Stefan Großmann
Österreichische Strafanstalten
Stefan Großmann

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Vorwort

Herr Sektionschef Robert Ritter v. Holzknecht, der oberste Chef der staatlichen Gefängnisse in Österreich, war nicht sehr erfreut, als ich durch die Liberalität des früheren Ministerpräsidenten Dr. Ernst v. Körber eine Erlaubnis erhielt, die wichtigsten österreichischen Strafanstalten zu besichtigen und zu studieren.

»Was wollen Sie denn sehen?« fragte mich der Herr Sektionschef scheinbar voll Erstaunen über mein kurioses Vorhaben, »eine Zelle ist eine Zelle, viele Zellen sind ein Gefängnis! Was gibt's da zu studieren?«

Ich gestattete mir zu antworten, daß auch Zellen voneinander verschieden sein können. In Dänemark hat man von modernen Architekten neue zweckmäßig eingerichtete Strafhäuser bauen lassen, in Österreich hat man unverwendbare Klöster neu adaptiert. Im übrigen betonte ich, daß die Zellen der Strafanstalten auch bewohnt sind.

»Eben dieses,« fiel mir der hohe Ministerialbeamte mit erhobener Stimme ins Wort, »eben dieses ist es, weshalb ich kein Freund der Gefängnisbesuche bin. Der 10 Sträfling wird beguckt, er fühlt sich ausgestellt, ja geradezu prostituiert . . .«

Ich versuchte abzuwehren. Ich erklärte, daß ich nicht die Absicht hätte, irgendeinen Sträfling nach seinem Fall zu inquirieren, daß ich, so wichtig eine solche Untersuchung vielleicht auch wäre, in das Innere keines Sträflings, sondern bloß in das Innere der österreichischen Zuchthäuser eindringen wolle.

Aber der Herr Sektionschef blieb zartfühlend, »Se prostituere! Der Begriff paßt hier! Sich zur Schau stellen!«

Das Übermaß von Schamhaftigkeit kam mir endlich doch zu unglaublich vor. Ich erwiderte, daß das Innenleben des Sträflings in der öffentlichen Verhandlung, von Untersuchungsrichtern, Vorsitzenden, Staatsanwälten, Gefängnisbeamten noch ganz anders durchwühlt werde, als wenn einmal ein Schriftsteller an dem Sträfling vorbeigeht und ihn befragt, wie das Gefängnis auf ihn wirkt. Übrigens gelobte ich, womöglich – keinen Sträfling anzusprechen.

Da der Auftrag vom Ministerpräsidenten nun einmal vorlag, konnte Herr v. Holzknecht nicht anders, er mußte mir mein Passepartout ausstellen. Aber siehe da, ich erhielt nur die Erlaubnis zum Besuch der »schönsten« Gefängnisse. Ein zweitesmal mußte ich bei Herrn v. Körber bitten und jetzt erst bekam ich die Erlaubnis zur Besichtigung von 11 anderen Anstalten. Heute, da ich meine kleine »Inspektionsreise« fast beendet habe, begreife ich die nervöse Abgeneigtheit im österreichischen Justizministerium. Was da »bloßgestellt« vor mir lag, war nicht irgendein Sträfling, sondern unser ganzes System des Strafvollzugs. Kein Wunder, wenn der verantwortliche Mann dieses Systems gar so schamhaft ist. Es gibt da so viel, was verhüllt werden muß . . .

* * *

Ein Fachmann, der Strafanstaltsdirektor Anton v. Marcovich in Graz, schreibt in einer 1899 (bei Manz) erschienenen Schrift: »Noch immer spielt im Strafvollzug Österreichs das Abschreckungsprinzip die erste Rolle.« Wir sind in Österreich nicht so freudig brutal wie in Preußen-Deutschland, die abscheulichsten Ausschreitungen, wie sie Hans Leuß in seinem Buch schildert, die blutigen Orgien des Strafvollzuges (Durchpeitschen und Lattenarrest) fehlen uns, unwillkürlich dringt in das erbarmungslose System ein Zug humaner Schlamperei, zuweilen sogar ernster Menschenfreundlichkeit . . .

So schlimm wie die reichsdeutschen Gefängniszustände scheinen nicht einmal die österreichischen. Aber das System ist das gleiche, das gleiche unsinnige, das gleiche menschenverschwenderische: Körperliche und seelische Degeneration für jeden, der sich einmal in die fürchterliche Maschinerie des 12 Strafgesetzes – unsere österreichische Maschine stammt aus dem Jahre 1803 – eingefangen hat! Der Strafvollzug in unseren Zuchthäusern ist noch immer nichts anderes, als eine Methode der langsamen Ermordung. Gebessert in irgendeiner Hinsicht verläßt fast kein Sträfling die österreichischen Strafanstalten, und wenn der seltene Fall sich einmal ereignet, dann entstand die Besserung nicht infolge, sondern trotz der Strafe. Hingegen kann man sagen, daß es keine Ruchlosigkeit gibt, die der Verbrecher nicht gesühnt fühlt durch das, was er im Zuchthaus ertragen mußte. »Wir sind quitt!« so denkt der Verbrecher im Anfang der Strafe, »ich habe gemordet und ich werde gemordet.« Am Ende meint er, dessen Tat nur eine Weile gedauert, noch etwas vorauszuhaben, vor der Gesellschaft, deren Rache jahrzehntelang währt! So gibt das Zuchthaus heute selbst dem elendesten Verbrecher ein gutes Gewissen. Dank unserem Strafvollzug fühlen sich die Mörder als Opfer . . .

Das Zuchthaus verstockt, und dieser geistige Prozeß geht im einzelnen rasch vonstatten, weil dem Sträfling von allen Leidensgefährten die gleiche Losung zugeflüstert und zugeschrien wird. Aber der Gesellschaft zurückerobert wird kaum einer! Wer durch eine kurze Haft, durch eine ernste Gerichtsverhandlung, durch eine peinigende Selbstbesinnung wirklich geläuterter, innerlich gereinigter und befreiter sein könnte, sinkt wieder ins Jämmerliche zurück, 13 wenn er zu lange eingesperrt bleibt. Bedenkt man dazu, daß ganz ungenügende Ernährung, antisanitäre Wohnräume, sinnwidrige Lebensweise den Sträfling körperlich bricht, so wird man den oft beobachteten Hochmut der Verbrecher gegenüber plattdenkenden, mit Bekehrungsschriftchen ausgestatteten Funktionären staatlicher und religiöser Moral begreifen.

