Franz Grillparzer
Studien zur deutschen Literatur – Zum eigenen Schaffen
Franz Grillparzer

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2.
Mittelalter.

(1820.)

Was für einen wunderbar verstärkenden Eindruck es macht, wenn in den altdeutschen Gedichten statt: »er küßte sie« gesagt wird: »er küßte sie auf den Mund«.


(1820.)

Ein paar Thatsachen gegen die dermal herrschende lächerliche Vorstellung von der Achtung, die Dichterwerke und Dichter im Mittelalter genossen: Der Sachsenspiegel gibt nach einer erlittenen körperlichen Beleidigung dem Spielmann bloß das Recht, die Genugthuung durch einen gleichen Schlag an dem Schatten seines Gegners zu nehmen, indes jeder andere es an der Person kann. Ferner zählt das alte fränkische Recht unter die Gründe, aus welchen ein Sohn von dem Vater enterbt werden kann, auch: wenn ersterer ohne Einwilligung des Vaters ein Spielmann wird.


(1838.)

Grimms Heldensage pag. 44.

Metellus von Tegernsee (1160) im Loblied auf den heiligen Quirinus:

Miles avarior absque modo
proxima rura sibi solitus
subdere quaeque potente manu,
saevus agros violenter agens,
alme Quirine, tuos rapuit,
quos orientis habet regio,
flumine nobilis Erlafia
carmina Teutonibus celebri,
inclita Rogerii comitis
robore seu Tetrici veteris.

Das Nibelungenlied traf also in Oestreich auf einen ausgebildeten Sagenkreis und Dietrich von Bern wird hier ausdrücklich demselben vindiziert. Etzel gehört wohl auch dazu. Ueberhaupt scheinen Grenzlande die Mütter der Sagen zu sein. In Frankreich der Süden gegen Spanien, in Deutschland der Norden und Oestreich, in England die schottische Grenze, früher Wales mit seinem Artus, rings von Feinden umgeben. In Spanien war zur Zeit der Mauren überall Grenze. Das abgeschlossene Italien hat keine Sagen.

Die Nähe des unbekannten, ja feindlichen Landes gibt der Erfindung Raum, indes im Mittellande die Tradition in ehrfurchtsvollerer Reinheit erhalten wird. Schon in Griechenland war Thessalien das Land der Wunder, und Persien hat seine Sagen an der tatarischen Grenze.

Ueberhaupt: Sage, Sage! Wo hört die Sage auf und fängt das Märchen an? In dem sogenannten deutschen Heldenkreise scheint nichts sagenhaft als die Namen; die Begebenheiten sind dem Märchen entnommen. Gewiß ist Attila erst durch die Raubzüge der Ungarn im zehnten Jahrhundert wieder aufgefrischt oder vielmehr neu eingeführt worden. Wenn die Sage von so langem Gedächtnis wäre, wie hätte der viel spätere Karl der Große so ganz daraus verschwinden können? Der angesessene Gunther mit seinen Brüdern mag vielleicht einen historischen Ursprung haben, Sivrid hingegen, der überall zu Hause ist, dürfte, wenn nicht der nordische Sigurd, leicht nur eine rein erfundene Personifikation der Körperkraft und Tapferkeit sein.

Lachmann glaubt, daß Baldurs Tod in Sivrids Untergange durchschimmere. Warum nicht? Gewiß aber auch Achill in seiner Unverwundbarkeit und in Hagen von Tronje (a Troja) für einen Moment sogar der trojanische Hektor.

*

Der Name der Stadt Worms von Wurm und die Goldhältigkeit des Rheins (Versenkung des Nibelungenhorts) scheinen allerdings auf einen deutschen Ursprung der Nibelungensage hinzudeuten. Wenn aber die Sage an Grund und Boden haftet, so verlegt das Märchen gern in die Entfernung.

*

Merkwürdig, daß die Sagen der Franzosen einen historischen Hintergrund haben, indem sie sich an Karl den Großen anreihen. Die Sagen der Deutschen haben nichts Historisches, keine Großthat der Nation lebt darin fort, sie sind sämtlich mehr oder weniger abgeschmackte Wundergeschichten, die nur an historische Namen angeknüpft werden. Sie haben daher nichts gemein mit jenen Liedern, die Karl der Große sammeln ließ, qui veterum bella canebant, und da diese letzteren so ganz vergessen sind, gehören jene gewiß einer späteren Epoche, wo das gebändigte Heidentum nur noch als Zauberei seinen Schlagschatten in die neuere Zeit hinüber warf.

Das ganze Heldenlied ist auf einer Art der Bewaffnung gegründet, die in Deutschland vor dem achten oder neunten Jahrhundert gar nicht bestand.

