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Das abendliche Gewitter war vorübergerauscht. Nun schleifte der Wind die grauen Wolkenfetzen über das Firmament, die letzten Blitze verglommen. Schwül und dunstig lag die Sommernacht über den stillen Straßen der Stadt.
Mozart trat ans Fenster und spähte hinab. Trüb und rötlich flackerten die Öllämpchen durch den Dunst, und von Haus zu Haus dehnten sich lange Schatten; wuchsen bis in die Rahmen der gähnenden Portale hinein oder streckten sich an den verwitterten Mauern empor. Verzerrte Fratzen und Gestalten, die etwas Gespenstisches hatten und abwechselnd auftauchten oder rasch verschwanden, je nachdem der Wind die Flämmchen der Lampen auf- und niederzucken ließ.
›Daß die Rauhensteingasse gar so eng und finster ist!‹ dachte der Meister, wunderte sich aber zugleich, daß ihm dies erst heute auffiel. Freilich – heute – war auch ein ganz abscheulicher Tag! Ein Tag, wie ihm noch selten einer die Seele bedrückt; diese leichte, vogelheitere Seele, die mit tönenden Flügeln immer wieder zum Licht aufflog, so hart und rauh sie auch das Leben schon angefaßt.
Aber heute … Schon nachts hatte es begonnen. Mit diesem unruhigen, fieberhaften Schlummer, dessen Traumbilder wie verzerrte Spukgestalten an ihm vorübergeflüchtet waren: toll, wirr, phantastisch und schreckhaft zugleich. Seine Seele aber hatte vergeblich danach gefingert. Gestalt – und wesenlos wie die jagenden Wetterwolken am Himmel und die huschenden Schatten an den Mauern, hatte sich der rätselhafte Bilderreigen gelöst. Nur sein todmüder Körper bewahrte nach dem Erwachen eine dumpfe Erinnerung der Lähmung, die ihn festgebannt und auf seiner Seele lag noch immer die Schwere eines Bangens, das er sich nicht erklären konnte.
Auch der Unterricht, den er in später Vormittagsstunde einem Schüler zu erteilen pflegte, hatte ihm keine Erfrischung gebracht. Welk, müd, gelähmt wie draußen die Stadt im glühenden Bann des Hochsommertages, lagen ihm Sinne und Wille. So schleppte er sich von Sitz zu Sitz, von Gedanken zu Gedanken. Einer so unfroh wie der andere und alle von jenem dumpfen Bangen bedrückt, dessen er nicht Herr wurde. Als hätte der Alp, der ihm nächtlicherweile auf dem Herzen gesessen, auch im Tageslicht seinen Platz behalten.
Endlich war das Gewitter abgerauscht und hatte wenigstens vorübergehend einige Erquickung gebracht.
Sein Weib wollte die kühleren Abendstunden zu einem Besuch bei Mutter und Schwester nützen, die »auf der Wieden« wohnten. Ihr Söhnchen sollte sie begleiten und auch Mozart hatte ihr versprochen, mit dabei zu sein. Als aber die Stunde herankam, ließ er sie allein ziehen. Er sei zu müde, exkusierte er sich, und auch der Kopf wär' ihm ganz wunderlich benommen.
Was war denn geschehen?
Ja, wenn sich derlei in Worte fassen ließe? Und weil er ein Mann war, schüttelte er das Grauen von sich, das ihm plötzlich um ein Nichts so heimtückisch an die Seele geschlichen, und trat ans Fenster.
Was entblätterte sich da in seiner Seele? Fiel ab und tiefer, immer tiefer, ohne daß er es wollte?
Er ließ einen hilflosen Blick an sich niedergehen. »Die Jugend – die Jugend!« hauchte er in das Dunkel hinein. Und ein ferner Blitz, der gegen die Donau zu aufleuchtete, schien ihm ihren letzten Glanz hinwegzunehmen.
War er denn wirklich so wehrlos heute? Bloß das Spiel übler Launen … ein Mann!
Er warf den Kopf herum und begann, in der Stube auf- und niederzuschreiten.
Der Gedanke an Vater und Schwester brachte ihm wieder die Jugend nahe – die Jugend und die Heimat. Wie in einem Zauberborn pflegte er in ihren Erinnerungen unterzutauchen, so oft ihm ein Übel dieser Erde das Herz schwer machen wollte. Sich die Seele rein darin zu baden und das Auge klar. Sein Salzburg! Gleich einer Fata Morgana stieg es in solchen Stunden vor ihm auf, aus dem goldflimmernden Duft seiner Berge – mit der süßen Heimeligkeit seiner Gassen und Gäßchen, dem schnörkeligen Barock seiner Dome und Paläste – Mirabell – Hellbrunn … die fröhliche Stadt des kriegerischen Krummstabes.
Was für ein selig Kind er dort gewesen! Trotz des strengen Herrn Vaters. Wenn er so zurückdachte … Herrgott, diese Musik den ganzen lieben Tag lang! Auch weich und graziös und schnörkelig, wie der liebe Barock. Auch so ganz Heimat und trällerndes Behagen, wie es eine kleine Vogelseele brauchte, die sich volltrinken mußte mit Sonne und Glanz und Farben und Lebensmut für den kecken Flug in die weite Welt hinaus.
Und es war ein kecker Flug gewesen! Mitten in die »blabe Stub'n« der großen Kaiserin hinein – ohne Angst und viele Stationen. Auf goldumrahmten Damaststühlen der glänzende Hof Maria Theresias, die kleinen Erzherzoge und Erzherzoginnen, neugierig um den Flügel gedrängt … Allen voran aber sie – die große Maria Theresia mit den wie in Bronze gegossenen Zügen – der mächtigen Herrscherstirn und den guten, klugen Mutteraugen darunter.
