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VIII

In der Pampa kommen die Eindrücke wie ein Blitz, wie ein Krampf, und schwinden gleich wieder spurlos ins Unendliche. So kam es, daß alle Gesichter bald wieder unbeweglich waren und daß ich selbst mein jüngstes Scheitern vergaß, ohne auch nur noch einen ganz natürlichen Ärger darüber zu verspüren. Die neue Viehstraße sah ebenso aus wie die alte; der Himmel war nach wie vor hartnäckig blau; die Luft, wenn auch ein wenig mehr erhitzt, roch noch wie vorhin, und der Schritt meines Ponys war kaum lebhafter.

Die Jungstiere gingen gut. Die voranziehenden kleinen Pferdetrupps riefen in einem fort mit ihren hellen Glöckchen. Nur das morgendliche Brüllen der Herde hatte aufgehört. Das Klappern der Hufe klang vielfältiger, und die Staubwolke, von tausenden von Hufen und Klauen aufgewirbelt, wurde weißer und dichter.

Mensch und Tier bewegten sich wie von einer einzigen Idee besessen: wandern, wandern, wandern.

Ab und zu blieb ein Jungstier zurück und knabberte ein Kraut am Straßenrande. Den mußte man scheuchen.

Angesteckt von dem wogenden Wiegen des allgemeinen Wanderns gab ich mich dessen großem Rhythmus hin und glitt in ein Halbbewußtsein, das trotz meiner offenen Augen wie ein tiefer Schlaf war. Auf diese Weise schien es mir möglich, für unbestimmte Zeit so weiterzuziehen, ganz ohne Gedanken, ohne Kraftanstrengung, eingelullt in das wiegende Schreiten. Auf Schultern und Rücken fühlte ich die Sonne wie eine freundliche Hand und Mahnung zur Ausdauer.

Gegen zehn Uhr kribbelte mir die erhitzte Rückenhaut, und meinem Pony liefen die Schweißtropfen über den Hals. Härter klang der Boden unter den eifrigen Hufen.

Um elf Uhr waren meine Hände und alle Adern geschwollen. In den Füßen hatte ich ein eingeschlafenes, taubes Gefühl. Die gestoßene Schulter und Hüfte schmerzten. Die Jungstiere begannen träger zu werden. Das Blut klopfte in den Schläfen, so daß mir ganz dumm zumute wurde. Der Schatten meines Ponys verkürzte sich auf der Seite mit hoffnungsloser Langsamkeit.

Um zwölf Uhr traten wir auf unseren eigenen Schatten. Man fühlte sich ganz verlassen. Da war keine Luft mehr zum Atmen, und der Staub umhüllte uns so dicht, als wollte er uns in seiner gelblichen Wolke verbergen. Die Jungstiere fingen an, lange Speichelfäden zu ziehen. Die Pferde waren schweißbedeckt, und von ihren Stirnen rannen ihnen die salzigen Tropfen in die Augen. Ich hätte am liebsten auf alles verzichtet und mich schlafen gelegt.

Am Ende kamen wir zu der Estancia eines gewissen Don Feliciano Ochoa. Baumschatten brachte köstliche Erfrischung. Auf Valerios Bitte hin erlaubte man uns, die Herde in eine Koppel mit guter Weide und einer Tränke zu treiben. Dann saßen wir ab und watschelten wie freigelassene Enten auf die Küche zu. Das Zeug klebte uns an den Beinen. Die Sporen behinderten unseren schleifenden Gang. Wir begrüßten die Peone und zogen die Schomberghüte von den Köpfen, um die schweißnassen Stirnen zu kühlen; nahmen einige Mates an, legten unseren Röstbraten, das Mahl des Viehtreibers, in die Asche des Herdes und entfachten die Glut.

Ich beteiligte mich nicht an der Unterhaltung, die sich zwischen den Fremden und denen vom Haus entspann und schnell lebhafter wurde. Ich fühlte mich am ganzen Körper ausgemergelt wie ein Streifen Dörrfleisch und hatte nur den einen Wunsch, mich irgendwo hinzuschmeißen und zu schlafen, und sei es auf dem bloßen Backsteinboden.

