Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Wohltäter

Am Neujahrstag 1918 verkündete der amerikanische Millionär Charles M. E. Chugge in den Neuyorker Blättern:

Ich habe mich entschlossen, einem jungen Proletarier, der nachweisbar seit zehn Jahren in einem Kohlenbergwerk beschäftigt ist, ein Stipendium für eine Reise um die Erde zu zahlen. Die Reise geschieht in Gesellschaft meines Sekretärs, geht von Neuyork über Japan, den Malaiischen Archipel, über Indien, durchs Rote Meer nach Europa, Aufenthalt an der Riviera, in Italien, Frankreich, Deutschland, Skandinavien, Rußland, über die Krim nach Kleinasien, dann nach Ägypten, ins innere Afrika, hierauf die Küste entlang bis Kapstadt. Ein Abschnitt der Reise ist Australien gewidmet, den der Reisende, wenn es ihm behagt, in die Route aufnehmen kann. Die Dauer der Weltreise wird mit drei Jahren festgesetzt; zur Vorbereitung (Sprachenerlernung usw.) wird der Aufenthalt für ein Jahr in Neuyork bewilligt. Bergarbeiter von mindestens dreißig Jahren können sich um dieses Stipendium bewerben. Bedingungen für den Bewerber:

1. Er muß seit mindestens zehn Jahren Bergarbeiter sein.

2. Er muß natürliche Intelligenz, frische Beobachtung, lebhaftes Temperament nachweisen.

3. Er muß sich verpflichten, nach Ablauf der Reise abermals zehn Jahre in demselben Bergwerk weiterzuarbeiten.

Protektion ist ausgeschlossen. Über die Wahl des Preisträgers entscheiden sechs unabhängige Männer, die nicht von mir, sondern von den achtbarsten Schriftstellern Amerikas namhaft gemacht werden.

Für die Kosten der Reise werfe ich 80 000 Pfund Sterling aus. Die Reise kann also mit dem größten Komfort durchgeführt werden.

Ich selbst will den Stipendiaten erst nach seiner Reise kennenlernen.

Charles M. E. Chugge.

Es ging alles korrekt und ohne Korruption zu. Von den ungefähr 6000 Gesuchen, die einliefen, wählte die Kommission 240 besonders berücksichtigenswerte aus. Dann entschied das Los. Also wirklich unparteiisch. Der 32 jährige Bergmann Francis Rooth aus Neuorleans hatte das Glück, daß sein Gesuch aus der Urne gezogen wurde.

Rooth war ein lediger Mann, der freilich schon wie ein Vierziger aussah, denn man arbeitet nicht, ohne daß Spuren zurückbleiben, dreizehn Jahre in einem Kohlenschacht. Sein bärtiges Gesicht war ernst und mager, seine Augen noch feurig, aber doch schon schwermütig, und auch seine hohe, schlanke Gestalt war schon ein wenig vornübergebeugt. Als junger Mensch hatte er Gedichte an ein junges Mädchen verfaßt, die hatte er seinem Gesuch beigelegt, obwohl er selbst für die Schönheit der Gedichte aus seiner berauschten Jugendzeit gar keinen Sinn mehr hatte. Überhaupt hatte er das Gesuch fast nicht im Ernst, sondern spaßeshalber abgefaßt und verschickt und gar keine Erledigung erwartet. Als man ihn eines Morgens aus dem Schacht herauf ins Bureau der Gesellschaft rufen ließ, um ihm zu verkünden, daß er, Francis Rooth, der Glückliche sei, der mit Herrn Ch. M. E. Chugges Hilfe eine dreijährige Weltreise unternehmen solle, da war er im ersten Moment nicht einmal glücklich, denn er hörte wohl die Worte, aber er empfand sie noch gar nicht.

»Sie lächeln nicht einmal?« sagte der Beamte.

»O doch«, erwiderte Francis und bemühte sich, freundlich dreinzuschauen.

Nun wurden ihm nochmals alle Bedingungen verlesen. Das sollte er unterschreiben.

