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Paris den 10. April 1842.
Der Frühling ist da. Die Mandelbäume blühen, die Alleen des Tuilerien-Gartens und der elysäischen Felder schließen sich zu grünen Fernsichten, Paris bekommt eine andere Gestalt. Die marmornen Statüen, die schlanken weichen Formen der Götterbilder fangen an, unter dem blauen Himmel sich wieder heimisch zu fühlen. Die Schwäne plätschern in den Bassins, die Springbrunnen kühlen schon den lechzenden Staub auf dem Place de la Concorde. Ich begrüße Paris wie zum zweiten Mal. Es wird mir heimischer, neu und neuer, es legt sich fast wie italiänischer Duft auf das reizende Gemälde.
Freude den Menschen, Freude den Thieren, auch den wilden im jardin des plantes! In der Mittagsstunde, wenn die Strahlen der Sonne schon am belebendsten wirken, öffnen sich die eisernen Käfige der gefangene Wüstenkönige, und die Tieger, die Löwen, die Leoparden blicken befremdet die verjüngten, wieder grün gewordenen Baumgänge an. Die Giraffe sieht steif und stolz, wie ihr Landsmann, der Obelisk von Luxor, auf Frankreich herab, dasselbe Frankreich, das den Beherrscher ihrer Heimat, Mehemet Ali, fallen ließ. Die Giraffe und der Obelisk sind Geschenke Mehemet Ali's. In den Gehägen der Vögel schwirren die indischen Pfauen mit ihren bunten Federn, in dem Affenhause schneiden die Makis ihre Capriolen, in der Bärengrube wälzen sich die grausamen Waldestölpel und denken: Was muß in Paris das Brod so theuer sein, denn nirgend bekommen wir so sparsame Brocken zugeworfen, als hier in dem hungrigen Frankreich! Die Bären auf der Pfaueninsel bei Berlin tauschen nicht mit diesen ihren Brüdern im jardin des plantes. Rechts und links schattige Gänge, Alleen, die sich auf grüne Hügel hinausschlängeln, oben die erhabene patriarchalische Riesenzeder vom Libanon, mit ihren langen dunkeln Ästen, mit ihren wagerechten Zweigen, die sich strecken, wie segnende Priesterhände. Oben eine reizende Aussicht, geschaffen für den ruhigen, befriedigten Blick, den man auf die Natur wirft, wenn man um Freundschaft, um Liebe seinen Arm geschlungen hält. Der Pflanzengarten hat in seinen Schattengängen Etwas, das nicht an die Botanik, sondern an die Liebe erinnert.
Hier sieht man auch Kinder, Kinder, die in Paris ein seltener Anblick sind. Die Gewohnheit der Franzosen, ihre Kinder aufs Land zu geben, ist wirklich nicht erfunden, wie so Manches erfunden ist, was man uns über die pariser Sitten erzählt hat. Man erblickt, die Gamins ausgenommen, wenig Nachwuchs in den Straßen. Paris gehört den erwachsenen Leuten, nicht wie manche deutsche Städte, durch welche man mit den Postwagen fliegt, ganz den Kindern. Ohne Widerrede gewinnt Paris dadurch an Bequemlichkeit.
Man hat übrigens auch in Paris Gelegenheit, Kinder ohne alles Aufsehen erziehen zu lassen. Ich bemerkte an vielen Häusern Gemälde, die uns Scenen der zartesten Aufmerksamkeit auf die unmündige Jugend schildern. Ein schöner bärtiger Mann reicht einem Engelskopfe von Säugling ein Gefäß mit Milch und sieht in dem Bilde mit liebender Sorgfalt auf das kleine Raphaelische Wesen herab. Wie aber die Wirklichkeit oft zurückbleibt! Indem ich das Bild betrachte, wend' ich mich und erblicke einen schmuzigen Arbeiter, der ein kläglich zusammengekauertes kleines Wurm mit halberfrorner Nase in die noch kühle Nachtluft trägt. Der Widerspruch dieser gemalten und der wirklichen Kinderpflege war lächerlich und rührend zugleich.
