Franz Grillparzer
Studien zur deutschen Literatur – Zum eigenen Schaffen
Franz Grillparzer

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6. Neunzehntes Jahrhundert

Gesammelte Gedichte von RückertErster Teil, Erlangen 1834

(1834.)

Zum Anfang 1 und 2. Sind keine lyrischen Gedichte. Diese, besonders was sich dem Liede nähert, sollen sein, was die Kantilene in der Musik ist, Melodien, von denen der Gedanke eingehüllt, ohne Anstoß in die Empfindung eingeht. Hier ist aber der Ausdruck rauh und holperig, der Gedanke muß sich ungeleitet, mit Gewalt den Weg bahnen.

Die zwei und der dritte. »Phantasie, das ungeheure Riesenweib.« Schlechtes Bild. Das ganze Gedicht unbedeutend.

Dichterselbstlob. Besser, gut, ungeformt.

Griechische Tageszeiten. Die erste Hälfte matt, die zweite gut. Der Ausdruck wird warm. Dennoch löst sich auch dieses nicht bestimmt und plastisch genug ab, sondern bleibt neblich auf die Tafel des Gemütes aufgetragen. Ein lyrisches Gedicht soll wie ein Vogel, aller Welt erkennbar, in die Luft steigen und singen, das ist aber ein Gesäusel und Gesurre wie von unscheinbaren Aeolsharfen und andern dergleichen saitenbezogenen Bretterkästen.

Die sterbende Blume. Hübscher Gedanke, matt ausgedrückt.

Angereihte Perlen. Anfang schwach, dann besser. Einige vortrefflich. Sinkt zu Ende wieder.

Emblem, Alexanders Vermächtnis, Dschelaleddin. Unbehilflich –

Terzinen. Das Geschraubte dieser Versmaße sagt dem Verfasser zu, er bewegt sich leichter, da wo jeder andere schwer, sowie umgekehrt; die Gedanken ohne schlagende Unmittelbarkeit, der Ausdruck neblicht.

Frühlingshymne. Ohne Feuer als im Reime. Pelzig, bamstig, sagt der Oestreicher.

Hamasa. Breit unerquicklich.

Künstlerfest in Rom. Viel Gutes. Ermüdet aber wie alle.

Von den Parabeln die erste, die beste.

Chidher. Gut. Der betrogene Teufel mag mitgehen. Die Scheidungsbrücke schwach.

Adler und Lerche, Goethen nachgeahmt, fährt aber schlecht bei der Vergleichung.

Das Paradies. Schlecht gemacht.

Das Abendlied fängt an:

Ich stand auf Berges Halde,
Als Sonn' hinunter ging.

Was ist das für eine Sprache? Deutsch nicht.

Der Hahn, der Schmetterling, nu, nu!

Der Wintertag, ein kalter Gedanke, sonst ziemlich gut.

Adventlied. Gut, wie ein alt-lutherisches Kirchenlied.

Lüfteleben. Nicht viel. Daß er in alle diese schwachen Lieder zur Letzt sich selbst, den Freimund, hineinmischt, herzlich abgeschmackt. Man könnte es sogar anmaßend finden.

Der Traum. Nichts.

Minerva und Vulkan hat gute Stellen. Der Schluß ungemein selbstbewußt.

Die nackten Weisen. Gut, der Schluß ungefüge.

Für die sieben Tage. Gut, besonders Nr. 1.

Reisegebet. Gut bis auf einige gezwungene Reime und den Freimund zum Schluß. Ich verabscheue diese Ghaselen.

Führung. Wenn Gott dem Freimund im 40. Lebensjahre die Irren aufgelöst, so hat er ihm dafür die Verse beträchtlich verschlechtert.

Das Kind der Traube. Das beste der bisherigen.

Frühling Liebster. Der Gedanke schön, auch die Ausführung zum Teile wohl geraten.

Sonne und Rose. Der Hauptgedanke gesucht, die Ausführung vorzüglich.

Zum Schlusse. Schönes Gedicht.