Der Bankerott des Strafvollzuges von heute, in Deutschland längst konstatiert, soll auch durch dieses Büchlein für Österreich bestätigt werden.

* * *

Die Zahl der Rückfälligen ist der Prüfstein des Strafsystems. Wohlan, nach der amtlichen Statistik des österreichischen Justizministeriums vom Jahre 1894 waren von je 100 Sträflingen in den Strafanstalten

Unbestraft Vorbestraft
wegen
  Übertretung  
wegen
  Verbrechen  
in Stein 27,7   34,5   37,6  
in Prag             86,5  
in Mürau 10,6   24,2   64,9  
in Lemberg 14,6   16,4   68,8  
in Gradiska 26,4   32      41,6  
in Garsten 3,3   9      87,7  

14 Es verdient angemerkt zu werden, daß die Anstalt Garsten, die die stärkste Zahl der Rückfälligen (97,7%) aufweist, als die strengste, und Stein, das die kleinste Zahl der Rückfälligen (37,6%) hat, als die mildeste der österreichischen Strafanstalten bekannt ist.

Wie schnell kehren entlassene Sträflinge wieder in »ihre« Anstalt zurück? Auch darauf antworten die Ziffern. Von je 100 Rückfälligen ist im Jahre 1894 seit der letzten Entlassung ein Zeitraum verstrichen von

Bis zu
sechs
Monat.
Bis zu
einem
Jahre
Bis zu
zwei
Jahren
Bis zu
drei
Jahren
Bis zu
vier
Jahren
Bis zu
fünf
Jahren
in Stein 17,6   21,5   20      8,8   8,3   4,9  
in Prag 28,1   26,7   22,4   6,5   6,5   3,8  
in Garsten 20,9   20,9   17,4   10,4   6,1   4,5  
in Gradiska 31,9   4,5   22,8   9,1   4,5   9,1  
in Karthaus   50,8   12,1   17,3   3,4   7      3,4  

Also in der Strafanstalt Karthaus kehrte mehr als die Hälfte der entlassenen rückfälligen Sträflinge innerhalb eines halben Jahres wieder! In Gradiska und Prag kam innerhalb eines halben Jahres ein Drittel wieder zurück! Die oben angeführten Ziffern verschleiern noch die volle Wahrheit, da ja viele Rückfällige nicht gleich wieder ins Strafhaus, sondern bloß in die Gerichtsgefängnisse einziehen, der Prozentsatz dieser Zurückkehrenden fehlt noch in dieser Statistik. Das Zuchthaus erzieht sich eben die meisten der 15 einmal Erschienenen zu dauerndem Aufenthalt. Ich will gar nicht reden von denen, die jahrzehntelang im Kerker waren und die durch ihre Freilassung, einsam hingestellt in einen unbekannten Winkel der Welt, nur in Verlegenheit und Bestürzung gesetzt werden. Den armen Teufeln, die als Jünglinge die Schwelle der Strafanstalt überschritten und sie als Greise verlassen, kann der Staat, wenn sie sich in der Gesellschaft nicht mehr zurechtfinden, wahrhaftig nichts anderes antworten, als jene durchaus aufrichtigen Worte eines Staatsanwaltes, die in der letzten Schilderung dieser Sammlung erwähnt sind (anläßlich eines Gespräches mit einem nach 26 Jahren Begnadigten): »So lassen Sie sich wieder einsperren . . .« Nein, nicht von jenen unheilbaren Sträflingen will ich reden, sondern vor allem von den Jugendlichen. Ich lenke die Aufmerksamkeit meiner Leser vor allem auf die Schilderung des Strafvollzuges in der Anstalt für Jugendliche Göllersdorf. Der österreichische Staat macht nicht einmal den Versuch, diese Knaben – denn diese jungen Dégénerés sind auch mit 20, geschweige denn mit 15 Jahren noch Knaben – wieder auf die Beine zu stellen, sie zu innerlich widerstandsfähigen, wirtschaftlich erwerbsfähigen, körperlich gesunden Männern zu machen. »Die Jugendlichen sterben mir weg wie die Fliegen,« das sagte mir der Leiter des Prager Gefängnisses, und in Göllersdorf habe ich schaudernd 16 gewahrt, daß fast keiner der jungen Burschen während der dort verbrachten Jahre ein Gewerbe lernt, mit dem er draußen sein Brot verdienen könnte. Die Jahre der Lehrzeit müssen diese verwahrlosten, auch vom Staate verwahrlosten Kinder mit törichten Handlangerdiensten vertun! Von einer Einwirkung aufs Innere der Jungen gar nicht zu reden. Mit Bekehrungsschriften und Moraltraktätlein langweilt man selbst sittlich verständige Geister; gibt es wirklich noch Leute, die meinen, durch das Aufdrängen und Anheften christlicher Sittensprüchlein werde man Kinderseelen, an denen nie lebendiges, tätiges, stummes Christentum sich versucht hat, zu anderen Äußerungen als solchen des Hohnes bringen können? Christentum will getan, nicht gepredigt werden!

Unser Strafvollzug hat konsequent durchgeführt am Ende nur den einen Erfolg: er verhindert fast stets den einmal verbrecherisch gewordenen Menschen sich jemals wieder aufzurichten. Die Wege zu diesem Ziel sind vielfache.