»Werden Sie nach dem Essen weiterziehen?«

»Nein, Señor«, antwortete Valerio, »das Wetter ist zu anstrengend für die Tiere … Wir haben eigentlich gedacht einen kleinen Mittagsschlaf zu halten … mit Ihrer Erlaubnis … und lieber ein wenig in die Nacht hinein zu marschieren … wenn es Gott gefällt.«

Welch' unbeschreibliches Glück empfand ich bei dieser Antwort! Sogleich lief ein wohliges Strecken und Dehnen durch meine Glieder, und all meine gute Laune kam wie durch Zauber wieder angeflogen.

»Sauber!« rief ich und spuckte durch die Zähne.

Einer der Peone sah mich lächelnd an.

»Ja«, sagte ich, als ob ich zu mir selber spräche, »ja, ich bin auch so ein Neuling, der draufgeht.«

»Oho«, meinte ein Alter, »bevor du draufgehst, mußt du aber erst mal etwas geworden sein!«

»Der ist arg mitgenommen«, erklärte Pedro Barrales, »Hat heut schon ein ungezähmtes Jungpferd bestiegen. Das hat ihn über den Kopf abgeworfen, weil er nicht von der Peitsche lassen konnte … Das ist auch so einer von denen, die noch sterbend einen anderen umbringen.«

»Tüchtiger Junge«, sagte der Alte und sah mich mit lächelndem Wohlgefallen an. »Da nimm einen gesüßten Mate, weil du so ein Gaucho bist.«

»Den hätt' ich nur verdient, wenn ich mich nicht hätte ab werfen lassen, Don.«

»Nun, morgen ist auch noch ein Tag.«

»Wer weiß«, mischte sich Goyo ein. »Besser wär's, wenn er's langsam angehen ließe.«

»Potzblitz, um zuzusehen, wie meine zwanzig Pesos über die Pampa laufen!«

»Na«, unterbrach der Alte wieder, »der versteht das Überbieten.«

Da versicherte Don Segundo: »Oho, mit dem Schnabel hat's bei dem keine Not. Erst muß er sich mal den Mund fusselig reden, ehe er ihn hält. Der ist wie ein kleiner Papagei.«

»Da hab' ich's«, sagte ich, zuckte mit den Schultern, wie um einen Schlag abzuwehren, und sprach kein Wort mehr.

Ein ungefähr zwölfjähriger Junge hatte sich neben mich gesetzt und betrachtete meine Sporen, meine von den Zügeln wund geriebenen Hände und mein erdbekrustetes Gesicht mit derselben Bewunderung, mit der ich vor wenigen Tagen noch Valerio und Don Segundo beobachtet hatte. Seine naiv zur Schau getragene, staunende Neugier galt mir so viel wie meine Bestätigung als Viehtreiber.

Derselbe Junge war es auch, der mir dann eine passende Schlafgelegenheit zeigte, und ich war ihm dafür fast ebenso dankbar wie für seine wortlose Bewunderung.

Gegen vier Uhr befanden wir uns wieder auf der Landstraße. Nach einigen Mates hatten wir herzlichen Abschied genommen, und ich fühlte mich wie neugeboren, nachdem ich mein Gesicht in einem Eimer Wasser gewaschen und die Erde von meiner Bluse geschüttelt hatte.

Dem Vieh kluckerte das Wasser im Bauche. Die ganze Herde war in gutem Zustand, nachdem sie sich hatte auf die Wiese werfen und paar Maulvoll Gras verzehren können.

Außerdem lag die Nachtkühle wie ein Versprechen vor uns. Die Aussicht, daß es von nun an immer besser werden würde bis zur endlichen Rast, hielt uns in wohlbegründeter Hoffnung aufrecht.

