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Kohn

Der Regisseur sitzt spät abends bei der Lampe in seinem Arbeitszimmer. Da läutet es, dann tritt das Dienstmädchen ein und sagt mit entschuldigendem Lächeln: »Der häßliche kleine Mensch ist schon wieder da.«

Der Regisseur schaut aus seinen Papieren auf und erwidert sehr ärgerlich: »Ich bin nicht zu Hause!«

»Er ist das viertemal da,« wagt das Mädchen leise einzuwenden, »und er hat auf der Straße gewartet, bis im Arbeitszimmer Licht wurde.«

»Ich bin nicht zu Hause!«

*

Der nächste Tag geht zu Ende, der Regisseur sitzt spät abends wieder vor seinem Schreibtisch, und das Mädchen meldet plötzlich, daß der häßliche kleine Mensch schon wieder draußen ist und vorgelassen zu werden wünscht.

»Wie heißt er denn überhaupt?« fragte der geärgerte Regisseur.

Das Mädchen verschwindet, kommt nach einigen Augenblicken wieder herein und sagt wieder mit einem mitleidigen Lächeln: »Siegfried Kohn.«

Der Regisseur überlegt: »Fragen Sie ihn, was er eigentlich will.«

Das Stubenmädchen huscht noch einmal ins Vorzimmer und schnell wieder herein: »Er will zum Theater, der Herr Regisseur möchten ihn nur einmal zehn Minuten lang anhören.« Dabei lächelt das Mädchen wieder so gütig-mitleidig und ihre Augen bitten für den häßlichen armen Kerl, der schon das fünftemal da ist.

Siegfried Kohn wird in das Arbeitszimmer eingelassen.

Er tritt in das halbdunkle Zimmer, das nur von der Lampe auf dem Schreibtisch erhellt wird.

Der Regisseur ist in seine Arbeit ganz vertieft (er ist ja noch immer Schauspieler) und läßt den Menschen ein paar Minuten lang an der Tür harren. Plötzlich besinnt er sich (alle Schauspieler »besinnen« sich »plötzlich«) und sagt mit seinem klangvollsten Bariton: »Oh, verzeihen Sie, ich stecke mitten in der Vorbereitung unserer nächsten Premiere.«

Jetzt faßt der Regisseur Herrn Siegfried Kohn ins Auge. Herrgott, dieser Bursche will zur Bühne! Er reicht dem Regisseur kaum bis zu dem Bauch, das ist ja beinahe ein Zwerg, und noch dazu ein Zwerg mit kurzen, nach außen gebogenen Beinchen, mit schlaff herunterhängenden Schultern, die eine tiefer als die andere.

»Sie wollen zur Bühne? ... Herr!!«

Siegfried Kohn steht noch im Halbdunkel an der Tür. Es entsteht eine kurze, bange Pause. Dann hört man aus dem Dunkel die bebende Stimme eines furchtbar erregten Menschen: »Wenn Sie mich nur zehn Minuten anhören wollten!«

Der Regisseur erhebt sich von seinem Arbeitstisch, geht langsam in die Mitte des Zimmers und dreht schnell den kleinen Hahn an der vielbirnigen elektrischen Lampe auf.

Jetzt steht Siegfried Kohn im grellen Lichte des Raumes da, der plötzlich weiter und größer geworden zu sein scheint – und Siegfried Kohn noch kleiner.

Der Regisseur blickt dem Wartenden mit frecher Neugier ins Gesicht. Herrgott, was für ein Gesicht! Eine ganz absurde, eine geradezu ungeheuerliche Nase sitzt in diesem unrein gefärbten Gesicht, unter ihr ein aufdringlich roter, viel zu üppiger Mund. Die Ohren stehen ein wenig zur Seite und das schwarze Kopfhaar ist wollig und kraus.

Der Regisseur will ganz brüsk wiederholen: »Sie wollen zur ...« Aber da schaut er dem kleinen, vor Aufregung bebenden Siegfried Kohn in seine heiß strahlenden, brennenden Augen.

Der Regisseur nimmt wieder in seinem Arbeitssessel Platz und schaut sinnend (wie große Künstler »sinnen«) zu Boden.

Die leise Stimme Siegfried Kohns unterbricht die Stille: »Ich weiß, was Sie sagen wollen ... mein Exterieur ... ich habe ein unglückliches Äußeres. Ich weiß, aber, bitte, hören Sie mich zehn Minuten an!«

»Hat es denn einen Sinn?« fragt der Künstler.

Siegfried Kohn zittert: »Herr Regisseur! ... Zehn Minuten! Fünf Minuten! Hören Sie mich nur einmal an ... Ein Künstler wie Sie sieht ins Innere! Ich weiß ja, daß ich ein unglückliches Exterieur habe, jedoch ... Hören Sie mich fünf Minuten an, dann erst urteilen Sie.«

Bei den Worten »Ein Künstler wie Sie« senkt der Herr Regisseur das Haupt, offenbar wieder in tiefes Sinnen versunken, dann gibt er Siegfried Kohn mit der rechten Hand ein Zeichen: »Bitte, sprechen Sie etwas vor!«

Dann dreht der Künstler dem Bittenden den Rücken und vergräbt sein Haupt in seinen Händen.

