Stefan Großmann
Österreichische Strafanstalten
Stefan Großmann

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Wiener-Neudorf

Von Matzleinsdorf über Inzersdorf und Bösendorf humpelt eine nicht sehr großstädtische Lokalbahn nach Wiener-Neudorf. Vorbei an jammervollen Ziegelarbeiterwohnungen, vorbei an armseligen Parterrehäuschen, zwischen denen patschweicher Erdboden, ungeregelter Straßengrund, ganze Seen von Kot und Regen liegen. Ottakring, was bist du für ein vornehmer Bürgergrund neben diesen traurigen böhmischen Dörfern vor den Toren Wiens! Eines davon ist Wiener-Neudorf, an dessen Ende »das Kloster« liegt, in dem die »ehrwürdigen Schwestern zum guten Hirten« ihre Kerkermeisterbegabung betätigen.

Ich trete in das Bureau des Herrn Inspektors der Weiberstrafanstalt, zeige meine Legitimation vor und bitte, mich gefälligst durch die Anstalt zu führen.

»Sofort!« erwidert der Inspektor, »ich muß nur vorher die ehrwürdigen Schwestern verständigen. Nehmen Sie Platz.«

Während ein Bote hinübergeht, muß ich warten. Es dauert lange, ehe Antwort kommt. Ungeduldig gehe ich auf und ab, ärgerlich bedenke ich, daß wahrscheinlich jede Minute, die ich hier nichtstuerisch warten muß, drüben in der Anstalt 102 zur Erzielung des gewünschten Eindruckes geschäftig benützt wird. Schließlich wird das Warten gar zu langweilig und ich bitte den Herrn Inspektor, mir zum Zeitvertreib einstweilen die Dienst- und Hausordnung zu leihen. Ganz bestürzt fragt er, ob ich sie mitnehmen will. Nein, beruhige ich ihn, nur durchblättern. Da finde ich gleich im Anfang, in der Dienstordnung, einen interessanten Paragraphen:

»Fremde, auch wenn sie einen behördlichen Erlaubnisschein haben, dürfen nicht länger als eine Stunde in der Anstalt verweilen.«

Eine Stunde! Wahrhaftig, vorsichtig haben sich die Schwestern ihr Gastrecht geregelt! Eine Stunde für den ganzen großen Betrieb einer Strafanstalt! Da kann man freilich alle »Späher von der Anstalt fernhalten«, wie es in der kürzlich erschienenen Festschrift zum fünfzigjährigen Bestande der Anstalt heißt. Da kann sich auch schwerlich wieder ein Ankläger finden wie Dr. Leopold Wittelshöfer, der Herausgeber der »Wiener medizinischen Wochenschrift«, der im Jahre 1864 einen erbitterten Kampf gegen die Zustände in Wiener-Neudorf eröffnet hatte . . . Unter solchen Umständen ist vielleicht in der Hausordnung mehr zu sehen als im Hause. Liest man da zum Beispiel einen Erlaß der Oberstaatsanwaltschaft Wien, wonach die Tuberkulosen bei Tag und Nacht gesondert von den anderen Sträflingen zu halten sind, so kennt man schon den fürchterlichen 103 Würgengel dieses wie jedes Gefängnisses. Liest man in der Hausordnung, daß jeder Sträfling nur einmal in zwei Monaten ein Vollbad nehmen darf – ein Fußbad liegt dazwischen –, so kriegt man eine Ahnung von den Reinlichkeitsbegriffen österreichischer Behörden und ehrwürdiger Schwestern. Und Wasser ist doch so billig! Wie überall, darf auch hier der weibliche Sträfling nach vier oder nach sechs Wochen je einen Brief erhalten und absenden, doch muß es natürlich ein Brief »unbedenklichen Inhalts« sein . . .

Endlich nach langem Warten darf ich hinüber. Zwei Schwestern »vom guten Hirten« begrüßen mich steif und wortkarg. Das erste, was sie mir zeigen, ist die Anstaltskirche. Ich trete ein, aber was ist das? Zwischen dem Altar und den Bänken steht ein saalhohes, faustdickes, graues Gitter. Der Altar ist geschützt vor den Blicken der zu ihm Flehenden . . .

»Und wo ist die Kanzel?«

»Dort links in der Ecke, auch hinter dem Gitter!«

Also auch der Prediger, dessen Wort eindringen soll in die Herzen der Hörer, ist höchst vorsichtig hinter dem Gitter placiert. Die Diener Gottes auf Erden sind so von den Sündern scharf und deutlich separiert.

Über lange, licht getünchte Gänge gehen wir zum Arbeitssaal. Die Schwestern immer voraus, stumm und wortkarg.

