Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXVII

Ein paar kleine Wellen kräuselten sich gleich Stirnlöckchen am Ufer der Lagune. In der Mitte des Wassers schrie und lärmte die wilde Vogelwelt in dünnen Schilfgebüschen.

In Körper und Seele lastete mir eine große Müdigkeit, ein Überdruß, als ob ich immer nur unnütze Tätigkeit über diese Welt säte.

Ich sollte ja auch eine traurige Stunde durchleben; eine Stunde, die in meinem ganzen bisherigen Dasein das größte Opfer bedeutete.

Seit ich als einfacher Viehtreiber hier angekommen war, um mich in den Patrón meiner Erbgüter zu verwandeln, waren drei volle Jahre vergangen. Mein Erbe! Jawohl, ich konnte mich umschauen und mir sagen, daß alles mein war. Aber diese Worte bedeuteten mir nichts. Wann hatte ich mir denn je in meinem Gaucholeben gesagt, daß ich über fremden Kamp zog? Wer ist denn so sehr Herr der Pampa wie der Viehtreiber? Schon der bloße Gedanke an die vielen Gutsbesitzer rief ein Lächeln in mir hervor; da saßen sie nun in ihren Häusern, waren immer von der Kälte oder von der Hitze bedroht; fürchteten sich vor jeder Gefahr, die ein störrisches Pferd, ein blindwütiger Stier oder ein Unwetter für sie bedeuten könnte. Was besaßen sie denn? Ein paar Fleckchen Kamp gehörten ihnen auf der Landkarte; aber Gottes freie Pampa war mein gewesen; denn ihre Dinge waren meiner Kraft und Pampakundigkeit vertraut und freund.

Immer in meinem Leben hatte mir das Wasser als eine Art Spiegel gedient. Am Ufer eines Baches hatte ich vor langer, langer Zeit einmal meine Kindheit überdacht. Und dann hatte ich wieder an der Furt eines Flusses, während ich mein Pferd tränkte, fünf Jahre Gaucholeben an meinem inneren Auge vorübergleiten lassen. Heute nun saß ich auf meinen eigenen Besitzungen an der kleinen Bucht einer Lagune und durchblätterte als Patrón in Gedanken mein Tagebuch.

Wenn ich damals, als ich meinen Kamp aus Don Leandros Händen empfing, meinen Gefühlen gefolgt wäre, würde ich noch heute am Ende meines Pferdetrupps die ewig neue Welt durchstreifen. Doch zwei Dinge entschieden mich damals, meine Meinung zu ändern: Erstens einmal waren es die Ratschläge meines Vormunds und die Vernunftgründe, die er anzuführen wußte; dann aber auch die Tatsache, daß diese aus dem Munde meines Herrn Paten bekräftigt wurden. Der stichhaltigste Grund aber war für mich Don Segundos Entschluß gewesen, auf dem Kamp zu bleiben.

Es ist fast überflüssig zu sagen, daß ich während der beiden ersten Jahre im Rancho meines Herrn Paten wohnte. Vom ersten Tage an hatte ich das Herrschaftshaus nicht als meinen erwählten Wohnsitz betrachtet. Jener wilde Instinkt, der mich mein Lager immer wieder im Freien aufschlagen und jede Einfriedung meiden ließ, blieb nach wie vor sehr lebendig in mir. Auch fuhr ich fort, mich in der ersten Morgendämmerung zu erheben und mit den Hühnern bei Sonnenuntergang zu Bett zu gehen.

Das große, leere Haus, das mit lauter feierlichen Möbeln, die mich sehr an meine Tanten erinnerten, angefüllt war, sah mich nur bei flüchtigen Gelegenheiten. Diese weiten Gemächer blieben für mich die eines anderen Mannes, an den als einen Vater zu denken ich mich nicht gewöhnen konnte. Aber selbst dieses Bewußtsein wurde immer schwächer, und schließlich ließ die Erinnerung mich ganz kühl. Wenn ich es hätte wagen können, hätte ich das Haus am liebsten niederreißen lassen, so wie man aus Mitleid ein krankes Tier umbringt.