Es ist, als ob die verschlungene Form diesem Geiste Haltung gäbe. Er hätte sich an ein großes erzählendes oder vielmehr beschreibend-meditierendes Gedicht machen sollen. Das eigentlich Lyrische sagt ihm nicht zu, das ungekünstelt Natürliche ist nicht sein Fach.

Daher auch Edelstein und Perle wirklich schön, bis auf das Loblied, das sie der Liebe singen, und den Spruch, den die Liebe selbst singt, der höchst elend ist, eben weil hier wahres Gefühl und ungehemmte Begeisterung ausgesprochen werden soll. Das Unmittelbare fühlen die Deutschen höchstens noch, der Ausdruck desselben ist ihnen aber fremd geworden.

Ob zuletzt die Verwandlung und Rückwandlung von Mädchen, Perle, Edelstein, Kerze gut oder schlecht ist, weiß ich nicht. Das Gedicht hatte mich, trotz großer Schönheiten, endlich so ermüdet, daß der Schluß ins Leere ging, und so Urteil als Empfindung verstummte.

Man kann den Troubadour beneiden, der derlei behaglich vor sich hin dämmert, das Publikum aber, das davon entzückt ist, steht entweder beträchtlich über oder unter der gewöhnlichen Lebenstüchtigkeit.

Liebesfrühling Nr. 4 sehr gut. Diese Selbsthuldigung gegenüber seiner Geliebten thut weh. Die Liebesgabe ist, weiß Gott, nicht so groß, daß das schwindsüchtigste Mädchen die Last nicht sollte ertragen können. Der grüßte Teil dieser Gedichte – poetisches Geschäftskonzept; derlei arbeitet sich wie Akten auf der Kanzlei. XVII. Doch gar zu arg die Stelle für ein Liebesgedicht:

Ja, nicht mehr zu retten
Fühl' ich schon die Ketten
Deiner Arm' um mein Genick.

XXXIV. Ein schönes Gedicht, vielleicht das lyrischte in dem ganzen Bande.

38 und 39. Schön. 42, 43.

Zweite Folge. 7 Gut. 23 und 24 schofel. 34 Schade um einiges, der größte Teil ist schön, ja sehr schön. Von den sämtlichen Gedichten Rückerts werden die sieben magern die sieben fetten fressen, und nichts wird übrig bleiben.

Edelstein und Perle, doch das beste in der ganzen Sammlung. Sonst einzelnes Gutes. Das Ganze macht einen beengenden Eindruck. Mußte ablassen noch vor dem Ende. Zum Schluß noch die den Schluß bildenden Volkssagen gelesen, die schlecht; und die Märlein, die erbärmlich sind.


Adolf Müllner.

(1817.)

Viele haben in der Schuld von Müllner ein Fatum finden wollen, das zur That antreibt, ich finde vielmehr darin die Spuren einer Art Fatum, welches nach geschehener That sich wirksam zeigt; wie nämlich, wenn das Sträfliche geschehen, die ganze Natur auf den faulen Punkt hinzuzielen scheint, sich Unmögliches aneinander kettet, und alles, was ist, wird und geschieht, sich in eine furchtbare Beziehung auf das Verbrechen setzt. Ich nenne diese Verkettung eine Art Fatum, da es kein Ausfluß einer richtenden Gerechtigkeit sein kann, denn für einen begangenen Mord durch das Bewußtsein eines Brudermordes strafen, darin ist wohl kein Verhältnis, was doch die Idee von Gerechtigkeit voraussetzt. In dem, was ich eben gesagt, glaube ich, daß der Grund der unbeschreiblichen Wirkung liegt, den die Schuld auf jedes wirkende Herz macht. Wie sich hieran die Idee einer der That vorhergehenden Notwendigkeit (Fatum, das der Dichter kaum abstreiten kann) knüpfen läßt, ist mir nicht klar, aber die Verknüpfung kann nicht ganz falsch sein, da ihre Wirkung so erstaunlich ist. – Die Römer nannten die Dichter vates!


(1817.)