Das erste Mittel ist das der körperlichen Degeneration. Man lese in meinen Darstellungen die immer wiederkehrende Bemerkung (aus autoritativem Munde): »Unsere Sträflingskost hält keiner auf die Dauer aus!« Die Hülsenfrüchte ruinieren jeden Verdauungsapparat mit der Zeit und die einmalige Fleischration in der Woche ist ganz ungenügend. Allerdings, der Staat macht Ersparnisse . . . In einer wissenschaftlichen Arbeit des 17 Wiener Oberstaatsanwaltes Högels, eines kaltblütigen Routiniers, kann man lesen, daß der österreichische Staat an Verpflegskosten in den Strafanstalten

im Jahre 1878  noch 773.139 Gulden
im Jahre 1882  nur mehr  772.345 Gulden
im Jahre 1886  nur mehr  562.443 Gulden
im Jahre 1890  nur mehr  519.101 Gulden
und 1894  nur mehr  519.840 Gulden

ausgegeben hat. Innerhalb von 16 Jahren ist also die Verpflegung unserer Sträflinge um ein Drittel des Gesamtbetrages billiger worden! Und dabei ist die Zahl der verköstigten Sträflinge in diesen Jahren gestiegen, nicht gefallen! In fast allen Strafanstalten gibt es entweder bis zum Mittag oder nach dem Mittag nichts mehr zu essen! In Prag z. B. wird um 12 Uhr das letztemal ausgespeist, denn es gibt dort keine Einbrennsuppe am Abend, in Capodistria bekommen die Sträflinge erst in der Mittagstunde den ersten warmen Löffel. Unordnung, Schlamperei, auch in den verschiedenen Speiseordnungen. Wie bitter muß sich die österreichische Justizverwaltung ihrer Ersparnisse schämen, wenn sie unsere Verpflegsmethoden mit denen zivilisierterer Staaten, z. B. Skandinaviens vergleicht. Im Gefängnis zu Malmö in Schweden habe ich folgenden Speisezettel abgeschrieben:

Bestimmungen der königl. Gefängnisregierung 18 nach dem d. 7. Juni 1901 gnädigst festgestellten Ordinarien-Nahrung-Verteilungsstand.

In den zentralen Gefängnissen:

Für den ganzen Tag:
      Brot:  Für arbeitsfähige männliche
Gefangene in Gemeinschaftshaft  
680 gr
Für andere männl. Gefangene 580 gr
Für weibliche Gefangene 500 gr
Für Gefangene in Korrektion 420 gr
Salz:  17 gr

Außerdem zum Frühstück:

Für männliche Gefangene in Gemeinschaftshaft: 0,35 l gekochte Milch (geschäumte), 25 gr Margarin.

Für weibliche Gefangene 0,35 l gekochte, geschäumte Milch, 15 gr Margarin.

Für Gefangene in Einzelhaft 15 gr Margarin.

Für alle Gefangene:

Sonntag, Mittwoch und Freitag: Mittag Erbsensuppe mit 65 gr gesalzenem Schweinfleisch (Flask), 210 gr Erbsen, 15 gr weißes Mehl.

Abend Grütze, gekocht von 150 gr Roggenmehl, 0,3 l geschäumte Milch. 19

Montag und Donnerstag: Mittag Suppe, 30 gr gesalzenes Schweinfleisch, 30 gr Gerstegrütze, 50 gr Kohlrüben, 0,3 l Kartoffel, 40 gr weißes Mehl, 0,5 gr Pfeffer und 125 gr gesalzenen Hering, 0,6 l Kartoffel.

Abend Grütze, gekocht von 105 gr Gerstegrütze, 25 gr weißes Mehl, 0,3 l geschäumte Milch.

Dienstag: Mittag Suppe mit 170 gr frischem Rind-, Kalb- oder Hammelfleisch, 45 gr Gerstegrütze, 50 gr Gemüse, 25 gr weißes Mehl, 0,5 l Kartoffel wird zum Fleische serviert.

Abend Grütze von 105 gr Hafergrütze, 5 gr Margarin, 25 gr weißes Mehl, 0,3 l geschäumte Milch.

Samstag: Mittag Suppe, gekocht von 170 gr frisches Fleisch, 100 gr Rüben oder Kohl, 25 gr weißes Mehl, 0,9 l Kartoffel zum Fleisch.

Abend Grütze von 105 gr Hafergrütze, 5 gr Margarin, 25 gr weißes Mehl, 0,3 l geschäumte Milch.

Man vergleiche damit den typischen österreichischen Speisezettel, wie ich z. B. aus der Anstalt Garsten abgedruckt habe: In Schweden zum Frühstück gekochte Milch, bei uns Einbrennsuppe, in Schweden täglich Mittag gesalzenes oder frisches Fleisch (170 Gramm!) oder Fisch, Erbsensuppe oder Bouillon, Milch und Grütze, bei uns einmal, höchstens zweimal Fleisch (70 Gramm!) und Knödel, Hülsenfrüchte oder Reis und Salat. In Schweden jeden Tag ein 20 Abendessen, täglich Milch und Grütze. Überdies bekommt jeder Sträfling dort in der Früh täglich 25 Gramm Margarin, mit denen er sich die Brotration genießbarer machen kann. »Hungern steht nicht in der Strafe,« sagte mir der schwedische Gefängnisgeistliche in Malmö. Das gilt für – – Schweden.

