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Fünfter Brief.

Paris, den 18. April 1842.

Der Zufall spielte mir vor einigen Tagen ein Packet Brochüren in die Hände, unter dem Titel: » Der Hülferuf der deutschen Jugend. Herausgegeben und redigirt von einigen deutschen Arbeitern«, und eine Fortsetzung dieser periodischen Schrift, unter dem Titel: » Die junge Generation«. Beides sind Monatschriften, die von dem Schneider Weithling, einem gebornen Magdeburger, jetzt in Vevey am Genfersee, früher in Genf selbst, herausgegeben werden. Ein deutscher Schuhmacher in Paris, Namens Bauer, verkaufte diese kleinen Brochüren an die zahlreichen deutschen Arbeiter in Paris; in London werden sie bei Karl Moll verlegt, wahrscheinlich auch einem Handwerker.

Man hat, glaub' ich, diese Schriftchen in Deutschland verboten. Das Nachtheilige solcher Verbote liegt besonders auch darin, daß man die Schriften, die dadurch außer Cours kommen, nicht widerlegen kann. Weithling und seine Mitarbeiter würden durch eine Discussion zu Schriftstellern werden, durch das Verbot sind sie Märtyrer und Propheten. Es ist weit leichter, behaupten, als sich vertheidigen. Weithling borgt die Ideen von den französischen communistischen Schriftstellern, belebt die Theorien der Communauté, der »Gemeinschaftlichkeit«, durch die allerdings oft trübe deutsche Handwerkererfahrung, und hat sich im Verlauf seiner schriftstellerischen Thätigkeit eine solche Gewandtheit im Darstellen erworben, daß ich nicht begreife, warum er sich nicht längst Journalist, sondern immer noch Schneider nennt.

Weithling beginnt das Programm seines Hülferufs unter andern mit den derben Worten: »Auch wir deutschen Arbeiter wollen eine Stimme erheben für unser und der Menschheit Wohl: damit man sich überzeuge, daß wir recht gut Kenntniß von unsern Interessen haben, und, ohne von lateinischen, griechischen und kunstgemäßen Ausdrücken aufgeschwollen zu sein, recht gut und zwar auf gut deutsch zu sagen wissen, wo uns der Schuh drückt und wo Bartel Most holt.« In einem Aufsatz: »Bitten, Betteln, Fechten«, erkennt man den ehemaligen reisenden Handwerksburschen. Weithling schildert hier in ergreifenden Farben das Elend des auf der Landstraße pilgernden, arbeitslosen, von Gensdarmen wie ein Spitzbube verfolgten Handwerksgesellen. Er schildert die empörende Impertinenz deutscher Paßbüreaus, wo ich oft oft mit einem schneidenden Messer im Herzen mit angesehen habe, wie diese armen Wanderer von den Beamten mishandelt werden, wie der bairische Polizeivoigt den würtembergischen Handwerker, der würtembergische Aktuar den hessischen, der hessische den hannoverschen andonnert, verflucht, zu allen Teufeln wünscht und ihm mit Gensdarmen und dem Loche droht. Das einfache »Halt's Maul!« ist gegen Handwerksburschen Höflichkeit: ein kurzes, vornehm abschneidendes: »Schon gut!« liebevolle Zuvorkommenheit. Da, wo Weithling das Elend und die Entwürdigung der arbeitenden Klassen schildert, ist seine Darstellung, wenn auch zuweilen noch so unlogisch und überleidenschaftlich, doch der Beachtung Werth. Wenn er sich aber in den Communismus verliert, wenn er den Franzosen ihre oft so hohle »soziale« Weisheit nachlallt, wenn er auf die Bibel den Katechismus der Menschenrechte pfropft und die Communion, die Einsetzung des Abendmahls, mit dem Communismus und der Einsetzung gemeinschaftlicher Mittagsmahlzeiten in Verbindung bringt, dann kann man ihm nicht mehr folgen. Die gelungenste Darstellung dieser Blätter ist unstreitig »Paris im Jahre 2000«. Ich zweifle fast, ob diese mitunter witzige und geistvolle und jedenfalls durchgängig recht brav stylisirte längere Abhandlung aus Weithling's Feder geflossen ist. Möglich. Pectus est, quod disertum facit, und ohne Zweifel schreibt dieser Mann aus seiner eignen Brust. Aber die Hypothese, Paris und die Welt in einigen Jahrhunderten so umwälzen zu wollen, daß man nicht mehr weiß, was Geld, was Soldaten, was Nationen sind, die vielen unwahren, wenn auch noch so grellen Lichter, die in diesem anticipirten Gemälde der Zukunft auf die Gesellschaft der Gegenwart fallen, die blendenden Gaukelbilder einer radikalen Umwälzung der Lage des Arbeiterstandes und einer methodisch durchgeführten Gütergemeinschaft sind so vermessen, daß man diese unter den in Paris und der Schweiz arbeitenden deutschen Handwerkern um sich greifenden Ideen nicht verbieten, sondern wiederlegen sollte.

Die Fourieristen sprechen von einer Anziehung der Leidenschaften, d. h. von einer Neutralisation aller gesellschaftlichen Instinkte zu einer Harmonie des gesellschaftlichen Behagens. Die Communisten nehmen nicht, wie die Fourieristen, die Gesellschaft, wie sie ist. Sie gehen von dem gleichen Anrecht des Menschen auf alle Güter der Erde aus und wollen Jedem die Möglichkeit verschaffen, die Erde so zu exploitiren, wie nur irgend ein Anderer. Daß die Natur, auf die sie sich ewig berufen, dieser Ansicht gar nicht gewesen ist, kümmert sie nicht. Die Natur schuf wüste und fruchtbare Gegenden und warf auf die wüsten oft mehr Bewohner, als auf die fruchtbaren. Sie schuf weiße, schwarze und gelbe Menschen und begabte sie mit den verschiedenartigsten Leidenschaften, mit den abweichendsten Bildungsfähigkeiten. Die Natur ließ die Menschen in hundert verschiedenen Sprachen reden und bestimmte dadurch selbst, daß sie die Unterschiede der Nationen wollte. Die Natur hat nach Himmelsstrichen und der Beschaffenheit des Bodens auch die Bedürfnisse verschieden gestaltet. Der Jäger in den Bergen bedarf eines andern Trunkes, als der Fischer am nebligen Meer. Den Einen schließen die Berge ein und die Freuden seines kleinen Thales machen ihn glücklich, während Die, die die Natur in der Ebene geboren werden ließ, mit unbefriedigtem Blicke in die Ferne schauen. Das Alles hat nicht die verdorbene Gesellschaft so geordnet, sondern die Natur, die doch die angebetete Reglerin, Ordnerin und Erhalterin des Communismus ist.

Freilich bietet unsre Gesellschaft die entsetzlichsten Unregelmäßigkeiten dar. In einem und demselben Volke, einem und demselben zum Wohle Aller geordneten Gemeinwesen, in einer und derselben Stadt, in einem und demselben Hause oft die erschütterndsten Gegensätze von Armuth und Reichthum, von Ueberfluß und Mangel am Nothwendigsten. Seit Jahrtausenden haben sich diese Unterschiede der Stände und diese ungleichen Vertheilungen der Lebensgüter gebildet, und eben so lange beschäftigen sich Menschenfreunde, Gesetzgeber, Religionsstifter, Weltweise mit einer der allerdings freundlicheren Natur sich nähernden Ausgleichung. Bisher hat man die einzige Möglichkeit, das menschliche Elend zu lindern, in einer Verbesserung der Staatsformen gefunden. Zu allen Zeiten, wenn die materielle Noth um Hülfe schrie, hat man in dieser oder jener Form verknöcherter Einrichtungen geändert, die Sklaven und Leibeignen frei gemacht, die Steuern herabgesetzt, dem Adel seine Immunitäten genommen, den Zehnten der Geistlichkeit beschränkt, die Güter der Krone zum Eigenthum der Nation geschlagen, den Herrscher auf bestimmte Pflichttheile gesetzt, kurz sich, soweit es irgend durch Verständigung oder im äußersten Falle durch Gewalt möglich, allmälig aus den allzu verkünstelt und drückend werdenden Ueberlieferungen der Geschichte einem Ur- oder Natur- oder Vernunftstaate genähert, einem Staate, der nie war, vielleicht nie sein wird, der aber als Ideal mit reizender Symmetrie in der Vorstellung jedes freigewordenen Bewußtseins lebt. Die politische Opposition, wie sie an allen Enden Europas noch gährt und hier zu Verfassungen, dort zu ehrlichen Verwirklichungen der schon vorhandenen Verfassungen zu kommen sucht, hat nirgends ein bloßes Wohlbehagen an leeren Förmlichkeiten und leeren Rangstufen der Gesellschaft ausgesprochen, sondern überall ihre Ueberzeugung, daß nur auf diesem Wege der verbesserten Staatsformen auch die gleichen Ansprüche jedes Bürgers an die Güter des Lebens, an das Licht der Freiheit und an seine Wärme, die Gleichheit, geregelt, nur so die klaffenden Wunden unsres gesellschaftlichen Körpers geheilt werden könnten.

