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Die Ohrfeige, die Direktor Witkowski bekam

I.

An einem Mainachmittag saß ich mit Josef Kainz im Pavillon des Cafés im Graben. Ich unterdrücke eine lyrische Einleitung, weil ich schnell zur Erzählung dieser Ohrfeige kommen will, bei der mir noch heute, wenn ich an sie denke, das Herz vor Freude zu hüpfen beginnt. Aber das darf ich in aller Schnelligkeit sagen, ein milder Mai in Wien ist eine zauberische Angelegenheit. Wenn zwischen sechs und sieben Uhr die Wiener Mädchen in Sommerkleidern am Grabencafé vorbeirauschen, da kann einen leicht eine sanfte Glückstrunkenheit erfassen. An diesem Maitag saß Josef Kainz neben mir, er hatte das Glück, zuweilen ohne einen Tropfen Wein berauscht zu sein. Wir saßen auf der erhöhten Estrade des Gartencafés, an uns vorüber zog dieser lichte Festzug von hell gekleideten Mädchen – es war lange vor dem Jahre 1914, die Welt war noch nicht finster geworden.

Plötzlich sagte Kainz, indem er auf das Gewühl der Vorbeiziehenden zeigte: »Sehen Sie diesen kleinen Herrn im lichtgrauen Anzug! Der mit den kurzen dicken Beinen! Jetzt nimmt er seinen weichen Hut und fährt sich malerisch durch das fettige Haar. Haben Sie ihn? Sehen Sie sich den Kerl genau an! Er hat uns bemerkt, aber er wagt nicht, zu uns herüber zu schauen. Oh, dem hab' ich einmal eine herrliche Ohrfeige gegeben!«

Kainz rieb sich die Hände, sein schmales, abgezehrtes Gesicht leuchtete in der Erinnerung, er rückte näher zu mir und lachte mir zu: »Es ist ein so schöner Abend. Heute muß ich Ihnen die Geschichte dieser Ohrfeige erzählen!«

II.

»Glauben Sie nicht, daß es eine gemeine Schauspielerohrfeige war. So primitive Mittel zur Mißhandlung von Direktoren habe ich nicht nötig. Da gibt's, Gott sei Dank, raffiniertere Methoden zur Erzeugung von Leberleiden. Diese Ohrfeige hatte eigentlich mit dem Theater gar nichts zu tun. Es war eine Ohrfeige, die auch ein Beamter seinem Chef oder ein Kaufmann seinem Lieferanten geben konnte. Oder doch nicht? Na, entscheiden Sie.

Vor zwei Jahren gastierte ich mit einer Truppe, die Direktor Witkowski führte, in Budapest. Es war auch im Frühling. Wien ist schön im Mai, aber – seien Sie mir nicht bös – Budapest ist im Mai noch schöner. Ich hatte meinen Fiaker mit. Die Ungarn, die sich auf Gastfreundschaft verstehen wie die Russen fast, hatten mir ein kleines Salonboot auf die Donau gesetzt. Abends bummelten wir den Berg nach Ofen hinauf. Nachts genossen wir Gartenfeste mit Zigeunermusik, die herrlichsten Fische aus dem Plattensee, die schönsten Frauen Ungarns wurden uns serviert. Ich bin sonst kein Verschwender mit großen Worten, aber in diesen vierzehn Tagen waren wir selig. Ich hatte dazu noch einen besonderen Grund.

Wir wohnten auf der Margareteninsel. Kennen Sie die im Mai? Sie wissen, das ist die kleine Insel in der Donau. Es gibt da nur ein paar Häuser. Das herrliche Hotel, den Restaurantgarten, der abends ganz im Dunkel steckt, mit Ausnahme der Uferestrade, die im blendenden elektrischen Licht liegt. Witkowski, der, das muß man ihm lassen, ein brillanter Reisemarschall ist, hatte uns in herrlichen Zimmern auf der Margareteninsel untergebracht. Die Donau floß vor unsern Fenstern vorbei, alles war Licht, Duft, Frühling, dieses Frühstücken am Ufer, diese Tokaierfeste am Abend, der hinreißende Jubel allabendlich im Theater. Und das beste war doch, wenn ich jetzt an diese Glückszeit denke, die Ohrfeige, die ich Witkowski gab.