Das Schlachtschwert tritt erst dann in seine Rechte, wenn die völlige Eisenrüstung den Wurfspieß und das dolchartige Schwert der Alten nutzlos gemacht haben. Diese sorgfältig, von Helden oder Gnomen geschmiedeten Schwerter, die den Ambos durchschneiden und dergleichen, können erst sagenhaft geworden sein, als die schwere Ritterrüstung allgemein wurde. Das dabei vorwaltende heidnisch Zauberhafte, verbunden mit der mittelalterlichen Ritterlichkeit, findet sich gleichzeitig nur in dem viel später christianisierten Norden. Dort daher der Ursprung dieser Sagen.

Wenn aber trotz alledem die Sagen so alt sein sollten, so alt, daß selbst Karl der Große als zu jung von ihnen übergangen wurde, in welche Zeit sollen sie fallen? In die Völkerwanderung? Keine Spur von Wanderungen, alles ist in festen Sitzen, selbst Attila der Hordenführer. Noch früher? Wie kommt's, daß keine Spur der Römer durchschimmert, dem allgemeinen Feinde? Wie ist Hermann und die Teutoburgerschlacht so ganz vergessen? Lest die altnordische Geschichte und ihr werdet ein endloses Nibelungenlied, einen ununterbrochenen Rosengarten zu lesen glauben. Von dorther stammen die Sagen, die dann freilich im Fortwälzen die einzelnen deutschen Lokalmärchen aufnahmen und sich amalgamierten.

*

Oder war das lange Schlachtschwert, wie ich mich zu erinnern glaube, schon früher Sitte bei den Deutschen, so bestand der Vorzug desselben gewiß mehr in der keulenartigen Schwere, als in der nutzlosen, eisendurchschneidenden Härtung.


Nibelungen.Herausgegeben von Fr. H. v. d. Hagen. 8. Auflage 1820. Breslau.

(1838.)

20. Si vrumten starchin wunder sit in Etzelen lant. Ein Beweis, daß der zweite Teil nicht zufällig und später zum ersten hinzukam, sondern schon von vornherein in Absicht lag, ebenso V. 24: si ersturben sit iaemerliche von zweier edelen frowen nit.

*

Eigentlich episch, daß die Vorbegebenheiten durch Hagen erzählt werden. Aber wie kurz bis zur Unverständlichkeit wird da das Wesentliche und Wichtige abgefertigt, indes das Unbedeutende vorher eine solche Weitschweifigkeit fand. Auch erschien Siegfried beim Abschied von seinen Eltern wie ein halb hilfloses Kind, so daß der Verfasser damals sich dieser Thaten kaum erinnert zu haben scheint.

*

Wenn Chriemhild aus ihrem Gemache hervorgeht, wird der Dichter so warm, daß er selbst ein paar Gleichnisse braucht, was ihm sonst nicht leicht geschieht. Wem wohl einfiel, daß der Verfasser der Nibelungen Wolfram von Eschenbach sei? Eine größere Verschiedenheit ist kaum gedenkbar. Die Nibelungen sind grandioser, Eschenbach aber ist in der Ausschmückung poetischer.

*

Brunhilde – Königin von Island. Schön, daß sie sich zuerst an Siegfried wendet, obwohl er nur als Dienstmann da ist. Auch der Gegensatz der vier Helden: der König, Siegfried, der grimme Hagen und der magdlich aussehende Dankwart.

*

Wie weise ist die spätere Verschlimmerung von Chriemhildens Charakter schon bei der Abreise mit Sivrid vorbereitet, wo sie durchaus das väterliche Land mit ihren Brüdern teilen will. 2797.

Ueberhaupt ist Komposition in dem Ganzen; die einzige Spur davon, die sich überhaupt in altdeutschen Gedichten findet.

So sehr er sich sonst bemüht, seinen Stoff zusammenzuhalten, schlägt ihm doch die Formlosigkeit in den Nacken, wenn er Sivrid mit Chriemhilden zehen Jahre in seines Vaters Königreiche leben läßt. 2874.

Nicht allein Brunhild, auch Gunthers Sohn, Sivrid geheißen, verschwindet in der zweiten Hälfte des Gedichtes. 2888.

2905:

Er heten wunsch der eren; unt waere des niht geschehen,
so müse man von schulden dem edlen rechen iehen,
daz er waere ein der beste, der uf örs ie gesaz.

Was heißt das? Wird ihm hier der Ehrgeiz zum Vorwurf gemacht? Es scheint so und stimmte ganz mit dem zusammen, was ich mir als die Schuld seines Todes mildernd immer gedacht habe. Es ist etwas Schaugepränge in seinem Benehmen bei der Wiederkehr an Gunthers Hof.

2970 wird die Nibelungsburg, in der Sivrid mit Chriemhilden hauste, ausdrücklich nach Norwegen gesetzt.

