends zu ihr. In einem kleinen Zimmer (wir würden es eine Kammer nennen, der Franzose nennt es: »la petite chapelle«), in einem Raum von kaum zehn Quadratfuß saß sie beim Kamin und stickte an einer Handarbeit. Ihr gegenüber ihre Tochter. Der kleine Raum, spärlich erhellt durch eine Lampe mit düsterm Schirm. Nicht mehr Licht als nöthig war, um die Zeuge zu erhellen, an denen Mutter und Tochter arbeiteten. Auf einem Eckdivan saßen im tiefsten Schatten zwei Männer, die nach französischer Sitte nicht vorgestellt wurden. Sie verhielten sich schweigend, was die feierliche, ängstliche Spannung des Augenblicks noch vermehrte. Ein leises Athmen, eine drückende Schwüle, eine große Beängstigung des Herzens. Die Flamme in der matten Leuchte zitterte, still bewegt; im Kamin verglühten die Kohlen zu weiß schimmernder Asche, nur das geisterhafte Klopfen einer Uhr schien das einzige Leben zu verrathen. Es klopfte in meiner Brusttasche. Es war meine Uhr, nicht mein Herz.
Ich saß auf einem Sessel.
»Verzeihen Sie mein mangelhaftes Französisch. Ich las zu oft Ihre Werke und zu selten die Comödien Scribe's. Bei Ihnen lernt man die stumme Sprache der Poesie, bei Scribe die Sprache der Conversation.«
»Wie gefällt Ihnen Paris?«
»Ich finde es, wie ich's erwartet habe. Neu ist allerdings ein Prozeß wie der Ihre. Wie steht es damit?«
Ein bitteres Lächeln statt der Antwort.
»Was heißt in Frankreich körperlich zwingen?«
»Gefängniß.«
»Man wird eine Frau nicht in ein Gefängniß setzen, um einen Roman zu schreiben. Was nennt Ihr Verleger seine Grundsätze?«
»Die, die von den meinen abweichen. Ich bin ihm zu demokratisch geworden.«
Und die Handwerker kaufen keine Romane! dacht' ich. »Hat die revue independante guten Fortgang?«
»Für ein junges Blatt sehr bedeutenden. Eben Buloz, von der revue des deux mondes will mich zwingen, ihm einen Roman zu schreiben.«
Hier hätt' ich viel gegen die neue Tendenz der Romane Georg Sand's einwenden mögen, doch würd' es nicht discret gewesen sein.
»Sie sind Dramatiker?«
»Ich habe für die moderne Literatur den Übergang oder soll ich sagen, die Retraite auf die Bühne gesucht. Es ist ein gutes Mittel, das Maß zu prüfen, bis zu welchem die Literatur gehen darf. Der Roman geht weiter, als die Masse folgen kann. Um den Roman wieder einzuholen, bedarf es des Dramas. Der Masse unmittelbar gegenüber, lernt man Das schätzen, was man geben muß, um der Masse begreiflich zu bleiben.«
»Haben Sie gute Schauspieler in Deutschland?«
»Eben so große Talente wie in Frankreich, nur nicht so ausgebildete Spezialitäten. Unsere Oper, wenn sie hier, ehe sie nach London geht, singen sollte, könnte den Italienern zu schaffen machen.«
»Die Malibran und die Pasta sind gewesen. Waren Sie im Theater français?«
»Um es nie wieder zu besuchen, wenigstens nicht für die Tragödie.«
»Unsere Tragödie ist wirklich sehr veraltet,« sagte Georg Sand. »Es sind übertriebene Leidenschaften, verzerrte Gefühle. Der Anflug von chevaleresker Höflichkeit und Courtoisie erscheint uns jetzt so lächerlich, wie er früher bewundert wurde. Das französische Theater ist gänzlich in Verfall. Nur die mittelmäßigsten Geister sind es, die sich noch mit ihm beschäftigen. Unter den zahllosen Stücken nicht eine Erscheinung, die dauern wird. Scribe ist gewiß ein großes Talent. Seine Combinationen sind vortrefflich, aber sie sind nur auf eine momentane Wirkung basirt. Tiefere Bedeutung geht ihm ab. Von allen diesen Dramatikern versucht Niemand, seinen Werken einen tieferen Sinn unterzulegen.«
»Souvestre vielleicht, doch ist er trocken und dürr.«
»Souvestre. Sie haben Recht.«
Gegen meinen Wunsch geriethen wir tiefer in die Interessen der dramatischen Literatur hinein, als mir für die Verfasserin der unglücklichen, durchaus verfehlten Cosima lieb sein konnte. Georg Sand hat in diesem Drama unser gewöhnliches Theaterpublikum für eine tiefere Gefühlsdialektik begeistern wollen, war aber in der abstrakten Absicht stehen geblieben, ohne vorzudringen zur Gestaltung, zu jener freien, rein anekdotischen Beherrschung des Stoffes, die im Drama jede Tendenz, sie mag sein, welche sie wolle, zusammenzuzwängen hat. Ihre Cosima fiel gänzlich auseinander, da ihr diese Klammern und Angeln fehlten. Ich hätte gern dieses misliche Thema aufgegeben, aber wir geriethen immer wieder hinein. Von Schiller und Shakespeare wurde gesprochen, vom Dekorationswechsel, von der altenglischen Bühne, von Balzac. Sie capricirte sich, Balzac zu loben.