»Nur eins ist von Wichtigkeit,« sagte der Beamte, »Sie müssen sich verpflichten, nach Ablauf der Reise wieder für zehn Jahre in unsere Dienste zu treten! Herr Charles M. E. Chugge will Sie nicht aus Ihrer Existenz für immer herausreißen, und deshalb verlangt er, daß Sie ihm – es wird ja wohl nicht nötig sein – das Recht einräumen, Sie eventuell auch mit unserer Fabrikwache, mit unseren Pinkertons wieder in den Schacht zu bringen. Aber das sind ja nur die äußersten Möglichkeiten, die ja nie eintreten. Bei einem Vertrag aber muß man an alles denken!«

Francis Rooth unterschrieb.

Ein Jahr lebte er in Neuyork, lernte Französisch, Deutsch, Italienisch, lernte sich vornehm kleiden, ausgezeichnet essen, mit Damen umgehen. Er wurde im Klavierspiel unterrichtet, das er nun sogar zu genießen, aber nicht auszuüben verstand. Er kam in die großen Theater, in die Oper; er lernte segeln, rudern, schwimmen. Das ganze Jahr über lebte er in einem Landhaus an der Küste, ein junger Maler war sein Gesellschafter, der ihm die Schönheit des Meeres, die Wunder der Abendsonne, die Herrlichkeiten der Winterschönheit erklärte. Mit der Cousine dieses Malers ist er oft tagelang draußen auf dem Meer in einer kleinen Segeljacht geblieben, und so hat er den letzten Schliff erhalten, die Liebenswürdigkeit des Herzens.

Am 14. Oktober 1920 bestieg Francis Rooth den großen englischen Dampfer »Viktoria«, der junge Maler begleitete ihn als Sekretär. Auf dem Schiffe erwartete ein Bote von Mr. Charles M. E. Chugge den Weltreisenden und überreichte ihm ein Scheckbuch, das er – außer dem Stipendium – in den großen Weltstädten von Tokio bis Stockholm benützen sollte. Für jede Stadt waren ihm 1000 Pfund bewilligt, doch wieder unter der Bedingung, daß sie verbraucht, d. h. in jeder Stadt ausgegeben würden!

Unmöglich zu schildern, wie Francis Rooth, diese drei Jahre genoß. Die japanische Wunderwelt, die urewige Pracht der indischen Wälder, die Eleganz der Riviera, das Sonnen- und Sternenglück der Meerfahrten, seine Freundschaft mit dem Maler, anfangs die sehnsüchtigen Briefe der Cousine, die Pariser Schwelgereien, die Schönheit der nordischen Landschaft, eine Nacht in der Wüste, unter gelbem Himmel, dann die Reise mit der transsibirischen Bahn durch Einöde und Stille, plötzlich in Moskau, vor der Pracht des Kreml, einen Sommermonat am Lido in Venedig, in der Sonne fast nackt am Strande liegend, neben den schönsten Frauen Europas; in Rom dann sank er vor Michelangelo in die Knie, in Nizza erlebte er den tollsten Fasching der Welt, dann war er plötzlich in Kleinasien, an den dürren, erstorbenen Stätten, die so vielen heilig sind. Er wurde jünger von Tag zu Tag. Sein Freund, der Maler, war mit Briefen an die freundlichsten Menschen der Erde ausgestattet. Er lernte die großen Dichter Europas kennen, mehr noch: die stillen Großen aller Länder, die über dem Ruhme stehen, die erhabensten Charaktere, die verführerischsten Frauen, aber er blieb wachen Sinnes, und auch die Quartiere des Elends, der Lichtlosigkeit, der Blöße, des Schmutzes sah er, um ihnen schleunigst zu entfliehen. Seinen seligsten Tag erlebte er in Java. Doch davon ein andermal.

Als er am 14. Oktober 1923 in Neuyork landete, da meinte er, eine Nacht geträumt zu haben.

Er wollte einen Dankbesuch bei Mr. Charles M. E. Chugge machen, aber sein Freund, der Maler, sagte: »Warte, er wird dir eine Einladung zuschicken.«

Am 18. Oktober war er wieder in Neuorleans. Er kam in seine alte Wohnung und erschrak über ihre Enge, Lichtlosigkeit und Dürftigkeit. Aber er packte wortlos die Koffer aus und stattete die Wohnung mit allen Gütern aus, die er auf der Reise erworben: Mit persischen Teppichen, ungarischen Stickereien, japanischen Holzschnitten, chinesischem Porzellan, französischer Seide, englischen Teemaschinen, türkischen Rauchsachen, Schmetterlingskasten aus Brasilien, ausgestopften Singvögeln aus Indien und hundert andern leuchtenden Schätzen.