Ja, die Abende sind noch kühl, die Nächte gehören noch dem Winter, wie die Vergnügungen. Die Chaumière wird erst geöffnet, wenn man wagen kann, von einem erhitzenden Tanze hinaus in die verschwiegene Nacht zu schlüpfen. Noch tanzen die Studenten und Grisetten im Prado, die Schneider und die Dienstmädchen auf dem Balle Montesquieu, die Elegants und die Loretten auf dem bal paré im Saale St. Georges. Man tanzt in schmuzigen Lokalen, in wüstem Durcheinander deutsche Walzer, die man nicht versteht, und oft so verkehrt wirbelt, daß die Tänzer nicht vorwärts, sondern rückwärts gehen und statt regelmäßiger Kreise die wunderlichsten trigonometrischen Figuren beschreiben. Man tanzt die gewöhnliche französische Contredanse, die aber, trotz des Anschlags, trotz des Verbots, trotz der wachthabenden Municipalgarde regelmäßig in den Cancan ausartet.
Ja, ich habe den Cancan gesehen. Ich muß zuerst von ihm sagen, daß der Cancan eine freie Variation auf das alte bekannte Thema der Franzaise ist. Cotillon und Ronde sind aus Mangel an Raum abgeschafft. Es ist erstaunlich zu sehen, auf welch kleinem Terrain die Cancankünstler ihre Talente zeigen. Es ist ein Raum, nur halb so groß, wie ein zweischläfriges Bett. Und zwischen durch muß noch Platz sein für die durchschlüpfende Neugier der Flaneurs und die blinde Controle des Municipalgardisten, blind, weil er nichts sehen will und nur zuweilen einem der allzuorgiastisch werdenden Thyrsusschwinger zuruft: »Mein Herr, bleiben Sie moralisch!«
Um über den Cancan die Wahrheit zu sagen, so ist dieser Tanz weniger freie Erfindung, als traurige Nothwendigkeit. Ich glaube nämlich, daß Derjenige, der ihn zuerst getanzt hat, an einer Krankheit des Rückenmarks litt. Ich glaube, daß der Cancan aus Übersättigung und Unvermögen entstanden ist. Es ist schwer, über den Cancan schreiben und in den Grenzen der Moral bleiben. Man wird mir aber das freie Wort um so eher gestatten, als ich von vorn herein erkläre, daß der Cancan mir unschön, sogar häßlich, ja widerlich erschienen ist. Der Cancan ist Aufforderung zur Liebe, aber nicht, wie die Tarantella, durch wilde, feurige Leidenschaft, nicht, wie die Cachucha, durch neckischen Trotz und herausfordernde Schalkhaftigkeit, sondern er ist Aufforderung zu pariser Straßenliebe. Der Cancan ist nicht Bedürfniß der Liebe, sondern Selbstaufstachelung dazu, ekelhafte Übersättigung, der possenhafte Witz des Unvermögens. Es ist ein Tanz nicht vor der Liebe, sondern nach ihr. Auch nicht eine Figur des Cancans ist die Folge der herausfordernden Kraft; jede ist die Folge der entnervten Abspannung. Der beste Cancantänzer ist satt, satt bis zum Ekel. Er ironisirt die Liebe, er persiflirt sie. Dies Zappeln der Arme, dies Zucken des Oberkörpers, dieses Schlenkern der Glieder, diese Nachahmung aller jener Bewegungen, die die Folge der Rückenmarksdarre sind, hat als Carrikatur allerdings etwas sehr Lächerliches, als Volkstanz aber, als Ausdruck der Liebe ist dieser Tanz gemein und unpoetisch. Je blasirter Einer ist, desto schöner wird er Cancan tanzen. Sein Tanz verwandelt sich dann in völlig freie Phantasie, er kann durch seine telegraphischen Zuckungen Alles ausdrücken, er kann lange Geschichten erzählen von ohnmächtigen Nächten, verzweifelten Wünschen, erstorbenen Hoffnungen, er kann mit seinem Gliederreißen den ganzen Rheumatismus seiner Zukunft malen, er kann mit seinen Convulsionen eine Darstellung aller jener Versuche geben, die man in Paris schon angestellt hat, um die Preisaufgabe jenes Kalifen zu lösen, der an alle Weise des Morgen- und Abendlandes die Frage ergehen ließ, ob sich nicht noch eine neue Methode der Liebe erfinden ließe? Der Cancan ist häßlich. Er ist der Tanz der Jugend mit weißem Haar.