Lang, lang hatte das dreikäsehohe Bübchen Wolfgang Amadäus den gnädigen Kuß gespürt, den ihm die stolzgeschürzten Lippen der Habsburgerin auf das zuckende Mäulchen gedrückt. So einen warmen, echt mütterlichen Schmatz, der ihm durch und durch ging. »Für seine Meriten!« Hatte er das geträumt oder war es einmal wirklich gewesen? Und doch! Von der alten Kaiserburg war sein Ruhm ausgegangen und ihm vorangeflogen in die weite, weite Welt!
Die hatte dann ihre Bilder vor ihm entrollt – eines immer schöner als das andere. Nach Österreich – Italien, das Land des bel canto und der engelhaften Allegri-Chöre, die er den Sängern der Sixtinischen Kapelle von den Lippen weggestohlen! Aber nie und nirgends war ihm damals bange geworden. Wo er auch stand oder saß, am Spinett oder mit der Fiedel unterm Kinn, »mitten unter die fremden Leut«. Ganz verrückt taten die Welschen mit ihm: » Evviva il piccolo maëstro!«
»Maëstro!?!« Ja … wie mit einem Ruck blieb er stehen und begann sich plötzlich die rechte Backe zu wischen. »Maëstro!« Er lachte auf – kalt, hart, bitter. Weder der adelnde Kuß der großen Kaiserin noch der Ruhm, den er sich in Europens Metropolen geholt, hatten ihn vor dieser Schmach bewahrt. Da – gerade da, wo er jetzt hingriff – hatte der Backenstreich eines hinaufgedienerten Pfaffen gebrannt. Nichts, nichts hatte er solange gespürt in seinem Leben, wie das Schandmal dieser weichen, breiigen Prälatenpratze. Und er hatte sich ducken müssen, weil er des Bischofs Brot brauchte.
Seine Fäuste ballten sich, seine Zähne knirschten aneinander. Aber gleich darauf ging ein göttliches Geleucht durch seine Augen, wie draußen die Blitze durch die Nacht.
»Die Zauberflöte – Eure Eminenz, sie ist fertig, fertig!«
Einen Augenblick war ihm, als könnt' er wieder lachen, wie er noch gestern und vorgestern gelacht hatte … Umsonst. Da war es wieder, dieses lauernde, dräuende Bangen. Vor wem – wovor?
›Wie ein Baum im Herbst bin ich!‹ dachte er plötzlich erschaudernd. ›Blatt um Blatt fällt, und ich steh' kahl und ohnmächtig …‹
Nein, nein, noch war es zu früh! Wie nach Atem ringend eilte er ans Fenster zurück.
Vom Stephansdom hallten neun schwere Klänge herüber. Ein ferner Donner murrte dazu. Wo sein Weib nur solange blieb? Sein Blick suchte wieder die Straße ab … Alles still und leer. Nur dort … täuschte er sich, oder stand dort jemand und spähte zu ihm empor, wie er hinabspähte? Eine lange, hagere, schattenhafte Gestalt, in allerlei graues, flatterndes Zeug gehüllt … Possen! Der offene Fensterflügel eines Nebenhauses mocht' es sein, der dort seinen Schatten an die Wand zeichnete. Ganz gewiß, der Fensterflügel und ein im Luftzug sich bauschender Vorhang. Nur … etwas wie einen Kopf konnte man doch unterscheiden: einen schmalen, langgestreckten Birnenschädel, die Haltung gerade zu ihm empor. Und löste sich die Gestalt jetzt nicht von der Wand und machte einen Schritt, ihm entgegen, das Haupt noch immer emporgerichtet?
›Parbleu,‹ dachte der Meister. ›Der red't mich noch an …‹
Mit einem jähen Ruck schlug er das Fenster zu. Als er aber mit einem letzten, scheuen Blick noch einmal hinabsah, schien es ihm, als klimme ein dunkles Etwas mit langen, hastigen Spinnenbeinen an dem gegenüberliegenden Haus empor. »Ein Schatten,« murmelte Mozart und schüttelte das Haupt wie über sich selbst staunend.
Nun konnte seine Stanzi mit dem Kleinen aber auch schon daheim sein! ›Ich will Licht machen,‹ erwog er. Da schrillte plötzlich ein dünner Ton durch die Stille.
»Das Henkerglöckchen!«
Es war die eigene Türglocke, der eine bittere Laune Mozarts diesen Namen gegeben. In Anbetracht der vielen »Manichäer«, die von Zeit zu Zeit daran zogen und durchaus vor ihr Opfer gestellt sein wollten, zuweilen selbst des Nachts. Weshalb der Meister es vorzog, in solch gefährlichen Zeitläuften auch die Nächte bei irgendeinem guten Freund zu verbringen. Schlafend beim Jacquin, disputierend bei da Ponte, mit Schikaneder pokulierend. Sollte er öffnen? Das »Mensch« war fort, ums Nachtmahl. Stanzi hatte ihren eigenen Schlüssel. Und endlich … bis zum ersten August war es nicht mehr weit. Da hatte er wieder Geld. Einen Vorschuß auf die »Zauberflöte«. Mager zwar, weil es dem Schikaneder wieder einmal selbst nicht recht »z'sammging«, aber doch. In solcher Verfassung konnte man sich wohl zeigen.
