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Der Krieg

Die Familie des Oberbuchhalters Wessely ging gewöhnlich Sonntag nachmittags ins Kaffeehaus. Nach dem Essen verschwand sofort Herr Wessely selbst, und man wußte, daß er jetzt den ganzen Nachmittag rückwärts im Spielzimmer des Café Förster saß. Frau Wessely zog ihr gewöhnliches Hauskleid aus und holte das neue Kleid für Sonntag aus dem Kasten. Gewöhnlich um halb vier Uhr erschien das Fräulein Rosa, eine Schwester der Frau Wessely. Sie kleidete die zwei Kinder so nobel wie möglich an. Das ältere Kind, ein Bub, Emil, brauchte eigentlich nur zur Revision besichtigt zu werden. Höchstens die Krawatte mußte man ihm binden. Er war neun Jahre alt, konnte sich also sehr gut selbst anziehen. Mit dem kleineren Buben, Franz, hatte das Fräulein Rosa viel mehr Scherereien. Das war noch ein unbeholfener fünfjähriger Fratz, dem man, weil er sehr »verzogen« war, Schuh' und Strümpfe anziehen mußte. Das Hoserl mußte ihm sorgfältig zugeknöpft werden. Gewaschen mußte er werden und schließlich auch frisiert.

Der ältere Bub – Emil – war diesen Sonntag besonders schnell fertig. Er rannte vom Kinderzimmer, wo er nachschaute, ob Tante Rosa mit dem Franz endlich fertig war, ins Schlafzimmer und sah nach, wie weit die Mutter mit ihrer Toilette hielt. Aus irgendeinem Grunde war er heute besonders pressiert. Als die Mutter sich vor den Frisiertisch setzte – er wußte: das dauert eine halbe Stunde –, da fragte er:

»Mutter, darf ich vielleicht zum Vater vorausgehen?«

Die Mutter hatte gerade das Brenneisen in der Hand und war wütend über diese Störung:

»Ich kann mich noch verbrennen. Marsch hinaus! Stör' mich nicht! Wir gehen alle miteinander.«

Alle waren schon fertig. Sogar der Kleine war glücklich gewaschen und zugeknöpfelt. Nur die Mutter brachte immer ihre Kleidung so spät zu Ende! Die Tante Rosa saß mit den beiden Buben beschäftigungslos im Kinderzimmer.

»Immer müssen wir auf die Mutter so lange warten«, sagte Emil verdrießlich.

»Du versäumst doch nichts. Was willst du denn? Die Kriegsnachrichten hast du schon alle im Tagblatt gelesen. In den anderen Zeitungen steht dasselbe.« Unwillkürlich mußte die Tante Rosa lächeln, als sie sein ernsthaftes Gesicht sah, während sie vom Krieg sprach.

Emil sagte nichts. Alle hatten immer so ein verdammtes Lächeln auf den Lippen, wenn sie mit ihm vom Krieg sprachen. Nein, und gar mit Mädeln konnte er über den Krieg nicht sprechen.

Endlich um fünf Uhr kam man ins Café Förster. Es war gesteckt voll. Dunst und Rauch, ein Meer von durcheinanderschwirrenden Geräuschen, alle Tische besetzt ... Der Zahlkellner bemerkte sie:

»Hier, gnädige Frau, hier ist noch ein Tisch frei.« Es war ein Tisch, der in der Passage zwischen dem ersten Zimmer und dem Spielzimmer stand. Nach der Jause klopfte Frau Wessely an die Wassergläser und verlangte Zeitungen. Die Kellner, die nach allen Richtungen herumschwirrten, hörten kaum zu. Am ärgsten hatte es Emil, dessen Sessel mitten in der Passage stand. Jeden Moment geschah es, daß ein Kellner von rückwärts an ihn stieß.

»Darf ich einen Moment zu Papa hineinsehen?« fragte Emil und hatte dabei einen anderen Plan im Kopfe. Ja, es wurde ihm erlaubt.