In meinen Theaterstudien bin ich etwas leichtsinnig. Noch war ich nicht in der großen Oper und schon schwärme ich Abends nach dem Chateau d'eau hinauf, mache Queue mit Handwerkern, Grisetten, Kutschern und Gamins, um Hundetheater, Affenkomödien und Seiltänzereien zu sehen. Mit dem vornehmsten dieser Theater vom Boulevard du Temple fang' ich an, mit der Gaité.
In Paris kehrt sich Alles um. In der Porte St. Martin, wo früher die großen Leidenschaften wütheten, lacht man jetzt, in der Gaité weint man. Die großen Effektdramen sind beinahe abgekommen. Man will keine Söhne von Henkern mehr, keine Schaffotte mehr, keine Fallthüren mehr, man will nur noch weinen. Weinen um Hunde, weinen um Menschen. Man will Familienunglück, man will liebende Schwestern, zärtliche Brüder, treue Gatten, würdige Mütter. Man will Unglück, recht viel Unglück, viel Schicksal, viel Schmerz, viel Thränen. Dazu die Musik, um sich zu sammeln, dazu eine komische Rolle, um bei all dem Jammer auch ein wenig zu lachen. Das ist der Geschmack, der jetzt in Paris Alles für sich hat, wenn nicht die Kritik, wenn nicht die »starken Weiber«, wenn nicht »die Lions« der Boulevards, so doch die Masse, die Queue, das Geld oder, wie die Blätter hier sagen: la foule.
Daß die Franzosen jetzt so viel weinen, kann schlimm für die Zukunft Europas werden. Wenn die Franzosen Thränen vergossen haben, pflegten sie sie immer mit einer Revolution zu trocknen. In das Theater Gaité wird sich der Schwamm setzen, weil es immer feucht darin von den Thränen ist. Hier werden unrevolutionäre, sehr larmoyante Stücke auf eine pikante Weise dargestellt. Von hier gieng das an alle deutschen Theater gekommene musikalische Drama: Muttersegen oder die neue Fauchon aus, in Paris la Grace de Dieu genannt.
Ich war begierig, die beiden Schauspielerinnen kennen zu lernen, für welche die Rollen der Marie und der Conchon ursprünglich geschrieben sind. Die erste überraschte, die zweite befremdete mich. Ich habe nie bei einer Französin so viel deutsche Sentimentalität gesehen, als bei Dem. Clarisse. Dies junge Mädchen hat blondes Haar, seelenvolle blaue Augen, einen Teint von durchsichtiger Zartheit, schwellende, kirschrothe, volle Lippen und ein Timbre von edler Passivität, von schmachtender Zerflossenheit, der allerdings für sie zu dichten begeistern kann. Herr Lemoine erfindet Rollen für ihr Spiel, Dem. Püget, Lemoine's »Freundin«, Arien für ihre liebliche Stimme. Man wird nicht sagen, daß man hier etwas ganz Vollendetes sieht, im Gegentheil, das dunkle Theater, der schlechte Eingang, die matte Beleuchtung, die meist aus dem Volke bestehenden Zuhörer, die Blouse schon in den Logen des zweiten Ranges, das Alles drückt die Leistungen dieser Bühne selbst herunter und benimmt dem Ganzen etwas von seinem Großstädtischen, Pariserischen. Dennoch bleibt Dem. Clarisse eine Erscheinung, die ich öfters betrachten müßte, wenn man nicht leider hier gezwungen wäre, eine Schauspielerin sechs Wochen hindurch in nichts, als einer und derselben Rolle auftreten zu sehen.