Die Communisten haben diese politische Debatte ganz aufgegeben. Sei es nun, daß sie in ihr nur die Befriedigungen des persönlichen Ehrgeizes entdeckten, oder daß ihnen die Ergebnisse derselben nicht vollständig genug erschienen, sie übersprangen alle geschichtlichen Voraussetzungen, innerhalb deren sich noch die politische Opposition bewegte, hoben jede Verhandlung über Recht und Pflicht, über Mehr oder Minder auf und nivellirten das Hohe mit dem Niedrigen, Reichthum mit der Armuth. So hofften sie eine Durchschnittsexistenz zu finden, welche die Fourieristen die »allgemeine Mittelmäßigkeit« nennen. Der Haß des Communismus gegen den Republikanismus kommt dem Haß des letztern gegen die Monarchie gleich. Der Communismus versöhnt sich lieber mit einer absoluten Monarchie, die die äußere Form seiner breiten Existenzbasis sicherte, als mit einer Republik, wo nur das Talent allein sich auszeichnen könnte. Die in Paris erscheinenden Handwerkerjournale: l'Atelier, le Populaire, la Fraternité, stehen zum National in einem schroffern Gegensatze, als dieser zum Journal des Débats. Auch im Communismus selbst herrschen verschiedene Schattirungen. Die Einen wollen mit Gewalt, die Andern friedlich verfahren, sodaß die vom Communismus bedrohte Gesellschaft vorläufig wenigstens den Vortheil hat, daß die neue Lehre über ihre praktische Einführung noch in ihrem eignen Schoße unschlüssig ist.

Die ersten Grundzüge des Communismus entwickelten sich in einer der fieberhaften Phasen der französischen Revolution. Damals, als man zu der neuen Erde einen neuen Himmel, zu dem neuen Menschen einen neuen Gott erfand, in jener wilden, siedenden Epoche von 1793-94 wurde dem Convent auch die allgemeine Gütergemeinschaft als das einzige Heilungsmittel der verdorbenen Gesellschaft anempfohlen. Die siegenden Ansichten ließen die Vertreter der unterliegenden guillotiniren. Baboeuf, ein Fälscher, ein entsprungener Gefangener, voll Geist aber und Unternehmungsmuth, schrieb damals im communistischen Sinne Pamphlete und Zeitschriften. Er wurde hingerichtet. Die theils flüchtigen, theils verbannten Anhänger seiner Lehre, besonders ein Italiener Buonarotti, wirkten ferner für die Verbreitung der communistischen Ideen. Der unreine Ursprung des Communismus verlor sich erst in dem Schmelzfeuer der englischen Philanthropie. Robert Owen gab der Lehre von der Gemeinschaftlichkeit der Güter eine dauernde Grundlage, führte sie auf die Grundsätze des Christenthums zurück und gab ihnen bei den Handwerkern und Fabrikarbeitern seines Landes eine praktische Anwendung. In Frankreich ist man erst durch den Umweg der St. Simonisten und Fourier's zum reinen Communismus gekommen. Jetzt greift die Lehre bei allen arbeitenden Klassen so gewaltsam um sich, daß sie die Aufmerksamkeit sogar der Denker erregt hat. Die Katechismen und symbolischen Bücher dieser Lehrer werden nicht mehr von dem beschränkten, unausgebildeten Talente der Handwerker verfaßt, sondern geübte Federn leihen ihr den Schimmer wissenschaftlicher Begründung und die einschmeichelnden Farben rhetorischer Ueberredung. Mit Widerwillen wirft man den communistischen Katechismus eines Richard Lahautière aus der Hand, mit Spannung schlägt man die Voyage en Icarie des ehemaligen Deputirten Cabet auf.

In Form eines Romans theilt der Verfasser dieses Buches alle Principien des Communismus mit. Ikarien ist ein fabelhaftes Land, wie die Atlantis des Thomas Morus. Der englische Lord Carisdall ist sehr unglücklich über die Welt im Allgemeinen und England insbesondere, er hört von einem Musterstaat in einem neu entdeckten Meere und schifft sich nach Ikarien ein, in ein Land ohne Douanen, ohne Gensd'armen, ohne Gefängnisse. Lord Carisdall lernt hier eine lebendige Verwirklichung des Communismus kennen. Wir folgen ihm auf seinen Wanderungen, durch die Felder und Triften Ikariens, die Kaufläden, die Schulen, die Gerichtshäuser, die Waarenlager, die Boudoirs der Frauen, die Journalistik, die Bälle, die Hochzeitsfestlichkeiten, die Promenaden, Gottesverehrungen u. s. w. In einer, wie man sich denken kann, etwas langweiligen und sehr breiten Auseinandersetzung aller möglichen Lebensbeziehungen des Musterstaats lernen wir sämmtliche reine und angewandte Principien der Lehre von der Gemeinschaftlichkeit kennen. Diese lauten: Die Rechte des Menschen wären natürliche und gesellschaftliche, das natürlichste aber wäre das, naturgemäß zu existiren und alle seine physischen und geistigen Kräfte auszubilden. Jeder darf Das thun, was ihm selbst nützt, ohne daß es dem Andern schadet. Jeder darf heirathen, Jeder hat Anrecht auf die Familie, Jeder hat das Recht, so gelehrt wie Baco, so weise wie Sokrates zu werden. Keiner ist in diesen Rechten bevorzugt, denn der Stoff, aus dem der Mensch geschaffen ist, ist bei jedem derselbe. Die Natur hat den Begriff des Eigenthums nicht erfunden, sie wächst, sie blüht Allen; ihre Früchte locken Jeden und wollen Jeden erquicken. Die Natur lehrt nichts als die Gemeinschaftlichkeit. Die Gleichheit ist eine relative, wer zu seiner Existenz mehr bedarf als der Andere, muß es haben. Lord Carisdall sagt uns nicht, daß, wenn Einer zwei Portionen braucht, ein Anderer sich doch schon mit einer halben begnügen müsse! Freilich geht der Communismus von der Idee aus, daß die Erde mehr gibt, als wir brauchen; er beginnt eigentlich erst mit der Reglung und gleichen Eintheilung Dessen, was auf der Erde überflüssig ist. Es gibt für Niemanden in der Gesellschaft etwas Überflüssiges, sagt er, sobald einem Andern das Nothwendige fehlt. Den natürlichen Rechten des Menschen entsprechen die natürlichen Pflichten. Gesellschaft nennt man eine Vereinigung von Menschen, die sich die wechselseitige Bewahrung ihrer Rechte zu ihrer wechselseitigen Pflicht gemacht hat. Eine solche Gesellschaft muß eine freie sein. Die Nationalität ist nicht die Grundlage einer solchen Gesellschaft, eben so wenig der gegenwärtige Staat. Bei uns leben die Einen in Ueberfluß, ohne zu arbeiten, und die Andern, die nur arbeiten, haben nicht einmal das Nothwendige. Bei uns ist nicht nur der Reichthum erblich, sondern auch die Armuth ist es. Die Kinder der Armen werden um ihre Menschenrechte betrogen; sie kommen aus dem Schoß der Natur, ohne die Natur genießen zu können. Glücklich aber sind auch die Reichen nicht; sie fürchten ewig für ihre Besitzthümer, sie sind den Lastern des üppigen Lebens und den Folgen des Lasters unterworfen. Das einzige Mittel gegen dieses Uebel ist die Einführung des Princips der Gemeinschaftlichkeit. Es muß dahin gearbeitet werden, zwei Dinge abzuschaffen: das Eigenthum und jenes Symbol, das das Eigenthum bezeichnet: das Geld. Die Gesellschaft verwandelt sich in eine Familie, die Einzelgüter werden Gesammtbesitz, Grund und Boden gehört dem Ganzen. Der Gewerbfleiß schafft und Alle genießen, was er schafft. Je nach den Stunden der Arbeit wird Jeder belohnt. Talent und Genie würde einen Vorzug genießen, wenn in einer Gesellschaft, wo Jeder die gleiche Erziehung bekommt, von Talent und Genie die Rede sein könnte. Arbeit und das öffentliche Amt, das Einer und der Andre bekleidet, ist gleichsam eine Steuer, die man für das Ganze zahlt. Wo Menschenhände nicht ausreichen, helfen die Maschinen; die Maschinen sind die Sklaven des communistischen Staats. Sie dürfen nur insoweit vermehrt werden, als Menschenhände fehlen. Hat die Gesellschaft das Nöthige für Nahrung, Bekleidung, Wohnung und Hausrath und es bleibt ein Ueberschuß für das Vergnügen und den Luxus, so soll er dafür angewandt werden. Handel ist hinfort nur richtige Ablieferung des Producirten; keine Familie darf Dienstboten haben. Was sie an Dienstleistungen bedarf, bekommt sie vom Ganzen, sodaß Das, was wir jetzt Lakaien nennen, in Zukunft Staatsbeamte sein würden. Jeder darf sich verheirathen, denn Jeder kann leben. Jeder erhält das Brot für seine Kinder, jedes Kind bekommt die Ausbildung, die es geschickt macht, wenn es möglich wäre, an der Spitze des Ganzen zu stehen. Die Staatsform selbst hat kein anderes Princip, als durch die Ordnung diese Existenz möglich zu machen. Das Volk ist souverain, das Gesetz ordnet und regelt Alles. Die Strafen sind milde, weil sie unnütz sein werden. Lord Carisdall weicht hier von Solon ab, der die strengsten Strafen grade für die Verbrechen festsetzte, von denen er hoffte, daß sie nie begangen werden würden. Die Einführung dieses Systems, lehrt der Communismus, sei schwer, aber nicht unmöglich; man kann die Gemeinschaftlichkeit nicht plötzlich, sondern nur nach und nach einführen. Der allmälige Weg werde machen, daß man das Eigenthum so viel wie möglich friedlich in sich selbst untergräbt. Man fange mit der Erziehung und dem Principe an, in mindestens hundert Jahren kann man, wenn man ernstlich will, ein Volk allmälig in diese neue Gesellschaftsform umschmelzen. Diese Umschmelzung darf nie mit den Waffen in der Hand erfolgen, denn ein Bürgerkrieg mit allen seinen unberechenbaren Chancen, mit Allem, was er an neuen Tyranneien anfachen kann, würde nur noch weiter von dem Ziele abführen, als die gegenwärtige, in sich selbst verwesende und dadurch vielleicht von selbst dem Bessern sich nähernde Gesellschaft. Nie hat eine Revolution noch erreicht, was sie wollte, immer brachte sie etwas Anderes hervor, als wofür sie unternommen wurde. Einzelne Talente können steigen, das Volk in Masse wird immer noch mehr darnieder liegen. Ja, selbst für den Fall, daß nur noch die Einstimmung der Reichen fehlte; soll man sie zwingen? Nein! Man lasse sie, man hindere sie nur, die Andern zu unterdrücken. Man dulde sie, bis sie von selbst kommen. Zieht der Kleinhandel auch vor, dem wahrscheinlichen Beispiele der Rothschilde zu folgen, so sei man mit diesen Schwachsinnigen am meisten nachsichtig. Es bleibt nichts übrig, als es mit der Gemeinschaftlichkeit zu machen, wie Christus mit dem Evangelium, sie zu lehren, sie zu predigen, sie an sich selbst in ihren nächsten Kreisen zu üben und das Uebrige Gott zu überlassen. So der Communismus.

