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Siebzehntes Kapitel.

Am andern Morgen zur bestimmten Zeit steckte mir die Wirtin verstohlen das kleine Billet zu, welches mir Gryce versprochen hatte. Der Wortlaut war ganz unverfänglich, und ich behielt es bei mir, um die erste Gelegenheit zu benützen, es Luttra Blake in die Hände zu spielen.

Eine Stunde nach der andern verging; ich vernahm aus dem Nebenzimmer nur von Zeit zu Zeit einige abgerissene Worte, die zwischen Vater und Sohn gewechselt wurden, einen kurzen Befehl an die Tochter oder einen derben Fluch aus dem Munde des einen oder anderen der rohen Gesellen, wenn etwas sie in ihrer Ruhe störte.

Endlich konnte ich meine Ungeduld nicht länger zähmen. Ich faßte einen kühnen Entschluß, nahm den Brief in die Hand und klopfte an die Türe mit dem seltsamen roten Kreuz.

Drinnen wurden Ausrufe der Ueberraschung und des Unwillens laut, und ich hörte, wie die beiden Männer wild aufsprangen, doch das schreckte mich nicht von meinem waghalsigen Unternehmen zurück. Aeußerlich ruhig, wenn auch nicht ohne inneres Beben, stand ich dem Mädchen gegenüber, welches die Tür öffnete und mir bleich vor Schrecken entgegentrat.

Ach, Fräulein, stotterte ich verlegen, ich bitte um Entschuldigung, aber ich habe heute einen Brief erhalten, und ich alter Mann mit meinen schwachen Augen kann die Schrift nicht entziffern. Er kommt von einem guten Freunde. Möchten Sie wohl so gefällig sein, ihn mir vorzulesen, es wäre mir eine große Beruhigung.

Gewiß, sehr gern, wenn ich kann, sagte sie und nahm das Papier.

Erst will ich es sehen, ließ sich jetzt eine grobe Stimme hinter ihr vernehmen, und der ältere Schönmaker riß ihr heftig den Zettel aus der Hand. Verdammt, ich kann das nicht verstehen, es ist wohl französisch, rief er voll Ingrimm.

Dann gab er es seiner Tochter und sagte: Lies es, und erkläre uns, was es bedeutet, es darf hier nichts vorgehen, was ich nicht verstehe.

Bitte, sagte ich, lesen Sie mir doch das Billet geschwind vor, damit ich weiß, was mein Freund mir zu sagen hat.

Sie nickte freundlich, überflog die Zeilen und begann zu lesen:

»Calmez-vous, mon amie, il vous aime et il vous cherche. Dans quatre heures vous serez heureuse. Allons, du courage et surtout soyez maîtresse de vous-même.« Beruhigen Sie sich, meine Freundin, er liebt Sie und sucht nach Ihnen. In vier Stunden werden Sie glücklich sein. Nur Mut, und vor allem bewahren Sie Ihre Selbstbeherrschung.

Besten Dank, fügte ich in ruhigem Geschäftstone, als ich sah, daß sie plötzlich zu zittern anfing.

Offenbar hatte sie die Handschrift erkannt und wußte, daß die Worte für sie bestimmt waren. Dann wandte ich mich mit größter Unbefangenheit zu den beiden wildblickenden Gesellen, welche ihr über die Schulter sahen, und sagte: Also, mein Freund will meine Wochenrechnung bezahlen, und bittet mich, zu Hause zu sein, um ihn zu erwarten.

Steht das wirklich da auf dem Zettel? fragte der Alte, auf das Papier deutend.

Ich will es euch Wort für Wort übersetzen, erwiderte sie, sich gewaltsam zusammenraffend, mit bleichen Lippen. Nur in ihren Augen leuchtete dann und wann ein verräterisches Entzücken auf. – »Calmez-vous, mon amie, sei unbesorgt mein Freund! Il vous aime et il vous cherche, er liebt dich und sucht nach dir. Dans quatre heures vous serez heureuse, in vier Stunden wirst du glücklich sein. Allons, du courage et surtout soyez maitresse de vous-même, fasse nur Mut, und vor allem bewahre deine Selbstbeherrschung.« – Das ist die französische Art, sich auszudrücken. Es freut mich, daß Ihr Freund die Absicht hat, Ihnen zu helfen, fuhr sie fort, indem sie mir den Brief lächelnd zurückgab, ich fürchte, Sie haben es sehr nötig.