Noch neugieriger war ich auf das Urbild Chonchon's. Unstreitig ist Dem. Leontine in ihrer Art ein Talent, aber eines jener Talente, die man so hinnehmen muß, wie sie sind. Sie ist die Dejazet, ausgeartet in die dame de la halle. Sie ist eine Copie der Dejazet auf grauem Löschpapier. Sie ist unschön, ja sogar häßlich, mit gemeinen Gesichtszügen, einem sinnlich lüsternen Kinn, einer Oberlippe, auf der ein Anflug von Schnurrbart weggeschminkt ist. Die Hauptleidenschaft dieser echten, ersten Originalausgabe der Chonchon ist das Essen, die zweite das Schwatzen, erst die dritte die Liebe. Dem. Leontine ist die echte Husarenbraut, die Poissarde, wenn sie jung ist und sich verliebt hat. Sie kann hübsch lächeln. Man vergißt sogar ihre Gemeinheit, wenn sie lächelt. In der Mischung ihrer Gemeinheit mit ihrem Lächeln liegt beinahe Grazie. Sie ist durch ihr Lächeln die bewunderte Leidenschaft aller Köche, aller Hausknechte, aller Kutscher geworden, die in ihren Freiabenden das Theater der Gaité besuchen. Wenn Dem. Clarisse diese guten Leute zu Thränen gerührt hat, macht Dem. Leontine sie wieder lachen. Hier wird auch nicht getadelt, hier werden keine deutschen Abonnentenurtheile ausgeboten, hier gibt sich Jeder, der seinen Eintritt bezahlt hat, dem absoluten Vorsatz hin, sich amüsiren zu wollen, und so amüsirt man sich. Wie ist das anders gegen das deutsche Theater!
Ich sah in der Gaité ein Zugstück: la Dot de Suzette. Es leidet dies Stück an zwei Fehlern. Einmal taugt es nichts und zweitens sieht man zu sehr die Absicht, den Erfolg der Grace de Dieu nachzumachen. Das musikalische Element ist in der Dot de Suzette kein wesentliches, kein zu den handelnden Personen absolut gehörendes und müßte in Deutschland schon wegfallen. Dann bliebe nur noch eine weinerliche Komödie übrig, die durch die schlechten Späße Cadiche's, (eine Art Chonchon) nicht besser wird. Auch ist Francisque ainé für das Stück eine Spezialität, die man so leicht in Deutschland nicht finden möchte. Das heißt, Francisque ainé ist ein durchaus mittelmäßiger Schauspieler, der aber, wie dies in Paris öfter der Fall ist, einige Rollen besitzt, die ihm Niemand nachspielt, aus dem einfachen Grunde, weil sie für ihn geschrieben sind, Francisque ainé spielt in der Dot de Suzette einen rohen Viehhändler, der durch Zufall ein schönes Mädchen zur Frau bekommt, sich genirt, sie wirklich zu heirathen, in der Stille an seiner Ausbildung arbeitet, um wenigstens mit der Zeit die Liebe eines Wesens zu gewinnen, das er vor der Welt seine Frau nennen darf. Süzette liebt aber einen jungen Adligen, dem sie ihr scheinbarer Mann zuletzt großmüthig überläßt. Die Scene, wo Francisque ainé mit seinem rohen, fast gemeinen Organ eingesteht, daß er lesen, schreiben, rechnen gelernt hätte, um Süzette's Liebe zu gewinnen, gehört zu jenen Lichtpunkten der hiesigen, theatralischen Eindrücke, die Jedem, der sie empfängt, unvergeßlich bleiben werden. Nehm' ich unsre besten deutschen Schauspieler, so ist der eine für diese Rolle zu lang, der andre zu kurz. Wenn ich sage, diesen plumpen Viehhändler mit Gemüth, diesen Viehhändler mit dem Schmerz, ungebildet zu sein, spielt Niemand bei uns dem Francisque ainé nach, so wird dies freilich nicht hindern, daß ihn nächstens einige fünfzig deutsche Künstler spielen und von der Kritik werden für unübertrefflich ausgegeben werden.