So friedlich, wie Lord Carisdall, denken aber nicht alle Ikarioten. Ikarus war jener Sohn des Dädalus, der sich mit Flügeln von Wachs zur Sonne aufschwang und wahrscheinlich an der Stelle, wo er mit seinen geschmolzenen Schwingen zur Erde fiel, jenen von Cabet mit manchen romantischen Schattengängen und geheimnißvollen Lauben, in welchen die Julien und St. Preux nach wie vor kosen dürfen, geschilderten Staat gründete. Hundert Jahre ist für unser egoistisches Zeitalter eine Ewigkeit. Die einst so verbreitete Sitte, Bäume in dem schönen Glauben zu pflanzen, daß sie nach tausend Jahren den Ermüdeten ferner Jahrhunderte Schatten gewähren möchten, findet sich nicht mehr. Die communistische Polemik selbst ist dringlicher, als Lord Carisdall. Lord Carisdall hat deshalb auch einen Uebergangscommunismus erfunden, der den Reichen ihr Eigenthum abkauft, ihnen die Zinsen in lebenslängliche Renten verwandelt und auf eine beträchtliche Reihe von Jahren mit dem Fourierismus Hand in Hand geht. Später werden sie sich trennen, der Communismus will keine Caserne, Phalange genannt, sondern jene allgemeine Ausgleichung, wo der Bauer aus seiner irdenen Schüssel Fasanen und der Reiche aus seiner goldenen Schüssel gesunde Erdäpfel ißt.

Ueber ein so bescheidenes System die ätzende Analyse des Verstandes zu gießen, wäre lieblos. Wollen die Communisten nur lehren, so ist es nicht einmal nöthig, daß es von Gelehrten geschieht. Wollen die Zungen, die die Lehre von der Gemeinschaftlichkeit predigen, nur feurige sein, sie dürfen dann auch aus dem Munde der Handwerker kommen. Ob der Communismus des Lord Carisdall Glacéhandschuhe und der des Schneiders Weithling nur gemslederne oder vielleicht gar keine trägt, ist Nebensache. Nur kommt es darauf an, wie man gegen die heutige Gesellschaft streitet, zu wem man redet, welchen Einfluß der Prophet in seiner nächsten Umgebung hat. Weithling haßt die Monarchie und die Republik, den Johannisberg und Hambach, ja, die Politik Preußens ist ihm lieber, als die des Dr. Wirth. Er ruft in seiner oft originellen Art den Handwerkern zu: »Laßt die liberale Partei in Deutschland nach Herrmannstadt ziehen, wir gehen nach Gleichenstein.« Aber auch nicht das materielle Elend seiner Mitbrüder allein ist es, was ihn zum Communisten macht, sondern ein gewisser Trieb nach einem aristokratischen Etwas, nach einem Nivellement der Bildung, ein Haß gegen den Vorzug der Wissenschaft, den er dadurch zu befriedigen sucht, daß er sich gegen die Bildung und die Wissenschaft selbst erhebt. Ich weiß wohl, wie sehr Hegel und Schelling herabzusteigen haben, um der Welt auch nur einigermaßen nützlich zu sein, aber darum ist es noch nicht nöthig, daß sie sich der Fassungskraft eines gebildeten Handwerkers anbequemen. Hat sich Weithling von seiner Nadel emancipirt, seine Feder kann nicht jeden Schmied von seinem Hammer, jeden Schlosser von seiner Feile, jeden Maurer von seiner Kelle emancipiren. Und doch wiegelt er durch die gewagtesten Forderungen die ruhig schlummernden Gefühle dieser Leute auf, setzt ihnen mit Lesen, Schreiben, etwas Pfennigmagazin und Mathematik so viel Stolz in den Kopf, daß sie ihre Existenz am Nähtisch für unästhetisch, ihre Stellung hinterm Blasebalg für gesellschaftlichen Fluch, ihre Aufgabe, andern Leuten Schuhe auf die Füße machen zu müssen, für die misgünstigste Tyrannei des Himmels halten. Alles will jetzt seinen Beruf verfehlt haben! Es ist dies die Krankheit unserer Zeit. Die, die an dieser Krankheit noch nicht leiden, mit ihr anstecken, ist im Grunde ein unverantwortliches Verbrechen.

Ich erlebte kürzlich folgenden Fall: Ein Schneider, der hier in einer der Sectionen des associirten Communismus eine große Rolle spielt, versprach mir für einen bestimmten Tag ein Paar Beinkleider zu liefern. Ein Freund hatte ihn mir empfohlen und führte ihn mir zu. Er nimmt Maß. Ich bewundre die Genauigkeit eines pariser Schneiders und freue mich auf die Erfolge, die meine Beinkleider in Deutschland haben werden. Er notirt sich jede Distanz, jede Kürze und jede Länge, verspricht die pünktlichste Ablieferung und geht. Kaum bin ich mit dem Freund eine Minute allein und beginne, mit ihm am Fenster stehend, lachend ein Gespräch, so kommt der Schneider zurück und nimmt sein Notizbuch vom Tisch, das er vergessen hatte. Ich schwelge drei Tage in der Aussicht auf meine schönen pariser Beinkleider. Am dritten wollt' ich sie verpacken, sie kommen nicht. Statt ihrer ein Brief von dem Schneider: »Mein Herr, als ich neulich zurückkam, um mein vergessenes Notizenbuch zu holen, fand ich, daß Sie mit Ihrem Freunde lachten. Sie lachten über mich, über meine Notizen, über einen Handwerker, der nicht lesen und schreiben kann. Für zwei demokratische Schriftsteller hätt' ich es nicht möglich gehalten, über Leute zu lachen, die nicht lesen und schreiben können. Entschuldigen Sie daher, wenn ich Ihnen erkläre, für Leute, die über Leute, die nicht lesen und schreiben können, lachen, nicht arbeiten zu können.« Unterzeichnet war der von anderer Hand geschriebene Brief von dem Schneider selbst, mit einigen Hieroglyphen, die seinen Namen bedeuten sollten.

