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Der Vorleser der Kaiserin

Die Kaiserin war dem schönen alten Herrn auf dem Waldweg zwischen Weißenbach und Ischl begegnet. Er ging in einem weißen Anzug, barhaupt, ganz langsam, den Kopf gesenkt. Als die Kaiserin mit ihrer Begleiterin vorüberkam, blickte er auf, zerrte den zusammengeknüllten Panamahut aus der Tasche und grüßte mit verehrungsvollem Schwung. Jetzt sah die Kaiserin sein bartloses, mageres Gesicht.

»Er hat ja beinah ein Beethovengesicht,« sagte Majestät, »wie alt ist er denn?«

»Einundfünfzig«, erwiderte die Gräfin Hoheneck, die alles weiß.

»Merkwürdig, und sein Haar ist schon ganz weiß. Aber das steht ihm. Man denkt, der hat alle Leiden der Erde mitgemacht.«

Am Tage darauf wurde Professor Laurenz Maier ins kaiserliche Schloß befohlen.

Die Kaiserin stand beim Fenster, als er auf der Straße herankam: »Wie ruhig er geht, und wie klein er ist. Oder ist es seine Zartheit, die ihn so klein macht? Der schmale Körper schlottert in den weiten Kleidern.«

Als die Kaiserin ihn sprechen hörte, versteckte sie das Gesicht hinter ihrem großen Fächer. Er sprach ganz leise, aber seine Stimme war getränkt in einem metallischen Ton. Ihre eigene Stimme kam ihr heiser und trocken und grau vor neben dieser Geigenstimme. Endlich faßte sie sich und fragte: »Was treiben Sie eigentlich, Herr Professor?«

»Ich bin Lehrer am Schottengymnasium, ich lehre Griechisch, Französisch, Italienisch.«

»Und wenn Sie so langsam durch den Wald gehen, wie unlängst, was denken Sie da?«

»Majestät«, sagte der weißhaarige Mann mit einem fast unmerklichen Lächeln: »Ich denke so wenig ...«

Da mußte auch die Kaiserin lächeln: »Das freut mich ... Wenn es mir gut geht, vergesse ich auch zu denken.«

»Ja,« sagte der Weißhaarige ganz ruhig, wie für sich, »die Menschen überanstrengten das Gehirn. Denken soll man nur instinktiv, dann ist Friede mit dem denkenden Geist. Aber die meisten wecken sich selbst, sie lassen sich keine Ruhe, so kommt was Schrilles in ihr Denken.«

»Einen solchen Geist brauche ich in meiner Nähe«, sagte die Kaiserin zur Gräfin Hoheneck, und so wurde Professor Maier als Lehrer des Schottengymnasiums beurlaubt und zum Vorleser Ihrer Majestät ernannt. Am liebsten hätte ihn die Kaiserin auch umgetauft. Es war ein schlechter Witz der Natur, daß dieser altindische Geist Maier hieß. Einmal sagte ihm das die Kaiserin, aber der Weißhaarige lächelte wieder sein zartes Lächeln und erklärte: »Das ist ganz recht so, ich soll Maier heißen.« An diesem Tage bekam der gewöhnliche Name einen besonderen Glanz; Maier, das bedeutete jetzt so viel wie: Der Einfache, der Erdensohn, der Mensch. Aber wenn die Kaiserin diesen Gedanken betätigen und ihn als Herr Maier ansprechen wollte, da streikte die Zunge; er gewahrte ihr Stocken, und er nahm es durchaus nicht als Vertraulichkeit, sondern nur als Ausflucht, daß sie ihn ansprach: »Herr Laurenz.«

Sein Geschäft war nicht anstrengend. In der Früh saß er mit der Kaiserin auf der Veranda, die auf den unübersehbar großen Park hinausging und ... ja, was denn? Vorlesen durfte er nicht, Unnötiges reden wollte er nicht, er hatte nur dazusitzen und mit ihr auf das Rauschen der Wipfel, das Locken der Amseln, das Rascheln und Springen der Eichhörnchen zu achten. Eine so schöne, selbstverständliche Vertraulichkeit stellte sich heraus, daß es ihm sogar erlaubt war, leise vor sich hinzupfeifen, trotzdem Majestät daneben saß. Er pfiff übrigens ganz sanft, und es klang wie Flötenton. Einmal kam die Kaiserin ganz früh mit ihrer Friseuse auf die Veranda, und die lange Flut ihres braunen Haares strömte über den weißen Mantel. Die Kaiserin wollte sagen: »Herr Laurenz, jetzt sind Sie nicht da!« Aber es war nicht nötig, er summte an diesem Morgen nicht, er atmete kaum und, obwohl er sie ruhig ansah, und mit Bewunderung ansah, das fühlte sie, so beschwerte sie seine Anwesenheit doch gar nicht. Er hatte eine Art, dazusein und doch nicht da zu sein, die das Leben erleichterte. Abends saßen sie im Garten, und da las er ihr vor. Ich will die Dichter nicht nennen, die er las, denn ihre Worte schienen sein Eigentum und die Verse schienen in diesen Abendstunden geboren.