Das Kapitel Theaterkritik brachte mich darauf, Jüles Janin's Bekanntschaft zu machen. – Jüles Janin's Feuilleton in den Débats besitzt nicht mehr jene liebenswürdige Natürlichkeit, jenen harmlosen Freimuth, jene gutmüthige Schalkhaftigkeit, die die ersten Leistungen dieses im Auslande mehr, als in Frankreich geschätzten Schriftstellers auszeichnete. J. Janin ist nicht mehr jener muthwillige, frohe Plauderer, der er im Beginn seiner, finanziell sehr glänzenden Laufbahn war. Er würde nicht mehr so drollig und naiv schreiben können, wie er einst über seine alte Mutter, seine ersten Schulferien, seine ersten Federversuche, wie er einst über Debureau und die pariser Hunde geschrieben hat. Die fabrikmäßige Produktion hat ihn erschöpft, die Anfeindung erbittert. Er scherzt nicht mehr mit solchem Frohsinn wie früher, seine Urtheile, die ehemals nur aus seinem Naturell flossen, fließen schon zum großen Theil aus der Galle. Er hat in Paris wenig Freunde. Die, die er tadelte, hassen ihn, Die, die ihn nicht hassen, beneiden ihn. Er hat den Fehler begangen, von den bedeutenden Talenten, die Frankreich gegenwärtig besitzt, mit Gleichgültigkeit zu reden. Er hat die schlechte Maxime angenommen, sich dadurch in seiner Stellung behaupten zu wollen, daß er in kühner Vermessenheit Alles sich unterordnet. Er lobt nur die Jahrhunderte, die vorüber, er bewundert nur die Schriftsteller, die vergessen sind. Er hat nacheinander Victor Hugo, Alexander Dümas, Alfred de Vigny, George Sand, Scribe, Balzac angegriffen, es ist ihm kein Name zu hoch, kein Ruf zu begründet, dem er nicht in seinem mächtigen Organ, in dem bedeutendsten politischen Blatte Frankreichs, dem Journal des Débats, die Spitze böte. Um bedeutend zu bleiben, isolirt er sich. Er zieht die Feinde, die ihm Relief geben, den Freunden vor, in deren Schatten er sich verlieren würde. Dazu kommt, daß er, wenn ihm sein Talent ausgeht, bei dem Glaubensbekenntnisse der Débats Anleihen macht. Ich will dies nicht so deuten, als wollt' ich sagen, daß er, wie alle Welt behauptet, von der Regierung bezahlt wird, aber er opfert seine Überzeugung dem System der Débats. Er schließt sich an Richtungen an, die seinem natürlichen Sinne fremd sind. Er tadelt ästhetische Prinzipien, für deren Beweiskraft man seine eignen meist verfehlten, wenigstens Fragment gebliebenen Schriften selbst anführen könnte. Janin schreibt sein Feuilleton für die höhere Stände, für den Adel, für die Banquiers, denen er die Schmerzen und Wehen der Dichter opfert. Er macht sich zum Vertheidiger der Tugend, der guten Sitten, des klassischen Geschmacks, ohne für seine Tugend etwas Andres, als eine junge Frau, für seine guten Sitten etwas andres aufweisen zu können, als seine Renten, für einen klassischen Geschmack etwas Andres als einige Prospekte zu Panckouckes Übersetzungen der alten Römer. Was ihn bei den Débats erhält, ist theilweise sein Talent, noch mehr aber seine Schmeichelei gegen jene Grundsätze, die durch die Familie Bertin und ihr einflußreiches Organ vertreten werden.