Wieder schellte es.
» Presto prestissimo!« murrte Mozart vor sich hin. »'s ist einer, oder der Teufel soll mich holen …«
Damit ging er hinaus.
Er hatte noch nicht recht geöffnet, als sich ein langer, schmaler Fuß in den Türspalt schob, ein paar graue, spinnenhafte Finger den Rahmen umklammerten und er den Stich eines Blickes empfand, der ihm fast körperlich wehtat. Aber wenn er den späten Eindringling auch nicht recht sehen konnte – gesehen hatte er den noch nicht. Das wußte er gleich. Oder –? Es gab ihm einen Ruck … War das nicht der Kerl, den er vom Fenster gesehen? Einen Augenblick war ihm, als träume er. Aber gleich darauf hätte er über sich selber lachen mögen. Ein fahrender Musikus, natürlich! Flautist, Bratschist oder dergleichen … Pfiffen ja meist auf dem letzten Loch, die armen Kerle? Jeder mager und hohlwangig, wie dem Tod sein Spion. Er hatte die Not des eigenen Berufes zu gut kennen gelernt, um da hart sein zu können. Die paar Groschen durfte man sich noch leisten.
Womit er dienen könne, fragte er.
Nun kroch die lange Hand ganz aus der Manschette. Herr Gott, war sie dürr! Dem Meister schien, man müsse sie knacken hören; und als die gelbhäutigen Knochen nach seiner Rechten langten, konnte er einem leichten Schauer nicht wehren.
Ob er die Ehre hätte, mit dem berühmten Meister selbst zu sprechen, begann der Fremde. Zugleich trat er ganz ein, noch immer die Hand auf der Rechten Mozarts. Und diese Hand war eiskalt, trotz der hochsommerlichen Schwüle, die den Herd der »Kuchl« hütete. ›Ein lungenkranker Bratschist‹, schloß Mozart wieder. ›Hat 's Fieber.‹ Na ja. 's war überall dasselbe! Ein windiges Gewerb, Frau Musika! Drum zwang er sich auch zu einer freundlichen Miene und zog die Hand nur ganz sachte aus der frostigen Umklammerung. Allerdings wär' er's selbst, Mozart. Womit er dienen könne?
»Hier ist's etwas dunkel,« meinte der Fremde und machte einen Schritt nach der Stubentür. Auch bedürf' es einiger Pourparlers. Denn er schmeichle sich, in einer Angelegenheit zu erscheinen, die dem Maëstro einiges Pläsier bereiten dürfte und seine musikalische Valeurs in neuer Illumination erscheinen lassen. Vorausgesetzt natürlich, daß er akzeptiere. Pardon!
›Der Kerl spricht ja wie ein Mäzen zu mir,‹ staunte Mozart. Zugleich schnappte er ein. Das war allerdings eine Fortune! Und er trat zur Türe der guten Stube.
»Ich habe noch kein Licht,« entschuldigte er sich, die Tür in der Hand.
Der Fremde schüttelte das Haupt. »Ganz unnötig. Wir haben Vollmond.«
Der Maëstro stierte ihn an. »Vollmond?« Er hatte nur Wetterwolken am Himmel gesehen, und wenn etwa der Mond auch unterdes herfür gekommen … Wie konnte der's wissen, hier in der dunklen Kuchl und vor der annoch verschlossenen Tür? Aber er wollte nicht widersprechen, riß nur mit einer Art neugieriger Hast die Tür auf und – prallte fast zurück. Da lag die ganze Stube im blauen Mondglast! Mitten hinein fiel der lange Schatten des Fremden.
»Ich liebe diese Nächte,« sagte der späte Gast. »Da komm' ich gern. Man geht so leicht.«
Der Maëstro starrte ihn noch immer an. Wer das auch sein mochte, ein Sonderling war es jedenfalls! Schon die Art, wie er sich trug. Eine Mode von Gott weiß wann. Die langen, dürren Beine, die in einer Hose staken, die auch nicht ein Rändchen davon freiließ, knapp und wie festgewickelt sich an die grauen Schnabelschuhe legte. Darüber der schlottrige Radmantel – um und um gewickelt, von den dürren Fingern fest über der Brust zusammengezogen, als ob der ganze Kerl beständig friere. Ein wunderlicher Mäzen, jedenfalls! Fast schämte sich der Maëstro seiner Eskarpins und der schönen Modeschnallen an den zierlichen Abbéschuhen. Wienerisch sprach der Mosjö gerade auch nicht.
»Der Herr ist wohl ein Fremder?« platzte er heraus. Es war auch zu wunderlich. Warum stand er so da und guckte ihn durch und durch mit den tiefliegenden, dunklen Augen, in die der Mond eine so unheimliche Iris zeichnete? Geradeso, als wär' er nun zu Ende mit seinem Deutsch, das gleich anfangs etwas fremd geklungen hatte.
Nun ließ er gar die Zähne sehen. Vielleicht sollte es ein Lachen sein. Dem Meister wurde nicht ganz wohl dabei. Ob er wohl wünsche, daß er französisch mit ihm rede oder italienisch?