Sie haben schon bemerkt, daß ich damals bis zum Wahnsinn verliebt war. Was hat denn Mai und Donau und Margareteninsel und Mondlicht auf dem Ofener Berg für einen Sinn, wenn es nicht die Dekoration für ein brausendes Gefühl abgibt. Sicher haben Sie schon eine solche Himmelszeit erlebt. Ich habe sie in meinem ganzen, an Glück gar nicht sehr reichen Leben nur zweimal durchgemacht. Ich war damals schon vierundvierzig Jahre. Also eigentlich ein erwachsener Mann. Aber es ist ja nicht wahr, daß man mit achtzehn Jahren wirklich achtzehn Jahre ist. Ich war mit achtzehn Jahren ein armer, unsicherer, verquälter Mensch, innerlich dreiundfünfzig. Aber damals, mit den ersten grauen Haaren an den Schläfen, damals auf der Margareteninsel war ich achtzehn Jahre alt.

Um's kurz zu machen: Ich hatte dieses Gastspiel nach Budapest gar nicht angenommen, um bei den Ungarn Triumphe zu holen. Witkowski hat mir auch eine viel zu kleine Gage bezahlt. Er hatte von seinen Spürhunden, der Kerl hat ja überall seine Agenten, gehört, daß ich mit seinem Ensemble gern nach Pest gegangen wäre, und so drückte er sofort den Preis. Aber es war mir Wurst, denn ich wollte mit seiner ersten Sentimentalen, mit Agathe Landshoff spielen. Sie erinnern sich nicht? Sie haben sie nicht gesehen? Agathe war ja nur zwei Jahre bei der Bühne. Sie hat den Saustall nicht ausgehalten. Vielleicht bin ich schuld, daß sie abging. Sie war nicht robust genug für die Theaterkarriere, sie stammte aus einer lichteren Welt.

Wenn ich mich an sie erinnere, wie sie damals auf der Margareteninsel aussah, immer ganz in Weiß, immer in duftigste Stoffe gehüllt, das adeligste Wesen, das ich je gesehen ... wenn ich mich heute daran erinnere, spüre ich noch ein wehes Rieseln durchs Herz. Kennen Sie das? Kennen Sie dieses physische Wehgefühl im Herzen, das einen nur zwei- oder dreimal im Leben überfällt? Es ist die körperlich fühlbare Sehnsucht, es ist wie ein inneres Nagen, es sprengt einem fast die Brust, man hat ein Gefühl der innersten Zerstörung, wenn man von der Geliebten fort ist, dann taucht sie plötzlich unter den Bäumen im Garten auf, und man spürt ein langsames, unbeschreibliches, erlösendes Rieseln im Herzen.

Ich spielte den Tasso, Agathe die Leonore; ich spielte den Schneider Zwirn, sie spielte in Altwiener Tracht die Bürgerstochter; ich gab den Galeotto und sie, in ihrer Engelsweiße, war meine Partnerin. Nie, nie in meinem ganzen Leben habe ich gespielt wie damals in Budapest. Wenn ich hinter den Kulissen stand und sah, wie sie sich draußen bewegte, die adeligste Figur, die ich je gesehen, Hände, vor denen man auf die Knie sank, Augen von so großem Ernst und von so heiterer Milde, daß man auf der Stelle ein veredelter Mensch war – – nein, Sie wissen nicht, was das Leben an Göttlichkeiten birgt, wenn Sie Agathe nicht gesehen haben. Und ich, von Gott Erkorener, ich vom Schicksal überströmend Beschenkter, ich durfte jeden Abend aus der finsteren Kulisse treten, ich durfte vor zweitausend Leuten, am ganzen Leibe bebend, ihre Adelshand ergreifen, ich durfte ihr zu Füßen sinken, ich durfte ihr die wahnsinnigsten Worte und Verse sagen, ich durfte vor ihr, für sie weinen ...«

III.

Der Abend kam über den Graben. Aus der Dämmerung blinkten die hellen Kleider der Wienerinnen. Der Laternenanzünder kam, steckte mit hoher Stange die Lichter an. Kainz konnte ein paar Minuten, wirklich, ein paar Minuten nicht weitersprechen.

IV.