Ich habe damals, als die Schuld von Müllner erschien, gesagt: das Stück ist unendlich mehr, als sein Verfasser. Er wird nichts mehr schreiben, was diesem Stücke auch nur nahe käme. Ob sich das auch wohl bestätigen wird? Ich glaube: ja. Wenn ich mir die Gründe jenes Urteils deutlich zu machen suche, so war es der vierte Akt der Schuld selbst, der mich es fällen ließ. Die außerordentliche Disharmonie und Außerwesentlichkeit desselben in Bezug auf die drei übrigen lassen bei diesen letzteren so ziemlich auf einen glücklichen Wurf schließen.


(1819.)

Wenn mich irgend einmal Müllner zwingen sollte, gegen ihn zu schreiben, so würde ich zum Motto nehmen: »Wer sich aber rühmet, der rühme sich des Herrn. Denn darum ist einer nicht tüchtig, daß er sich selbst lobet, sondern daß ihn der Herr lobet.« Paulus' 2. Brief an die Korinther, 11. Kap., 17. und 18. Vers.


Die Albaneserin.

(1820.)

Albana hat selbst, als Enrico krank war, in ihren Armen lag, als sie seinen üppigen Phantasieen das leicht verletzte weibliche Ohr geliehen, ihn nicht über ihre spitzfindigen Empfindungen aufgeklärt?

Nach allem dem, dessen sich Enrico schuld glaubt gegen den Bruder, nachdem er, wenn auch schuldlose Mitursache seines Todes gewesen, spielt sein Wahnsinn mit üppigen Bildern?

Dieser Leontio ist kein Narr, sondern ein Verrückter mit einem Beigeschmack von Dummkopf. Indes er manchmal den Zustand seines Gebieters tief zu fühlen scheint, macht er sich manchmal über ihn während seines Wahnsinnes lustig.


Börne.

(1834.)

Wenn dieser Börne streitet, ist etwas in ihm, was an Lessing erinnert.


Heinrich Heine.

(1857.)

Heine ist für jeden Fall eine sehr begabte Natur. Erstens hat er viel Verstand, eine neuerer Zeit unter den deutschen Litteratoren sehr seltene Eigenschaft. Sein Talent ist vorzugsweise satirisch, verspottend, in welcher Richtung auch seine Einbildungskraft höchst objektiv bildlich ist. Was seine Poesie, als Ausdruck der Empfindung, betrifft, so hatte er wohl in seiner Jugend, der überhaupt edlere Gefühle eigen sind, poetische Erhebungen, die, verstärkt durch den Einfluß fremder Produktionen, namentlich Goethes, einige wahrhafte Gedichte zu stande brachten. Das verlor sich bald, und erst am Ausgange eines dissoluten Lebens, aufs hoffnungslose Krankenlager geheftet, kam eine abgenötigte Einkehr in sich selbst, eine Erinnerung an die Jugendgefühle, vielleicht ein Wunsch, die eigene Nichtswürdigkeit vor sich selbst zu verbergen, über ihn, daher man auch von seinen Versen nur die ersten (in den Reisebildern) und einige seiner letzten als Gedichte ansprechen kann, indes die aus der mittleren Zeit, wenn sie nicht verspottend sind, geradezu als schlecht bezeichnen muß. Wie es aber mit der Wahrheit der Empfindung, der eigentlichen Quelle der Poesie, bei ihm steht, zeigt sich schon daraus, daß er die scheinbar wärmsten Ergüsse meistens durch eine Unfläterei oder hanswurstisches Anhängsel selbst wieder vernichtet und lächerlich macht.


Graf Platen.

(1837.)

Es ist etwas Trockenes und Dürres in Platens Gedichten. Nicht als ob ihm Empfindung abginge, aber er empfindet nicht, während er schreibt, sondern schreibt, wenn er schon empfunden hat.


(1840.)