»Warum?« kam es zurück, und wieder glänzten die langen gelben Zähne hervor. »Ich spreche so ziemlich – alle Sprachen.«
Möglich, daß er sich täuschte. Aber dem Maëstro war, als hätte von diesem »ziemlich« die ganze Stube widergehallt. Flausen … und schließlich, vielleicht sein eigenes Blut, das er gehört. Die Situation war ja auch etwas prekär. Ein Fremder, den man noch nie gesehen, die Nacht und die Einsamkeit – und diese schwüle, herzbeklemmende Erwartung. ›Gerade nur nicht allzulang' anschauen könnt' ich ihn,‹ sagte sich Mozart. ›Er hat so ein kurioses Portamento …‹ Zeigen durfte man's natürlich nicht. So rückte er rasch seinen Stuhl heran, doch der Fremde lehnte ab. »Keine Zeit, keine Zeit. Hab' noch zu viele Geschäfte heute.« Die Sache wär' also die … Er wünsche ein Requiem. Ob der Maëstro sich das zutraue? Pardon … ob er vielmehr die Lust hätte, sich mit Liebe hinterher zu machen? Das Honorar wäre jedenfalls danach …
»Eine – Totenmesse?« murmelte Mozart. Er wußte nicht, warum ihm plötzlich so wunderlich zumute ward. War's die Art des Fremden – oder der Auftrag? Doch gab es kein längeres Ausweichen. Da stand einer, der es mit ihm wohl meinte – hoch dachte von ihm und seiner Kunst. ›Der Kerl selbst geht dich ja nichts an!‹ murrte es in seinem Innern. ›Und du brauchst Geld. Die »Zauberflöte« kommt erst im Herbst. Dein Weib soll einem Kind das Leben geben … Basta!‹
Er hob den Kopf. »Wieviel Zeit lassen mir Euer Hochwohlgeboren? Da ich den werten Namen noch nicht kenne –« fügte er entschuldigend hinzu.
»Pardon,« verbeugte sich der Fremde. »Aber was meinen Namen betrifft … der soll ein Geheimnis bleiben. Verschiedene Umstände nötigen mich dazu. Und schließlich … Er hat seinen Auftrag, lieber Maëstro. Und was das Honorar anlangt …«
»Ich habe zunächst um die Zeit gefragt, die Euer Hochwohlgeboren mir dafür lassen wollen?«
Der Fremde wandte das Haupt und sah zum Fenster hinaus. Gerade in den Mond hinein, wie es dem Maëstro schien. »O, die Zeit …« er lachte auf. »Ein paar Vollmonde will ich Ihm schon noch gönnen.«
»Sagen wir also, ein paar Monate,« nahm Mozart die Rede des Wunderlichen auf. »Drei – vier?«
»Auch fünf!« lächelte der Fremde.
»Ich werde mich jedenfalls bemühen, das Vertrauen in meine Valeurs zu rechtfertigen. Es ist zwar das erste Requiem, das ich schreibe. Aber ich denke selbst, daß es einige Qualitäten haben könnte … Nur mit meiner Frau möcht' ich gerne darüber sprechen …«
Wieder griffen die gelben Knochenfinger nach seiner Hand … »Wegen des Honorars – nicht wahr?«
»Doch auch wegen der Zeit,« erwiderte Mozart mit wachsender Befangenheit.
Der Fremde zog die Brauen hoch und die Lippen herunter. Wie Hohn zuckte es einen Augenblick über die fahle Fratze hin. Schon aber verbeugte er sich. »Wegen der Zeit, natürlich! Also wann kann ich mir die Antwort holen?«
»O, gleich morgen. Und wenn meine Frau da wäre … Übrigens – wenn Euer Gnaden mir die werte Adresse angeben wollten?«
Ein leichtes Lächeln wurde sichtbar. »Bemüh' Er sich nicht weiter, lieber Maëstro. Mir stellt man kein Bein …«
»Pardon,« fiel Mozart ein. »Ich vergaß, daß Euer Gnaden das Inkognito beliebten …«
»Immer!« erwiderte der Fremde. Die Zähne bleckten noch einmal zwischen den schmalen Lippen hervor. Der graue Mantel strich wie ein Hauch der Mondnacht an ihm vorüber. Dann war er allein.
›Steht er noch in der Kuchl?‹ dachte Mozart. Er hatte keine Türe schlagen hören. Aber nein … Er war schon draußen.
›Ob ich ihm nachschau‹? Als der Meister aber ans Fenster treten wollte, schob sich eine große, schwarze Wolke vor den Mond, und draußen pfiff aufs neue der Sturm auf.
»Die Frau und der Kleine!« murmelte er besorgt. Da ward hinter ihm die Tür aufgerissen … Seine Lieben!
Woran es lag, daß ihm das eben Erlebte wie ein Spuk vorkam, als er ihre warmen Hände wieder zwischen den seinen spürte?
›Wunderlich war es,‹ dachte er.
Weil aber gerade das Mensch eintrat, um den Tisch für das Abendbrot zu rüsten, schwieg er zunächst von der Sache. Auch machte der Kleine soviel Aufhebens von dem Besuch bei Großmutter und Tante, daß an ein ernstes Gespräch kaum zu denken war. Wie aber sein Weib so ab- und zuging, ganz sorgliche Gattin und atzende Mutter, freute er sich, ihr zugleich mit dem Gutenachtkuß die fröhliche Botschaft sagen zu können. Und während der Bub eins herschwatzte, erwog er bei sich, wieviel er an Honorar begehren wollte und Rechtens begehren könne. Auch sonst kam ihm der Auftrag gerade zu Paß. So oft die »große Pummerin« von Sankt Stephan anschlug, oder die uralte Domuhr mit fernen Schlägen die Stund' ansagte, besann er sich voll freudigen Stolzes, daß er dort der »Regens Chori« war. Und oft und oft schon hatte er sich fürgenommen, einmal ein Werk zu schaffen, aus dem sowohl Seine Kaiserliche Majestät als ein hochlöblicher Magistrat der Reichshaupt- und Residenzstadt ersehen mochten, daß ihre Wahl bei der Besetzung dieser Stelle in Summa auf den Würdigsten gefallen.