»Er wird in Deutschland viel übersetzt? Er verdient es. Balzac ist ein Mann von Geist, er hat außerordentlich viel erlebt und viel beobachtet.«
Ich hatte im Sinne: ob auch gut? Ob auch in seiner Beatrix, wo er Sie persiflirt? Natürlich verschwieg ich diese Einwendung.
Die ängstliche Spannung des Gespräches hatte nachgelassen. Georg Sand ließ die Handarbeit liegen, schürte das Kaminfeuer und zündete eine jener unschuldigen Cigaretten an, die mehr Papier, als Tabak, mehr Koketterie, als Emanzipation enthalten. »Sie sind jünger, als ich dachte,« sagte sie und erlaubte mir jetzt zum ersten Mal, am Schein der Lampe einige Streiflichter zu verfolgen, die mir einen volleren Anblick ihrer Züge gestatteten. Das bekannte Bild ist ähnlich, doch ist das Urbild bei weitem nicht so stark, nicht so rundlich, wie dort. Aurora Dudevant ist eine kleine, behende Figur, mehr schmächtig und gazellenartig, als man nach jenem, einer Büste nachgebildeten Stahlstiche vermuthen sollte. Sie ähnelt Bettinen.
»Wer übersetzt mich in Deutschland?«
»Fanny Tarnow, die ihre Übersetzungen aber Bearbeitungen nennt.«
»Wahrscheinlich läßt sie die sogenannten unmoralischen Stellen aus.«
Sie sprach dies mit großer Ironie. Ich antwortete nicht, sondern blickte zu ihrer Tochter hinüber, die die Augen niederschlug. Die Pause, die hier folgte, war nur eine Sekunde, aber sie drückte das Gefühl einer Epoche aus.
Georg Sand weiß nichts von Deutschland. Darum kann sie es doch besser verstehen, als Die, welche hier Profession davon machen, Deutschland zu verstehen. Die französischen Gelehrten, die deutsche Zustände studierten, kennen uns meist nur einseitig. Besser man ignorirt uns, als daß man uns falsch beurtheilt und meistert. Wer, wie G. Sand, nichts von Deutschland weiß, kann darum doch eine tiefe Hochachtung vor dem deutschen Geiste hegen. Wer unsere Sprache nicht versteht, lernt uns durch unsere Musik kennen. Georg Sand würde Deutschland besuchen, wenn sie ihre Reisen nicht dem Zwecke widmete, allein zu sein. Sie hat von Bettina gehört und fragte mich nach Frau von Chézy. Von allen unsern Dichtern, Philosophen und Gelehrten war ihr nur ein Name geläufig: Frau von Chézy! Sie erstaunte, daß Frau von Chézy jetzt nur noch eine Stellung in der Memoirenliteratur hat. Sie hatte sie für eine große Dichterin gehalten. »Madame de Chézy est devenue contemporaine,« sagte ich, worüber sie lachte, weil sie mich verstand.