Sivrids letzte Jagd ist auf einer Insel (Wert) im Rhein. Nun hat aber der Rhein keine solche weitläuftigen Inseln, wohl aber die Donau, zumal bei Wien: der obere und untere Wert, Prater und Brigittenau, die alten Jagdgebiete der östreichischen Herzoge.

Wie wenn der Kampf auf der Wartburg ein Spottgedicht wäre, und zwar nicht Heinrich von Ofterdingen eine fabelhafte Person – was anzunehmen Unsinn ist – wohl aber Klingsor, der aus Ungarn, dem heidnischen Hunnenlande, mit dem sich das Nibelungenlied so viel abgibt, seinem Freunde und landmannsschaftlichen Sänger zu Hilfe herbeizieht.

9233. Ritschart = Richard zeigt, daß das Nibelungenlied geschrieben ward, als die französischen Rittergedichte in Deutschland schon bekannt waren.

*

Wie wenig diese Nibelungenabenteuer eigentliche Sagen sind, d. h. Ueberlieferungen, die dem Volke für Wahrheit galten, zeigt die Willkürlichkeit der Behandlung, da Siegfried einmal von Dietrich erschlagen wird, einmal von Hagen; letzterer bald Gunthers Bruder, dann wieder dessen Dienstmann ist.


(1844.)

Man thut nichts Gutes, wenn man die Nibelungen in neue Sprache übersetzt. Es wirft sich dann die Roheit des Ganzen bloß auf den Inhalt und Stoff, die dadurch unleidlich werden. In der unbehilflichen Sprache des Originals aber zeigt sich erst das unvergleichliche Verdienst des Dichters, der in einer so brutalen Zeit der wahren Poesie – was Auffassung, Charakteristik und selbst Komposition betrifft – wenigstens so nahe kam.


(1855.)

Aufgefallen ist mir in Andersens Roman »Die beiden Baronessen«, daß auf Föhr, einer der holsteinischen oder schleswigschen Halligeninseln, es eine Ortschaft Niblung gibt, ein Name, der gewiß mit den Nibelungen zusammenhängt, aber wie ich glaube, nicht daß er von ihnen, sondern wohl gar sie von ihm den Namen entlehnen.


Wolfram von Eschenbach

ParcifalNach Lachmanns Ausgabe 1833.

(1838.)

49,20. Was ist das für ein Gewäsch der Helden miteinander. Gereimte Prosa von der langweiligsten Art.

55,18. Völlige Gemütlosigkeit in dem Scheiden Gahmurets von seinem schwarzen Weibe, ganz bezeichnend jene rohe Zeit, die nur das Neue, Ueberraschende hören will, ohne sich um eine innere Folge zu kümmern.

63,30. Wie unbehilflich die Beschreibung des Helden!

88,18. Was das für ein unbeholfenes Gewäsch ist!

138,29. Findet er Sigune und in ihrem Schoße Schianatulander tot, offenbar ein Held von geheimer Bedeutung.

141,16. Sigune sagt von ihm: Ein bracken seil gap ime den tot. – Was ist das? Vielleicht daß er von der Minne angefallen wurde, wie ein Jagdhund vom Verfolger?

142,13. Erste Erwähnung des Fischers oder eines Fischers, der mir später Bedeutung zu bekommen scheint.

185. Klagen im Bettlerton über eigene Not.

291,15. Was ist da der Unterschied zwischen Minne und Liebe? Etwa die heftige und die gemütliche. Die sinnliche kann die erstere nicht sein, da auch von einer Christenminne die Rede ist.

338,6. Zu Anfang der siebenten Aventiure meint der Verfasser, man müsse nicht immer bloß einen Mann loben, sondern auch den anderen ihr Recht widerfahren lassen, weshalb er sich von Parzifal zu Gawan wendet. Das ist eine recht hübsche Lebensregel, nur leider keine epische.

364,8. Die müesn diu strîtes ruoder gein mir ziehn. Ich denke, das ist die erste, übrigens sehr gute, Redefigur, die mir im Parzifall vorgekommen.

414,10. Merkwürdig für die Sitte oder Unsitte der Zeit, wie natürlich es jedermann und auch der Dichter findet, daß Gawan vom Blatte weg bei der Königin Antikonie schläft, und wie übel man es ihrem Bruder nimmt, daß er seinem Gaste darüber zu Leibe will. Gastrecht über Sittlichkeit, gemachte Tugenden über natürliche ist der durchgehende Charakter dieses ganzen Mittelalters.

455. Der Gral war also nicht ein sanguis regalis oder überhaupt eine Reliquie im katholischen Sinne, da er von den Heiden herstammte. (Letzteres zwar nach einer späteren Stelle nicht.)