Die Hofdamen, sogar die Gräfin Hoheneck, wurden von diesen Vorlesungen verbannt. Die Hoheneck, die einmal eine Depesche – ich glaube sogar eine Depesche des Kaisers – überbringen wollte, mußte sich's gefallen lassen, daß ihr heftig abgewinkt wurde, und als sie unbegreiflicherweise dennoch näher kam, fuhr die Kaiserin sie an: »Bleiben Sie doch im Schloß! Kann ich denn nicht eine halbe Stunde ruhig genießen?!«

Das hätte einem andern Neid und Ungunst eingetragen. Aber Professor Maier kam abends zu der Gräfin und entschuldigte sich vielmals, und er hatte für die Ungeduld der Kaiserin dieses fast unmerkbare Lächeln des guten alten Lehrers; das stimmte auch die Oberhofmeisterin ganz milde. Und Professor Maier war ja so beruhigend weißhaarig, seine zarte Stimme, sein dünner Körper, sein abgemagerter Beethovenkopf – sogar die Hoheneck, die schon mancherlei mit angesehen hatte, fand, daß er wirklich nur zum Vorlesen von Gedichten verwendet werden könne.

Am 28. Juli kam die Nachricht vom Kriege.

In der Früh auf der Veranda sagte die Kaiserin: »Bitte, lesen Sie mir die Zeitung vor.« Darin war Professor Maier nicht erfahren, denn er las keine Zeitungen. Aber er besaß die Geschicklichkeit des liebevollen Dieners, und er fand, wie er meinte, schnell das Wesentliche heraus. Während er las, unterbrach ihn Majestät: »Dummes Zeug ... Das Wichtigste steht gar nicht drin ...«

Professor Maier sah erstaunt auf, die Kaiserin begütigte ihn: »Das ist ja nicht Ihre Schuld«, und so las er weiter.

Plötzlich stand die Kaiserin auf und sagte: »Danke, genug ... Zum Zeitungvorlesen sind Sie nicht geschaffen, Sie nehmen das alles zu gründlich, Sie lesen alle Titel und Nebensachen und das Geflunker mit ... Sie sind zu gut für dieses Zeug.«

Die Kaiserin reichte ihm die Hand und verschwand. Der alte Mann blieb noch auf der Veranda, er hatte noch ihre merkwürdig gereizte Stimme im Ohr. Er versuchte auf das Rauschen der Wipfel zu achten und auf das Knacken der Äste, wenn die Eichhörnchen darauf hüpfen. Aber er kehrte immer wieder zu der Zeitung zurück, die nun da unten auf dem Boden lag. Ja, er mußte sich einüben. Er beschloß, zwei Stunden früher aufzustehen und sich das Wesentliche in den Zeitungen blau anzustreichen.

Abends im Garten wollte die Kaiserin nicht ruhig sitzen. Deshalb wurde auf das Lesen verzichtet.

»Kommen Sie,« sagte die Kaiserin, »wir wollen auf den Schafberg gehen, das wird uns müde machen, und das brauchen wir.«

Die Kaiserin, schlank und groß, wie sie war, lief beinahe die neunhundert Meter hinauf. Professor Maier, der gewiß nicht schwerfällig war, konnte in diesem Tempo doch nicht mithalten. Er kam außer Atem, sein Herz klopfte heftig, er mußte um eine kleine Pause bitten.

