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Die Seele im Spiegel.

Sie saß in dem roten Plüschfauteuil, in dem er gestern gesessen und spielte mit den Chrysanthemen, die er ihr gebracht. Dunkle, langgestielte, ganz wunderbare Blüten waren das: weich und fein, als striche ein kühles Gefieder über die Hand hin. Rostrot getönt wie der Purpur, den die Buchenwälder im Herbst um ihre Schultern schlagen. Und der herbe Duft, der ihnen entströmte? Als hätte die Zeit des Welkens und Sterbens in ihnen ihr Symbol gefunden und all der Tod da draußen die Blume, in der er aufjubelte … zum ersten und letzten Male.

Und er hatte diese Blumen gestern in ihren Schoß gelegt. Und sie dabei angelächelt – ernst und doch so geheimnisvoll süß, wie man nur dem Leben entgegenlächelt. Dem Leben und dem Glück, nach dem man die Hand ausstreckt … »Sei mein!« Gestern flehten es nur seine Augen. Heute würde es der Mund gesteh'n. Sie fühlte es. Seine Blumen in der Hand, saß sie da und wartete.

Die Glocke schrillte so eigen auf, wenn seine Finger den Taster drückten … laut, herrisch. » Ich bin es!« Ein Schauer rann ihr immer durch den Leib, wenn sich dieser Ton an ihr Ohr fand. Und doch war auch immer etwas wie eine widerwillige Scheu in ihrer Empfindung. Heute flehte er – morgen würde er gebieten – übermorgen vielleicht lächeln und lächelnd – vergessen. Ja was wußte sie denn überhaupt von ihm – solang sie ihn auch kannte? Daß er schön war und klug und gelehrt und einen berühmten Namen trug. Aber war das der, den sie liebte – dem sie sich hingeben sollte? Der sie hinnehmen würde wie den Duft dieser Blumen … heute, morgen, solang sie eben blühte? Und dann gellte es eines Tages durch ihre Seele – schrill, herrisch, wie der Ton der Glocke draußen! Wie seltsam, daß sie mit einem Male bloß das von ihm zu wissen glaubte.

Und seine Blumen in der Hand, saß sie da und wartete.

Wie hatte sie ihn immer bewundert; ihn aus der Ferne geliebt – scheu und keusch, lang eh' er's ahnte. Und als sie sich dann zum erstenmal gegenüberstanden, schlug der Blick einer anderen ihr alles ins Herz zurück. Sein Weib …

Mit leisen, müden Schritten war sie eingetreten. Hatte aus tiefliegenden, traurigen Augen sie angeblickt. Ihr dann eine Hand gereicht – kühl, schmal, bleich – die Hand einer Toten. Und dieses Gespenst von einem Weib schleppte ein weißes Kleid hinter sich her, das in langen, hohlen Falten den armen Leib umschlotterte. Wie ein Hohn war es. Nein – das konnte man nicht hassen. Das tat einem leid. So leid, daß die Schlange, die in ihr aufzüngelte, sich wieder zu tiefst in ihrem Herzen verkroch. Konnte er dieses Weib jemals geliebt haben? War dieses Weib jemals jung gewesen? Jung und blühend wie die Rosen, die solche Männer zu pflücken lieben?

»Du Armer!« dachte sie unwillkürlich. Denn in seinem Aug' war so viel Sonne. Und all diese Sonne leuchtete über sie hin. Heiß, verzehrend, schon damals. Nein – so hatte er die andere gewiß nie angeblickt! Und so geschah es, daß statt des Hasses nur ein verächtliches Mitleid in ihr aufquoll. »Du wolltest ihn glücklich machen? Arme Wolke, die sich vor sein Leben geschoben!«

Dann saßen sie zu dritt in dem Erker, der auf den herbstlichen Garten hinaussah, in dem still und blaß die letzten Rosen welkten. Ein »Faun« Böcklins hing ihnen gegenüber an der Wand und riß lachend das breite Maul auf. Ihr war, als müsse die ganze Stube von seinem Gelächter widerhallen und sie hell machen und sonnig. Aber freilich – solang diese da saß und so eintönig fortschwatzte … Von Roberts Erfolgen und Roberts Gewohnheiten und Roberts Bräutigamszeit. So war es bloß ein Faun, der mit weit offenem Maul in die Stube starrte. Halb drollig, halb erschrocken und nie zum Lachen kam. Nie, nie, solang dieses Gespenst von einem Weib hier drinnen hauste.