Als das Abendbrot eingenommen und der Kleine zur Ruhe gelegt worden war, machte auch Frau Stanzi Miene, ins Nest zu kriechen. Sie ging hohen Leibes und sah ihrer baldigen Niederkunft entgegen, da tat frühe Ruhe not. Nun sollte sie auch einen schönen Traum mit ins Nest kriegen.
»Stanzi Marini« – lachte er sie an, »rat' einmal, was uns passieren soll …«
Sie machte große Augen. »Doch nix Schlimm's?«
»Lachet' ich sonsten?«
»Triffst's auch schon,« seufzte sie auf und strich ihm langsam über den Haarbeutel.
»Geld kriegen wir ins Haus?«
»Hat der Schikaneder den Glaub'n bekannt?«
»Der steht noch aus. Aber jemand anders war da …«
»Wer?«
Seine Züge verdunkelten sich einen Augenblick. »Wenn ich's wüßt' …«
Frau Stanzi fuhr auf. »Du brauchst wohl einen Narr'n vorm Schlafengehn?«
»Wenn ich dir's sag'! Ein Requiem soll ich schreiben und dafür verlangen, was mir paßt.«
»Von wem?«
Diesmal mußte er lachen. »Ja, wenn ich es wüßt'!« Wie ein Motiv sang er's vor sich hin. Aber so leicht auch die Lippen taten, der dunkle Grübelblick wich nicht aus seinem Äug'.
»Hab' mich gern!« Sie gab ihm, schon im Kamisol, einen scherzhaften Rippenstoß.
»Meiner Seel',« sagte er, und der Ausdruck seines Antlitzes war ein so seltsamer, daß ihr ganz wunderlich zumute wurde.
»So red' doch endlich …«
Er starrte mit einem verträumten Blick in die auf- und niederzuckenden Flammen des Talglichtes. Stanzi hatte ein neues aufgesteckt, das noch hoch und schlank im Leuchter saß, bestes Hausprodukt, von ihrer Mutter selbst um den Faden gegossen. Was war an dem Licht, daß es ihn plötzlich so traurig stimmte? ›Wie eine Totenkerz' brennt's!‹ schoß es ihm durch den Sinn. Und wie hatte er sich gefreut, seinem Weib eine Freude zu machen! Was kamen ihn auf einmal solche Flausen an? Er sprang auf, schien etwas von sich zu schütteln, zwang sich, dem Weib zuliebe, zu einem neuen Lächeln.
»'s ist, wie ich dir sag'. Einer war da und hat ein Requiem bei mir bestellt. Fünf Monat Zeit soll ich haben und sonst, was ich will. Grad nur – seinen Namen wollt' er nicht nennen, werd' ich niemals erfahren, hat er gesagt.« Noch immer ins Licht starrend, schüttelte er den Kopf, wollte noch etwas hinzufügen, verschluckte es aber und begann, die Hände auf dem Rücken, hin- und herzugehn.
»Ein sonderbarer Kund' das,« sprach Frau Stanzi endlich in das Schweigen hinein.
»Mich dünkt, er müßt' euch übern Weg gelaufen sein?« fragte Mozart, plötzlich vor ihr stehen bleibend.
»Wo?«
»Auf der Trepp'n … Er ging – Ihr kamt … So ein Langer, Magerer, Grauer.«
Sie sann eine Weile nach … »Ein Langer – Magerer – Grauer … auf der Trepp'n –? Na. Da hätt' sich schon der Carli g'schreckt …«
»Ist's mir nit anders 'gangen,« murmelte Mozart vor sich hin.
Frau Stanzi lachte hell auf. »Na, na. 's wird der ›steinerne Gast‹ nit g'wesen sein. Bist ja kein Don Juan, Wolferl!«
»Und dann – die Bestellung!« sprach Mozart, wie magisch aufs neue von der zuckenden Kerzenflamme angezogen.
»Hast dir ja selbst schon längst g'wünscht, so was zu komponieren.«
Er nickte. »Und weißt, wann mir der Gedanke zuerst 'kommen ist? Nach der ersten Ohnmacht, die mich befall'n hat, damals, bei der großen Arie der Königin der Nacht …«
»Unsinn. Wenn man so Tag und Nacht durch komponiert. Pech g'nug dabei … Kommt's Glück hintenach, sagt man.«
»Er will noch einmal kommen. In den nächsten Tagen. Ich wollt' kein Präjudiz schaffen, vor ich mit dir gered't …«
»Fünfzig Dukaten denk' ich, was?«
»Ich hätt' weniger verlangt.«
»Unsinn. Hab' dich doch mehr … Und wir brauchen's!«
»Ja, – wir brauchen's!« seufzte der Meister auf. Wie von ungefähr glitt sein Blick über den gesegneten Leib des Weibes. Da wollte ein junges Leben ans Licht. Er mußte ihm den Weg freimachen und das Nestlein weich. Mit einer »Totenmesse« sollt' es geschehen! Er strich sich langsam über die Stirne. »Na … Gute Nacht, Stanzi.«
Damit schlich er nach seiner Stube. Sie schlief mit dem Kinde und schlief wieder einmal sorglos ein. Es war nötiges Geld, das ins Haus kam.