Welch ein Mistrauen, welcher Dünkel, welcher falsche Ehrgeiz! Wir, mein Freund und ich, hatten so wenig über das Buch des Schneiders gelacht, daß wir erst im Augenblick, als er es holte, sahen, daß er es vergessen hatte. Hätten wir es gesehen, so würden wir die Notizen, mit denen er Länge und Kürze meiner Schenkel maß, für technische Merkzeichen der edlen Schneiderkunst gehalten haben, aber wir hatten es nicht gesehen, hatten über Deutschland, Frankreich, über Alles in der Welt gelacht, und nicht über den Schneider, der nicht schreiben konnte. Dies Mistrauen, dies schnelle Urtheil ohne Prüfung! Wenn der Arme stolz ist auf seine Armuth, sollte der Ignorant nicht stolz sein auf seine Ignoranz. Dieser Schneider sprach mit einem solchen Hochmuth über seine Unwissenheit, wie ihn der Gebildete nicht über seine Bildung hat. Ist es denn so schwer, einen vernachlässigten Schulunterricht in spätern Jahren nachzuholen? Der Besuch einer Sonntagsschule würde Herrn Blondin, so hieß mein Schneider, mehr genützt haben, als der Besuch communistischer Sectionen. Unwissenheit macht sonst blöde und verlegen, jetzt macht sie stolz. Herr Blondin hätte seine Eltern anklagen sollen, er klagte die ganze menschliche Gesellschaft an. Um alle Welt lesen und schreiben zu lehren, reicht die bisherige Gesellschaft völlig aus. Man nehme nun dies schnelle ungerechte Urtheilen, diese innere Wuth und Verbissenheit über eine halb und halb selbst verschuldete Demüthigung, man nehme diesen Zorn und Neid auf die Bildung, auf die Leute, die lesen und schreiben können, und man wird sich eingestehen müssen, daß der Stoff, den der Communismus ausbilden will, nicht so rein, nicht so edel, nicht so unglücklich ist, als wofür ihn die Vertheidiger desselben ausgeben.

Abgesehen von einer Betrachtung des Communismus aus dem Standpunkte der Wissenschaft oder der Stockbörse, so liegt ihm in Rücksicht auf die Handwerker allerdings viel Gutes zum Grunde. Vortrefflich sind jene Handwerkervereine, welche, die endlose Verzettelung in kleine hülfsbedürftige Wirthschaften aufgebend, zur Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse sich um den Herd einer gemeinschaftlichen Oekonomie versammeln. Namentlich können die in der Fremde lebenden deutschen Arbeiter keinen glücklichern Gedanken verfolgen als den, sich durch ein gemeinschaftliches Kost- und Erholungshaus die Bestreitung ihrer Lebensbedürfnisse zu erleichtern. Weithling's Grundzüge des in Genf errichteten deutschen Handwerkervereins sind in jeder Art tüchtig. Hier redet der Handwerker mit dem Handwerker; die Bedürfnisse sind erkannt und ein praktischer Instinkt leitet, den Mängeln abzuhelfen. Soll sich zu diesem geselligen Verein noch ein Bildungszweck fügen, so wird die Aufgabe schon deshalb schwieriger, weil ein Grobschmidt auf einer andern Stufe steht, als ein Goldarbeiter, der Schuhmacher auf einer andern, als der Bronzearbeiter. Indessen wird es an gemeinschaftlichen Bildungsmitteln nicht fehlen. Auch das Vaterland, auch die Politik mag diese durch das Leben oft recht klar und mündig gewordenen Männer beschäftigen, aber vermessen ist es, ihnen diese Freuden und Vortheile der Geselligkeit nur zu geben, um ihre Sehnsucht nach einer verschönerten Lebensexistenz immer noch höher zu spannen. Herr Blondin beweist, daß die Unwissenheit bleibt und der Hochmuth noch hinzukommt.

Das Gute an dieser Bewegung des Handwerkerstandes ist ferner die wirklich sich verbreitende Kenntniß der großen Leiden und Ungerechtigkeiten, die diese wichtigste Klasse der Gesellschaft drücken. Es sind herzzerreißende, aber wahre Schilderungen, die Weithling von dem Zustand der arbeitenden Klassen entwirft. Ihr Lohn ist gering, die Mühe groß, die unsinnige Vermehrung der Fabriken und Maschienen, die schrankenlose Gewerbfreiheit, die ungeregelte Einfuhr fremder Waaren, in allen diesen Punkten hört der Staat wol das Interesse einzelner großer Handelskammern, einzelner Seehäfen, einzelner Körperschaften, nie aber das Interesse der von unten auf daran Betheiligten. Man entschädigt die Posten für die Eisenbahnen, man expropriirt für baares Geld, man läßt keinem Beamten ein öffentliches Unglück entgelten, aber der arme Handwerker wird in den Ansätzen des Finanztarifes wie ein Wurm getreten. Die Staatsraison, hier zum ersten Male sich auf die Natur berufend, sagt: Es findet schon eine Ausgleichung statt! Ja, sie findet statt, auf dem Siechbette, auf dem Stroh der Armuth, auf der Todtenbahre. Nicht Jeder kann Meister werden. Wo findet der Gesell Arbeit? Er will wandern. Bis in sein dreißigstes Jahr gibt man ihm nur ein Wanderbuch. Er wandert, er hat eine glückliche Beschäftigung gefunden, da jagt ihn die Militairpflicht nach Hause, zurück nach einem Staate, der nichts für ihn thut, der ihn durch die Grobheit der Gensd'armen, die Rohheit der Polizeibeamten nur im innersten Gefühl seiner Menschenwürde kränkt. Christus lehrte uns dulden und die Schmerzen dieser Welt verwinden. Wie viele arme Handwerksburschen sah ich schon Thränen vergießen! Sie wollten durch ein Land reisen, durch das sie zehn Gulden als Reisegeld vor der Polizei aufweisen mußten. Sie hatten sie nicht! Sie wurden mit Gewalt zurückgeschickt, von wo sie gekommen waren. Ich sage, Christus lehrte sich finden in die Welt. Aber er und seine Apostel lehrten es seinen Anhängern als Klugheitsregel für die heidnische Welt, für eine Welt, in der die Christen nur eine kaum geduldete, oft nur heimliche Sekte bildeten. Jetzt ist die Welt christlich und unsre Institutionen sind heidnisch geblieben, wie unsre Gesetzgebung. Der arme Handwerker in der Fremde wird krank. Ungern nimmt man ihn in die Spitäler auf, man nimmt ihn auf, die jungen Aerzte machen an ihm ihre Experimente. Ein berühmter königsberger Professor, ich will ihn nicht nennen, ging durch das Krankenhaus einer berühmten großen Handelsstadt, ich will sie nicht nennen; man zeigte ihm die Säle, die aufgeschichteten Kranken; er sahe, wie die Armen in Bausch und Bogen befragt und besichtigt wurden, er konnte, erschrocken über diese der Menschenfreundlichkeit gewidmete grausame Anstalt, nicht umhin, mit Bitterkeit den Vorstand zu fragen: »Sagen Sie mir, Herr Obermedicinalrath, findet sich hier denn nicht auch der Fall, daß dann und wann einmal ein Kranker auch behandelt wird?« Diese und ähnliche Thatsachen aufzudecken, muß man Weithling im Interesse der Menschheit ermuntern.