Durch diese Bemerkung bestätigte sie auf die natürlichste Weise den Sinn, welche ich den verlesenen Worten gegeben hatte. Mir fiel eine wahre Zentnerlast vom Herzen, ich stammelte meinen Dank und zog mich wieder in mein Zimmer zurück.

Nun zählte ich ängstlich die Minuten, denn ich rechnete darauf, daß sie ihrerseits einen Versuch machen werde, mit mir in Verbindung zu treten, um sich Gewißheit zu verschaffen, was sie zu hoffen oder zu fürchten habe. Nach einer Stunde bangen Harrens ging, was ich erwartete, endlich in Erfüllung. Sie kam in den Flur hinaus und eilte, den Finger auf den Lippen, an meiner Türe vorbei. Rasch trat ich auf die Schwelle und steckte ihr, als sie wieder zurückkam, ein Papier in die Hand, das ich schon für die Gelegenheit vorbereitet hatte. Wir wechselten kein Wort, und ich nahm meine gewohnte Beschäftigung wieder auf. Was ich geschrieben hatte, war folgendes:

»Sobald Ihr Bruder ausgegangen ist, kommen Sie in mein Zimmer. Ziehen Sie einen zweiten Rock über den Ihrigen und bringen Sie Ihren Shawl mit. Diesen Rock und Shawl lassen Sie hier zurück und verfügen sich sogleich in die obere Dachstube. Sprechen Sie kein Wort und befolgen Sie diese Anweisung genau. Ihr Vater und Ihr Bruder werden unter allen Umständen festgenommen werden; falls Sie aber tun, was man von Ihnen verlangt, kann die Verhaftung ohne Blutvergießen erfolgen, und ohne daß einer Person, die Sie kennen, Schmach und Schande daraus erwächst.«

Während sie diese Zeilen las, malte sich die heftigste

Gemütsbewegung in ihren Zügen, sie ließ das Papier aus der Hand gleiten und warf mir einen flehenden Blick zu. Ich aber deutete mit der größten Entschiedenheit auf das Blatt am Boden. Da senkte sie das Haupt und legte mit kummervoller Gebärde die Hand auf das Herz. Sobald sie sich wieder zurückgezogen hatte, hob ich das Papier auf und steckte es ein.

Zum erstenmal, seit ich dies Zimmer bewohnte, schloß ich jetzt meine Türe. Es galt, meine Verkleidung abzulegen; der arme französische Künstler hatte seine Rolle ausgespielt und mußte sich wieder in den Detektiv Q. verwandeln.

Kurz vor zwei Uhr langten meine Helfer an. Zuerst erschien Gryce auf der Szene und wurde in einem großen, leeren Zimmer neben dem meinigen untergebracht, wo bald zwei der gewandtesten und stärksten Leute aus der Polizeimannschaft zu ihm stießen. Da sie die Vorsicht gebraucht hatten, unten auf der Treppe die Stiefel auszuziehen, gelangten sie unbehelligt in ihr Versteck. Die Wirtin kam zuletzt und begab sich in die obere Dachstube, wo sie Luttra Blake empfangen sollte, nachdem diese die Kleidungsstücke, deren ich bedurfte, bei mir zurückgelassen hatte.

Alles war nun bereit, und ich wartete auf den Moment, daß der jüngere Schönmaker ausgehen werde. Es hatte noch nicht lange zwei Uhr geschlagen, als ich seinen schleppenden Gang im Hausflur hörte; er blieb stehen, zündete sich die Pfeife an und ging dann mit schwerem Tritt die Treppe hinunter. Ich öffnete nun meine Türe und zog mich in die äußerste Ecke des Zimmers zurück. Gleich darauf erschien Luttra Blake, legte den Kleiderrock und Shawl, in welchem sie zuletzt von ihrem Vater gesehen worden, bei mir ab und begab sich dann, wie verabredet, in die Dachstube hinauf. Ich kleidete mich schnell in ihre Sachen, zog den Shawl weit über den Kopf und ging dreist in das Zimmer hinein, aus welchem sie soeben herausgekommen war. Das Taschentuch hielt ich mir vor das Gesicht, was um so natürlicher schien, da ich in diesem Augenblick einen starken Anfall von Niesen bekam.