Dieser Graf Platen kann gewissermaßen als ein Prototyp der neuern Deutschen gelten. Nicht als ob sie alle so gute Verse machen könnten, als er, nicht als ob sie alle so viel Geist hätten, als er; aber darin gleichen sie ihm alle, daß sie mehr oder weniger gut sind, wenn sie sich schreibend in eine andere Natur hineindenken; schreiben sie aber aus ihrem eigenen Wesen heraus, erbärmlich. Hat so ein Matador den Aristophanes oder Shakespeare als Brille aufgesetzt, so sieht er die bewundernswürdigsten Dinge, er fühlt ganz wie ein Zeitgenosse des Perikles oder der Königin Beß; wenn er aber als Herr Platen oder Herr Immermann fühlen soll, als Deutscher des neunzehnten Jahrhunderts, als Mensch statt als Buch, so geht alles leer aus.


Gedichte des Königs von Bayern.(München 1829)

(1829.)

Die Gedichte eines Königs sind aus einem ganz andern Gesichtspunkte zu beurteilen, als die des übrigen Haufens der Sterblichen. Bei einem Dichter aus dem Privatstande ist, was er etwa bei seinem Gedichte gedacht, ganz gleichgültig und nur, was er gegeben, darf berücksichtigt werden. Bei dem dichtenden Könige ist das Gegebene nicht das Wichtigste: was er dabei gedacht, ist die Hauptsache und beglückt in seinen Wirkungen ein hoffendes Land.

Von einem Dichter als solchem fordern wir vor allem Originalität, Eigentümlichkeit der Weltanschauung. Byron, wo er irrt, ist größer als Southey, wo er recht hat. Die seinem Gedichte unerläßliche Wahrheit ist die subjektive. Die Gedanken und Ansichten eines Königs müssen objektive Wahrheit haben. Angeeignete besser als eigene, wenn sie richtigere sind.


Gaudy.

(1835.)

Besonders sorgfältig muß dieses Nibelungen-Metrum behandelt werden, wenn es den iambischen Charakter hat, weil hier beim Absatz in der Mitte zwei auseinander zu haltende Kürzen zusammenstoßen.

*

Man könnte von diesen Kaiserliedern von GaudyLeipzig 1835. sagen (von vielen nämlich), es sei ein Metrum darin, aber kein Rhythmus, Das Metrum mißt Silben, aber der Rhythmus bringt sie zur Einheit.


Freiligrath.

(1838.)

Freiligraths Gedichte.Stuttgart und Tübingen 1838. Diese Gedichte sind wie ein schönes Theater mit prächtigen Kleidern und Dekorationen, aber ohne Schauspieler. Oder wie die Welt, ehe noch der Mensch erschaffen war.


Wolfgang Menzel.

(1830.)

Gelesen: Narcissus von Wolfgang Menzel. Dieser Mann ist wirklich ein Stück von einem Dichter, wenn nicht ein wirklicher ganzer. Ich hätte es kaum geglaubt. Sein: Rübezahl erschien mir als völlige Verstandespoesie, eine Aufgabe des kalten Witzes, der auch allein bei der Lösung oder Nichtlösung interessiert war. Nicht viel anders ist von vornherein dieser Narcissus. Ein psychologischer Zweifel des alten poetischen Königs über die Möglichkeit der Ausgleichung des Widerstreites von Liebe und Selbstliebe leitet das Stück ein, und so geht es völlig begriffsweise durch etwa drei Akte durch. Glücklicherweise aber vergißt gegen die Mitte der Dichter gewissermaßen seine Aufgabe und führt den Gegenstand immer mehr individuell fort. Das will nicht sagen, als wäre der Fall von Narcissus und Armida nicht von Anfang bis zu Ende mit der bewunderungswürdigsten Konsequenz durchgeführt, aber er verliert nach und nach seine Beweiskraft für die zu erörternde Frage und bildet zuletzt eine interessante Ausnahme, statt einer langweiligen Regel. Man ist dem Zufalle, oder vielmehr der stufenweisen Erwärmung des Dichters viel Dank schuldig, für dieses Vergessen. Der glückliche Wendepunkt tritt ein, wenn Narciß und Armida die Personen wechseln. Von hier an Leidenschaft, Wahrheit (poetische), Poesie. Die Dichtung ist darin merkwürdig, daß sie sich aus dem Begriff entwickelt, der sonst häufig ihr Grab ist, (Begriff sage ich, denn die philosophische Idee ist für die Poesie auch nichts anderes als ein Begriff.) Calderon hat dasselbe Wagstück zwar auch oft versucht, ihm stand aber auch ein plastisch belebender Formsinn zu Gebote, der hier so ziemlich fehlt. Das Stück spielt in der Gedankenwelt, aber man fühlt, wenn man auch nicht sieht. Die komischen Personen sind größtenteils mit Glück eingeführt.