Tags darauf erhielt der Meister ein Schreiben da Pontes. Der Freund fragte an, ob es ihm nicht genehm wäre, mit ihm nach London zu fahren, um dort an der Italienischen Oper tätig zu sein? Einiges Geld wäre dabei zu verdienen. Er möge sich's überlegen. Und Mozart überlegte eine ganze sorgenvolle Nacht durch. Aber so lockend auch die Verheißungen da Pontes klangen – wie die Dinge nun lagen, war es ihm unmöglich, Wien sobald zu verlassen. Die »Zauberflöte« sah für den Herbst ihrer Aufführung entgegen, und die Ouvertüre war noch nicht vollendet. Sein Weib sollte einem Kind das Leben geben. Eine wohlwollende Indiskretion hatte ihn wissen lassen, daß die Prager Stände sich mit dem Plane trugen, ihm die Ausarbeitung einer Festoper zur Krönung Leopolds II. zu übertragen. Das war eine Aufgabe, die sich doppelt lohnen konnte. Die Huld der Majestäten war ihm gerade jetzt in mehr als einer Hinsicht notwendig. Wußte er doch, wie viele Neider er unter der musikalischen Kamarilla hatte! Die Italiener voran. Die hielten ihm gerade keine Lobreden. Und wie die Mode leider noch immer beliebte – Salieri und sein Anhang hatten das Ohr der Majestäten. Brachte man nun, bei solch festlicher Gelegenheit, sein Werk vor die Rampe – horchte diesmal ganz Europa hin, so wurde auch für die »Zauberflöte« die Bahn eben und frei.
Als der Meister müde und wie gelähmt von der Hitze endlich heimkehrte, harrte seiner eine mächtige Überraschung. Hundert blanke Dukaten lagen auf seinem Pult. Daneben der längst erwartete Brief der Prager Stände.
»Nun?« lachte Frau Stanzi.
»Ja, die Prager!« seufzte Mozart mit einem wehen Lächeln. So wohl ihm all' die Liebe tat, die er gewohnt war, von dorther zu empfangen, sie erinnerte ihn immer an das, woran es die Wiener noch fehlen ließen.
Frau Stanzi legte die Hand auf die Goldfüchse. »Das Geld kommt aber nit von Prag! Das ist für's ›Requiem‹.«
»So–so–o?« Er dehnte das Wort. Die Hand, die schon nach einer der blanken Rollen gelangt, fuhr wie gestochen zurück. »War er also wieder da … der Lange … Graue …« Fast widerwillig kam es ihm von den Lippen, und seine Augen schlossen sich. Glaubte er nicht, daß dieses Gold wirklich dalag, oder wollte er plötzlich nichts davon wissen? Frau Stanzi fand es kindisch.
»Mit deinem Langen, Grauen!« schalt sie. »Ist ein Mensch wie ich und du, ganz adrett. Sogar ein paar Flattusen hat er mir gesagt. Und daß er seinen Namen nit nennen will … Gott! 's gibt allerhand Narren. Aber – da liegt's Geld.« Wie liebkosend strich sie über das sonnenwarme Gold, suchte nach einem Blick in seinen Augen, der ihre Freude teilte … umsonst. »Was stehst denn so, Wolferl, und schaust …«
»Ein' Leich' fahren's vorüber!« kam es leise zurück, und wie fröstelnd zog er plötzlich die Schultern hoch und trat an das Pult, um den Brief der Stände zu lesen.
»Also –« nahm er endlich das Wort. »Einen Metastasio soll ich ihnen komponieren. › La Clemenza di Tito.‹ Wenigstens die Hälfte muß ein Italiener sein! Na ja …« Er schlang etwas hinunter. Es mochte nicht gerade süß sein. Plötzlich zuckte er zusammen. Mitten durch die brütende Stille krachte ein jäher Donnerschlag. Der Wind fuhr mit einem hohlen Tubaruf dazwischen.
Frau Stanzi bekreuzigte sich. »So gach!«
Da krachte der Donner noch einmal – und wieder – und wieder, während das nachrollende Echo wie ein mächtiger Akkord zugleich immer ansetzte und erstarb … Einmal – zweimal – dreimal … viermal.
Das leichenfahle Antlitz wie erschauernd mit der Linken bedeckend, während er die Rechte weit von sich streckte, stand der Meister an seinem Pult … lautlos, regungslos, wie erstarrt.
»Mann« – jammerte Frau Stanzi – »was ist mit dir?«
Er schüttelte bloß das Haupt … »Still … still …« Leise, kaum vernehmbar kam es von seinen Lippen.
Draußen flogen die Wetterwolken heran, glitten wie schwarze Riesenschleppen über die Dächer hin, ließen ihre huschenden Schatten über die weißen Dielen der Stube jagen … grau, gespenstisch-schreckhaft … Aus dem Nebenzimmer drang das Weinen des Kindes. Es war allein, schrie nach der Mutter, wie in Angst und dumpfer Seelennot.
Endlich hob Mozart das Haupt, und während er wie geistesabwesend in das Gebrause des losbrechenden Wetters hinaushorchte, murmelte er: »Das Jüngste Gericht … so muß es kommen!«
»Was sagst du –?« stammelte sein Weib.
Er winkte bloß mit der Hand, trat an das Spinett – griff viermal denselben Akkord … dumpf, tief – lang nachrollend – weckend, rufend, drohend zugleich.
»Mein Gott,« hauchte Frau Stanzi, »das ist ja, wie früher der Donner?«
Der Meister nickte … »Die Posaunen werden es sein …«
Ein leiser Schauer kroch über ihre Seele. Ehrfurcht war's und zugleich ein Bangen, darüber sie sich keine Rechenschaft geben konnte … »Wie dir das kommt!« Und sie schlich hinaus, leise, auf den Zehen, wie immer, wenn sie ihn mit seinem Dämon allein wußte.