»Was würden Sie denn tun, Herr Laurenz, wenn Sie Soldat wären! Unsere Leute sind gestern fünfundsechzig Kilometer marschiert an einem Tage, das sind Burschen!«

Der alte Mann fühlte das Unrecht, das ihm mit diesen Worten geschah, ganz ohne Groll. Er sagte fast freudig: »Ja, das ist eine schöne Leistung.«

»Nun,« sagte die Kaiserin, von seiner Sanftmut gerührt, »jeder auf seinem Terrain. Die können dafür nicht Pindar lesen.«

Der Vorleser wurde jetzt wirklich traurig, denn was war jetzt Pindar lesen? Er konnte beim besten Willen nichts mehr sprechen an diesem Abend. Aber es war – beim Abstieg – doch eine schöne Stunde, denn die Kaiserin sprang förmlich den Weg hinunter, und auch ihm machte der Abstieg wenig Beschwer, er flog mit. Je näher sie dem Schloß kamen, desto ungeduldiger wurde sie, desto wilder rannte sie bergab. Der Gräfin Hoheneck, die ihr entgegengekommen, rief sie von weitem zu: »Ist Nachricht vom Hauptquartier da?« Und als die Oberhofmeisterin bejahte, da flog sie in ihr Arbeitszimmer hinauf, die Gräfin und der Schwarm der anderen ihr nach. Das hohe Gittertor wurde zugeschlagen, gesperrt, und der Posten – denn seit drei Tagen wurde das Schloß militärisch bewacht – ging gelassen, das Gewehr über der Schulter, seine Strecke auf und ab.

Als Professor Maier unten ankam, waren alle schon weg. Der alte Mann rüttelte am Tor. Aber da schrie ihn der Posten an: »Halt!« Der kleine Herr fuhr zusammen, so war er in seinem ganzen Leben noch nicht angedonnert worden, ließ die Klinke fahren und suchte dem Soldaten zu erklären, daß er da hineingehöre. Aber der Posten packte ihn mit derber Hand am Arm – selbst der Bauernsohn und Soldat erschrak über die Magerkeit des Armes, den er da fühlte – und wollte ihn schon abführen, als man vom Balkon her Rufe hörte, offenbar aus dem Zimmer der Kaiserin, dann raschelte die Gräfin Hoheneck schnell heran, hinter ihr der dienstführende Leutnant und der Verwalter mit dem Schlüsselbund, und so wurde Laurenz befreit.

Das Rosa aus seinem Gesicht ward noch durch eine leichte Blässe verdrängt, als er schon wieder freundlich dreinsah und mit seiner unscheinbaren Heiterkeit sagte, indem er sich an den eben noch umklammerten Arm griff: »So hab' ich jetzt die Faust des Krieges gefühlt.«

Nach dem Abendessen durfte er der Kaiserin und der Gräfin Gesellschaft leisten.

»Erzählen Sie uns etwas, das uns zerstreut.«

Er fing sogleich in seinem Flüsterton eine Geschichte an, natürlich eine Kriegsgeschichte, die schöne Anekdote von Napoleon in Kairo ... aber mitten im ersten Satz unterbrach ihn die Kaiserin:

»Hoheneck, ist der junge Waldstein eingerückt?«

»Der Junge selbstverständlich, aber denken Majestät, auch der Alte will trotz seiner zweiundsechzig Jahre mit.«

Maier machte rücksichtsvoll eine Pause. Aber niemand bemerkte sein Schweigen, denn die Hoheneck fühlte, daß heute abend sie die wichtigere Person war, und so schwatzte sie in einem fort:

»Der Waldstein ist nicht der einzige Alte, der Traun ist noch älter, der ist anno 49 geboren, und er hat sich's doch nicht nehmen lassen, seinen alten Kavallerierock anzuziehen. Und wissen Majestät, wieviel Mitglieder der Familie Thurn im Felde stehen? Einen Moment, gleich werd' ich's haben! Die Söhne Gustl, Franz, Ottokar, Rudolf, Eduard und dann die zwei Söhne vom Franz, die drei Jungen vom Ottokar, und der älteste vom Gustav, im ganzen elf Stück. Ohne den alten Herrn. Der möchte gern, aber es geht eben doch nicht mehr, er ist zweiundachtzig.«

Die Kaiserin nickte der Hoheneck freundlich zu: »Sie sind doch eine arglose Seele ...«

Einmal im Laufe dieses Abends sagte die Kaiserin beinahe ausgelassen:

»Na, Herr Maier, möchten Sie nicht auch mit?« Der Vorleser erschrak. Zum erstenmal hatte die Kaiserin ihn als Herr Maier angesprochen.