Das junge Deutschland

(1835)

Man hat geglaubt, dem Unwesen der sogenannten »jungen Litteratur« (Gutzkow, Wienbarg, Laube u. s. w.) durch ausdrückliche Verbote der verdächtigen Schriften ein Ende machen zu müssen. Das ist, abgesehen von dem Verwerflichen jedes solchen Verbotes, auch in litterarisch-menschlicher Hinsicht ein Fehler und ein Schaden. Allerdings ist diese junge Litteratur ein Unsinn, ja eine Verrücktheit. Aber wodurch soll denn die alte Verrücktheit bekämpft werden, als durch eine neue? Die Zeiten sind selten, wo die Vernunft sich Platz macht, und ebenso selten die Männer, die das Reizlose des gesunden Menschenverstandes, der richtigen Ansicht geltend zu machen wüßten. In Ermanglung der Lessinge nun bleibt nichts, als einen Unsinn durch den andern beschränken. Die faselnd-mittelalterliche, selbsttäuschend-religiose, gestaltlos-nebelnde, Tieckisch- und Menzlisch-unfähige Periode hat lange genug gedauert, und wie denn das neue Schlechte immer schon darum besser ist als das schlechte Alte, weil wenigstens die Verjährungszeit des letztern durch den Einspruch unterbrochen wird, so hätte man froh sein sollen, in der Unverschämtheit der neuen Apostel einen Damm gegen die Anmaßung der bisherigen zu bekommen. Uebrigens hat diese junge Schule bei aller Verächtlichkeit eine löbliche Eigenschaft, die gegenwärtig in Deutschland sehr fehlt, eine, wenn auch täppische, Geradheit nämlich. Sie macht sich keine Illusionen. Sie ist frech, weil das Zeitalter frech ist: irreligiös, und die ganze Religion der Zeit ist Selbsttäuschung oder Heuchelei: sie sagt, was sie denkt, indes man in Deutschland häufig nichts denkt bei dem, was man sagt. Insofern wäre sie also allerdings als eine Art Pferdekur zu brauchen gewesen. Gerade weil sie verächtlich war, konnte sie wenig Schaden thun und mußte ein baldiges Ende nehmen. Ließen die Menschen nur erst die Natur in ihren Gegensätzen ungestört auswirken, die Uebel fänden bald ihre Heilung in sich selbst. Von Unsinn zu Unsinn geht der Bildungsgang der Welt, und in dem ewigen Zickzack kommt sie ewig ein wenig weiter. Durch unsaubere Ausleerungen führen sich die Krankheitstoffe ab. Beim Individuum darf allerdings der Natur zu Hilfe gekommen werden, denn die Kraft und das Leben des einzelnen ist beschränkt, und für einen toten Patienten kommt jede Regeneration zu spät: das Geschlecht aber stirbt nicht aus, und der Frühling findet alljährlich seine Bäume.


Gutzkow

(1837)