»Ich hatte Agathe nichts gesagt. Aber es war ja gar nicht nötig. Es gibt ein stummes Strömen des Gefühls, das die Frauen besser verstehen und dem sie mehr glauben als allen abgenutzten Worten. Einmal geschah es, bei einer Tassovorstellung, daß ich im Taumel abging, über einen Balken stolperte und niederfiel. Vielleicht war ich ohnmächtig geworden. Plötzlich fühlte ich, im Dunkel, während Theaterarbeiter, Kollegen, Witkowski neben mir standen, ihre kühle Hand an meiner Wange und ihren Blick, der mir das Herz durchrieselte, und ich trank ihre Worte: ›Kainz, hast dir wehgetan?‹ Ich sprang auf und war gesund.

Im nächsten Moment hörte und sah ich, daß Witkowski in seine fetten Händchen klatschte und rief: ›Nichts ist geschehen, weiter, weiter, Umbau, keine Pause!‹

Ich spielte den Tasso hinkend zu Ende.

Nach der Vorstellung fuhr ich in meinem Fiaker mit Agathe die Donau entlang.

Ich bin nie zudringlich gegen Frauen gewesen, ich verabscheue alle Erfolge, die man der Technik verdankt, und die Technik des Liebhabers ist mir immer das Allerverächtlichste gewesen.

Wir haben auf dieser Fahrt nicht viel geredet. Sie hat mich einige Male geküßt, und ich wußte, das ist eine Frau, die weiß, daß ein Kuß ein Schwur ist.

Aber irgendeinen wortlosen Widerstand fühlte ich doch. Als sie mitten auf der Fahrt sagte: ›Wir müssen zurück, man erwartet uns auf der Margareteninsel‹, da fühlte ich Bleigewichte auf der Brust und ich keuchte:

›Wer – erwartet – Sie?‹

Es war ein klares, niederschmetterndes Geständnis, als sie sagte: ›Witkowski!‹

In derselben Nacht noch beschloß ich, das Gastspiel abzubrechen. Schlafen konnte ich ohnehin nicht. Niemand hat in diesen Mainächten an der Donau schlafen können. Hinunter in den Park des Restaurants wollte ich und konnte ich nicht. Was blieb mir übrig, als meine Kleider und Kostüme aus den Schränken zu holen und meine Koffer einzupacken. Ursprünglich hatte ich die Absicht, einfach mit dem ersten Zug zu verschwinden. Sollte Witkowski sehen, wie er das Gastspiel ohne mich fertigbringt. Aber Sie wissen, ich habe schon einmal einen Kontraktbruch bitter büßen müssen, ich sah schon das Gezeter der Zeitungen vor mir. Da setzte ich mich hin und schrieb – jedes Wort mußte ich mir silbenweis' abzwingen – ein paar Worte an Witkowski, daß mein Unfall doch ernsterer Natur gewesen sei, ich müsse das Gastspiel sofort abbrechen. Den Zettel schickte ich ihm durch den Kellner in den Park. Das war ein Fehler. Von diesem Augenblick hatte ich keine Ruhe mehr im Zimmer. Bald wurde telephoniert, ich möge hinunter in den Garten kommen, bald kam der Arzt, mein Knie zu untersuchen, bald erschien Witkowski selbst, um mir zu erzählen, daß ich ihn für alle Zeiten blamiere, weil alle sechs Vorstellungen der nächsten Woche bei erhöhten Preisen ausverkauft seien. Als ich das Telephon aushängte und die Tür absperrte, schickten sie eine Zigeunerkapelle auf den Gang, die so lange musizierte, bis ich öffnete. Da standen dann aber nicht bloß die Musikanten, sondern auch die galonierten Diener des Hotels mit silbernen Girandoleleuchtern und hinter ihnen die Kellner mit Sektkübeln und beladenen Schüsseln und das ganze Gesindel meiner Kameraden und sogar der Erzherzog Josef und die schöne Gräfin Karoly und Offiziere und Bürgerfrauen und mitten unter ihnen Agathe, ganz blaß, wie mir schien, einer Ohnmacht nahe, und sie sagte mir mit einem langen, verzweiflungsvollen Blick: Bleib' da.