463,25. Daß Kain durch den Totschlag des Bruders der Erde, seiner Urmutter, ihr Magdtum nahm, ein schöner Gedanke, nur wäre als Moment der Schändung mir das Begräbnis von Abels Leichnam lieber, als das Vergießen seines Blutes.

512.  . . Vortrefflich übrigens die Art wie er (Gawan) mit Orgelûse zusammenkommt.

602. Etwas Unbehilflicheres als die Beschreibung des Sturzes, den Gawan ins Wasser thut, hat wohl keine Zeit und Sprache aufzuweisen.

618. Clinschor ist hövesch unde wîs. Klingsor im Wartburger Streite könnte also wohl allenfalls eine mythische Person sein, ob aber auch Heinrich von Ofterdingen? Doch gibt es ja altdeutsche Lieder, die einem wirklichen Klingsor zugeschrieben werden. Dann wäre also eine wirkliche Person gerade durch die Wartburger Begebenheit mythisch geworden.

656,14. Die Königin sagt von Clinschor:

sîn lant heizt Terre de Lâbûr:
von des nâchkomn er ist erborn,
der ouch vil wunders het erkorn,
von Nâpels Virgilîus.
Clinschor des neve warp alsus.

Wie er sich, ein Herzog von Câps, in die Königin von Neapel verliebt, der König ihn bei ihr überfällt und ihn »zeim kapûn mit einem snite« macht. Darauf fährt er nach Persia und lernt dort die Zauberei.

717. Etwas Leereres und Abgeschmackteres, als der Brief, den der König Gramoflanz an Itonje schreibt, ist wohl kaum zu finden.


Hartman von Aue.

Iwein.

(1838?)

Was ist das für eine alberne Erfindung im Iwein, daß ihm die Magd einen Ring gibt, der unsichtbar macht. Auf diese Art läßt sich freilich jede Schwierigkeit auf die Seite schaffen.

Sonst versteht Hartmann von der Aue besser einen Gedanken auseinanderzusetzen, als die übrigen Dichter seiner Zeit; aber in dieser Apostrophe an die Minne 1558–1590 ebenso unmündig und unklar als die übrigen.

Im Iwein schon die Antithese, die wohl im Walther von der Vogelweide, aber kaum im Wolfram vorkommt.

Dieser Dichter, wenn auch nicht so schwunghaft als ein oder der andere seiner Genossen, ist ihnen doch allen an Verstand, Sittlichkeitsgefühl und Urteilskraft überlegen.

Nach der englischen Bearbeitung zu schließen, ist übrigens auch dieses deutsche Gedicht nicht viel mehr als die Uebersetzung eines französischen Originals.

Vortrefflich, wie die jüngere Schwester auf ihr Erbe verzichtet, damit keiner der Kämpfer deshalb das Leben verliere, 7302–7314.

Wunderschön, wie Iwein zuerst sich zum Gegner wendet und die Nacht rühmt, daß sie ihm das Besiegtwerden erspart habe, 7400. – Derlei Züge sucht man bei allen gleichzeitigen Dichtern vergebens. – Die ganze Stelle wahrhaft schön.


Wirnt von Grafenberg.

Wigalois.Herausgegeben von Benecke. Berlin 1819.

(1838.)

Bei weitem nicht so viel Flickworte und Verse als beim Wolfram von Eschenbach. Die drei Reime, die die Absätze – denn von Strophen ist nicht die Rede – schließen, schon Annäherung an eine künstlerische Form.

*

Hübsch wie der junge Ritter sich auf den Stein setzt, der keine Untreue duldet, und dem die andern nur sich mehr oder weniger nähern können.

Viel jämmerliche Vergleichungen der guten alten mit der neuen schlechten Zeit.

Die Scene sehr objektiv, wo die zwei Riesen die geraubte Magd schänden wollen.

*

Daß die (übrigens sehr weitläuftigen) Worte des Sittichs dem Ritter Mut einflößen, recht gut.

*

Lehren und Moral ohne Ende, auch wo sie nicht hingehören.


Walther von der Vogelweide

(1845–1846)

Es ist noch die Frage, ob man Walther von der Vogelweide einen eigentlichen Dichter nennen kann. Dichterische Glut und Phantasie fehlen beinahe ganz. Verstand und Empfindung kann man ihm nicht absprechen. Er ist größtenteils Reflexions- oder Spruchdichter. Mitunter hat er höchst glückliche Wendungen, sie sind aber selten.


(1846)

Volkslieder sind wie die Wiesenblumen, die, wenn man sie im Felde ohne Pflege und Kultur aufgewachsen antrifft, erfreuen, ja entzücken; in den Gärten, zwischen Rosen, Nelken und Lilien versetzt, sind sie nicht viel besser als Unkraut.



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