Gutzkows Nero.Stuttgart 1825 Da ließe sich denn viel Gutes sagen, daß der Verfasser Geist habe, daß in diese frechen Verzweiflungslaute sich nicht selten die Poesie mische, daß, trotz aller Karikatur eine wenn auch nicht historische, doch anthropologisch scharfe, sinnige Auffassungsgabe durchs Ganze gehe. Man könnte viel Gutes sagen. Ich will es aber nicht. Denn genau genommen rührt der gegenwärtige Verfall der deutschen Litteratur doch vornehmlich von der Geneigtheit des deutschen Publikums her, sich in poetischen Werken einzelnes gefallen zu lassen, statt einen Eindruck des Ganzen aufzunehmen: von der Eitelkeit, lieber seine eigne Sagacität zu zeigen, indem man Getrenntes verbindet, Schwankendes unterstützt, dunkel Angedeutetes hervorhebt, als sich mit unbefangener Hingebung die Herrschaft eines Autors in seiner Welt gefallen zu lassen. Auf diese Art entstand die Vorliebe für das Unfertige, das Skizzenhafte und von diesem zum Fratzenhaften sind zwar mehrere, aber unvermeidliche Schritte. Das Gefühl ist der heilige Wächter der Kunst, der Probierstein des Gefühls aber ist die Kontinuität seiner Momente, das Ununterbrochene des Eindrucks. So wie ein Heuchler dich in einzelnen Begegnungen leicht täuschen kann, fortwährend beobachtet, in nächste Nähe gezogen, aber das Gewicht seiner Aufgabe nicht immer mit gleicher Stärke zu tragen vermag, so wird auch das poetisch Gemachte, wenn es kein Moment überspringen darf, durch Abwesenheiten und Streiche ins Leere seine Schwächen nur zu bald verraten, und der Lügner steht da.

Es ist an Goethe hart getadelt worden, daß er sich der sogenannten romantischen Schule, ja den bessern Hervorbringungen derselben, den Genoveven und Oktavianen so hartnäckig widersetzte; er wußte aber, wohin derlei führt, er wußte, daß eine Form, die sich vom Stoffe beherrschen läßt, statt ihn zu beherrschen, den Keim der Fratze notwendig in sich trägt; wußte, daß nicht die Ausdehnung, sondern das Erfülltsein den Gehalt bestimmt; wußte, daß Künstler machen; andeuten und anregen aber die Sache der Stümper ist.

So hat anregend und aufreizend statt befriedigend die deutsche Poesie immer weiter um sich gegriffen und da, um Eindruck zu machen, der Stoff nur durch Ueberschwenglichkeit das ersetzen kann, was der Behandlung abgeht, so ist die Poesie endlich teils der Prosa verfallen, indem sie selbst das Streben aufgab, eine passende Form zu finden, teils der Fratze, indem sie in eine Form zu pressen suchte, was jede Bildsamkeit überragte.


Die Räuber in den Karpathen.Die Räuber in den Karpathen oder Ungarn vor 150 Jahren (Leipzig 1837) von Volkner.

(1837.)

Einer der besten deutschen Romane, die ich in diesen letzten zehn Jahren gelesen. Es ist eine chronikartige Altertümlichkeit und doch zugleich eine lebendige Frische darin, die dem Verfasser, Dr. Morvell, Ehre macht, wenn das wirklich der Name des Verfassers ist. Zugleich so viel wahres, lokales Detail. Ich bin ganz eingenommen davon.

*

Ebenso gut Wilhelm Zabern aus dem Dänischen des Professor Hauch. Nur gefällt mir nicht, daß der Verfasser Miene macht, als sei das Ganze aus einer alten Handschrift gezogen, und also wahr. Derlei ist heilig und sollte kein Scherz damit getrieben werden. Sonst aber viel vorzüglicher, als das elende Zeug, das die Deutschen Romane nennen.


Friedrich Hebbel

(1850.)

In jedem Dichter ist ein Denker und ein Künstler. Hebbel ist der denkenden Aufgabe vollkommen gewachsen, der künstlerischen aber gar nicht. Oder mit andern Worten: Der Gedanke macht sich bei ihm nicht im Eindrucke geltend, sondern in der Reflexion.


Johannes von Müller

(1811.)

Ich werde Johann Müllern immer als einen der ersten (vielleicht den ersten) Geschichtschreiber Deutschlands hochschätzen, aber lieben kann ich ihn nicht mehr, nachdem ich seine Briefe gelesen habe. Dies behagliche Wohlgefallen an sich selbst, dieses bis ins Lächerliche gehende Sparen der Zeit, nebst einer gewissen gelehrten Affektation in einem Alter von 22 Jahren sind mir unerträglich. Ich habe überdies nicht die beste Meinung von seinem Charakter.