Neben der ganz unzulänglichen Kost gibt es in den meisten Strafanstalten ganz untrinkbares Wasser – man lese die Schilderung von Göllersdorf – überall gesundheitswidrigen Mangel an Kanalisation und, da in fast allen österreichischen Zuchthäusern Gemeinschaftshaft besteht, so daß 18, 20, ja auch 32 und 36 Personen in einem Saal, Bett an Bett gereiht, schlafen, eine mit Miasmen und Tuberkeln geschwängerte Luft. Selbst ein offizieller, offiziell phlegmatischer Autor, der ehemalige Grazer Oberstaatsanwalt Leitmaier, gibt in seinem dickleibigen Werke: »Das Gefängniswesen in Österreich« zu, daß die »Mehrzahl der österreichischen Strafanstalten nicht durchgehends den hygienischen Anforderungen entsprechen«. Und er fügt erläuternd hinzu: »Einige Strafanstalten haben eine ungünstige Lage, weil sie entweder unmittelbar am Wasser oder auf tiefgelegenem, hygienisch ungünstigem Grunde (Füllboden oder sumpfiges Terrain) gelegen sind. In anderen haben die Abzugskanäle kein hinreichendes Gefälle und wird dadurch der Abfluß der Niederschläge und Spülwasser behindert.« Immerhin, der alte Praktikus 21 Leitmaier, der selbst noch in die Gefängnisse gestiegen, war bei aller Gleichmütigkeit kein Schönfärber. Aber wie lügenhaft sagt die amtliche Statistik über die Opfer unseres Gefängniswesens aus! Wer an diese Sterblichkeitsziffern in unseren Strafanstalten glauben wollte, müßte unsere Zuchthäuser, angesichts des degenerierten Zustandes, in dem die Sträflinge schon eingeliefert werden, geradezu für Sanatorien halten. Die Wahrheit aber ist, daß zur Fälschung, zur »Verschönerung« der Sterblichkeitsstatistik gerade die schwer kranken, dem Tode nahen Sträflinge so rasch als möglich begnadigt werden. Gesunde Sträflinge, mögen sie von der Gefängnisleitung hundertmal als wirklich gebessert geschildert werden, mögen die Gefängnisbeamten hundertmal erklären, daß eine weitere Strafhaft diese Besserung nur wieder in Frage stellen könnte, werden in der Regel nicht begnadigt. Unzählige Begnadigungsanträge – darüber haben mir fast alle Strafsanstaltsleiter übereinstimmend geklagt! – fallen alljährlich unerledigt oder abgewiesen unter den Tisch der Referenten im Justizministerium oder bei den Oberstaatsanwaltschaften. Will ein Sträfling in Österreich begnadigt werden, so bleibt ihm dazu nur ein Weg offen: Er muß so krank werden, daß er dem sicheren Tode schnell verfallen ist. Dann freilich kommt seine Begnadigung noch schneller! Das Gutachten des Anstaltsarztes, das jedem Begnadigungsgesuch beigelegt 22 wird, ist meist entscheidend. Ich bin in manchen Anstalten entsetzt zurückgefahren, wenn mir die Beamten im Spital, meist im Tuberkulosenzimmer, die gebrechlichsten, hohlwangigsten, vor sich hinstierenden Gestalten mit der beruhigend zugeflüsterten Versicherung zeigten: »Schwerkrank . . . Um die Begnadigung ist schon eingereicht!« Welche Gnade, Herr v. Holzknecht, diese Todeskandidaten, die sich oft kaum fortschleppen können, vor der Katastrophe noch rasch an die Luft zu setzen!

Hier, an diesem Punkt, lenke ich die Aufmerksamkeit meiner Leser auch darauf, daß ich in jeder Anstalt an den begleitenden Beamten die selbstverständliche Frage richtete, wieviele abnormale, geistig kranke Leute unter den hiesigen Sträflingen seien. In jeder Anstalt nannte man mir ein paar Leute. In den Jugendlichen-Abteilungen fand selbst der Laienverstand der Geistlichen die auffällige Abnormität der Allermeisten heraus. Der Irrenarzt Leidesdorf hat einst ausgerufen: »Man ahnt nicht, hinter wie viel Geisteskranken sich in Österreich die Kerkertür schließt!« Ich meine, daß vor allem eine psychiatrische Untersuchung der Jugendlichen zu einem bestürzenden Resultat führen würde, die Zusammenhänge zwischen frühreifer Kriminalität und Sexualität sind selbst bei den sonst normalen Kindern unleugbar, und sicher sind viele jugendliche Verbrecher aus diesem Punkte zu kurieren . . .

»Wilde« Sträflinge oder auch unbeliebte werden durch 23 die Hilfsmittel der Disziplinarstrafe in den erwünschten Zustand der Gebrochenheit versetzt. »Mürbe machen« nennen das die amtlichen Bändiger. Unsere Disziplinarmittel, obwohl nicht so abscheulich wie die preußisch-deutschen, sind auch für die schwersten Fälle durchaus zureichend. Es bestehen offiziell die folgenden Disziplinarstrafen in den österreichischen Strafanstalten:

  1. Verweis unter vier Augen und vor anderen Sträflingen.
  2. Zuweisung einer unliebsameren, schweren, kleineren Lohn abwerfenden Arbeit.
  3. Entziehung der Nebengenüsse (Briefschreiben, Einkauf einzelner Lebensmittel, Besuche).
  4. Entziehung der Morgensuppe.
  5. Fasten bei Wasser und Brot.
  6. Fesselung.
  7. Hartes Lager.
  8. Einzelhaft in der Korrektionszelle.
  9. Dunkelhaft.
  10. Versetzung in eine niedrigere Sträflingsklasse.

Das könnte, sollte man glauben, zur Not gerade genügen. Einzelne dieser Strafen wirken so gründlich, daß das Justizministerium in wiederholten Erlässen eine Grenze für die Dauer solcher Strafen setzen mußte. Die Zuchthauspraktiker haben die Liste trefflich zu nützen verstanden, vor 24 allem durch die – nirgends gestattete – Kumulierung der Strafen. Bei Berücksichtigung aller Ministerialerlässe – in der Praxis sind wohl alle Erlässe nicht immer in Erinnerung – kann ein Sträfling in einer österreichischen Anstalt während eines Monats folgende Disziplinarstrafen erhalten:

Zwölf Fasttage;

zwölf Tage Dunkelarrest mit Fesselung;

zwölf Nächte hartes Lager mit Entziehung der Morgensuppe.

Verschärft wird dieser Monat noch durch Entziehung aller Nebengenüsse, Verbot des Spazierganges, Entziehung der Korrespondenz.

Damit, kurz gesagt, kann man allmählich auch den Stärksten umbringen. Der Grazer Strafanstaltsdirektor Marcovich, der in seinem 1899 bei Manz erschienenen Buch dieses System der Kumulierung rührend empfiehlt, bemerkt dazu: »Ich kann behaupten, daß hundert solcher Strafen selbst der renitenteste Verbrecher nicht auszuhalten vermag, daß ihn die drei- bis viermalige Wiederholung bändigt.« Wenn die viermalige Wiederholung »bändigt«, was kann man mit einer zehnmaligen Wiederholung erreichen? Welche Frage selbstverständlich nicht an Direktor Marcovich, der als einer der fähigsten und menschenfreundlichsten Praktiker, gerichtet ist. 25 Aber der Durchschnitt der Zuchthausbeamten trachtet das Register der durchaus zureichenden Strafmittel noch zu vermehren. Daher die raffiniert erdachte Kumulierung, die Verwandlung der »Fesselung« in den mittelalterlichen »Leibring«, die Verlegung der Korrektionszelle in fensterlose von Wasser triefende, stockfinstere Kellergewölbe (siehe die Schilderung von Garsten).