Siegfried Kohn flüstert: »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie zuerst den großen Lüster auslöschen wollten.«

Diese Aufforderung kränkt den Künstler. Wenn er dies für richtig gehalten hätte, dann würde ihm dieser Gedanke wohl selbst gekommen sein, und so sagt der Regisseur ein bißchen unwillig: »Ich lausche Ihnen ja, wie Sie sehen, mit geschlossenen Augen.« Und er vergräbt sein Antlitz wieder in den Händen.

Es ist ganz still.

Dann hört man Siegfried Kohn fragen: »Tasso? Monolog im Gefängnis?«

Der Künstler, schon in der Stellung des tiefen Lauschers, nickt nur.

Siegfried Kohn beginnt zu sprechen.

Das erste, was sich der Regisseur sagt, ist: Merkwürdig, er jüdelt nicht! ...

Leise hat der junge Mensch begonnen, mit mattgefärbter, monotoner Stimme; aber diese Monotonie zittert, so daß der Zuhörer jeden Augenblick das Gefühl hat: Nun bricht er los! Der Regisseur sagt sich: Merkwürdig, er deklamiert nicht! ... Immer tiefer vergräbt der Künstler sein Haupt in die Hände. Die Stimme des jungen Menschen wird farbiger und voller, das unterirdische Zittern in dieser Stimme immer aufregender, und die Kraft, mit der diese Erregung gebannt und zum Schweigen gebracht wird, wächst siegreicher herauf. Allmählich hat die Stimme ihr monotones Grau verloren und (so scheint es dem mit geschlossenen Augen Lauschenden) goldiger Glanz strahlt aus diesen Worten. Jetzt kommt der Sprecher zu den Versen:

Ja, alles flieht mich nun. Auch du! Auch du!
Geliebte Fürstin, du entziehst dich mir!
In diesen trüben Stunden hat sie mir
Kein einzig Zeichen ihrer Gunst gesandt.
Hab' ich's um sie verdient?

Jetzt wird die Stimme ganz dunkel. Dem Lauscher mit geschlossenen Augen scheint es, als schimmere sie tief dunkelblau. Und selbst bei den Worten: »Auch du! Auch du!« läßt sich der bebende Sprecher nicht los und der Hörer fühlt die straffgespannten Zügel einer ungeheuren Selbstbeherrschung. Die Stimme wird wieder hell und goldschimmernd:

Vernahm ich ihre Stimme, wie durchdrang
Ein unaussprechliches Gefühl die Brust!

Jetzt aber zieht, tief schwarz und dunkel grollend, Gewitterhimmel über die Stimme des Sprechers. Immer schwärzer, schwarz bis ins Tonlose, beklemmend in ihrer atemlosen Beherrschtheit schweben die Verse durch die Luft. Jetzt beginnt es unheimlich zu wetterleuchten und endlich – endlich! endlich! – bei den Versen:

Hier halte fest, mein Herz! Du klarer Sinn,
Laß hier dich nicht umnebeln! Ja, auch Sie!
Darf ich es sagen? Und ich glaub' es kaum;
Ich glaub' es wohl, und möcht' es mir verschweigen,
Auch Sie! Auch Sie! Entschuldigen sie ganz.
Allein verbirg dir's nicht: auch Sie! »Auch Sie!«

da erst, bei dem schrillen Verzweiflungsschrei: Auch Sie! Auch Sie! – da ist es, als hätte der Blitz in diese schwarze Stimme eingeschlagen und sie plötzlich unheimlich erhellt.

Der Regisseur sitzt da, die Augen geschlossen, mit der Hand bedeckt, er ist förmlich aus seinem Raume gehoben und hinübergetragen in Tassos einsamen Arrest ...

Der Sprecher schweigt.

Der Regisseur regt sich nicht. Wie er sich endlich umdreht, sieht er vor sich – Torquato Tasso? – nein, Herrn Siegfried Kohn, der ihm bis zum Bauche reicht, Siegfried Kohn mit krummen Beinen, Siegfried Kohn mit abstehenden Ohren, Siegfried Kohn mit Wollhaaren, Negerlippen und einer ganz absurden Nase ...

Der Bittsteller steht mit seinen melancholisch glänzenden Augen den Schweigenden an.

»Soll ich zur ...« haucht der Erregte.

Der Regisseur schaut ihn an: »Sie sind jedenfalls ein ...« Aber er vollendet den Satz nicht und sagt nur: »Ich danke Ihnen ... Herr Kohn!«

Eine Pause.

Die Augen des kleinen häßlichen Menschen irren bebend durchs Zimmer: »Soll ich ...«

Das Schweigen des Regisseurs enthält schon eine fürchterliche Entscheidung.

Da haucht Siegfried Kohn noch einmal: »Gerade ein so tief innerlicher Künstler wie Sie muß sich doch über das Äußerliche hinwegsetzen können.«

Nach dem Wort »tief innerlich« wird der Regisseur lebendig, klopft dem schon ganz verkrümmt und melancholisch dastehenden Jünger mit burschikoser Lässigkeit auf die Schulter und sagt aufmunternd, wie eben wahrhaft große Künstler zuweilen sind: »Junger Mann, Sie sind ein Talent. Aber vielleicht verlegen Sie sich mehr auf das Komische.«

Siegfried Kohn sieht den Regisseur mit brennenden Augen an, dann greift er wortlos nach der Klinke und geht schnell hinaus, recht unartig, ohne ein Wort des gebührenden Dankes.


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