Schon vor einigen Jahren hab' ich ausgesprochen, daß der moderne Staat, um diesen Uebelständen zu begegnen, um die Gründe des Mißbehagens der Gesellschaft aufzuheben und die Phantastereien der neuern Socialistik durch Thatsachen zu widerlegen, neben seinen Ministerien des Krieges, der Finanzen, des Handels und der Gewerbe auch ein Ministerium der Nationalwohlfahrt begründen müsse. Man exploitirt die Gesellschaft, aber man bebaut sie nicht. Die Finanzen sollen die Früchte einer Vegetation sein, für deren Bewässerung, für deren Dünger, für deren Cultur man nicht sorgt. Der Staat, wie er jetzt ist, beutet nur die Gesellschaft aus und sorgt nicht für den Ersatz der Ausbeute. Der Nachwuchs, die neuen Pflanzungen, die Heilung zufälliger unverschuldeter Wunden, die Ausgleichung zwischen Müssen und Können, der Staat als eine Garantie des Glückes und der Zufriedenheit der Menschen ist sich selbst überlassen. Eine Hauptaufgabe dieses Ministeriums der öffentlichen Wohlfahrt müßte die sein, das Verhältniß des Arbeiters zum Unternehmer, des Unternehmers zum Capitalisten zu regeln. Der Produzent ist zu arm, um dem Unternehmer Widerstand leisten zu können. Er muß sich, um nur Geld zu haben, auf Gnade und Ungnade, zum niedrigsten, kaum sein Elend fristenden Preise Dem, der ihm Geld bietet, ergeben. Der Capitalist gewinnt dadurch, daß er schon hat. Der Produzent verliert immer noch mehr dadurch, daß er nichts hat. Es müssen Hülfsmittel gefunden werden, den Arbeiter vom Kaufmann zu befreien, ihm den vollen Ertrag des Fleißes seiner Hände zu sichern, ihn gegen den Wucher der Vorschüsse und des Schleuderpreises zu bewahren. Auch brach liegendes, todtes Capital darf nicht existiren. Geld ist keine Waare, Adam Smith hat es bewiesen. Geld ist Ausdruck einer Waare, Anschlag eines Werthes. Eine Waare, die sich nicht bewährt, ein Werth, der sich nicht verwerthet, gehört nicht in die gesittete Gesellschaft. Der Geizige ist ein Räuber am Ganzen. Sein Geld, seine Millionen sollen nicht im communistischen Sinne an die Darbenden vertheilt werden, aber seine Millionen sollen arbeiten, sollen arbeiten für das Ganze. Unsinniger Luxus soll verboten, großes Vermögen sehr groß versteuert sein. Auch Verschwendung ist kein Mittel, todtes Capital lebendig zu machen. Die französischen Finanzmänner des vorigen Jahrhunderts glaubten, daß Geld, wenn es auch zum Fenster hinausgeworfen würde, die Wohlfahrt des Volkes höbe, weil es eben doch unter's Volk käme. Auch von diesem Wahn hat uns A. Smith befreit. Armuth und Reichthum sollen nicht mit Aufopferung aller individuellen Rechte, mit Aufopferung des Principes der Familie gegeneinander ausgeglichen, wol aber soll der Reichthum so geregelt werden, daß sein Ertrag allmälig die Armuth aushebt. Sparkassen und Creditvereine reichen zu diesen durchgreifenden Maßregeln nicht hin. Es muß in den Staat ein belebendes, schaffendes, ergänzendes Element kommen. Er muß sich aus dem Aktenstaub des Administrationsgeistes in die Sonnenhöhe organischer Gedanken heben. Sieht man dies ewige Wiederkäuen des alten Stoffes, dieses ewige kleinmeisterliche Handthieren der verjährten Praxis, dieses Beschneiden, Unterdrücken, diese kleinen Palliaitivschöpfungen, die sie Regieren nennen, so erfüllt sich das Menschenherz mit einer Bitterkeit, die uns jeden Zusammenhang mit einer so schlechten Zeit und so verdorbenen Gesellschaft widerwärtig macht. Guizot sagte einmal: »Es liegt im Geiste unsrer Zeit die ewige Klage über das Loos des Volkes; aber die Klage ist gerecht: nur mit dem tiefsten Mitleiden kann man das unglückliche Loos so vieler Menschen sehen. Es ist schmerzlich, sehr schmerzlich, es zu sehen, sehr schmerzlich, darüber nachzudenken. Und doch muß man darüber nachdenken, viel, viel darüber nachdenken. Furchtbar ist das Unrecht und furchtbar die Gefahr, wenn man es vergessen sollte.« Wo ist das Volk, wo ist der Fürst, der zuerst das oben geschilderte Portefeuille eines Ministeriums der öffentlichen Wohlfahrt in die Hand eines Weisen legt?

Die Politik des Tages, statt sich wie z. B. in Deutschland in leeren Phrasen über Nationalgröße und Nationalunabhängigkeit zu ergehen, sollte allerdings sich mehr dieser Grundlage des menschlichen Bedürfnisses nähern. Auf der andern Seite ist es am Communismus gefahrvoll, daß er die politische Debatte ignorirt und in seinen Kreisen eine Gleichgültigkeit an Dingen verbreitet, die nicht nur in die theuersten Interessen unsrer Bildung verwachsen, sondern auch das einzige Hülfsmittel sind, um Das, was am Communismus gut und wahr ist, zu verwirklichen. In dem Verein deutscher Handwerker zu Genf soll auch, den neuesten Briefen zufolge, das communistische Element dem liberal-politischen erlegen sein.

Unter den Mitarbeitern Weithling's glaubte ich einen Maurer, Namens German, zu finden. Das Komma in der Unterschrift »F. German, Mäurer« ist aber vom Uebel. Dr. Mäurer, früher Oberlehrer in Berlin, hat den communistischen Ideen ein artiges poetisches Talent gewidmet. Das Schurzfell statt des Doctorhutes verdankt er dem Setzer, der zwischen seinen Vornamen German und seinen Eigennamen Mäurer ein Komma einschob.

Ueber die in Paris lebenden Deutschen ist viel geschrieben worden. Es sind Flüchtlinge, Handwerker, Gelehrte, Banquiers. Man rechnet ihre Zahl auf 80 000. Die Elsässer mögen dazu gehören. Ein Zusammenhang wie zwischen den Engländern und theilweise den Spaniern und Italienern findet nicht statt. Kein Seymour, keine Beljiogoso, kein Aguado steht an der Spitze der Deutschen oder wüßte die deutsche Würde zu repräsentiren. Die reichen Banquiers sehen Fremde. Ich war in einem Salon, dessen Besitzer sein Glück einer deutschen Heirath verdankt. Die Deutschen wurden vom Wirth und der deutschen Hausfrau vernachlässigt. Der deutsche Künstler und Gelehrte darf, um in die höhere pariser Gesellschaft eingeführt zu werden, auf keinen Schickler, keinen Rothschild rechnen. Diese reichen Banquiers sind alle stammverwandt mit jenen deutschen Kellnern, die in der Schweiz und dem Elsaß, auch wenn sie Deutsche bedienen, sich stellen, als verstünden sie nur französisch.

Die Musik macht eine Ausnahme. Die Musik ist die Sprache der Welt, die Sprache der Gesellschaft geworden, sie hat aus der Liebe die Poesie, aus dem Gesellschaftsleben die französische Sprache verdrängt. Die Musik verständigt die Herzen, ersetzt den Verstand, sie plaudert, sie unterhält, sie wird von Allen verstanden. Der Deutsche führt sich in die pariser Gesellschaft durch seine Musik ein. Man kann ein großes Genie in den Wissenschaften sein und wird in die berühmten Soiréen der Gräfin Merlin nicht zugelassen. Erbietet man sich aber, in den Chören, die sie aufführen läßt, den Baß oder Tenor zu verstärken, so ist man willkommen, ohne Namen, ohne Ruf, selbst ohne gefirnißte Stiefel.

Als Musiker sich in Paris geltend zu machen, ist nicht so schwer, wie man glaubt. Nur muß man es nicht zu eilig damit haben. Man wird in Paris schnell vergessen, aber ziemlich leicht bekannt. Für jedes Ziel sind die Wege zu bestimmt vorgezeichnet. Conzert, Oper, komische Oper, heroische Oper, Symphonie, Alles hat seine sichern Gleise. Das Journal des courses et des haras, das Journal für Eisenbahnen entscheidet nicht über Oper und Melodrama, wie in Deutschland, wo die Farben über die Töne, die Töne über die Bausteine urtheilen. Der junge Musiker kommt an, abonnirt sich auf Schlesinger's musikalische Zeitung, miethet einen Herz'schen Flügel und sucht Eintritt in Kalkbrenner's Salon, der zu den glänzendsten von Paris gehört. Man spielt, wo man eine Einladung bekommt. Man spielt, auf welchem Flügel man verlangt. Man spielt auf dem schlechtesten Spinett, ohne zu murren. Gewisse deutsche Michel, die sich in kleinen Städten bei uns schon Lißzt und Thalberg schelten lassen, kommen nach Paris und glauben sich im Preise zu steigern, wenn sie die Launen großer Künstler affektiren. Sie wollen als Menschen, nicht als Musiker eingeladen sein, spielen nicht zum Dessert, erklären die Instrumente für verstimmt, ja einen jungen Laffen sah' ich, der mit süßlicher Suffisance erklärte, er spiele nur auf einem Erard. Diese Leute wissen nicht, daß man über solche Dinge in Frankreich ausgelacht wird. Man wird ausgelacht, wenn man es auch nicht sieht. Paris kennt den kindischen Enthusiasmus für die Künstler nicht. Es bewundert, was schön ist, aber es entwürdigt sich nicht in der Bewunderung.

Hat man sich ein Jahr mit Anstand, Bescheidenheit und Talent in der pariser höhern Gesellschaft bewegt, so kann man wagen, ein Concert zu geben. Es wird keine Renten abwerfen, aber es deckt gewiß die Kosten. Man gibt Concerte, um den Preis seiner Stunden zu erhöhen, wenn man Unterricht ertheilt. Ein Concertgeber, der besprochen wird, kann mehr fordern, als ein Salonvirtuose. Man vervollkommnet sich. Paris ist so groß, daß es das Talent von heute vergißt und dasselbe Talent, wenn es in drei Jahren wieder auftritt, für ein anderes hält. Man kann in Paris nicht etwa wie in Deutschland ein großer Künstler sein und nur deshalb nicht anerkannt werden, weil man ein einheimisches Talent ist. Paris ist die Welt. In Paris ist man immer auf Reisen. Einheimisch ist in Paris nichts. Was ihm gehört, gehört der Welt. So ist Lißzt, so ist Ole Bull, so ist Ernst, so sind die bedeutendsten neuern Virtuosen in Paris allmälig berühmt geworden.