Gerade an der Hand dieser kuriosen Auslegungen der verschiedenen Ministerialerlässe und Verordnungen muß betont werden, daß es in Österreich ein Gesetz über den Strafvollzug gar nicht gibt! Etliche Bestimmungen über die Einzelhaft – die übrigens, wie die Schilderung von Karthaus beweist, wo ein Sträfling seit siebenundzwanzig Jahren abgesondert ist, eine Mitteilung, die mir in einer Reihe von Zuschriften Winender bestätigt wurde – sind alles, was gesetzlich festgelegt ist! – –

Das sind so die wichtigsten Hilfsmittel der körperlichen Zerstörung, die unser Strafvollzug herbeiführt. Eine kleine Ergänzung bringt noch der Krankheitszustand. Vor allem dadurch, daß er nicht anerkannt wird! Und zwar nicht nur wegen der Statistik, sondern auch, weil ohne Simulationserklärungen der eine Strafanstaltsarzt zu viel zu tun hätte. Man denke z. B. an Stein. Für ungefähr 1000 Sträflinge ein Arzt! Wenn dieser Arzt sich nicht einen großen Teil der Kranken dadurch vom Halse schafft, 26 daß er sie als nicht krank erklärt, käme er beim besten Willen nicht dazu, dem Rest der noch schwerer Leidenden beizustehen.

So erklärt sich die oft unglaubliche Abweisungsroutine der Gefängnisärzte. In Wiener Neudorf wollte mir ein allzuplumper Anstaltsarzt die Strafanstalt sogar als populäres Sanatorium erklären . . .

Die körperliche Ruinierung wird ergänzt durch die moralische Degeneration. Das wichtigste Mittel zur sittlichen Verwahrlosung ist der Haß, der Widerwille gegen die Arbeit, der in den Sträflingen, wenn er nicht schon da ist, heraufgezüchtet wird. In der Bevölkerung weiß man, daß »Sackelpicken« und »Hanfdrehen« die beliebtesten Beschäftigungsarten in unseren Strafanstalten sind. Nur von Zeit zu Zeit, wenn Arbeiter oder Kleingewerbetreibende sich beklagen, daß auch »ihre« Arbeit dort erzeugt wird, erfährt man, daß die anregenden Tätigkeiten des Kuvertklebens und Sackelpickens nicht die einzigen in unseren Strafanstalten sind. In Wahrheit: Es wird außerordentlich viel gefaulenzt in unseren Strafanstalten und das Faulenzen im Zuchthaus führt in der Gemeinschaftshaft – junge Dilettanten des Verbrechens neben den erfahrenen Routiniers des Diebstahls und Betruges! – zur schwersten moralischen Ansteckung oder in der Einzelhaft als grausame Strafverschärfung zur Melancholie, zum Trübsinn. Ich habe 27 selbst in Stein, einem unserer bestverwalteten Zuchthäuser, kräftige junge Männer in Einzelzellen gesehen, deren Beschäftigung Strümpfestricken war! Fast alle Direktoren klagen über Arbeitsmangel. Das kommt daher, daß die Zentralverwaltung eben auch in diesem Punkte völlig versagt, jeder einzelne Anstaltsdirektor, resp. der Verwalter, muß, wenn er seine Sträflinge beschäftigen will, selbst auf die Suche nach passender Arbeit, Bestellern oder Abnehmern gehen! Das Justizministerium, in strenger Durchführung des Verwahrlosungsprinzipes, begnügt sich hauptsächlich damit, in den einzelnen Anstaltsbetrieben Arbeiten, die zu Streitigkeiten mit den Führern der Gewerbetreibenden Anlaß geben könnten, zu untersagen. Der Kreis der erlaubten Sträflingsbeschäftigungen wird von Tag zu Tag ein immer engerer. Also sollen die Sträflinge wirklich nichts tun oder bloß Papiersäcke kleben? Soll ihnen wirklich fast jede ordentliche Berufsbeschäftigung verwehrt werden? Soll der junge Verbrecher durch die volle Entfremdung seinem Beruf für immer entzogen und so zum Berufsverbrecher herangebildet werden? Soll man besserungsfähige Jugendliche nicht zu einem Beruf erziehen, der sie, wieder freigelassen, ernähren kann? Ist das jahrelange Säckekleben und Strümpfestricken nicht ein Verbrechen am Sträfling, der dadurch existenzunfähig für das Leben in der Freiheit gemacht wird?

Die Zünftler erwidern: Ja, die Strafhäuser arbeiten 28 zu Spottpreisen, redliche Arbeiter werden durch die Konkurrenz in Lohn gedrückt und arbeitslos, oft vielleicht selbst zum Verbrechen gezwungen, um dann in der Strafanstalt ihre gewerbliche Arbeit als Sträfling zu leisten. Diese Zünftler kämpfen mit der leidenschaftlichen Borniertheit, die immer das Kennzeichen des Kleinbürgers ist, gegen die Beschäftigung der Sträflinge überhaupt – sie sollten gegen die gedankenlose Brutalität der Leiter unseres Gefängniswesens ankämpfen! Denn nicht daß die Sträflinge arbeiten, ruiniert die Gewerbe, sondern daß sie zu Spottlöhnen arbeiten! Das Justizministerium nimmt in Fragen der Gefängnisarbeit den in der Verordnung vom 19. November 1873 eingenommenen Standpunkt ein:

»Der Sträfling hat keinen Anspruch auf die Entlohnung seiner Arbeit.«

Unnötig zu sagen, daß der Staat kein Recht hat, die Arbeitskraft des Sträflings einfach zu annektieren. Psychologisch wirkt diese ökonomische Vergewaltigung durch den Staat so, daß selbst der Verbrecher sich als Ausgebeuteter fühlt und den Staat für einen bedenkenloseren Freibeuter wie sich selbst hält . . . Aber ich bleibe »praktisch« und decke lieber die Stupidität als die Gewalttätigkeit dieses Grundsatzes auf. Dank diesem Prinzip kann der Staat die Entlohnung des Sträflings auf einen »Überverdienst« (Lohn) von täglich mindestens 2 Hellern bis höchstens 29 12 Hellern hinunterschrauben. Es versteht sich, daß Arbeiter und Gewerbetreibende sich gegen solche Konkurrenz erbittert wehren, ebenso von selbst versteht es sich, daß die Sträflinge, durch eine solche Spottentlohnung nichts weniger als angeeifert, ihre Arbeit so schlecht als möglich machen. Sie bekommen sogar von den 2 bis 12 Hellern nur die Hälfte auf die Hand, der Rest wird ihnen beim Austritt eingehändigt. Auch die Lebenslänglichen, die zu Jahrzehnten Verurteilten, die – man kann's bei 90 Prozent im voraus wissen – nie mehr in die Freiheit zurückkehren, auch diese Unglückseligen werden auf bureaukratisch-grausame Art um die Hälfte ihres Überverdienstes geprellt! Die Folge des Prinzips, daß der Sträfling keinen Anspruch auf Entlohnung hat, ist die volle Diskreditierung der Strafhausarbeit, ihre Degradation zur Schundarbeit, begleitet vom Haß der freien Konkurrenten. Weil aber gerade in Österreich die Verwaltung der kleinbürgerlichen Demagogie am liebsten zu Gefallen ist, deshalb finden die Strafanstaltsleiter von Tag zu Tag schwerer Arbeit für die Sträflinge. Man muß sie ausschließen von fast allen qualifizierten Arbeiten und muß Tausende kräftige, junge Arme mit Sackelkleben, Kuvertgummieren, Strümpfestricken und Hanfflechten beschäftigen! Durch diese stumpfsinnige Arbeit erzeugt man in den Seelen der Sträflinge einen Widerwillen vor der Arbeit, einen Haß gegen die Arbeit, Regungen, die allein schon eine 30 Erklärung für die große Zahl der Rückfälligen bieten. Dazu kommt die Tatsache, daß viele Leute in den Strafanstalten ihr Gewerbe verlernen und vergessen.

Also erwerbsunfähig gemacht, versichert sich der Staat ihrer Wiederkehr. Gäbe man dem Sträfling einen rechtschaffenen, halbwegs entsprechenden Lohn, so würde man den Gewerben keine Schmutzkonkurrenz machen. Der Staat, der keine Löhne, nur »Überverdienste« zahlt, bohrt heute freilich ein Gewerbe in den Grund, wenn er ihn in den Strafanstalten Konkurrenz macht. Bei einer rechtschaffenen Entlohnung gäbe es nur einen neben hundert Konkurrenten mehr. Der Sträfling selbst, um gleich diesen Einwand zu widerlegen, brauchte dadurch nicht in die Lage versetzt zu werden, in der Zelle zu »prassen«. Selbstverständlich zieht sich der Staat seine Erhaltungskosten vom Lohn ab, auch soll dem nicht auf Lebenszeit verurteilten Sträfling die Hälfte des Erworbenen erst beim Verlassen der Anstalt eingehändigt werden. Wie viele Existenzen können sich dann nach der Entlassung aus dem Zuchthaus wieder aufrichten! . . . Mit wieviel mehr moralischer Autorität könnte sich da der Staat gegen die übertriebenen Ängstlichkeiten der Zünftler zur Wehr setzen! Von den moralischen Resultaten, die eine solche Erziehung zur Arbeit hätte, ganz abgesehenDaß soviel gefaulenzt wird in Strafanstalten, hat seinen Grund auch darin, daß zeitweilig zu viel gearbeitet wird! Das Justizministerium hat in zahlreichen Erlässen eine 10-stündige Arbeitszeit (zehn Stunden Hanfzupfen! zehn Stunden Papierfalzen!) vorgeschrieben und das wird pünktlich befolgt, so lange Arbeit da ist. Fern von sozialpolitischen, nur aus Erwägungen der Vernunft heraus, schreibt deshalb der Grazer Gefängnisdirektor Marcovich in einer kleinen höchst lesenswerten Arbeit über »Kleingewerbe – Strafhausarbeit«: »Wäre es nicht besser, die nach keiner Richtung entsprechenden, den Namen Arbeit nicht verdienenden Beschäftigungsarten nur Krüppeln zuzuweisen und, da Mangel an Arbeit vorherrscht, die tägliche Arbeitszeit auf sieben Stunden herabzusetzen, die übrige Zeit dagegen gewerbetheoretischem Unterricht zu widmen, da ja heute auch der gewöhnlichste Arbeiter vorwärtsschreiten muß, wenn er seine Mühen gelohnt wissen will? Durch Herabsetzung der Arbeitszeit auf 7 Stunden würde nicht nur der Arbeitsmangel in den Strafanstalten zum großen Teile behoben, sondern auch die vom Kleingewerbe beklagte Konkurrenz der Strafhausarbeit um 30 Prozent verringert, und überdies der schwere, infolge des Nachtdienstes wiederholt bis 36 Stunden ununterbrochen andauernde Dienst des Wachkorps, welches geistig und physisch leidet, bedeutend erleichtert.«

Sehr hübsch setzt Marcovich dem »kleinen Mann« auseinander, wie nützlich ihm Sozialpolitik im Zuchthaus wäre!

 . . . 31 Wendet man mir ein, daß dann das Leben in den Strafanstalten ganz erträglich werden müßte, so erwidere ich: Erstens weißt du nicht, wie bitter das freudlose Leben im Zwange ist! Du hast noch nicht die Gesichter von Sträflingen gesehen, die an einem Frühlingstag zum Fenster hinausschauen! Du hast noch nicht die Worte derer belauscht, die abends schlaflos auf den Pritschen liegen! Im übrigen: Die Strafanstalt der Zukunft wird nun einmal nichts anderes als eine weise eingerichtete, differenziert ausgestattete 32 Zwangsarbeitsanstalt sein! Dem Sträfling Gefallen an der Arbeit beibringen, für den Sträfling die seinen Talenten entsprechende Tätigkeit ausfindig machen, das ist der erste Schritt zur seelischen Sozialisierung, will sagen zur Rückeroberung des Menschen, der etwas »verbrochen« hat, nachdem so vieles an ihm »verbrochen« wurde . . .