Witkowski hatte den ganzen Zug arrangiert. Er kommandierte: ›Zum Gebet!‹ und die halb oder ganz besoffene Gesellschaft folgte ihm, sie sanken in die Knie und sangen im Chor: ›Bleib' bei uns‹. Die Szene war mir im höchsten Grade widerwärtig, ich bat die mir am nächsten stehende Gräfin Karoly, die Gesellschaft sofort wieder in den Garten zu bringen, ich werde gleich hinunterkommen. Endlich war das Zimmer wieder leer und rein. Ich blieb im Dunkeln liegen. Hatte ich den Leuten das Vergnügen verdorben oder war Witkowski zu schlecht gelaunt oder hatte Agathe zum Aufbruch gedrängt, genug, nach einer halben Stunde trat unten Ruhe ein. Die Lichter im Park wurden ausgelöscht, ich hörte, wie die Kellner abräumten und in ihre Zellen zum Dach hinauftrampelten. Vom andern Ufer der Donau vernahm man dann und wann entfernte Zigeunermusik.

An Schlafen war nicht zu denken. Jetzt, da kein Mensch mehr wach war, konnte ich in den Garten hinuntergehen. Ist es eine Schande, wenn ich Ihnen gestehe, daß ein erwachsener Mann wie ich, mit grauen Haaren an den Schläfen, dem Fünfziger entgegengehend, unten im Park nichts anderes tat als das Fenster Agathes suchen? Sie wohnte im zweiten Stock des Margaretenhotels, das wußte ich, und jetzt schlug der Blitz in mein Gedächtnis ein, ich erinnerte mich, daß auch Witkowski im zweiten Stock wohnte.

Nur ein Fenster war erhellt. Die Nacht war warm, alle Fensterflügel standen weit offen.

Ich wartete. Ich wartete sehr lange. Sie mußte ans Fenster kommen, ich mußte sie durch die Kraft meiner Sehnsucht ans Fenster ziehen, sie mußte, mußte spüren, daß ich hier im finsteren Park stehe und auf sie warte. Und sie kam auch. Plötzlich stand sie im Nachtgewand am Fenster, beugte sich erst ein wenig, dann weit hinaus, und ich sah, daß sie suchte. Ich begann zu pfeifen. Plötzlich trat der dicke, kleine Witkowski ans Fenster, beugte sich noch weiter vor und sagte mit seiner fettigen Stimme: ›Ich muß doch sehen, nach wem du dich umguckst.‹ Ich war aus dem Schatten ins Mondlicht getreten. Kein Zweifel, er hatte mich gesehen.

Es war unmöglich zu schlafen. Ich ging im Garten auf und ab. Agathes Fenster blieb hell.

Plötzlich hörte ich Geräusche in meiner Nähe. Da stand schon Witkowski neben mir.

Er sagte: ›Na, das Bein wieder gut? Sie gehen ja ganz scheen.‹ Nie konnte er die Trüblaute ordentlich aussprechen.

Ich gab ihm keine Antwort. Er spürte die Spannung. Es entstand eine lange Pause, die mir Vergnügen machte, denn ich dachte ununterbrochen: Morgen früh reis' ich ab, morgen früh reis' ich ab. Der Teufel juckte mich, plötzlich hüpfte ich auf einem Bein und summte meinen Refrain: ›Morgen früh reis' ich ab.‹

Furchtbar aufgeregt packte er mich am Arm.

›Sie werden nicht reisen!‹ krächzte er.

Ich hüpfte: ›Morgen früh reis' ich ab!‹

Da wurde er ganz still, ging eine Weile nachdenklich neben mir her. Plötzlich drückte er mir etwas Kaltes in die Hand. Es war ein Zimmerschlüssel ...

Ehe ich noch alles übersah, hörte ich ihn sagen: ›Wegen solcher Kleinigkeiten wird das Gastspiel nicht gestört werden!‹

In diesem Augenblick hatte er schon meine Ohrfeige. Es war eine ideale Ohrfeige, blitzschnell, kräftig, schallend. Ich glaube, man hörte sie bis hinauf zu dem erleuchteten Fenster im zweiten Stock.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem ersten Zug nach Wien. Agathe habe ich nicht mehr gesehen, und – werden Sie es glauben? – Witkowski hat mir bis heute noch keinen zweiten Gastspielantrag gemacht!«


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