Da die Pferdekoppel, die unter Don Segundos Aufsicht stand, an den Galvánschen Kamp grenzte, kamen Raucho und ich ständig zusammen. Bald besiegelten wir unsere Freundschaft dadurch, daß wir gegenseitig einige Pferde austauschten. Er gab mir einige Falben zum Zureiten und schenkte sie mir dann als Anfang jenes heiß ersehnten Trupps von dieser Farbe. Ich tat ihm ein gleiches mit einigen Füchsen. Abwechselnd sekundierten wir uns bei der Zähmung; unsere Freundschaft hätte nicht besser und gauchomäßiger gegründet werden können. Für zwei Burschen, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf ihren Pferden saßen, war dies die einzige Möglichkeit, sich immer nah zu sein.

Häufig trafen wir in Don Segundos Rancho zusammen, und ebenso bei Don Leandro, wenn dieser uns zu sich rief, um uns die Verwaltung einer Estancia zu lehren. Doch verbrachten wir bei Don Segundo unsere schönsten Stunden. Da saßen wir mit einem Mate in der Hand oder einer Gitarre unter den Fingern, während der große Mann uns Phantasien und Geschichten oder auch Dinge aus seinem Leben erzählte. Und all seinen Erzählungen war jene Klarheit, jener Reiz eigen, die ich in diesen Erinnerungen wiederzugeben mich bemüht habe.

Auf Grund dieser Erzählungen geschah es, daß Raucho versuchte, mich für seine Liebhabereien zu gewinnen. Er wußte eine unheimliche Menge aus Büchern. Dann lieh er mir einige, über die er groß und breit zu mir sprach. Aber was war das für ein Unterschied! Während mir nicht nur die Sprache, sondern auch der Mangel an Gewöhnung Schwierigkeiten bereitete, las er mit außerordentlicher Leichtigkeit nicht nur spanisch, sondern auch italienisch, französisch und englisch. Aber davon ganz abgesehen, machte Raucho mir den Eindruck eines Wesens, das dem Schmerz nicht unterworfen ist und die wahre Taufe dieses Lebens nicht empfangen hat. Ein anderes Thema unserer Unterhaltung waren seine Abenteuer und Vergnügungen. Was glaubte er wohl auf diesem Wege zu finden? Nach meiner Meinung war dieses Leben schon so ausgefüllt, daß mir die Absicht, ihm noch andere Seiten abzugewinnen, kindisch vorkam. Aber meine einfachen Gründe vermochten nichts gegen seine Phantasie, und so ließ ich ihn denn schließlich nach seinem eigenen Geschmack sich austoben. Mir aber machte es meine Geburt unmöglich, die Liebe als eine vergnügliche Unterhaltung zu betrachten.

Über alldem entwickelten sich bei mir nach und nach ein neuer Charakter und neue Interessen. Zu meiner täglichen Arbeit kamen die ersten literarischen Bemühungen. Voller Eifer versuchte ich mich zu bilden.

Aber von alldem möchte ich nicht in diesem Buch, das aus einer einfachen Seele heraus geschrieben ist, sprechen. Es ist genug, wenn ich sage, daß die Erziehung, die Don Leandro mir gab, die Bücher und einige Reisen nach Buenos Aires, die ich mit Raucho zusammen unternahm, mich innerlich zu dem machten, was man einen kultivierten Menschen nennt. Doch nichts schenkte mir jene kraftvolle Befriedigung, die ich in meinem Kampleben fand.

Und obgleich ich mich der neuen Lebensform nicht verschloß und eine herbe Freude an meiner geistigen Erziehung fand, blieb doch einige Scheu und ein gewisser Mangel an Anpassungsfähigkeit aus der Vergangenheit an mir hängen.

An diesem Abend sollte ich nun den schwersten Schlag meines Lebens erleiden.

Meine Uhr zeigte die fünfte Nachmittagsstunde. Ich saß auf und ritt auf die Landstraße hinaus, wo mein Herr Pate mich erwarten wollte. Es hatte sich als unmöglich erwiesen, ihn noch länger zurückzuhalten. All meine Bemühungen waren vergeblich gewesen. Er war fürs Wandern geboren, und nach drei Jahren Seßhaftigkeit war sein Ruhebedürfnis übersättigt. Ich aber fühlte in mir selbst viel zu stark die unwiderstehliche Anziehungskraft der Landstraße, um nicht verstehen zu können, daß für Don Segundo Weg und Leben dasselbe waren. Und ich sollte zurückbleiben!