»Wenn ich nicht zu viel Nachsicht verlangen müßte, würd' ich mich melden! Ich fürchte übrigens, daß sie mich nicht nähmen.«

»Gott behüte, Herr Laurenz«, sagte die Kaiserin begütigend. »Sie denken doch nicht im Ernst an solche Sachen? Was sollen Sie denn dort anfangen? Sie könnten höchstens abends den Soldaten Gedichte vorlesen!«

Der alte Mann murmelte nur ergeben vor sich: »Ja, ja.«

Die Hoheneck, in der doch ein kleines Restchen Eifersucht steckte, sagte mit falschem Ernst: »Herr Laurenz müßte vor dem Kampf anfeuernde Sachen vortragen ... Wie hat der alte Grieche geheißen? ... Tyrtäus oder so was, nicht? ... Aber damals war noch kein Kanonendonner! Ihr Organ würde wohl nicht ausreichen?«

Laurenz erwiderte mit ungestörtem Ernst: »Oh, meine Stimme ist sehr stark, ich habe oft den Wasserfall am Lichtensee überschrien.«

»Nein, wirklich?« sagte die Gräfin mit konziliantem Lächeln.

»Hoheneck, foppen Sie mir meinen Freund nicht,« die Kaiserin erhob sich, »und versuchen wir es heute, zu schlafen.«

In aller Früh saß der Professor über den Zeitungen. Es gab noch keine eigentlichen Kriegsberichte, bloß Nachrichten über tückische Franktireurtaten. Ahnungslose Soldaten, denen tollgewordene Weiber die Augen ausgestochen, Heimreisende, die man tagelang durchs Gebirge nach Hause wandern ließ, ohne ihnen Obdach, Speise und Trank zu gewähren, Schlafende, denen man die Ohren abgeschnitten hatte, Gesindel, das die Brunnen vergiftete. Das alles tat der Feind.

»Das soll ich vorlesen?« fragte sich Laurenz, »diesen goldenen Morgen verpesten mit solchen Nachrichten?« Aber er las doch alles vor mit seiner viel zu sanften Stimme, sah nicht auf, und nur wenn er den schweren Atem der Kaiserin vernahm, pausierte er eine Weile und stellte sich ihr blaßgewordenes Gesicht vor.

Gegen Ende der Vorlesung kam die Hoheneck mit einem Telegramm. Laurenz war gar nicht neugierig, aber er hielt natürlich im Lesen inne, während die Kaiserin die Depesche durchnahm. Sonst pflegte sie bei dergleichen Unterbrechungen die Nachricht zu erzählen oder die Depesche weiterzugeben oder zu Maier zu sagen: »Lesen Sie weiter, das ist wichtiger!«

Diesmal legte sie die Depesche in den Schoß, nahm sie aber gleich wieder vor, las sie noch einmal, stand auf, ging unruhig auf und ab.

Der alte Mann fragte mit einem bescheidenen Blick, ob er aufhören solle.

»Nein, nein, lesen Sie nur weiter, das stört mich gar nicht.«

Er las all die Untaten, die er gerade vor diesem Wesen verschwiegen haben wollte, las und schämte sich für seine Mitmenschen, hielt inne und wollte sagen, daß diese schrecklichen Geschichten vielleicht doch zum Teil nur die Träume von Menschen sind, die nachts in der Finsternis marschieren, auf dem Pflaster oder in Straßengräben schlafen müssen und dann ihre eigenen Schreckensträume für Wirklichkeit halten, »denn das kann ja nicht sein«.

Indes hatte die Kaiserin die Tür geöffnet und im Vorsaal nach der Hoheneck gerufen.

»Was glauben Sie, von wem kommt dieses Telegramm?«

Die Gräfin sagte mit Betonung: »Es kann nur von einem Menschen auf der Welt sein!«

Da ging die Kaiserin auf die alte, dürre, ledergelbe Hofdame zu, fiel ihr wortlos um den Hals und küßte ihre trockenen Wangen.

»Ja,« sagte sie mit einem Kinderlachen, »er bittet mich, zu ihm in die Nähe zu kommen ... Alles ist plötzlich ganz anders ... Es ist wieder wie vor neun Jahren ... Hoheneck! ... Hoheneck! So küssen Sie mich doch auch!«

Wenn der Vorleser jetzt einen Zauberring gehabt hätte, um rasch unsichtbar zu werden! Er duckte sich hinter die Zeitung, er schlüpfte lautlos zur Tür, und es gelang ihm, während die Kaiserin noch am Halse der Gräfin lag, ganz unbemerkt durch die Tür zu entwischen.

Nachmittag reiste die Kaiserin.