Hat man in Paris Ruhm gewonnen, kann man zuletzt auch Geld gewinnen. Thalberg gab im Saale Ventadour zwei Concerte, die ihm 40 000 Franken eintrugen. Spielt er drei neue Kompositionen, so gibt ihm der Verleger noch eben so viel, wenn er sie ihm zur Herausgabe läßt. Auch der Operncomponist gewinnt, wenn er sich Zeit nimmt, allmälig Bahn, Meyerbeer ist in Paris so berühmt geworden, daß er sich von einer Art Schrecken darüber noch jetzt nicht erholen kann. Halévy beherrscht die große Oper. Rosenhain wird nächstens ein Textbuch bekommen und seinen Weg gehen, wie die Uebrigen. Den Text gibt die Direction der Oper selbst. Wer eine Probe bestanden hat, in der er einige musikalische Scenen erfinden muß, hat Ansprüche, ein Textbuch zu erhalten. Wie schön das Alles geregelt ist!

Von deutschen Theoretikern nenn' ich A. Gathy, einen gediegenen Kenner und geschmackvollen Darsteller musikalischer Zustände, besonders aber den Biographen Beethoven's, A. Schindler, der vor den Franzosen für einen Adepten aller Beethoven'schen Tempo- und Figurengeheimnisse gilt. Herr Schindler wird jeden deutschen Künstler, der sich ihm vertrauensvoll naht, mit den pariser musikalischen Tonangebern so vermitteln, daß man alle Vortheile der Fremde genießt, ohne sich dadurch etwas von der vaterländischen Würde zu vergeben. Schon jetzt glaube ich auf das große Werk, welches Herr Schindler über das musikalische Paris unter der Feder hat, aufmerksam machen zu dürfen.

Bei dem Verfall der italienischen Oper, bei dem Ueberdruß an den italienischen Compositionen, bei der großen Verehrung der Franzosen vor deutscher Musik war der Gedanke, sie mit einer deutschen Oper bekannt zu machen, sehr zeitgemäß. Der Augenblick für eine Reihefolge deutscher Opernvorstellungen konnte nicht glücklicher gewählt sein. Alle Umstände kamen der Unternehmung des Herrn Schumann entgegen. Der Gedanke, seine Oper in das vornehme und theure Local der Italiener selbst zu verlegen, war kühn; aber die Kühnheit überraschte und das Vertrauen in die eigne Kraft mehrte das Vertrauen des Publicums.

Den Deutschen wurde freilich bange, wenn sie erwogen, was eine deutsche Provinzoper ist. Herr Schumann brachte nicht die Elite der deutschen dramatischen Gesangskunst, sondern die Mainzer Oper. Er versprach berühmte Namen als Hülfstruppen und doch blieb es bei der mainzer Oper, einer Anstalt, die, zwischen Darmstadts, Frankfurts, Mannheims und Wiesbadens Bühnen eingekeilt, allmälig auf eine Schattenexistenz herabgekommen ist. Wir sahen voraus, was später eintraf. Es war eine rührende Neuerung für Paris, diese deutschen Sänger in ihrer Armuth, zusammengepackt ankommend auf langen Wagen, mit ihrer knappen Garderobe, mit ihren beschmuzten Notenbüchern, blonde, rheinliederliche Naturen, verwundert das große Paris anstaunend, vertrauend auf Herrn Schumann's Speculationsgeist und den Taktstock des Kapellmeisters! Die trällernden Lustwandler auf den Boulevards sind deutsche Choristen, die kleinen Blondinen mit den verwaschenen Kleidern sind die deutschen Choristinnen! Jene gewichtiger auftretenden Gestalten mit dem unmodischen Hute, den knappen Beinkleidern, an welchen die Knie vorstehen, dem wiegenden trotzigen Gange sind die Herren Solostimmen, jene Sarastros, Leporellos, Ottavios, jene Heilinge, Vampyre, jene Czaare und Zimmermänner, die die Recensenten mit Stöcken überfallen, wenn sie von ihnen getadelt werden. Herr Schumann, der etwas vom französischen Schliff versteht, soll oft zu thun gehabt haben, diese Ehrenmänner zurückzuhalten, wenn sie sich verlauteten: »Diesem Castil Blaze stoß' ich einen Bruch, diesem Hector Berlioz geb' ich eine Ohrfeige,« grade als wenn von Saphir oder Wiest die Rede wäre. Die Passagen und Straßen von der Salle Ventadour bis zur Ecke der Richelieu- und Filles St. Thomas-Straße, wo Herr Schumann wohnte, war immer dicht besetzt mit diesen schwachen Stützen deutscher Ehre und deutscher Kunst.

Man begann mit dem Freischütz. Das zusammengestoppelte, aber von einem Herrn Schrameck gut geleitete Orchester wurde für die Ouvertüre schon rauschend applaudirt. Die ersten Chöre gingen trefflich und rissen zu allgemeinem Jubel hin. So körnige, frische Stimmen hat der Chor in der großen Oper nie gehabt. Rührend war für uns Deutsche diese Erinnerung an die Heimat, an die Jagdlust in den böhmischen Wäldern, dies Büchsenknallen und Hörnerschallen, dies Waldecho und Bergjodeln. Hussah! sang der Chor. Die Franzosen waren elektrisirt von dieser Kraft, dieser Frische, diesem Thatendrang. Dies Hussah in dem schönen Anfangschor schien zu einer Revolution aufzufordern! Es forderte aber nur auf zu einem Jagen, zu einem Scheibenschießen, wo die große, große That darin bestand, das Schwarze zu treffen! So ist Deutschland! Das Uebrige fiel matt und kindisch ab. Ein langer, schlottriger Tenorist, mit ellenlangem Namen stöhnt Maxens Klagen um sein Schießunglück. Kein Geschmack in der Tonbildung, kein Ansatz, kein Charakter im Vortrag. Der Enthusiasmus kühlt sich ab. Caspar erscheint, Caspar, Herr Poeckh, der einst so gefeierte Herr Poeckh, der von seinem Ruhm nur einen einzigen Ton in der Kehle und seine Honorarforderungen behalten hat. Auch Herr Poeckh machte Fiasko. Der Akt endete beklagenswerth. Im zweiten beginnt Mad. Schumann. Wenn man die Mainzer Blätter liest, ist Mad. Schumann die erste Soubrette in Deutschland. Die Mainzer Recensenten erkaufen sich das Recht, die Truppe des Herrn Schumann zu tadeln, dadurch, daß sie seine Gattin loben. Vor zehn Jahren sprach man von einer Dem. Burghardt, aber in Mainz spricht man noch immer von Mad. Schumann. Aennchen Schumann ist ohne Stimme, ohne Schule, ohne Grazie: sie hält sich durch ein Lächeln, das ihre Stimme, ihre Schule, ihre Grazie ersetzen muß. Was läßt sich gegen ein Lächeln machen? Dennoch würde die deutsche Oper schon im Freischützen gefallen sein, wenn nicht Mad. Walker als Agathe sie gehalten hätte. Mad. Walker hat nichts von Agathen, als das Auge dieser Schwärmerin. Ihr Auge versöhnt mit dem Embonpoint ihres Körpers. Und ihr Gesang überstrahlt noch das Auge. Mad. Walker kann singen. Die Hamburger, die schwer zu befriedigen sind, bestreiten dies oft. Die Pariser bewunderten sie, Mad. Walker wurde mit dem angebeteten Chor auf eine Linie gestellt. Der dritte Akt ist die Wolfsschlucht. Sie wurde lächerlich; doch muß man Nachsicht haben, da die Requisiten, Decorationen und Versetzstücke der italienischen Oper auf solche Phantasmen nicht eingerichtet sind. Herr Poeckh hätte seinen schlecht gespielten und schlecht gesungenen Caspar aus Rücksicht auf die Noblesse seines Publikums etwas veredeln können. Er führte die Korbflasche mehr als zehn Mal an den Mund, worüber einigen Damen im ersten Rang (Entrée zwanzig Franken) übel zu werden schien. Irgend etwas von dem weitschweifigen Dialog auszulassen, war dem Regisseur nicht eingefallen. Der Tenorist fiel zum zweiten Male durch. Zuletzt lachte man über den Jungfernkranz, ein Ensemblestück verunglückte total, das Jägerlied wegen übermäßiger Verzuckerung seiner derben Ursprünglichkeit wirkte nicht recht. Der Clausner als Deus ex machina brachte einen Unkenbaß und das Ganze endete mit einer bedenklichen Kühle, die uns Deutsche alle sehr unglücklich machte. Der Eindruck des Armen und Kleinmüthigen hatte richtig die Oberhand gewonnen. Als am Schluß das ganze Personal niederzuknien hat, um ein Gebet zu singen, wurde mir vollends weh ums Herz. Wenn Massen auf dem Theater beten, so sollen sie niederblicken, denn sie können nicht so hoch sehen, um dem Blick des Publicums auszuweichen. Nun sah dies Gebet der armen Deutschen wie ein flehentlicher Kniefall vor der Nachsicht des französischen Publicums aus. Solche demüthige Entwürdigungen vor dem Publicum machen zwar in Deutschland, z. B. in Hamburg, Glück, ließen aber die Franzosen kalt.