Wir begrüßten uns wie gewöhnlich. Nebeneinander ritten wir langsam wohl eine Meile die Straße entlang. Dann überquerten wir eine Füllenkoppel und erreichten den »Pampastier« benannten Hügel, auf dem wir uns nach unserem Übereinkommen verabschieden wollten. Wir sprachen nicht. Wozu auch!

Mit seinem kraftvollen Händedruck empfing ich das Gebot des Schweigens. Traurigkeit zu zeigen, wäre feige gewesen. Mit einem Lächeln wünschten wir uns noch einmal das Beste fürs Leben. Dann machte Don Segundos Pferd eine Wendung und vollzog durch seine Abkehr die Trennung unserer zukünftigen Lebenswege.

Ich sah, wie Don Segundo sich im Schritt entfernte. Träumend ruhten meine Augen auf seinen vertrauten Bewegungen. Eine Weile wußte ich nicht, ob ich Wirklichkeit oder ein Erinnerungsbild vor mir sah; so genau wußte ich, wie er jetzt die Peitsche heben und wie er den Oberkörper zurechtrücken würde, um in Galopp überzugehen. So ritt er dahin. Der Trab ließ seine Gestalt wie in freudiger Erregung hüpfen. Die Hufe klopften den altbekannten Takt: Reiten, reiten, die Ferne verschlingen. Für den Gaucho ist Ankunft ja immer nur Vorwand zu neuem Aufbruch.

Auf dem Weg, der sich wie ein Bächlein von Erde dahinschlängelte, erkletterten Pferd und Reiter den Abhang; fast verschwanden sie in den Distelbüschen. Einen kurzen Augenblick zeichnete sich ihre Doppelsilhouette, überschnitten von einem Strahl grünlichen Abendlichts, scharf gegen den Himmel ab. Was da hinten in der Weite allmählich verschwand, war eigentlich mehr eine Idee denn ein Mensch. Mit einem Schlage versank es, und mir blieb nur das Erinnern an diese letzte Erscheinung.

Ich tröstete mich: »Jetzt steigt er zum Flußbett hinab. Sobald er das Wasser durchritten hat, kann ich ihn wieder sehen, wenn er auf der anderen Seite bergauf reitet.« Langsam sank die Dämmerung nieder mit jener stillen Sicherheit, die nicht am Erfolg zweifelt. Unter einem dünnen Wolkenvorhang brach das Licht in langen Strahlenbündeln hervor.

Da erschien, stark verkleinert, der Schattenriß meines Herrn Paten auf dem zweiten Hügelrücken. Mir kam es sehr schnell vor. Dennoch, er war es; ich fühlte es, da ich ihm trotz der Entfernung nahe war. Mit aller Kraft umfaßte mein Blick dieses bewegte Pünktchen in der müden Weite der Pampa. Schon hatte er die Höhe des Weges erreicht, und fing von neuem an, zu entschwinden; es war, als ob ihm Stück für Stück von unten abgeschnitten würde. In Herzensangst klammerten meine Augen sich an das schwarze Pünktchen, das sein Hut war, um so lange wie möglich das Gefühl seiner Gegenwart zu haben. Umsonst … etwas umnebelte meinen Blick; vielleicht war's die Anstrengung. Eine tanzende, zitternde Lichtwelle überflutete die ganze Ebene. Ich kann die seltsame Empfindung nicht beschreiben, die mir die Allgegenwart einer Seele verursachte.

»Sombra, Schatten«, sagte ich immer wieder leise vor mich hin. Leidenschaftlich lenkte ich alle Gedanken auf meinen Pflegevater. – Beten? … Mich einfach in Traurigkeit still vergehen lassen? … Ich weiß nicht mehr, welche Gedanken mir in meiner Einsamkeit kamen … Dinge, die ein Mann sich niemals eingesteht.

Schließlich gelang es mir, meinen ganzen Willen auf die Erledigung der kleinen Pflichten des täglichen Lebens zu lenken; ich wandte mein Pferd und ritt langsam zu den Gutshäusern zurück.

Ich zog dahin wie ein Mensch, der verblutet.

 


 << zurück