Janin sagte mir: »Ich bin nichts als Journalist. Ich kann nichts, ich will nichts Anderes sein.« Man muß gerecht sein und nach diesem freien Bekenntnisse einen großen Theil jener Vorwürfe von seiner Person auf seinen Beruf wälzen. Es ist kaum möglich, nur Journalist sein wollen und immer gerecht bleiben. Der wahre Beurtheiler ist wol nur der, der selbst schaffen kann. Es ist nicht nöthig, daß der Kritiker, um Meister im Urtheilen zu sein, auch grade Meister im Schaffen gewesen sein müsse. Nur muß er in jenen Leistungen, die er zu beurtheilen wagt, sich irgendwie selbst versucht haben. Hätte sich J. Janin je selbst in einem Drama versucht, hätte er je nach seiner eignen Kraft die großen Schwierigkeiten dieser Kunstform geprüft, er würde keinen so vermessenen und unsinnigen Ausspruch gegen mich gewagt haben, wie der: »Seit fünfzehn Jahren, daß ich kritisire, ist auf der französischen Bühne nichts dagewesen, was bleiben wird.«
J. Janin unterscheidet sich allerdings von vielen Seinesgleichen durch eine große Gabe der Darstellung und selbst der Auffassung. Er ist kein Kritiker nach Grundsätzen, er ist nicht einmal ein Kritiker, der wenn auch vom Standpunkte des Geschmacks und der Natur, vom Standpunkte der bloßen Unmittelbarkeit ein Kunstwerk in seine Theile zerlegen könnte; er kommt über das Urtheil: Dies spricht mich an oder läßt mich kalt! nicht hinaus. Aber er bewegt sich in diesem seinem engen Gebiete mit vieler Grazie, er trifft durch seinen immer noch frischen Instinkt die Wahrheit oft so nahe ans Schwarze, daß es dem besten Schützen Ehre machen würde. Daß Janin zuerst nach der Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit und Natur der Dramen frägt, hat gewiß seine großen Vorzüge. Nicht immer ist sein Freimuth einseitig. Auf dem Gebiet der Moral ist er nicht immer Heuchler. Seine angeborne Naivetät, sein Provinzialgenie im Gegensatz zum pariser Faiseur, machen sich noch oft genug geltend, um eine persönliche Begrüßung des talentvollen Schriftstellers als angenehme Erinnerung von Paris mit hinwegzunehmen.
Janin wohnt seit mehren Jahren dicht am Palais Luxemburg, im vierten Stock. Er hat die keineswegs glänzende aber bequem eingerichtete Wohnung auch in seinem so viel besprochenen Ehestand nicht verlassen wollen. Le critique marié, wie man ihn hier nennt, wohnt in der in der rue Vaugirard, himmelhoch, aber mit einer reizenden Aussicht auf den Garten, die Bassins, die Statüen, die Schwäne, die Bonnen, die spielenden Kinder des Luxemburg. »Ich habe meiner Frau ein Schloß gekauft,« sagte er, von einer Treppe herabsteigend , die aus seinem Wohnzimmer in sein Arbeitszimmer führt. »Ich bin verheirathet, seit sechs Monaten verheirathet, glücklich, überglücklich; Pst Adele, Adele!«
Adele, eine schöne junge Pariserin, kam die Treppe herunter und setzte sich zu uns, um zu frühstücken. Wenn Adele nicht Janin's Frau gewesen wäre, sie hätte seine Geliebte vorstellen können. Sie fand sich vollkommen in die bekannte, nonchalante Weise ihres Mannes, in seinen Schlafrock, seine Pantoffeln, in seine Capriolen, seine Liebkosungen. Janin ist hübscher als seine Carrikatur bei Aubert. Wohlgenährt, behend, hat er nur wenige Augenblicke auf demselben Fleck Ruhe. Bald seinen à la jeune France gezogenen Bart streichend, bald Adele liebkosend, bald ans Fenster laufend, hält er am Tische nur aus, um zu schreiben oder um zu essen. Er zeigte mir seine Zimmer, seine Einrichtung, seine Bücher, seine Brautbetten. »Ich wohne jetzt noch in meinem alten Nest, aber ich werde meinem Engel, wir sind sechs Monate verheirathet und sehr glücklich, ich werde meinem Engel ein kleines Schloß kaufen. Ich verdiene viel Geld mit lauter schlechten Sachen. Wollt' ich gute Sachen schreiben, hätt' ich kein Geld!«
Man kann Plaudereien nicht niederschreiben. Für Janin ist, wie für viele Schriftsteller, der Umgang mit Menschen eine Erholung vom Umgang mit Büchern. Die geistreichsten Leute führen gern dumme Gespräche und Janin sprach im Gegentheil viel Gescheutes, nur bunt durcheinander, hin und her, bald sich mit Adelen herumjagend, bald drohend, sie in die Dachrinne zu werfen, bald mit einem kleinen Baumstamm durch das Zimmer pilgernd. »Sehen Sie,« sagte er, »sehen Sie (ich liebe übrigens die Deutschen, weil sie mich lieben;) sehen Sie, diese Frau hab' ich mir erzogen, sie hat Nichts gelesen, als meine Schriften, sie ist groß geworden, während ich dick wurde. Ich beklage, daß ich diese sechs Monate nicht vor zehn Jahren genoß, als ich noch schlank war. Sie ist ein seelengutes Weib, ohne Prätensionen, zuweilen kokett, ein Weib zum Küssen. Es ist nicht meine erste Liebe, aber meine erste Ehe.«
Man brachte einen Brief. »Hübsch mit Manier überreicht!« sagte er zum Dienstmädchen. »Hier ist ein Teller, so! – auf dem Teller werden Briefe präsentirt.« Das Mädchen lachte und sagte, sie wollte sichs merken.