Professor Laurenz Maier wurde im letzten Augenblick zu ihr befohlen, als sie schon im Wagen saß. »Herr Laurenz, leben Sie wohl! ... Ich habe einen Moment daran gedacht, Sie mitzunehmen. Aber es wäre unrichtig. Jetzt ist keine Zeit für Pindar und Plato. Diese schönen Träumereien wären jetzt sündhaft, es wäre Luxus ... Schauen Sie mich nicht gar zu ernst an, Herr Laurenz, vielleicht muß ich wieder zu Ihnen zurückflüchten, vielleicht fahre ich jetzt ins Leben hinaus ... Geben Sie mir die Hand, ich danke Ihnen für alles Gute, Sie sind ein edler Mensch! Aber wenn Gott will, werd' ich jetzt auch ein Mensch, der einen Sinn hat!«

Laurenz senkte das Haupt, zog tief den Hut, der Wagen fuhr fort, die Kaiserin sah sich noch einmal um und winkte noch aus der Ferne.

Lange stand Laurenz auf demselben Fleck, eine steinerne Figur. Er mußte sich selbst gewissermaßen wecken, und er wunderte sich am Ende, daß er Bein vor Bein stellen und Luft einatmen konnte.

Im Schloß war es jetzt ganz still. Die Hoheneck war an der Seite der Kaiserin weggefahren, die Wachtposten waren eingezogen. Am Gittertor öffnete ihm die Frau des Hauswarts, dieser selbst war zu den Dragonern eingerückt. Der Verwalter hatte sich zur Verpflegstruppe gemeldet, der alte Inspektor hatte die Leitung der Bürgerwehr im Städtchen übernommen und sein Sohn war zur akademischen Legion gegangen, wo er zu Botendiensten und bei Verwundetentransporten nützlich sein konnte. Der französische Koch aber war schon vor acht Tagen Hals über Kopf davongelaufen.

Nur ein paar Weiber waren im Schloß zurückgeblieben. Am Abend unternahm Laurenz Maier einen langen Spaziergang durch den Wald, die Anhöhe neben dem Schafberg hinauf, und als er zurückkam, sagte die Frau des Hauswarts, ein geschwätziges, gutmütiges Weiblein, zu ihm:

»Jetzt sehen Sie wieder gesund und stark aus, Herr Professor.«

»Das bin ich auch«, antwortete er noch.

Aber am nächsten Morgen klopfte die gutmütige Frau vergebens an seiner Tür. Sie drang ein. Sein Bett war unberührt. Jetzt erinnerte sie sich, daß sie in der Nacht etwas wie einen Menschen wahrgenommen hatte, der in der Richtung zum Lichtensee gewandert war. Ohne Hut ...

Auf dem Schreibtisch fand die Frau, als sie dort herumstöberte, einen Brief, der nach Monaten der Kaiserin übergeben wurde. Darin stand:

»Eure Majestät!

Verzeihen Eure Majestät, wenn ich Ihnen einen Moment der Trauer oder des berechtigten Zürnens verursache. Ich werde mich heute nacht töten. Mögen Sie nicht glauben, daß es nur eine Anwandlung vorübergehender Schwäche ist, was mich dazu treibt. Der Gedanke ist tagelang mit mir herumgegangen, ich habe ihn abgewiesen und aufgenommen, gewogen und geprüft, nun folge ich ihm mit beruhigtem Gefühl. Eure Majestät! Alle Welt rüstet jetzt, um seine ganze Kraft zusammenzufassen und dem Ganzen hinzugeben.

Auch ich habe mich gesammelt, und die einzige Tat, die ich zum Nutzen der Gemeinschaft tun kann, ist die: mich auszustreichen. Das Brot, das ich nicht essen werde, kann vielleicht einen Knaben nähren, der einmal eine Tat vollbringen kann, oder eine Frau, die einen Knaben gebären kann. Es wird mir, das will ich nicht leugnen, gar nicht schwer, mich Überflüssigen auszuschalten.

Ich gehöre nicht zu dieser Welt. Ich will nicht leben in einer Welt, wo das Töten wichtiger ist als das Denken!

Wenn ich an die Kraft meiner alten Hände noch glauben könnte, würde ich Sie segnen!

Laurenz Maier.«

Die Kaiserin las den Brief erst nach Friedensschluß. Einen Tag lang schloß sie sich in ihr Zimmer ein und war für niemanden zu sprechen. Sogar vom gemeinsamen Mahl mit dem Kaiser ließ sie sich an diesem Tage dispensieren.

(Geschrieben im Oktober 1914)


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