Noch ein Wort über die Versuche, die in den Strafanstalten gemacht werden, um auf das Innere der Sträflinge zu wirken. Erstens in den Gefängnisschulen, zweitens durch die Gefängnisbibliotheken, drittens durch die Anstaltsgeistlichen. Ich verweise auf die Schilderung von Karthaus, in der ein Sträfling vorgestellt wird, der dort sechsundzwanzig Jahre verbracht hat, ohne auch nur einen Buchstaben Schreiben und Lesen gelernt zu haben! Wie unsere Gefängnisschulen vielfach aussehen und aussehen müssen, lehrt eine vor einigen Jahren erschienene Verordnung des Justizministeriums, wonach Lehrer in Gerichtsgefängnissen ein Jahresgehalt von – fünfzig Gulden beziehen sollen. Kein Wunder, wenn solche Lehrer diesen Unterricht als ihre nebensächlichste Nebenbeschäftigung ansehen.

Und die Strafhausbibliotheken? Im Gerichtsgefängnis der Stadt Wels in Oberösterreich habe ich einmal die Bibliothek, Band für Band, durchgesehen. Gut ein Drittel der Bibliothek bestand aus stenographischen Protokollen österreichischer Katholikentage, der Rest waren 33 hauptsächlich Biographien von Heiligen und österreichischen Kaisern und Kolportageromane. Eine planmäßig angelegte Bibliothek, die von dem Wissen Kunde gibt, daß oft ein Buch in die Seele des isolierten Menschen, wie es fast jeder Sträfling ist, leichter als ein Nebenmensch Eingang findet, eine solche Bibliothek, die sehnsüchtig begehrt, mit Begeisterung gelesen – vielleicht auch abends laut vorgelesen – fand ich nirgends. »Nur so Kindergeschichten, die einen noch dümmer machen,« das war das einfältig-treffende Gutachten jenes 26 Jahre Internierten.

Und die Gefängnisgeistlichen? Daß es prächtige Leute, wirkliche Hirten verirrter Seelen, unter ihnen gibt, hat der gleiche Zeuge mir bestätigt (siehe Schilderung von Karthaus). Daß auch im schwarzen Rock des geistlichen Herrn empfindungslose, für ihr Amt allzu armselige, ehrwürdig verkleidete Büttel stecken können, das beweist jener junge Kaplan, den ich in den Schilderungen von Göllersdorf ohne Bemerkung, stumm, bloß mit seinen eigenen Worten, aber damit genugsam charakterisiert, vorgestellt habe. Der Aufsatz ist, wie andere Strafanstaltsschilderungen, zuerst in der Wiener »Arbeiterzeitung« erschienen, für deren Dementierung ein eigener Priesterschutzverein existiert. Aber es war nicht die kleinste Berichtigung erdenkbar.

So sieht es um die kargen Mittel zur sittlichen Hebung des Sträflings aus. Am Ende wäre noch ein Wort über 34 die Gefängnisbeamten zu sagen. In Dänemark sind es graduierte Juristen, die sich bestimmte hygienische Kenntnisse angeeignet haben, denen der Beruf des Gefängnisbeamten erschlossen wird. Bei uns sind, wie in Deutschland, Offiziere a. D. die Leiter der Strafanstalten. Ein militärisch antipädagogischer, ein Kommandoton, der keinen Widerspruch duldet, kommt dadurch unwillkürlich ins ganze Getriebe, doch muß gesagt werden, daß viele dieser quittierten Leutnants mit den Jahren von ihrem Beruf innerlich erfüllt werden und daß einige von ihnen mit stürmischem Pflichteifer die Mängel jeglicher Vorbildung für ihr Amt zu ersetzen verstehen. Doch gilt im ganzen noch immer, was der Oberdirektor der Strafanstalt Stein, Franz Nadastiny, vor einigen Jahren in die »Blätter für Gefängniskunde« schrieb:

»Die Autorität des Strafvollzuges wurde seinerzeit einem ausübenden Beamtenkörper überantwortet, der keineswegs auf der Höhe der Situation gestanden und unter dem Zeichen des Beschließertums keine anderen Sorgen hatte, als daß nicht Unruhen, Gewaltakte und Fluchtfälle das schlechte Gewissen der Öffentlichkeit aufrütteln und die Aufmerksamkeit auf die im lethargischen Zustand befindlichen Stätten unsäglichen Elends locken. Heute noch gibt es Gefängnisse, in denen das Schlüsselgerassel als Nachklänge alter Zuchthauszeiten, die Sorge sicheren Gewahrsams, mit 35 kalmierenden Mitteln aufrecht erhaltene Ruhe die Wahrzeichen eines Strafvollzuges sind, der tief unter den idealen Kulturauffassungen über Menschenrechte und Menschenpflichten steht. Die heimischen Gefängnisbeamten haben sich seit jeher, mit wenig Ausnahmen, lediglich als initiativ- und energielose Werkzeuge der höheren Justizbehörden erwiesen, wodurch es bisher nicht gelungen ist, im Gebiete unseres Strafvollzuges einem fortschrittlicheren, idealen Streben Bahn zu brechen. So ist es gekommen, daß in der Praxis des Strafvollzuges, jedes Kontakts mit der Fachwissenschaft entbehrend, in der Hand eines stumpf-bureaukratischen Beamtenmaterials, für dessen Fortbildung nicht einmal die primitivsten Mittel angewendet werden, alte Mißstände unter einer Flut unrichtig ausgelegter Verordnungen konserviert werden.«

Viel schlimmer steht es mit dem Aufsehermaterial. Es sind nicht gerade die intellektuell und moralisch höchststehenden Feldwebel a. D., die sich zu diesem Dienst melden. Gerade der Aufseher ist aber der unmittelbare Beherrscher der Sträflinge. Seine Gunst kann oft süßere Früchte als die des korrekten Direktors tragen. Da diese Autokraten des Strafsaales keineswegs fürstliche Gehälter beziehen, ist ihre Gunst nicht selten käuflich zu erringen. Das vermindert freilich das Ansehen der Trinkgeldnehmer und Aufsichtsorgane. Will der Aufseher es haben, so glaubt er, müsse 36 er von Zeit zu Zeit seine Macht, auf dem Diensteid basierend, erbarmungslos zeigen. Dann wird ein »Exempel« statuiert! . . . Eingelebte Spitzelwirtschaft in jedem Sträflingssaal – man nennt die Angeber (siehe Schilderung von Stein) »schwarzgelbe Lumpen« – vollendet das Bild dieser Regierung der Sträflinge.