Die Unternehmung scheiterte. Herr Schumann behauptet, weil ihm einige deutsche Sänger, die zu kommen versprochen hätten, contractbrüchig geworden sind. Aber Herr Schumann sollte die deutschen Sänger genugsam kennen, um sich ihrer anders zu vergewissern, als durch Contracte. Herr Schumann durfte in Paris nicht auftreten, ohne die Kräfte beisammen zu haben, auf die er rechnen wollte. Sein Leichtsinn (wäre die Unternehmung geglückt, würde man sagen müssen seine Verschlagenheit) bildete sich ein, auch mit seiner schwachen Mainzer Oper in Paris die Würde der deutschen Kunst vertreten zu können. Er hat diese Würde schmählich verrathen. Er hat das gute Vorurtheil, welches man in Frankreich vom Talent der Deutschen hegt, zerstört. Er hat die Phrase: talentvoll, parceque Allemand, wieder in: talentvoll, quoique Allemand, verwandelt. Nicht nach Clichy, auf den Hardenberg in Mainz müßte man ihn setzen, sagte ein Deutscher, der außer sich war über diese neue Demüthigung Deutschlands vor Frankreich.

Es ist noch immer möglich, in Paris mit einer deutschen Oper Glück zu machen, nur muß sie die vorzüglichsten unsrer Talente aufweisen. Diese Talente müssen aus Ehrtrieb, nicht des Gewinnes wegen mitwirken. Geld gewinnen läßt sich in Paris schon bei dem deutschen Opernrepertoir nicht. Die deutschen Opern bringen in Deutschland nichts ein, viel weniger in Frankreich. Unsre Opern sind entweder gelehrt und langweilig, oder sie haben kindische, veraltete Texte. Das Nachtlager von Granada hat Glück gemacht, Euryanthe, Oberon, die meisten Marschner'schen Sachen würden zu kämpfen haben, Jessonda ist gänzlich gefallen. Weit entfernt, den Franzosen das Richteramt über unsre Musik einräumen zu wollen, in Paris dürfen sie richten, weil sie bezahlen. Sie werden uns immer sagen, daß wir großartige Symphonien, aber langweilige Opern haben, und die Kasse würde nicht das Gegentheil beweisen. Mit italienischen und französischen Opern dürften sich die Deutschen nicht hervorwagen, ob ich gleich überzeugt bin, daß italienische und theilweise auch französische Musik bei uns besser gespielt und gesungen wird, als in Paris. Da also das Ganze nur Experiment sein kann, (Paris und London sind völlig verschiedene Terrains), da der Erfolg für das Talent glänzend sein könnte, ohne darum die deutsche Oper in die Mode zu bringen, so kann ein Impressario diese Last nicht allein tragen. Entweder müßte ein Fürst, z. B. der Herzog von Braunschweig, seine Oper, im ganzen Ensemble, mit Allem, was zu ihr gehört, ja sogar mit dem Strafreglement, auf dienstlichem Wege in Paris debütiren lassen, oder die bedeutenderen Talente treten selbst zusammen und verzichten da, wo sie Ehre ernten können, von vornherein auf den Gewinn. Sonderbar freilich, daß eine entsagende Kunstfahrt, die ich mir getrauen würde bei unsern deutschen Schauspielern, und den berühmtesten, sogleich zu organisiren, bei den deutschen Sängern unter diesen Umständen wol nicht möglich wäre.

Der großen Oper gegenüber, nicht weit vom Boulevard des Italiens, liegt hinter einem kleinen verqitterten Vorgarten das Café Lepelletier, eines der wenigen Cafés, die schon zu ebner Erde »Divan« sind. Für ein Estaminet ist es zu elegant. Im grünen Vorhofe steht eine Bronzestatue der Flora, umplätschert von einigen kleinen Springbrunnen. Hier begegnen sich deutsche und französische Schriftsteller. Das eine Sopha gehört den Deutschen, das andere den Franzosen. Man erstickt fast in den Tabackswolken, die hier beide Literaturen umhüllen. Im Dominospiel tändelt man das innere Misbehagen des ungestillten Ehrgeizes weg, man scherzt über seine Schmerzen, vergißt sie über die unbefriedigten Wünsche der Andern. Man hat gearbeitet, man hat dinirt, der Tag der Mühen ist vorüber. Man spricht nicht über Staat, nicht über Literatur mehr, man bröckelt die Asche von der glimmenden Cigarre, schlürft den schwarzen Moccatrank, lehnt sich an die schwellenden sammtnen Rückenkissen und flanirt, sitzend, flanirt mit seinen Gedanken. Die Maschine der Production ist abgelaufen – Production ist in Paris ein Mechanismus – man zieht sie nicht einmal für morgen auf; man lacht, man genießt, die Gedanken fahren, behaglich rückgelehnt, sechsspännig im Schritt durch ein buntes Eldorado erträumter Glückseligkeiten! Selten, daß man sich noch über eine Dummheit der auf dem Tisch liegenden deutschen Zeitungen erhitzt. Man ist so gewöhnt daran, man hat so viel aufgegeben, so viele Hoffnungen verloren, so vielen Täuschungen entsagt, daß man sich nur noch über wenig erzürnt und über nichts mehr verwundert.

Ich spreche von den deutschen Flüchtlingen, Man hat die Professoren von 1819 wiederhergestellt. Man wird auch vom schwarzen Bret die Studenten von 1831 wieder ausstreichen. Die Zeiten integriren sich. Die Epochen bedürfen einander, die Zukunft nimmt ihre Kraft von der Vergangenheit. Venedey z. B. wäre schon jetzt reif für einen bairischen Ehrenbecher, oder wofür erhielt Niclas Becker in Köln die Auszeichnung eines Königs? Venedey hängt mit rührender Sehnsucht an seinem Vaterlande, er hegt eine Liebe zu Deutschland, wie zu seiner Braut; er liebt die deutsche Sprache, die deutsche Geschichte, wie man ein blondes Mädchen liebt, an der wir selbst ihre Sommersprossen schön finden. Venedey lebt nur äußerlich in Paris. Seine eigentliche Wohnung ist in dem Lande, das er nicht betreten darf. Er lustwandelt in den Ruinen des heidelberger Schlosses, er erklimmt den Brocken, er ruht, in Hemdärmeln wie ein jenenser Student, stets im Schatten einer Wartburgeiche. Ich habe Venedey nie gefragt, warum er Deutschland verlassen mußte, aber ich begreife nicht, warum er nicht längst zurückkehren durfte. So tapfer haben Wenige für das linke Rheinufer gestritten, als Venedey, so großmüthig und uneigennützig haben Wenige, im Interesse Deutschlands, den ehrenvollsten Verbindungen mit der französischen Presse entsagt. Venedey gehört zu Denen, welche in Deutschland die nationale Frage über die liberale stellen. Er will Deutschland erst einig machen und ihm dann die Unterpfänder der Freiheit geben. Er hat ein Buch gegen Preußen geschrieben, aber nur, weil ihm das Preußen des vorigen Königs kein deutsches schien. Venedey, in seinen Bestrebungen verkannt, von der Diplomatie verfolgt, verbarg sich in der Normandie. Er bereiste die Normandie, um in ihr Deutschland zu entdecken. Er leitet aus der französischen Sprache die deutschen Wurzeln, aus den Sprichwörtern Frankreichs und Deutschlands die Unterschiede in den Sitten beider Nationen her, er hat sein ganzes, mühevolles, an Entbehrungen gewöhntes und der betrübendsten Zufälligkeit preisgegebenes Leben der Verherrlichung des deutschen Namens gewidmet, ohne etwas Anderes dafür zu ernten, als Mistrauen, Undank, Verfolgung. Venedey wäre vielleicht schon in Deutschland, wenn ihn sein Stolz nicht zurückhielte. Daß man diesen Stolz der Armuth, diesen Stolz der Bescheidenheit nicht versteht! Daß man Gnaden und Belohnungen für das Genie hat, nur wenn das Genie einkommt und um Gnaden und Belohnungen bittet! Daß man Amnestien gibt, unter der Bedingung, man müsse mit der Erklärung einkommen, daß man von der Amnestie Gebrauch zu machen wünsche! Wer gibt Bettlern Almosen und wirft ihnen ihre Armuth vor? Wer demüthigt den Unglücklichen, den wir still und in sich hinein leiden sehen? Kann man ein Glück annehmen, das man durch eine Entwürdigung unsres heiligsten Innern erkaufen muß? Seid weniger gnädig, Fürsten, aber seid liebevoller! Viel geschieht in unsrer Zeit für die Gottähnlichkeit, wenig für die Menschenwürde.