»Ich war kürzlich in der Deputirtenkammer,« fuhr ich fort. »Ich sah diesen Kampf jämmerlicher Leidenschaften. Morgen werden über eine Scene, die mehr in die Schulstube als in das Asyl der Volksfreiheiten gehört, hundert große Journale berichten. Alle Spalten werden darüber mit Räsonnements bedeckt sein. Wie kann eine geistreiche Nation sich einbilden, daß man sie noch länger für geistreich hält, wenn sie täglich sich dieselbe nüchterne Speise vorkauen läßt, diese ewigen Fragen: Guizot oder Thiers, Thiers oder Guizot? Sind dies Debatten, würdig unserer Zeit? Wahrlich, die täglich hier verschwendeten Hunderte von Foliospalten in den Zeitungen würden besser angewendet werden, wenn Frankreich sich um die geistigen und moralischen Leistungen anderer Völker kümmerte und sich in ihnen über ein benachbartes Volk belehren ließe, von dem es mehr lernen kann, als aus dem trostlosen Parteigetriebe, welches in Frankreich die Tagesordnung ist.«
Hier blitzten zum ersten Mal Georg Sand's Augen auf. Jetzt erst wurd' ich von ihrem vollen Glanz getroffen. Es war die Region, wo ihre neuste Richtung sich entwickelt hatte. Sie sagte: »Das ist es, das ist es!« Ich war auf dem Punkte des tieferen Bezuges zwischen uns, auf dem elektrischen Punkte der Übereinstimmung. Warum benutzt' ich nicht die wärmere Stimmung dieses Augenblicks? Warum lahmte mir ein unheimliches, drückendes Gefühl die freiere Entwickelung?
Als ich von G. Sand geschieden war und hinunterstieg in das Dunkel der Nacht, war mir's wie ein Traum. Das kleine Zimmer, die matte Beleuchtung, die schweigende Tochter, die beiden männlichen Schatten an den Wänden, diese Stille, diese Pausen, diese aphoristische Unterhaltung! Es schien, als wenn der Zufall das Zufälligste, die Absicht das Absichtlichste, die Zurückhaltung das Zurückhaltendste geben wollte, und doch war das Ganze ein Gedicht geworden. Ich hatte mehr, als die wunderliche Frau geben wollte. Sie wollte nichts geben. Sie wollte eine Pflicht der Höflichkeit erfüllen und mir unmöglich machen, diese Höflichkeit zu misbrauchen. Sie gab sich kalt, mistrauisch, sogar gereizt. Sie zeigte Angst, verrathen zu werden. Sie fürchtete, mich zu enttäuschen, und wollte mich absichtlich enttäuschen. Sie gab Das mit erkünstelter Freiwilligkeit auf, was ich vielleicht selbst hätte verlieren können. Sie schnitt mir die Möglichkeit einer Prüfung ab, indem sie dem Fremden absichtlich die Elemente dieser Prüfung entzog. Dieser spitze, etwas frostige Ton ihrer Stimme war nicht der natürliche ihres Herzens. Dies stille, unheimliche Auflachen, das jedem Andern hatte gemüthlos erscheinen können, diese kurzen Fragen, diese noch kürzern Antworten, dieses Abwenden des Antlitzes – es erfüllte mich mit tiefem Mitleid für ein Herz, das durch bittere Erfahrungen in diesem Wesen, in dieser Art, sich zu geben, einen Wall finden mußte gegen bösen Willen, Verleumdung und Entstellung. Wie gern hätt' ich der genialen Frau gesagt: »Fürchten Sie sich doch nicht! Man kann sich fürchten vor Denen, die uns hassen, zuweilen sogar vor Denen, die uns lieben. Nie aber soll man sich fürchten vor Denen, die uns verehren.«
Die Erwartung unter meinen Freunden, wie ich G. Sand gefunden hätte, war groß. »Sind Sie nun auch enttäuscht, wie alle Andern, die sie sahen, enttäuscht sind?« fragte man mich lachend von allen Seiten.
»Ich bin nicht enttäuscht,« antwortete ich. »Ich habe sie allerdings anders gefunden, als ich dachte. Aber auch so hat sie mich um einen Blick in die Menschenseele reicher gemacht.«