Aus Müllers Briefen merkt man, daß er manchen langweiligen Folianten nur darum durchgelesen, um sich dann selbstgefällig sagen zu können: »Du bist doch ein ganzer Kerl, auch das ungeheure Buch hast du durchstudiert; das mag dir einer nachthun,« Er mag wohl, nachdem er den herrlichen Plutarch durchgelesen hatte, gedacht haben: »Gott sei Dank, wieder mit einem Buche fertig!« Ich beneide ihn wahrlich nicht um eine Gelehrsamkeit, die er auf solche Art erlangte.


Gebrüder Humboldt

(1847.)

Es ist merkwürdig, mit welcher Leichtigkeit A. Humboldt (Kosmos II. Bd.) die Ansichten und Gemütsrichtungen unserer letzten Zeit, die denen seiner Mannesjahre so sehr entgegengesetzt sind, aufnimmt und sich aneignet. Das deutet auf eine große Frische des Geistes oder eine große Oberflächlichkeit.


(1856)

Es kann wohl keinen größern Gegensatz geben, als die Gebrüder Humboldt. Wilhelm der greulichste Pedant, Alexander dagegen die leichtflüssigste Natur, immer bereit, jahrelang gehegte Meinungen gegen neue Ansichten, freilich gegründete, aufzugeben. Letzteres kann eine große Geistesstärke sein, aber auch eine Oberflächlichkeit für das, was man Ueberzeugung nennt. Wenn man etwas mit seinem innern Wesen verbunden hat, gibt man es gewöhnlich schwer auf. Wilhelm ist mir zuerst durch seinen Briefwechsel mit Schiller widerlich geworden und durch seine hölzerne Spekulation in Sachen der Kunst und Aesthetik.

Dieser Pedanterie widerspricht scheinbar sein Briefwechsel mit einer Frau, der allerdings vortrefflich ist. Ich glaube aber, er hat damals, über seine eigene Dürre erschrocken, sich ein sentimentales Zugpflaster auflegen wollen und daher auf gut Glück ein Frauenzimmer gewählt, mit dem er im Feuer exerzieren konnte. Endlich blieb er in der spekulativen Grammatik hängen, und in diesem Sandboden gediehen seine Kartoffel.


Jakob Grimm

(1837.)

Jakob Grimm ist eine merkwürdige Individualität. Er ist der unschuldigste Schriftsteller, der je gelebt hat. Eine folgerechte Phantasterei, ein kindlicher Pedantismus macht den Gegenstand, den er nur zu erklären glaubt. Im Grunde schreibt er nur für sich. Ob man es lesen kann, ob man ihn verstehen und billigen wird, ist ihm gleichgültig.


Friedrich von Raumer

(1834.)

Ich kenne nichts Traurigeres, als wenn die Ansichten eines Schriftstellers mit denen seiner Zeit so genau zusammenfallen, daß Null von Null aufgeht und gar kein Ueberschuß zurückbleibt. Ein solcher ist Friedrich v. Raumer. Man fordert seit Johannes Müller, ein Geschichtschreiber soll fest ausgesprochene Grundsätze haben, also hat er welche. Jesus Christus und seine Religion werden in Ehren gehalten. Ohne »Tugend« sei nun schon gar kein Heil in den »Geschäften«. Ein begossener Winkelliberalismus belfert, so oft er den Rücken frei kriegen kann. Dagegen wird der Notwendigkeit historischer Basen für die Entwicklung des Staatslebens nicht vergessen. Städteordnungen! Städteordnungen! obgleich Landesunordnung! Hätte Friedrich Raumer vor fünf Jahrzehnten geschrieben, wir hätten ein Siècle de Frédéric Houhenstaufen; von Papst Hildebrand nähme kein Hund einen Bissen Brot, und Jesus Christus wäre mit den Kreuzzügen zugleich in einen Brunnen gefallen. Drum ekelt mir vor diesem historischen Stutzer, obgleich sich manche seiner Sachen gut lesen und viel Gutes enthalten.



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