Wie bei unserem Ausritt von der Estancia hielt ich mich auch diesmal an der Spitze des Zuges, von wo aus ich angelegentlichst den Weg und die fernliegenden Ortschaften beobachtete, um sie meinem Gedächtnis einzuprägen; so sammelte ich meine erste Wissenschaft als künftiger »Banquiano« Banquiano: ortskundiger Pampaläufer..

Nach zweistündigem Marsche, als wir gerade bei einem kleinen Vorwerk vorbeikamen, ritt Goyo an mich heran, um mir einen Befehl von Valerio mitzuteilen:

»Sollst mit mir kommen! … Wir sollen 'n Hammel schlachten und dann den Zug wieder einholen.«

»Von der Arbeit versteh' ich aber nichts, Bruderherz.«

»Macht nichts, wirst dich daran gewöhnen.«

Während die Herde weiterzog, saßen wir am Rancho ab, dessen Besitzer uns wie alte Bekannte begrüßte.

»'n Hammel? sofort!« sagte er, als Valerio ihm erklärt hatte, daß wir Fleisch nötig hatten. Da gab es kein Handeln um den Preis.

Goyo war erfahren und flink. Mein ungeschickter Eifer brachte ihn unaufhörlich zum Lachen. Kaum hatte ich das Fell an einem Bein geritzt, als auch schon sein Messer den Bauch entlang gefahren kam und mich mit seiner Spitze bedrohte. Mit langen, sicheren Schnitten trennte er Fell und Fleisch; und war erst einmal die Bresche geöffnet, so daß er mit der Faust hineinlangen konnte, ging es mit Windeseile an das Abziehen. Zuerst schnitt er mit dem Messer einen Kreis um die Knochen herum und brach dann die vier Füße in den untersten Gelenken. Zwischen der Sehne und dem Knochen der Ferse schnitt er ein Loch, durch das er den Spangenhaken seines Zügels führte; dann ging er zu einem Baum und warf das andere Zügelende über einen Ast. Das faßten wir beide an und hängten uns solange daran, bis das Vieh abgezogen hing.

Nun öffnete er schnell den Bauch; zog in vielfachen Windungen Talg und Därme heraus, kratzte die Höhlung leer und befreite den Brustraum von Lunge, Leber und Herz.

»Und dafür hast du mich gerufen?« fragte ich ihn, während ich in verdutzter Untätigkeit neben ihm stand und mich schämte, daß meine Hände an mir herunterhingen, als ob auch sie ausgeweideter Abfall wären.

»Du wirst mir jetzt helfen, das Fleisch fortzubringen.«

Als die Schlachtung beendet war, steckten wir jeder unseren halben Hammel in einen Beutel aus Sackleinwand und banden ihn am Sattel fest. Dann verabschiedeten wir uns vom Vorwerker, der uns durch eine magere verdrießliche Chinita einige Mates reichen ließ, und ritten in einer Art Stinktiertrab der Herde nach, die sich gewiß noch nicht weit entfernt haben würde.

Noch niedergeschlagener über meine Untauglichkeit zum Schlachten als über mein morgendliches Pech begab ich mich wieder, Groll im Herzen, an die Spitze des Zuges. Wenige Stunden vorher hatte ich noch die gute Seite des Spiels genossen, als der Junge auf der Estancia an mir die Aufmachung und das Gebaren des Viehtreibers angestaunt hatte. Damals hatte ich nicht daran gedacht, daß der Wurfknochen noch eine zweite Seite mit wenig ehrenvollem Namen hat; das bemerkte ich erst, wenn meine Unerfahrenheit als Neuling auf eine der vielen unangenehmen Wirklichkeiten des Handwerks stieß. Was für Enttäuschungen würde ich noch zu erwarten haben?

Ehe ich mich einen tüchtigen Schwerenöter nennen konnte, mußte ich erst, das stand fest, noch schlachten lernen, mit dem Lasso umgehen und die Tiere binden, zähmen und so reiten, wie es die Leute beim großen Sammeltreiben taten. Ich müßte meine Leinen, Maulkorb, Zügel und Halfter selber herstellen können; müßte Haken und Knöpfe selber befestigen, Schafe scheren; Fußleiden, den »Frosch« Frosch: Pferdekrankheit. usw. heilen können und weiß Gott, was sonst noch. Ganz trostlos stand ich vor diesem Programm und murmelte mir immerfort die alte Lebensregel vor: Ein Ding ist das Singen und ein anderes das Singen zur Gitarre.