»Sie waren bei George Sand? Wir rauchen nicht, ich nicht und meine Frau auch nicht, folglich haben wir auch kein Genie; nicht wahr, Adéle?«
Adéle spielte die Ehestandsidylle vortrefflich mit. »Sie liebt nicht meinen Ruhm,« sagte der zärtliche Gatte, »sondern mein Herz. Ich bin ein schlechter Schriftsteller, aber ein guter Junge. Sprechen wir vom Theater.«
Wir sprachen davon. Wir sprachen von der Rachel, von seiner Opposition gegen eine Schauspielerin, die er früher gehoben hatte. »Es ist aus mit ihr,« sagte er. »Sie lernt nichts mehr, sie schwärmt die Nächte durch. Sie trinkt Grog, sie raucht Tabak, sie liebt im Großen. Sie hat jetzt einen Salon eröffnet, wo man in Hemdärmeln erscheint. Seitdem sie mündig ist, ist Alles vorbei. Sie ist ausschweifend geworden, das ist schrecklich, nicht wahr Adéle?«
»Man hat auch umgekehrt Fälle, daß mit der Wildheit das Genie kommt.«
»Und wenn sie sich auf den Kopf stellt, so wird nichts mehr aus ihr,« fiel Janin ein. »Zum Glück steht das Theater français auf festern Füßen, als auf den taumelnden der Mamsell Rachel. Kennen Sie Lewald? Hat er mich gut übersetzt?«
»Man übersetzt Sie weniger, als man Sie nachahmt.«
»Kann man in der deutschen Sprache meinen Styl nachahmen?«
»Warum nicht! Ich will Ihnen ein Beispiel geben.«
Ein Besuch rief Janin für einen Augenblick ab, der Besuch dauerte lange, es galt einer Besprechung, einem Contracte. Ich nahm meine Schreibtafel, trank meine Tasse Thee und schrieb in Janin's Manier folgende Kritik über eine Vorstellung im Circustheater, die jetzt großen Zulauf hat.
» Beitrag zur Cyno-Dramaturgie.
Seit einigen Tagen bemerkt man unter den Hunden von Paris eine ungewöhnliche Bewegung. Sie apportiren nicht mehr, sie bellen nicht mehr, sie springen nicht mehr in das Bassin des Palais-Royal, sie verschmähen die schönsten Knochen von Very und Vefour, sie sind ernster, ich vermuthe stolzer geworden. Die Hunde von Paris haben von einem Hunde der Pyrenäen gehört, sie haben von einem Mitgliede ihrer Raçe gehört, das mehr als à la Fido savant rechnen, mehr als schreiben und lesen kann, von einem Mitgliede, das edle Thaten vollbringt. Der Hund der Pyrenäen ist der Stolz der Hunde von Paris geworden. Der edle, treue, aufopfernde Hund der Pyrenäen, ein Hund, der in der nächsten Conkurrenz den Monthyon'schen Tugendpreis davontragen wird, ist die Ursache dieses Stolzes. Die Hunde fangen an, edler zu fühlen, menschlicher zu denken, redlicher zu handeln, als die Menschen von heute fühlen, die Menschen von heute denken, die Menschen von heute handeln.