104 Der Inspektor öffnet eine Tür: »Der Arbeitssaal der Rückfälligen.« 109 Frauen sitzen hier im Saal, abscheuliche alte Weiber mit verkniffenen, zwinkernden Verbrechervisagen neben jungen, im Ausdruck ernsten, glatten Gesichtern, von denen man es gar nicht glauben mag, daß sie »Rückfälligen« gehören. Wie viel Schablone mag in der Einteilung stecken! Manches noch regsam veränderliche Mädchen mag da neben verkommenen Vetteln placiert sein . . . Alle sind mit Handarbeiten beschäftigt, mit Sticken, Spitzenschneiden, Weißnäherei, die Ungeschicktesten oder die Unbeliebtesten mit Haftelsortieren. In jedem Saale sind gewöhnlich zwei Nonnen.

»Während der Arbeit wird immer gebetet,« sagte mir später der Verwalter, »oder es werden heilige Lieder gesungen oder es wird aus heiligen Büchern vorgelesen

»Ununterbrochen?«

»Beinahe ununterbrochen.« Er macht mir gleich den Grund verständlich. »Wissen Sie, da wird der Sträfling ganz erfüllt von religiösen Gedanken, da ist ihm dann der Kopf so voll damit, daß er an seine Sachen gar nicht denken kann.«

Ohne laut zu widersprechen, höre ich diese Begründung an. Daß das Gebet, wenn es nur mehr pures Wortgeräusch ist, den Sträfling nicht ablenkt, sondern ihm nur lästig ist, 105 das werde ich einem Manne, der jahrelang mit den »guten Hirtinnen« umgeht, nicht mehr beizubringen vermögen. Von welcher Gebetswut die Erziehungsmethode der Schwestern erfüllt ist, das lehrt ein Satz, den sie in großen, weithin sichtbaren Lettern an der Wand eines Arbeitssaales angebracht haben:

»Wer aufhört zu beten, fängt an zu sündigen.«

Im zweiten Arbeitssaal sitzen Jugendliche und Erstmalige bei ihren Handarbeiten. Früher waren die Jugendlichen von den Erstmaligen getrennt und das war besser, denn unter »Erstmaligen« werden bloß die wegen eines Verbrechens erstmalig Verurteilten verstanden. Vergehen und Übertretungen kann eine Erstmalige soviel sie will hinter sich haben. Man begreift, wie viel eine Jugendliche von mancher »Erstmaligen« lernen kann . . . Der Arbeitssaal der Jugendlichen ist mit einem sehr sinnigen Wandschmuck bedacht. Da steht – ich spasse nicht – in großen, weithin sichtbaren Lettern:

»Nichts ist schwerer zu ertragen
als eine Reihe von schönen Tagen.
«

Man möchte das für eine Verhöhnung der Sträflinge halten, die diesen Satz vielleicht ein paar Jahre lang tagtäglich vor Augen haben, wüßte man nicht, daß er nichts ist als ein unsäglich einfältiger Ansporn zu jener falschen Demut, 106 die diesen Erziehern die Krone der menschlichen Tugenden ist . . . Den Saal verlassend, begegnen wir einer kleinen, verhuzelten, greisen Nonne. Schnell ist sie an uns vorüber . . .

»Die hat Haar' auf die Zähn',« sagte mir später der Verwalter von ihr; »in der steckt ein Korporal, und zwar ein strenger. Ein Blick von der und alles wird stad . . . Überhaupt, energisch sind sie, die Schwestern. Es ist ja auch nötig.«

In der Küche ist gerade das Mittagmahl fertig: Einbrennsuppe und Milchreis. Die großen Töpfe sind zugedeckt. Aus zweien schöpft eine Nonne – von den Zubereiterinnen war nichts zu sehen – auf Teller Kostproben für den Inspektor und für mich. Ich denke, ich koste nichts. Was würde das beweisen? Übrigens sieht der Reis gut ausgekocht aus, die Milch kommt mir wässerig vor. Die Sträflinge bekommen zweimal in der Woche 70 Gramm Fleisch, zweimal in der Woche Milchreis, zweimal Knödel mit Hülsenfrüchten oder Gemüse, einmal, Montag, bloß Gemüse. Dazu jeden Tag Einbrennsuppe. Theoretisch ist also die Verköstigung im Verhältnis zu anderen Strafanstalten etwas besser, doch bemerkt selbst die schon erwähnte Festschrift: »Die Sträflingskost im allgemeinen ist gewiß nicht üppig zu nennen und tritt gerade bei solchen Personen, die in besseren Verhältnissen lebten, nur langsam eine Gewöhnung 107 daran auf.« In besseren Verhältnissen als in der Strafanstalt haben aber wohl die meisten gelebt.