Am 20. Oktober erhielt er den Befehl, am 22. wieder seinen Dienst im Bergwerk, Schacht VII, dritte Etage, anzutreten. Er erinnerte sich plötzlich an die Vereinbarung, dachte an die Pinkertons, die ihn sonst geholt hätten, und ging.

Am 22. Oktober saß er wieder tief unten im Schacht, halbnackt, mit rußiger Brust, über die der Schweiß herunterrann, ganz einsam, nur seine kleine Lampe neben sich und – hier mußte er elf Stunden bleiben! Er hörte das Ticken im nassen, schwarzen Gestein, er vernahm aus der Ferne das Klopfen seiner Kameraden, er aß sein Brot aus der schwarzen Faust. Mitten in der finsteren Einsamkeit des Schachtes sah er auf einmal den Ozean im Morgenlicht, den unendlichen, hellblau strahlenden Horizont, die Schneelandschaften Norwegens, den Fasching von Nizza, und er hörte plötzlich alle Orchester von Paris.

Er hämmerte und hämmerte. Und die elf Stunden vergingen wirklich.

Francis Rooth war auch nach der Arbeit ganz allein. Er hatte keine Lust zu reden, und das wurde ihm als frecher Hochmut ausgelegt.

Er sprach mit niemandem.

Am dritten Tage wurde er plötzlich aus dem Schacht hinaufgerufen. Mister Charles M. E. Chugge erwarte ihn im Gesellschaftsraum der Direktion. Ob er sich nicht umkleiden wolle? – Nein. – Desto besser! Mr. M. E. Chugge wolle ihn sowieso im Gewand des Bergmanns sehen. Nur eine kleine Erinnerung für seinen Wohltäter wollte Francis Rooth sich schnell aus seiner Wohnung holen. Das war in einer Minute besorgt.

Francis Rooth sah im Gesellschaftszimmer der Bergwerksdirektion seinen Wohltäter M. E. Chugge zum erstenmal. Es war ein träger, bleicher, fettiger Mann, der in einem weich gepolsterten Fauteuil förmlich drin lag. Sein schwammiges Gesicht schien schläfrig. Die patschige Hand grüßte schwächlich.

»Nehmen Sie Platz, Mister Rooth, und erzählen Sie mir, wie Sie sich fühlen!«

»Danke, ich stehe lieber. Wünschen Sie eine genaue Beschreibung oder in großen Zügen? Soll ich mit der Einschiffung beginnen?«

Das schwammige Gesicht lächelte träge: »Aber nein, nein, nein! Wie Sie sich jetzt fühlen, sollen Sie mir erzählen.«

Francis Rooth hatte seit seinem Weg nach Hause geahnt, daß der Milliardär sich nicht nach den Erlebnissen seiner Weltreise erkundigen werde! Darum hatte er das kleine Andenken in die Tasche gesteckt. Aber vorsichtshalber frug er doch noch einmal: »Soll ich Ihnen von Indien erzählen ... von den nordischen Nächten ... von unsern Tigerjagden in Bengalen?«

Das blasse, fette Gesicht lächelte noch fauler, und die fleischige Hand deutete mit dem dicken Zeigefinger zur Erde: »Nur das, Verehrtester, nur das ... Wie Sie sich jetzt – danach – fühlen – hier unten, im Schacht, wo Sie die nächsten zehn Jahre leben werden.«

Es war still im Gesellschaftszimmer.

Francis Rooth griff in die Tasche, wo das Andenken drin war, zog blitzschnell einen Revolver aus der Tasche und schoß seinen Wohltäter Mr. Charles M. E. Chugge mit drei brillanten Schüssen nieder. Einer krachte in die Stirnhöhle, zwei trafen in den Bauch.

Als er den Geschworenen von Neuorleans von seiner Weltreise erzählte und von seinem Gespräch mit seinem Wohltäter, da sprachen sie ihn einstimmig frei.


 << zurück weiter >>