In all dieser Bedrängnis überfiel mich der Abend mit seiner rasch zunehmenden Dunkelheit. Ein wenig verängstigt durch die Einsamkeit, ritt ich wieder zu den anderen zurück und fragte sie, wann wir denn zu essen bekämen.

Auf offenem Felde nahmen wir unser Mahl ein. Nahe bei der Landstraße lag ein Flußbett mit einigen Weiden. Daher holten wir uns dürre Zweige. Dann hockten wir uns um das Feuer, und unsere kupferroten Gesichter bekamen im Flackern der Flammen ein wildes Aussehen. Hart und glänzend waren die Hände, die Messer und Fleisch hielten. Um uns war eine große Stille, die nur durch das leise Läuten der Viehglocken und das unruhige Brüllen der Herde unterbrochen wurde.

Vom Flußbett her mischte sich das Quaken der Frösche in das eintönige Zirpen der Grillen. Ab und zu beschrien die langbeinigen Chajávögel unsere Gegenwart. Die grünen Zweige pfiffen, wenn wir sie ins Feuer steckten und platzten dann mit einem leisen Knall wie ferne Jahrmarktsraketen. Ich fühlte, wie in meinem armen, überanstrengten Körper die Müdigkeit schmerzhaft umherzog; jetzt war mir zumute, als ob mein Kopf unter einer drückenden ledernen Satteldecke steckte.

Wir hatten kein Wasser, und ich mußte ein paar Stunden lang Durst leiden.

Und wieder setzten wir unsere Reise im Schritt der Herde fort.

Über uns blitzte der Sternenhimmel wie ein grenzenloses Auge voll glitzernden Schlafsandes. Bei jedem Schritt stürzte ein Strom von Schmerzen durch meine Muskeln. Wieviele Erschütterungen würde ich noch ertragen müssen? Schon war mir nicht mehr recht klar, ob unser Zug ein einziges großes Tier war, das sich bald in viele teilen würde, oder viele Tiere, die eines sein wollten. Das vielfältige Schreiten dieser ungeheuren Einheit machte mich schwindlig, und wenn ich auf den Boden blickte, weil mein Pony eine Wendung machte oder den Kopf schüttelte, war mir, als rege sich die Erde wie eine große unförmige Fleischmasse.

Ich wünschte, auch auf meinem Pferde schlafen zu können, wie die alten Viehtreiber. Jetzt sah niemand mehr nach mir. Die Leute kümmerten sich um das Vieh, ängstlich bedacht, daß kein Stück zurückbliebe. Ab und zu hallte ein Schrei. Die Teruterovögel begleiteten kreischend unseren Zug, und die Eulen fingen an, Verstecken zu spielen und riefen einander mit sammetweicher Stimme.

Keine Ortschaft war zu sehen.

Doch plötzlich merkte ich, daß wir angekommen waren. Schon ganz dicht vor mir sah ich die große, dunkle Masse einiger Häuser, und die Landstraße erweiterte sich wie ein Fluß, der in die Lagune einmündet.

Goyo, Don Segundo und Valerio wollten noch eine Runde machen, wie ich sagen hörte. Wir waren in einer großen Jahrmarktsbaracke am Rande einer Ortschaft untergebracht.

Bei den Pferdetrupps der anderen nahm ich meinem Pony Zügel und Sattel ab.

Unter einem Schutzdach aus Zink warf ich meine Habseligkeiten auf den Boden und ließ mich selber daraufsinken, wie einen Lehmbrocken, der vom Wagenrad abfällt.

Ein fast unmerklicher Peitschenschlag berührte meine Schulterblätter, und ich glaubte, die Stimme Don Segundos zu erkennen:

»Werde hart, Junge!«


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