Nach der Schule erkundige ich mich. Doch besuchen sie von 172 Sträflingen nur 25! Der Unterricht wird von einer Nonne in Religion und in den Elementargegenständen erteilt.

Von einer Gefängnisbibliothek kriege ich nichts zu sehen.

Nach der Besichtigung sagte mir der Inspektor: »Die Bibliothek wird nicht viel benützt, die Schwestern verwalten sie. Hauptsächlich sind Bücher da über das Leben der Heiligen, Biographien der Heiligen, Erbauungsbücher, Missionswerke . . .«

»Nichts Weltliches?«

»Ich glaube, ein paar alte katholische Kalender.« Freilich, Erzieher, die meinen, die Masse der Gebete bessere allein, die können auf das kostbare Läuterungsmittel guter Bücher verzichten . . .

Im Spital ist der Arzt da. »Zufällig.« Er tritt zu mir und versichert mir eifrigst, daß es nirgends so schön ist wie in Neudorf. »Unter uns gesagt,« flüstert er mir mit erstaunlicher Vertraulichkeit zu, »es geht den Sträflingen zu gut.« Das kommt mir so plump vor, daß ich gar nichts darauf erwidere. »Sehen Sie,« setzt dieser wunderliche Freund seiner Patienten fort, »es werden mir zum Beispiel 108 Sträflinge von Wien aus mit der Bemerkung: ›Verdacht der Tuberkulose‹ überstellt. Und hier in der Anstalt werden die Weiber gesund, rund, kräftig.« Das Zuchthaus als Sanatorium! Ich habe von dem Geschwätz genug angehört und gehe.

Bleiben noch die Korrektionszellen zu besichtigen. Sie sind von außen zu verdunkeln und haben eine Holzpritsche.

»Eine sitzt jetzt drin,« ich kriege sie nicht zu sehen, »die simuliert Wahnsinn. Eine schrecklich unreine Person! Wie die sich beschmutzt! Und dann die Wutanfälle! Sie will die Wahnsinnige spielen.« Jeden Psychiater könnten diese Symptome neugierig auf den Fall machen.

Gesehen habe ich sie nicht. Der Arzt wird wahrscheinlich finden, daß es dieser »unreinen Person« auch »zu gut« geht, und der Inspektor bleibt bei der Diagnose: Simulation.

»Eine andere,« erzählt der Verwalter aus seiner medizinischen Praxis, »haben wir, die hat manchmal auch so einen fürchterlichen Zorn, daß sie gar nicht mehr reden kann, sondern nur so schreit: ›Rrr . . . ch, ch, ch . . .‹ Die laß ich zwei, drei Tage im Disziplinararrest, dann kommt sie wieder zu sich . . .«

Ich sehe den Herrn Inspektor ernst an: »Kommt sie wenigstens wieder zu sich?«

109 »No, nicht, daß sie irrsinnig wär', nein, sie wird nur wieder ruhig.«

Von den ehrwürdigen Schwestern haben wir uns verabschiedet und jetzt frage ich den Inspektor ganz offen: »Verwenden Sie hier die Zwangsjacke?«

Er will mit der Sprache nicht recht heraus.

»Die Zwangsjacke? Gewöhnlich nicht . . . Nur bei äußersten Renitenzen. Sagen wir, ich diktiere einer die Strafe, da fängt sie an zu brüllen. Was will man da tun?«

»In anderen Strafanstalten kommt man ohne Zwangsjacke aus.«

»Wir gebrauchen sie ja auch nur selten.«

In Männerstrafanstalten, wo gewiß viel brutalere Sträflinge zu bändigen sind, werden Zwangsjacken nicht angewendet. Die frommen Schwestern wollen sie nicht entbehren . . .

Über eines muß sich der Herr Inspektor noch beklagen: über diese »unglückseligen sinnlichen Freundschaften«. Daß es ihrer in Neudorf nicht wenige gibt, das lehrt ein Blick in das Strafregister. Auf jeder Seite ist das vielmal erwähnt. Da liest man zum Beispiel:

Sträfling X. hat mit dem Sträfling Y., mit dem sie in sinnlicher Freundschaft verkehrte, eine Hose zerrissen. 110

Strafe: Vierzehn Tage Einzelhaft, sechsmal Fasten, sechs harte Lager.

Manche Eintragung ist ein kleiner Roman:

Sträfling N. hat, weil Sträfling M. mit ihr nicht Freundschaft schließen wollte, geschrieen.

Strafe: Vier Tage Einzelhaft, ein Fasten, ein hartes Lager.

Dramatischer ist es ein anderesmal zugegangen:

Sträfling W. hat dem Sträfling V. aus Eifersucht einen Topf an den Kopf geworfen.

Strafe: Achtundzwanzig Tage Einzelhaft, zwölf Fasten, zwölf harte Lager.