So wird der Sträfling in Österreich gebessert: Körperlich zugrunde gehend, durch Hunger, Krankheit, Simulationsbeschuldigung, durch eine schwere, stupide Arbeit, moralisch vernichtet durch einen steigenden tödlichen Haß, wider diese grausam richtende Gesellschaft, ohne warmen Zuspruch, stets das höhnende Lachen derer, die sich in ihr Schicksal gefunden haben, im Ohr, nirgends Gnade findend, selbst bei idealer Besserung, umgeben von einer Aufseherschar, die ihre Günstlinge hat und ihre Antipathien ungeniert betätigt! Bei längerem Aufenthalt im Zuchthaus, der gewerblichen Arbeit entfremdet, durch Dunkelarrest und Fasten zur Heuchelei gedrillt, infolge sexueller Zwangsabstinenz in perverse Gelüste verirrt, abgeschnitten von jeder unkontrollierten Verständigung mit der Außenwelt . . . Wahrhaftig, unsere Verbrecher sind degeneriert, gebrochen im Willen, sie würden sonst gegen die Methode, sie zu bessern, täglich revoltieren.

Bessern? Mancher kalte Zweifler hält solche Bestrebungen im Grunde wohl nur für weibisch-weichliche 37 Faselei. Verbrecher ist Verbrecher, basta! Aber woher kommt es, daß sich unter den Richtern, die den Verbrecher eigentlich nur ein paar Stunden vor sich sehen, so viele Anhänger der Abschreckungs- oder Hinrichtungstheorie finden, und unter den Strafanstaltsleuten, die Tag für Tag in engstem Kontakt mit den Verbrechern leben, so viele Gläubige der Besserungstheorien? Vielleicht sind die, die nur das Verbrechen vor sich sehen, doch die oberflächlich Orientierten gegenüber jenen, die den Verbrecher kennen lernen! Würde nur erst einmal die Probe aufs Exempel gemacht und der einzelne Sträfling nicht einer allseitigen Verwahrlosung, sondern einer weisen Fürsorgeerziehung teilhaftig werden, die stumpfsinnigen Bureaukraten würden Augen machen. Träte man dem Sträfling nur nicht stets mit dem lähmenden Gedanken entgegen, daß man nur Halunkenstreiche von ihm erwarten dürfe! Nichts ist lehrreicher in dem dickleibigen, von Verordnungen, in- wie ausländischer Paragraphenweisheit strotzenden Buch von Leitmaier als jene Seite, da er und sein Werk für einen kurzen Moment ganz aus dem Stil fallen. Leitmaier schildert da die gelegentliche Verwendung von Sträflingen bei Feuersbrünsten und schreibt: »Am 28. August 1887 brach im Dorfe Dellach im Gailtal, das von Kötschach anderthalb Stunden Gehzeit entfernt ist, ein Brand aus, der rasch neun Häuser eingeäschert hatte. Als die Sturmglocken 38 den Brand verkündeten und eine mächtige Feuersäule am Himmel emporstieg, begab sich der Dirigent der Laibacher Strafanstalt, der seinen Urlaub in der Nähe zubrachte, in das Fürst Porciasche alte Schloß, in dem eine Sträflingsabteilung untergebracht war. Sämtliche Aufseher waren um den Abteilungskommandanten versammelt, um bei dem großen Tumult, der in dem Orte herrschte, für die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sträflingsabteilung zu sorgen. Als der Dirigent, dem eine große Schar von Ortsbewohnern gefolgt war, die Verwendung von Sträflingen zum Löschen zur Sprache brachte und die Sträflinge seine Stimme erkannten, baten sie bei den Türen und Fenstern inständig, beim Löschen des Brandes helfen zu dürfen. Der Hauskommissär trug anfangs Bedenken, die Sträflinge zu dem anderthalb Stunden entfernten Brandort abrücken zu lassen, erklärte sich jedoch schließlich damit einverstanden. Als der Dirigent die Türen der Detentionslokalitäten öffnen ließ und die Sträflinge in Reih' und Glied den Marsch nach dem Brandort antraten, wurden sie von der Bevölkerung mit Bravorufen und Händeklatschen akklamiert. Der Weg wurde in einer Stunde zurückgelegt und die Sträflinge sind infolge des überaus raschen Marsches mehreren Feuerwehren zuvorgekommen. In Partien von sieben bis zehn Mann wurden die Sträflinge den Spritzen zur Bedienung der Pumpwerke zugewiesen. Da die 39 Bedienungsmannschaft bereits ermattet war, trug das Eingreifen der Sträflinge zum Gelingen der Löscharbeiten wesentlich bei. Um 1 Uhr nachts war der Brand vollkommen gelöscht und nun kehrten die Häftlinge nach Kötschach zurück, wo sie um ¼3 Uhr morgens vollzählig und in bester Ordnung eintrafen, bis 5 Uhr früh in den Arresten ausrasteten und dann zu ihren gewöhnlichen Arbeiten (schwere Wildbachverbauungsarbeiten!) gingen, die sie wie an anderen Tagen unverdrossen verrichteten . . .« Ein Zufall, eine Katastrophe, mußte da ans Tageslicht bringen, was an moralischen Fähigkeiten in den Sträflingen steckte! Wie viele Erfolge brächte eine systematische Behandlung des Menschen, der gelegentlich ein Verbrecher war! So lange der Staat nichts tut, als den Verwahrlosten nach festen Bestimmungen nur in noch tiefere Degeneration des Leibes und der Seele hineinhetzen, so lange dürfen wir, wenn von der abscheulichen Schmach des Gefängnislebens im deutschen Nachbarstaat die Rede ist, auf die Gewissensfrage: »Ist's denn bei uns besser?« nur mit einem kleinlauten, schuldbewußten: »Nein!« antworten.

Fangen wir an, uns vor unseren Verbrechern zu schämen!

Wien, Neujahr 1905.

Stephan Großmann.

 


 


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