Drinnen weinte noch immer das Kind – allmählich leiser, sanfter. Die Mutter mußte es in den Arm genommen haben. Da lallte es ihr seine Angst vor und seine Bitten. Wie in einem Traum hörte der Meister die verzitternde Stimme, und ohne daß er es wußte, glitt sie ihm in die Töne hinüber, die er griff – wurde Musik, wie früher der Donner des Himmels. Eine bang-flehende, schmerzlich-unruhige Musik, in der sich die Angst barg und der Schreck und die Erwartung eines Entsetzlichen, dem nicht zu entrinnen war.
Als Frau Stanzi das Mittagsmahl auftrug, fand sie ihren Gatten an seinem Pult lehnend, wo er mit verschränkten Armen vor sich hinbrütete.
»Nun?« fragte sie gespannt.
Er schien's zu überhören. Aber während er die Goldstücke vom Pult langsam in die Lade zählte, sagte er mit einem zärtlichen Aufblick: »Nun werden wir eine sorgenlose Tauf' haben!«
»Und du mußt dich dafür plagen!« seufzte sie. »War das zuvor nicht schon ein Requiem-Motiv?«
»Erst muß ich an den Metastasio,« wich er aus. Und weil sie endlich merkte, daß ihm die geheimnisvolle Bestellung trotz des klingenden Lohnes noch immer nicht gefallen wollte, ward zwischen ihnen kein Wort mehr darüber gesprochen.
Der Meister aber wurde von Tag zu Tag fahriger und seltsamer. Es gab wohl viel Arbeit. Dazu die drückende Schwüle, die schwer und lähmend über der Stadt lag. Und was das Herz seines Weibes mit heimlicher Sorge erfüllte: Mozart schien kaum eine Nacht mehr zu schlafen. Was mochte geschehen sein, daß er nun so trüb und verloren umherschlich? Selbst seinen Schülern fiel es auf. Vor allem dem Süßmayr, dem es schon fast eine liebe Gewohnheit war, von seinem Meister geneckt und gehänselt zu werden und allerlei Derbheiten mit dem Humor des musikalischen Gelbschnabels entgegenzunehmen.
Nun mied der Meister plötzlich jeden Scherz. Ernst, sachlich erledigte er, was seines Amtes war, barg aber seine Seele wie hinter einem dunklen, wallenden Schleier. Auch das fröhliche Bubenlachen kam ihm nicht mehr über die Lippen. Ein-, zweimal wagte Süßmayr eine Frage. Doch der Meister wich aus oder blieb stumm, und sein Auge sah groß und fremd über ihn hinweg, wie in Fernen, dahin es nicht gut sein mochte, ihm zu folgen.
»Was hat er?« fragte Süßmayr des Meisters Weib. Doch auch von ihr war keine Antwort zu erhalten: »Viel Arbeit – Sorgen …« Mehr wollte und durfte sie nicht sagen, abwehrend und seltsam, wie Mozart sich in dieser Sache nun einmal verhielt – selbst ihr gegenüber.
Ihn aber begannen Stanzis angstvoll fragende Blicke je länger je mehr zu quälen. Was wollte sie wissen und erforschen an ihm? Er hätte ja selbst keine rechte Antwort geben können. Fremd und wunderlich, wie es in seiner Seele nun durcheinanderwogte.
›Ich bin ein anderer geworden,‹ dachte er in solchen Stunden und begann sich selbst zu belauern, wie einen Fremden. Umsonst. Wie er auch forschen mochte, da war nichts, als jenes dunkle, ungewisse Bangen, das ihm seit jenem Gewitterabend die Seele überschattete. Mitten aus diesem Dunkel aber trat immer wieder – lang, grau, die Gestalt des Rätselhaften, der seinen Namen nicht genannt wissen wollte. So mied er fast geflissentlich, jener Aufgabe nachzusinnen. Obwohl ihm zuweilen schien, als bebe seine innerste Seele von den schweren, dunklen Rhythmen, die jene vier Posaunenakkorde wie dumpfe Wetterschläge eingeleitet. Er dachte sie als andeutende Motive der Sequenz, der er, einem überlieferten Brauche folgend, das Dies irae als Text unterlegen wollte. Das Herz und Gewissen aufrüttelnde Reuelied der Menschheit, angesichts des Schöpfers, der am Ende der Tage als Richter erscheint. Im klaren Licht des Tages, wo nur der Wille sein Werk bestimmte und seine Schaffenslust kein anderes Ziel sah, als das ihr zunächst gewiesene, ging es wohl an, mit dem seltsamen Spuk jenes Abends auch die Tongespenster zur Ruhe zu weisen, die in seiner Seele nach Leben und Gestaltung rangen. Wie oft aber fuhr er des Nachts auf – mächtig emporgeschreckt von jenen, wie in den unendlichen Fernen der Ewigkeit verhallenden Posaunenakkorden!