Ein Sträfling (eigentlich: eine Sträflingin) hat einem anderen ein Butterbrot geschenkt. Man muß wissen, was das für ein Leckerbissen ist: Ein Butterbrot im Zuchthause! Auch dafür gab's Strafe. Eine Strafe gab's auch für »das Täuscheln von Nebengenüssen«. Zuweilen sind die Disziplinarurteile auch gesetzwidrig. So heißt es einmal im Strafregister:

Sträfling X. wollte aus Mutwillen nicht in die Kirche.

Strafe: Vier Tage Einzelhaft, ein Fasten, ein hartes Lager.

111 Das Staatsgrundgesetz sichert jedem Österreicher zu, daß er zu keiner religiösen Handlung gezwungen werden kann. Aber was ist das Staatsgrundgesetz neben den Machtbefugnissen der Strafhausnonnen und ihres Inspektors? . . .

Der Inspektor begleitet mich aus der Anstalt hinaus.

»Der drübere Trakt,« sage ich, schon auf der Straße stehend, »das ist wohl die Zwangsarbeitsanstalt? Viele Weiber, die ihre Strafen verbüßt haben, kommen dann noch dort hinüber. Ist es drüben viel anders?«

»Wird auch von den ehrwürdigen Schwestern verwaltet . . . aber im Zwang,« erwiderte der Inspektor, »ist es schlechter für die Sträflinge.«

»Wieso?«

»Erstens kriegen sie keinen Überverdienst. Bei uns kriegt der Sträfling doch seine drei, vier, fünf Kreuzer Lohn. Drüben gibt's keinen Lohn. Deshalb gibt's auch keine Nebengenüsse. Also das bissel Speck oder Butter, das er sich in der Strafanstalt allwöchentlich kaufen kann, das gibt's drüben nicht. Bei uns darf er alle vier oder sechs Wochen einen Brief schreiben und empfangen. Drüben gibt's keine Briefe!«

Ich habe leider keinen Einblick in die Hausordnung der Zwangsarbeitsanstalt Wiener-Neudorf nehmen können, doch liegt kein Grund vor, an den Ausführungen des Inspektors zu zweifeln. Wie in Neudorf, ist es ja in fast 112 allen derartigen Anstalten. »Die Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten dienen dazu, die dort angehaltenen Personen zu angemessener Arbeit anzuhalten, ihnen den Wert der Arbeit klarzumachen und hiedurch die Lust zu dieser wachzurufen.« So zu lesen in der Bibel des offiziellen Kriminalisten, in der »Österreichischen Gefängniskunde« des Oberstaatsanwalts Viktor Leitmayer. Ich frage: Kann der mit so schönen Worten gezeichnete Zweck der Zwangsarbeitsanstalt stupider und brutaler ausgeführt, nein, verhindert werden, als durch dieses heutige System? Ein Sträfling, der sein Verbrechen im Zuchthaus gebüßt hat, wird dann der Zwangsarbeitsanstalt überstellt. Im Zuchthaus hat er ein paar Kreuzer Lohn gekriegt. Im »Zwang« soll durch Nichtentlohnung seine Arbeitslust wachgerufen werden? Im Zuchthaus hat er sich die ungenügende Kost ein bißchen verbessern können, in der Zwangsarbeit gibt es auch diesen kleinen Aufputz der Einbrennsuppe und Hülsenfrüchte nicht!

Im Zuchthaus hat der Sträfling wenigstens alle sechs Wochen durch einen Brief den Seinen wieder näher kommen können, im »Zwang«, von wo der Sträfling erst nach drei Jahren wieder losgelassen werden muß, ist das Korrespondieren untersagt! Man begreift, daß die Zwangsarbeitsanstalt gefürchteter ist als der Kerker, man begreift aber auch, daß selbst ein österreichischer Strafanstaltsdirektor, 113 Anton v. Marcovich, in einer 1899 erschienenen Schrift: »Das Gefängniswesen in Österreich« empört ausruft: »Ich habe einige dieser Zwangsarbeitsanstalten besucht, aber jedesmal befiel mich ein Gefühl des Grauens und jedesmal mußte ich mir sagen: Ein Absud der abgefeimtesten Verbrecher neben verwahrloster, noch nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt geratener Jugend! Die alten, hier zusammengepferchten Verbrecher, die Landstreicher und Bettler werden hier nicht gebessert, der Wert der Arbeit wird ihnen nicht klar gemacht, noch weniger aber die Lust zu dieser wachgerufen. Den Jugendlichen aber wird hier ein schreckliches Gift eingeimpft!«

So urteilt über unsere Zwangsarbeitsanstalten ein Strafanstaltsdirektor, kein Gemütsmensch!

 


 


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