»Und gerade am Allerseelentag hat Robert mir die Liebe erklärt!« lächelte sie müde. »Hätt' ich mich da nicht fürchten sollen? Weil es aber zugleich mein Geburtstag war –.« Und ihr Blick suchte den seinen. Die blassen Lippen verzerrten sich zu einem Lächeln, das ihr vielleicht einmal gut gestanden und nun so blaß und welk war, wie der ganze Herbst da draußen.

»Du bist des Todes!« zuckte es damals durch die Seele der Nebenbuhlerin. Und genau ein Jahr später war sie tot. »Heut' hab' ich die ersten Chrysanthemen auf ihre Gruft gelegt!« meldete ein Brief Roberts. Und dann kamen sie immer öfter, diese Briefe, immer öfter, bis …

Chrysanthemen in der Hand, saß sie da und wartete.

Allerseelen!

Ihr gegenüber brannte hoch und rein die Wachskerze, die sie alljährlich zum Andenken ihrer Toten stiftete. Ein alter Heimatsbrauch, der ihrer Seele eine liebe Gewohnheit geblieben. Im Kamin verzüngelten die letzten Flammen. Sonst war noch kein Licht in der Stube. Aus der klaren Tiefe des gegenüberhängenden Spiegels aber zitterte leise, leise der Schein der Armenseelenkerze.

»Ich will die Blumen neben die Kerze stellen!« dachte sie plötzlich. »Damit ich nicht gerade diese Blumen in der Hand hab', wenn er mich zum erstenmal küßt! Übrigens … war es Absicht, daß er auch mir diese Blumen brachte? Oder hat er vergessen, daß er sie auch der anderen einmal gebracht … vergessen? Vergessen!«

Hatte da nicht eben die Glocke geschrillt? Aber nein. Noch blieb alles ruhig. Und langsam schritt sie wieder nach dem Fauteuil zurück, dem roten Fauteuil, in dem er gestern gesessen.

Wie sie aber so vor sich hinsann und zugleich in das Licht der Kerze starrte, schien es ihr plötzlich, als krümme sich die Flamme wie unter einem Hauch. Nicht anders, als wäre die Tür daneben unhörbar geöffnet und dann leise, leise wieder geschlossen worden. So daß die Flamme erst jäh aufzuckte und dann, scheinbar länger werdend, sich zur Seite bog. Aber niemand war eingetreten.

»Vielleicht streicht die Luft vom Fenster her!« dachte sie. Und damit streifte ihr Blick den Spiegel, der, zwischen den Fenstern hängend, den flackernden Schein der Kerze zurückwarf. Tief und klar, wie die Fläche eines Sees. Und da sah sie …

Schon brannte die Flamme wieder hoch und ruhig. Knapp vor der Kerze aber stand ein blasses Weib und hielt die durchsichtigen Hände wie frierend an die dürftige Flamme. Und dieses Weib war …

Träumte sie?

Die Augen weit aufreißend, starrte sie wieder nach der brennenden Kerze zurück. Doch die brannte, wie sie immer gebrannt. Und daneben stand die Vase mit den Chrysanthemen. Die Vase, die sie selbst erst vor kurzem hingestellt. War es das eigene Bild, das sie erst jetzt im Spiegel zu seh'n meinte oder …? Denn dort stand niemand.