Der alte Schönmaker lehnte bequem auf einer Bank und beachtete mich nicht weiter. Ich nahm auf einem Schemel am Fenster Platz und überlegte, daß es unmöglich sein werde, ihn zu überraschen, wenn er mit dem Gesicht nach der Türe zu sitzen blieb. Wollten wir den großen muskelstarken Mann ohne Widerstand überwältigen, so galt es rasch zu handeln, denn schon glaubte ich Gryce mit seinen Gefährten im Hausgang herbeischleichen zu hören. Ich stieß einen unterdrückten Schrei der Ueberraschung aus und preßte mein Gesicht gegen die Scheiben, als ob unten auf der Straße etwas Interessantes vorginge.

Was gibt's wieder, rief der Alte, zornig aufspringend, was siehst du da? Gerade, als er neben mir stand, öffneten Gryce und seine Leute die Türe. Mit einem raschen Sprung hatte sie ihn erreicht, sie umklammerten seine Arme und hielten ihn so kräftig, daß er sich trotz der verzweifeltsten Gegenwehr ihrer nicht entledigen konnte.

Nur das Mädel ist schuld daran, schrie er mit einem wilden Fluch: warte nur, bis ich eine Hand für dich frei habe. – Verdammt, rief er plötzlich und zog mit Riesenstärke die drei Männer bis zu meinem Sitz. Geh' und wische das Zeichen von der Türe, raunte er mir drohend zu, sonst soll dich gleich –

Ich erhob mich, noch immer mit abgewandtem Gesicht, und tat ihm den Willen. Sobald ich aber sah, daß er fest geknebelt und gebunden war, nahm ich die rote Kreide aus der Tasche und malte das Kreuz wieder auf die Türe.

Der gefesselte Riese wurde in das anstoßende Zimmer geschafft, welches Luttra Blake früher bewohnt hatte und wo sich auch Gryce mit seinen Leuten verbarg. Ich nahm meinen Platz am Fenster wieder ein, denn es galt nun, den zweiten Schurken auf gleiche Weise zu fangen.

Eine endlose halbe Stunde verging. So lange war er noch niemals fortgeblieben. Jetzt endlich ließ sich sein Schritt aus dem Flur vernehmen. Mit einem Faustschlag stieß er die Türe auf, doch ich wandte den Kopf nicht nach ihm um.

Wo ist der Vater? fragte er barsch, den Stock auf den Boden stoßend. – Keine Antwort.

Was starrst du da zum Fenster hinaus wie verrückt? Hast du die Sprache verloren? Wart, ich will dir die Zunge lösen.

Ich schwieg noch immer und winkte mit der Hand nach unten, als ob ich jemand ein Zeichen gäbe. Mit einem Fluch, der mir noch in den Ohren gellt, sprang er auf mich zu und erhob seinen schweren Stock. Da ereilte auch ihn das Verhängnis von der Hand des wachsamen Detektivs, doch nicht, bevor mich sein wuchtiger Schlag zu Boden geschmettert hatte. Noch heutigen Tages leide ich an den Folgen dieses Mißgeschicks; der rasende Kopfschmerz, der mich zuweilen befällt, stammt davon her.

Der Ausgang war jedoch nicht schlimmer, als ich von Anfang an gefürchtet hatte. Ich wußte, daß ich ein großes Wagnis unternahm und hatte auch die Verkleidung hauptsächlich angelegt, um Frau Blake vor den Wutausbrüchen jener Menschen zu schützen. Sobald ich konnte, raffte ich mich wieder auf und warf die Frauenkleider ab, um das Werk zu Ende zu führen, welches so erfolgreich begonnen worden war.


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