Der Knirps schlüpfte durch das Gedränge, sagte Papa »guten Tag«, verschwand wieder aus dem Spielzimmer, tauchte bald vor diesem, bald vor jenem Tisch auf. Bei einem Tisch sagte er: »Bitte, erlauben Sie?« und erwischte eine illustrierte englische Zeitung. Mit seiner Beute kam er zu Mama zurück. Er setzte sich wieder auf seinen Sessel und sah die Illustrationen der Zeitung an ... Es war ohnehin sehr heiß in dem Lokal, aber die kleinen Ohren Emils waren hochgerötet. Er hatte die Zeitung aufgeblättert und war gerade in die »Erstürmung des Spionskop durch General Warren« vertieft. Die Engländer kletterten unter lauten Hurrarufen die schroffen Felsen hinauf ... Auf der nächsten Seite befand sich die Photographie eines Feldlazaretts der Buren. In den eng aneinandergereihten Betten lagen die Verwundeten da mit schmerzlich verzerrten Mienen, den Kopf oder Arm in der Binde. Hier war eine junge, sehr schöne Dame, die sich über einen verwundeten Buren beugte und seinen Puls fühlte. Mit einem dankbaren Blick schaute der verwundete Soldat zu ihr empor. Vielleicht stirbt er in diesem Moment, dachte Emil ... Ein Kellner stieß wieder an den Sessel, Emil bemerkte es nicht einmal ... Auf der nächsten Seite befand sich das große Bild einer offenen Feldschlacht. Die ganze Gegend war vom Rauch der Geschütze erfüllt. Hinter jedem Strauch lauerte eine halbe Kompagnie, ins Gras gestreckt, mit vorgestreckten Gewehren ...

»Kann man denn absolut keine Modeblätter bekommen?« ruft Frau Wessely ärgerlich zum Zahlkellner. Dieser eilt vorbei, nickt mit dem Kopf, verschwindet wieder im Gewühle.

»Was liest denn du, Emil? Wieder eine Zeitung über den Krieg?« fragt die Mama. »Wenn du ein braver Sohn wärst, hättest du dich schon längst für mich umgeschaut.«

Emil hört es, steht auf, legt seine Zeitung auf den Sessel und gibt seine Mütze drauf, zum Zeichen, daß sie ihm nicht weggenommen werden dürfe. Wieder schlängelt er sich durch das ganze Lokal, von einem Zimmer ins andere, von Tisch zu Tisch. Siegreich, mit fünf Zeitungen beladen, kommt er zurück. Der Mama gibt er den »Bazar« und die »Modenzeitung«. Auf den Sessel neben sich legt er den »Daily Graphic«, die »London News« und »Leslies Weekly« ... Alles liest jetzt, die Mama den »Bazar«, die Tante die »Modenzeitung«, Emil studiert den »Daily Graphic«.

Nach zwei Minuten sagt die Mama: »Weißt du, Emil, du könntest dem Franz auch die Bilder zeigen.«

Mit Vergnügen ist Emil bereit. Er nimmt die erstgelesene Zeitung hervor und erklärt dem kleinen Bruder die Eroberung des Spionskop. Unter Hurrarufen stürmten die Engländer die schroffen Felsen empor. Dann kommt das Lazarettbild ...

»Emil, bitte, einen Moment hör' auf. Vielleicht kannst du irgendwo die ›Wiener Mode‹ finden?«

Emil sieht die Mama an, dann steht er auf, legt alle englischen Journale wieder aufeinander, gibt wieder seine Mütze drauf, zum Zeichen, daß sie nicht weggenommen werden dürfen! Er sucht in allen Zimmern, von Tisch zu Tisch. Jeden Sessel, auf dem Zeitungen liegen, durchstöbert er. Mit leeren Händen kommt er zurück.

»Danke,« sagt die Mama, »ich hab' sie gerade vom Kellner bekommen.«

Plötzlich bemerkt Emil, daß seine Mütze allein auf dem Sessel liegt. Die Tränen treten ihm in die Augen. Immer heftiger wird sein Zorn, mit einem Male bricht er in krampfhaftes Schluchzen aus.

»Aber Emil!« sagt die Mama streng, weil sie sieht, daß der Vorfall Aufsehen erregt. »Der Kellner wird dir die Zeitungen wieder herbringen. Ich habe es gar nicht gesehen, daß er sie weggenommen hat ... Komm her, ich werde dir die Augen abtrocknen.«

Willenlos, stumm geht Emil hin. Die Mama sagt: »So, jetzt sei wieder gut! Sei sanft! Gib mir die Hand!«

Aber dazu kann er sich nicht entschließen. Nein, die Hand reicht er nicht!

»Nun, wird's?!« fragt die Mama noch einmal. Jetzt nimmt sie selbst seine Hand und will sie behalten. Aber neuerdings treten ihm die Tränen in die Augen; statt der Mama die Hand zu reichen, versetzt er ihr blitzschnell einen Schlag auf die Hand.

Die Mama ist entsetzt.

»Gut! Geh fort! Setz' dich!« Und Emil fühlt, daß ein fürchterliches Unwetter in diesen strengen Worten liegt.

Noch ein langer Krieg hat an diesem Tage begonnen ...


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