Wieder irrte ihr Blick nach dem Spiegel. Und wie sie das Bild in sich aufnahm, das er zurückwarf, fühlte sie plötzlich eine unsägliche Einsamkeit in sich. Als wären alle Dinge um sie mit einem Schlage versunken. Alles, was sie kannte und nahe wähnte, wie in unendliche Ferne gerückt und selbst die Luft, in der sie atmete, eine andere geworden.

»Ich träume, ich träume!« dachte sie. Aber das Grauen, das sie schüttelte, war ein einziges Wachsein. Und das Bild, das sie nicht seh'n wollte, stand so starr und fest in ihrer Pupille, als sollte sie nie mehr ein anderes darin aufnehmen.

Und sie war es … die Tote!

Hohl und lang schlotterten die Falten des weißen Kleides um den dürftigen Leib. Die schwarzen Haare lagen fest an den Schläfen. Glatt und schmucklos herabgestrichen, wie sie einst die Lebende trug. Und diese schmalen, langfingrigen, durchsichtigen Hände, die noch immer an der Flamme herumstrichen. Konnte man die vergessen, wenn man sie nur einmal zwischen den eigenen Händen gefühlt – kalt und blutleer, wie sie waren … Gespensterhände.

Da neigte sich die Erscheinung den Blumen zu. Und während ein seltsamer Gierblick aus den toten Augen brach, strichen die blassen Finger an den langgestielten Chrysanthemen herum, schienen sich die grünlichen Nüstern zu einem seligen Wittern aufzublähen – kam immer mehr Bewegung und Leben in die blasse Gestalt. Als wär' es den leuchtenden Blumen dort gegeben, Kraft einzuhauchen, wo keine mehr war. Und lag zugleich so viel rührende Hilflosigkeit und aufschauernde Sehnsucht in diesem Tasten und Suchen der armen Seele, daß die Lebende erst in tiefstem Erbarmen die Hände ans Herz drückte und sich dann, wie von einer magischen Gewalt emporgezogen, erhob. Nur mehr Geschöpf einer Empfindung, wie sie reiner und selbstloser und inniger noch nie durch ihre Seele gegangen …

Plötzlich zuckte die Flamme der Kerze wieder auf. Zugleich schlug es wie ein banger Wehlaut an das Ohr der Lauschenden. Ein Laut, so leis' und doch so erschütternd, als könne er Särge sprengen und Tote erwecken. Und als die Lebende wieder nach dem Spiegel blickte, da stand die blasse Frau und hielt die dunkelste der Chrysanthemen in der Hand. Hielt sie ihr entgegen und sah sie dabei an – mit einem Blick so voll unsäglicher Wehmut, einem Lächeln solch' traurigen Wissens, daß ihr war, als müsse sie vergehen. Vor Leid und Scham und dem Grauen vor einer Zukunft, die dort als Vergangenheit stand.

Da schrillte draußen die Glocke –

»Ich bin es!«

Diesmal hatte es nicht bloß der Ton der Glocke verkündet. Er selbst rief es. Frisch und laut, wie er vom Wind gerötet vor ihr stand und nicht zu begreifen schien, daß sie ihn noch immer nicht erkannte.

»Nun?« Mit der Miene eines Siegers hielt er ihr beide Hände entgegen.

Wie erwachend strich sie sich über Stirn und Schläfen.

»Darf ich bitten?« Und dann glitt sie in den Lehnstuhl, in dem er gestern gesessen und starrte ihn an, der ihr gegenübersaß: Fremd, kalt, als säh' sie ihn heute zum erstenmal.

Ein Ausdruck beleidigten Selbstgefühles trat in sein Antlitz und machte seine Züge plötzlich scharf, ließ einen unschönen Blick in seinem Aug' aufglimmen, der etwas Stechendes und Lauerndes hatte. Und wie hart plötzlich die Spottfalte um seine Lippen hervortrat. »Du willst dich wehren? Ich bin gewohnt, zu siegen und zu gebieten!«

»Und zu vergessen …« setzte sie in Gedanken leise hinzu. »Zu vergessen und zu zerstören!«

»Ihnen ist nicht wohl?«

Ja, seine Stimme klang weich, schmeichelnd, betörend, wie immer. Wenn nur der Ausdruck seines Antlitzes diese Stimme plötzlich nicht Lügen gestraft hätte.