Herr von Rochau nahm am frankfurter Aprilaufstande Theil, saß vier Jahre im sogenannten Rententhurm am Main und entfloh mit seinem Wächter nach Paris. Herr von Rochau mag in seinen Handlungen irren, aber in seinen Worten ist er ein Mann von Ehre. »Wir hatten,« sagte er, »in Frankfurt keinen andern Zweck, als den, zu fallen und Deutschlands politisches Unheil anzuregen. Es war von einer Eroberung, von der Möglichkeit eines durch diese Episode herbeigeführten Umsturzes nicht die Rede. Man wollte gegen die Junibeschlüsse von 1832, gegen die Lethargie der Masse protestiren, man wollte der conservativen Partei zeigen, wessen die liberale fähig wäre in ihrem Muth, in ihrer Ueberzeugung.« Man wollte enden, wie Egmont endet, »ein Beispiel gebend.« Ich weiß nicht, ob diese Auffassung des unglücklichen Ereignisses sich in den Akten der frankfurter Untersuchungscommission findet, aber wahr scheint sie schon deshalb, weil sie so chimärisch, so studentisch, so deutsch klingt. Ein Blitz aus heiterm Himmel, der sich selbst verzehren wollte, wahrlich eine Idee, die wol nie einer französischen Emeute zum Grunde lag. Ob von Rochau sich nach Wolfenbüttel, seiner Heimatstadt, sehnt? Ich weiß nur, daß auch er diese Rückkehr nie durch einen Widerruf erkaufen würde. Rochau ist ein Charakter von eben so viel Kraft, wie, ich möchte sagen, von Grazie. Dem aufrichtigen Republikaner sind die anziehenden Eigenschaften des deutschen Adligen treu geblieben. Ich halte den Adel nicht für gut, aber ich verehre, was an ihm schön ist.

Man kann sich vorstellen, wie schwer es ist, sich in Paris eine dauernde Existenz zu begründen. Der Gedanke, die Feder zu ergreifen, lag den Flüchtlingen nahe. Aber nicht Jedem hat es glücken wollen, Verbindungen anzuknüpfen oder sein Talent dauernd auszubeuten. Einige gingen zu praktischen Berufswissenschaften über. Dr. Schuster aus Göttingen konnte seine Thibaut'schen Pandekten und Mittermaier'schen Civilistika im Lande der Geschwornengerichte nicht brauchen und griff nach dem Stabe des Aesculap. Kolloff, aus mecklenburgisch Friedland, durchwanderte die pariser Gemäldesammlungen, suchte seine Münchner kunstgeschichtlichen Hefte wieder vor und warf sich auf die Kunstkritik, in der er Ausgezeichnetes leistet. Savoye hält Vorlesungen über deutsche Sprache; Spazier, den ich nicht sahe, soll in der Kanzlei des englischen Botschafters beschäftigt sein. Alle diese unsre Landsleute haben auf dem spröden pariser Boden, um ihn sich ergiebig zu machen, einen so harten Stand, daß man es für wahrhaft lieblos erklären muß, wenn deutsche Schriftsteller, die mit vollen Börsen auf einige Wochen nach Paris kommen, über sie gespöttelt haben. Ihr Mistrauen, ja sogar ihre hie und da sichtbaren egoistischen Anflüge muß man ihnen zu gute halten. Das Unglück isolirt. Nur Der gibt sich gläubig hin, der nichts zu fürchten braucht.

Unter den Nichtflüchtlingen macht seit einigen Jahren ein geborner Elsässer, A. Weill, durch seine Correspondenzen aus Paris Aufsehen. Ich glaube, daß man diesem originellen Kopfe noch mehr einräumen muß, als Geist. Weill ist Franzose und Deutscher, je nachdem er die Nacht geschlafen hat. Steht er mit gutem Humor auf, so geht er zu Alphonse Karr, Pierre Leroux, zu Gerard, zum Altaroche, rechnet sich zur französischen Literatur und schreibt das geläufigste Französisch für den Charivari. Hat er Kopfschmerzen, so nennt er sich einen Deutschen und richtet an die Phalange antifranzösisch stylisirte Briefe über Schelling, Ruge und Feuerbach. A. Weill ist ein vortrefflicher Tenorist, denn in der Oper seines Freundes Mainzer hat er auf der Academie Royale einzig und allein die Chöre gehalten. A. Weill ist ein gesuchter Tänzer, auf der Chaumière beweist es sein Cancan, in den er deutsches Gemüth zu legen weiß. A. Weill ist Communist aus Ueberzeugung. Er würde vor Sokrates und Plato nicht den Mund halten, verstummt aber, wenn ein Schneider über die Pflichten und Rechte der Menschheit spricht. A. Weill würde sich getrauen, es mit dem Witze Swift's aufzunehmen; vor einer witzigen Grisette aber verliert er so sehr den Verstand, daß er sich nur dadurch noch sammeln kann, daß er sich in sie verliebt. Die größten Philosophen pflegt A. Weill in seinen Correspondenzen »Dummköpfe« zu nennen und in jeder Bürgersfrau entdeckt er eine Sevigné. A. Weill wollte mich mit einer Hebamme bekannt machen, die er für die geistreichste Frau in Frankreich erklärt. Dieser Schriftsteller ist einer der wenigen, die mit wirklicher Ueberzeugung das Lob verachten. Würde er einmal gründlich und mit Witz getadelt, er würde nichts antworten, als: Ich beneide meinem Gegner seinen Artikel. A. Weill ist ein wahrer Heck- und Brütkopf geistreicher Ideen. Leider fliegen sie alle halbreif schon aus und erdrücken eine die andere.

Auch eine unsrer deutschen Liedernachtigallen fand ich nach Paris verflogen. In einen kleinen dunklen Käfig der Rue du Croissant hat sich Franz Dingelstedt eingenistet. Eine lange Wolkengestalt, die sich, mitleidig mit der Erde, zu ihr niedersenkt. Feucht glänzende Augen, die sehnsüchtig über das Glück der Welt hinwegstreifen, ohne selbst es zu finden. Frei und selbständig jetzt, aber Sklave seines Talents. Sein Talent hat sein Herz in die Miethe genommen, sein Talent beobachtet, erfindet, schreibt Artikel im Lesecabinet Montpensier, siegelt sie zu und wirft sie auf die Post nach Augsburg, kurz das Talent eilt dem Dichter voran, er selbst kann es nicht mehr einholen und sieht wehmüthig jenen Werken nach, die von der feinen Kunstfähigkeit seiner Hand, nicht von den Wünschen seines Herzens zeugen. Im Salon seht ihr eine lange Gestalt, hingeworfen in einen sammtnen Fauteuil, die Kerzen strahlen, die Brillanten blitzen, die Töne der Musik rauschen, und der Träumer im schwarzen Frack streicht sich das Haar zurück und träumt in Paris an der Seine von Fulda an der Fulda, im Angesicht der schönsten Weiber des Salons, von hessischen Stiftsdamen, die über deutsche Lyrik noch weinen können, träumt von den sieben Hügeln des Rhöngebirges, von kurhessischer Provinzialpoesie und dem kasseler Beobachter, träumt, mit Lamartine im Gespräch, von Deutschland, wo die Unsterblichkeiten durch kleine Wochenblätter auf grauem Löschpapier gemacht werden. Dingelstedt, der Sprachen sehr kundig, hat sich in Paris überall, wo er auftrat, zu behaupten verstanden. Und doch wird er nach der Heimat zurückkehren, der sein Herz mit allen Fasern angehört. Es waren schmerzlich heitre Augenblicke, Arm in Arm mit dem bewährten alten Freunde Nachts durch die Straßen schlendern, dem Vollmond ins große Antlitz blicken, des Vergangenen gedenken und des Zukünftigen. Die Umrisse der Mondlichtbilder, welche Dichterfreundschaft in der dunkeln Kammer des Innern lustwandelnd zusammen auffängt, sind Hauche, die, wenn man sie auch niederzeichnete, nicht verstanden würden.

Zur Erinnerung an alte akademische Zeiten feierte eine Anzahl Deutscher einen heitern Abend mit allen jenen akademischen Formen, an welche die studirende Jugend leider in Deutschland zu viel Jugend und Phantasie verschwendet. Alles war da, die Fahnen, die Schläger, die durchstochenen Mützen. Ein Gedicht von dem hier als Arzt sich vervollkommnenden trefflichen Dichter Wolfgang Müller, in Musik gesetzt von Schindler, wurde mit allgemeinem Enthusiasmus aufgenommen. Mit Wehmuth an die baldige Abreise denkend, schied ich von dem vaterländischen Kreise und besonders von seinem politischen Bestandtheile in einer Stimmung, die sich ungefähr mit folgenden Worten löste: »Der Trost des Scheidens liegt in der Hoffnung des Wiedersehens. Wenn ich in einem Kreise, der aus so eigenthümlich bedingten Elementen zusammengesetzt ist, wie der Ihrige, dies tröstende Wort: Auf Wiedersehen! ausspreche, so fühlen Sie wol selbst, welcher Deutung es fähig ist. Ja, meine Herren, auf Wiedersehen in der Heimat! Ich spreche diesen Wunsch aus mit all seinem Bedenklichen und allem Erlaubten, mit allen seinen Schmerzen und allen seinen Freuden, mit allen seinen Nebengefühlen und Rückhaltsgedanken. Auf Wiedersehen in der Heimat! Es ist, als forderte ich Sie auf, ein Hoch zu bringen der Zukunft des Vaterlandes, ein Hoch den vernarbten Wunden, dem vergessenen Groll, ein Hoch der Ehre und der Würde des deutschen Namens! Auf Wiedersehen in der Heimat!«


 


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