O ein Hund ist erstanden, ein Hund, der aus dem Wörterbuche der Menschensprache alle hündischen Beleidigungen streichen wird. Seid nicht zu stolz, ihr Hunde von Paris! Es ist kein Hund aus Paris, es ist ein Hund aus den Pyrenäen! Emil, (der Hund des Cirque Olympique heißt Emil,) Emil ist kein gemeiner Kläffer wie ihr, kein Straßenbeller, kein nichtsnutziger Schoßhund, der die intimen Besuche seiner Herrin beneidet, Emil ist keine von euch gemeinen Halsbandseelen, denen man im Monat Juli aus dem Wege gehen muß, keiner jener faulen Flaneurs, die an einen Knochen ihre Ehre, die Ehre ihrer Herrschaft, die Ehre ihres Halsbandes, ihr Wappen, ihre Wohnung, ihre Nummer verrathen! Emil rettet ein Kind. Würdest Du ein Kind retten, Hektor, würdest Du es thun, Caramouche, Du Sultan, Du Azur, Du Belline . . . o geht, ihr Hunde von Paris, geht gemeine Seelen gegen den Hund der Pyrenäen!
Der neue menschenfreundliche Hund vom Boulevard du Temple, jener edle Hund, der täglich dicht neben dem Hause, wo Fieschi, ein Mensch, die Höllenmaschiene losdrückte, um Menschen zu morden, ein Menschenleben rettet, der Hund, der es wagen konnte, nach Napoleon, nach Mürat, Franconi's Bretter zu betreten, heißt Emil. O Rousseau, o edler J. Jaques! Die Erziehung der Menschen ist Dir mislungen, aber ein Hund hat sich nach Dir gebildet: Dein Musterzögling, Deine erhabenste Anwendung, Dein Ideal ist ein Hund geworden, Emil, Emil, der Hund der Pyrenäen, Emil der Menschenretter Franconi's. Emil hat ein Herz, Emil hat eine Seele, ein Herz voll Güte, eine Seele voll Empfindung, Emil haßt wie Rousseau, die Wissenschaften, er hat nichts gemein mit jenem dicken gemästeten Mopse Fido savant, er rechnet nicht, er schreibt nicht, er concurrirt nicht mit Victor Hugo, mit St. Beuve, mit Alexander Dümas, um in die Akademie zu kommen. Emil liebt nur die Tugend, er ist das Volk, das Volk in seiner Unschuld, das Volk in seinem Adel, er ist als Hund Das, was wir Menschen als Menschen sein sollten.
Aber welche Kränkung, welche Verleumdung! Es gibt Leute, die behaupten wollen, Emil wäre auf die Tugend abgerichtet, Emil hielte das Kind, das er rettet, für einen Bissen Fleisch, den er nicht anrühren zu dürfen so lange geprügelt worden ist, bis er den Lappen, das Fleisch, das Huhn, zuletzt das Kind nicht mehr anrührt. Noch größere Verleumdung, man behauptet, Emil wäre ein Schauspieler. Emil, der Hund, ein Schauspieler! Hat Emil je eine Rolle verweigert, hat Emil je eine Verschwörung gegen die Direktion gemacht, braucht Emil einen Souffleur, weigert sich Emil jeden Tag dieselbe anstrengende Rolle zu spielen? Emil ein Schauspieler! Eine Beleidigung, nicht für die Schauspieler, sondern eine Beleidigung für die Hunde! Wird dieser Hund je eine Vorstellung stören, läßt er sich je heiser ankündigen, geht dieser Hund über seinen Gagenetat hinaus, macht dieser Hund Schulden, besticht Emil die Kritik, trinkt dieser Künstler je mit dem Feuilleton Champagner? Bricht Emil je Contrakte und entschuldigt sich vor den Gerichten mit seiner Minorennität? Ist Emil je –«
Bis hieher hatt' ich meinen Scherz geschrieben, Janin kam zurück. Er hatte seiner Frau einen kostbaren Shawl gekauft, das Wetter war zu schön, sie wollte ihn gern auf der Promenade zeigen. Der häusliche Friede ist eine heilige Sache. Ich behielt meinen Artikel für mich, scherzte noch Mancherlei mit dem wunderlichen Janin und ging. Ich habe einen Theaterartikel geschrieben, wie ihn Janin nicht kindischer schreiben kann. Wo ist die deutsche Zeitung, die mir für Artikel dieser Art jährlich 20 000 Franken gibt?