»Ich habe bloß ein wenig meiner Toten gedacht!« stieß sie hervor.

»Richtig – heut' ist der Tag!« Er schien sich wirklich erst im Augenblick darauf zu besinnen. Und die Plötzlichkeit dieses Besinnens wurde aufs neue zur Verräterin an seiner Seele. Kein Zug von Schmerz oder Trauer. Kein warmer Blick wehmutseligen Erinnerns trat in sein Antlitz. Nur der Schatten eines dunklen Unbehagens glitt darüber hin und schien dann wie ein Schleier vor ihren Blicken niederzusinken. Immer tiefer, immer tiefer, bis er wie ein vager Nebel vor ihr in den Boden sank … Der Schleier, der ihr sein – Letztes enthüllte.

Noch immer schwieg sie. Und gereizt durch dieses Schweigen und ihre Kälte erhob er sich plötzlich und sprach: »Aber wenn heute auch der Tag der Toten ist – ich will, daß er den Lebenden gehört, und daß ein Schauer von Rosen heute auch auf ihre Grüfte niedergehe. Drum bin ich ja gekommen. Was hat dieser Tag mit dem zu tun, was in uns seit Jahren aufschreit? Dich, Süße, will ich mir heute holen. Für's Leben – für immer!«

Und seine Arme rissen sie empor. Seine Augen flammten sie an. Sein Hauch versengte ihr Antlitz. In seinem Blick aber loderte eine Leidenschaft, die ihr plötzlich Grauen einflößte. Als wäre mehr vom Haß darin als von der Liebe. »Du willst mir widersteh'n? Ich bin es!«

Mit einem heftigen Ruck riß sie sich los. Dann wich sie langsam vor ihm zurück. Immer weiter, immer weiter – den Blick der qualvoll geöffneten Augen bald auf ihn, bald nach dem Spiegel gerichtet, in dem noch immer das Gespenst des Weibes stand, das sie einmal gehaßt. Ihr die dunklen Chrysanthemen entgegenhielt und dabei ihr zunickte – müde, müde, und o – wie todtraurig!

Aber seltsam: der Anblick der Toten hatte für sie keinen Schreck mehr. Nur vor ihm graute ihr jetzt. Vor ihm, der mit dem brutalen Siegerschritt des Lebens über alles hinweggehen konnte – und alles vergessen, was er zertrat.

Fassungslos stand er ihr gegenüber. Starrte sie an mit einem Blick, der wie mit Gewalt das Wort der Hingebung aus ihrer Seele reißen wollte. Aber diese Seele war ihm entglitten für immer. Ihm, der keine Seele hatte.

»So haben Sie mir nichts zu sagen – gar nichts?« murmelte er endlich verstört.

Sie schüttelte bloß das Haupt.

»Wozu dann dieses Spiel mit mir?« zischte er empört.

Eine feine Röte stieg ihr in die Wangen. Dann hob sie stolz das Haupt. Und während sie langsam auf die Vase zuschritt, aus der die dunklen Chrysanthemen nickten, sprach sie lächelnd: »Und Sie … haben Sie nie mit jemandem gespielt … wirklich nie?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Langsam hob sie die Blumen aus der Vase. Und ohne seine Frage zu beachten, sprach sie leise: »Legen Sie diese Blumen auf das Grab Ihrer Frau. Soviel ich weiß, war heut' ihr Geburtstag!«

Dann schritt sie an ihm vorüber in das andere Zimmer – den Blick noch immer auf den Spiegel gerichtet, in dem ein weißes Wölkchen langsam zerrann.

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