Einmal – er hatte das Fenster offen gelassen, um von dem kühlen Nachthauch erquickt zu werden – schlief er so ein. Plötzlich glaubte er das Geschluchze einer Geige zu hören. Wie das Weinen einer Menschenseele klang's. Andere Geigen fielen ein – jäh, schrill, dissonierend – und führten, dasselbe Motiv aufnehmend, es weiter, aber in Dur. Wie eine kunstvolle Fuge war's. Mit dem Ohr des Kenners weidete sich der Träumende an dem stilvollen Tongewirr. Noch niemals hatte er so die Geigen streichen gehört. Nur so eigentümlich wild klangen sie – jagten hinter den klagenden Bassetthörnern her, hetzten sie förmlich zu Tode. Wie das Hussa einer diabolischen Jagd war's! Und mitten im Schlaf hatte er plötzlich die Empfindung, daß es nicht gut wäre, darauf zu horchen. Mit der Angst, die ihm aber so allmählich ans Herz stieg, kam ihm plötzlich zum Gehör auch das Gesicht, so daß er in einem entsetzlichen Traumbild sah, was er eine Weile bloß mit dem Ohr in sich aufgenommen: Hundert und aber hundert Gerippe, die auf schwarzen, seltsam langen Geigen herumstrichen – die elfenbeinfarbigen Knochenschädel mit einem triumphierenden Grinsen über die schreienden Instrumente gebeugt … An der Spitze dieses gespenstigen Orchesters aber stand der Kapellmeister und schlug mit einem morschen Knochen den Takt zu der diabolischen Fuge. Plötzlich wandte er sich, nickte nach ihm hin, hob den Saum des schlotternden Mantels und bleckte ihn an, mit den langen gelben Zähnen. Der Graue war's – der Besteller des Requiems! Mit einem wilden Schrei erwachte Mozart.
Eine ganze Weile saß er aufrecht im Bett. Sein Herz pochte. Das Blut sang ihm in den Ohren. Sein Blut? Nein, nein, das war sie noch immer – die grauenhafte Fuge! Jeden Ton hörte er, jede Stimme. Das war kein Spuk! Der Tod war es, der mit seiner Fiedel das Leben vor sich her hetzte:
Tanzt und springt
Tanzt und springt –
's ist meine Geige, die dazu singt! …
Und sie tanzten und sprangen und hatten ihre Hoffnung und ihre Angst und ihre Liebe und Sehnsucht. Welch jammervoller Reigen das war!
Endlich beruhigte sich Mozart. Aber bis in den grauenden Morgen hinein fand er keinen Schlaf. Er wollte ja nichts wissen von diesem Requiem – noch lange, lange nicht! Doch wie er so saß, wehrlos, halb ohnmächtig, fing es immer wieder in ihm zu singen und zu klingen an: todtraurig, herzbeklemmend, gleich darauf wild und diabolisch einherjagend. Nein, er hatte nicht geträumt; und wenn er geträumt hatte, war es doch dieselbe Musik gewesen, von der ihm nun die ganze Seele schauernd widerklang.
Da stahl sich der erste Sonnenstrahl an sein Lager – hell, klärend. Stein, nein … Was kam ihn nur an? Es war doch schön, das Leben, und er hielt noch Schritt mit seinem goldenen Reigen. Zuviel gebrütet und gesonnen hatte er die letzte Zeit her. Sich allzu scheu in sich selbst verkrochen. Das waren die Tiefen, in denen der Wahnsinn lauerte. Hinauf – hinaus! Mit beiden Füßen sprang er vom Lager und lachte plötzlich hell auf.
Der Lange, Graue … Unsinn! Dort zerflatterte das Spukbild zwischen den flirrenden Stäubchen des Lichtkegels, der sich durch die Gardinen stahl. Der ahnungslose Besteller des Requiems aber kroch jetzt wohl auch irgendwo aus dem Bett, wie er, und freute sich auf seine »Morgensupp'n«, wie er. Und wieder lachte Mozart … Mochte der Spinnenbeine haben, im Négligé! Vermutlich auch eine Zipfelhaube. Seine Goldfüchse waren noch immer nicht aus der Pultlade verschwunden, lagen drin, blank und schöngeprägt … Wirklichkeit war alles, blanke Wirklichkeit. Wie töricht von ihm, sich mit solchem Nachtspuk herumzubalgen!
›Zum Schikaneder muß ich wieder einmal,‹ dachte er. ›Der lacht mir die Muck'n weg.‹ Und während er sein Toupet aufsetzte, begann er leise vor sich hinzusummen:
»Ein Mädchen oder Weibchen
Wünscht Papageno sich –«
Es war eine Arie aus seiner »Zauberflöte«, und als er sie vor sich hinsummte, fiel ihm die ganze »Schikanederei« ein. Monsieur und Madame und Schikaneder fils. Das waren Leute, die das Leben zu nehmen wußten, alle drei. Von denen man lernen kunnt'! Aber freilich, der Papa Schikaneder voran! Hatte der Zeiten erlebt: bald hoch oben, bald tief unten. Von allen Rädern des Schicksals über die Landstraße unseres Herrgotts gekarrt. Und doch war er nie stecken geblieben!
Nicht daß er ihn besonders estimierte. Aber wie hatte es der Kerl verstanden, die »Zauberflöte« aus ihm herauszukriegen. Mit Schmeicheleien und Plackereien und auch mit »ein bisserl Gewalt«. Hatte er den Singvogel doch gar schlau in einen Käfig zu locken gewußt und ihn Wochen und Wochen lang darin hinter Verschluß gehalten. Wenn es auch ein gar lustiger Käfig war – der Gartenpavillon im Starhembergischen Freihaus. Und während Frau Stanzi in Baden die Schwefelquellen brauchte, komponierte der Amadé lustig drauf los. Oft auch ein bisserl unlustig. Wenn er sich nämlich in Schikaneders und seiner Demoisellen lustiger Gesellschaft einen kleinen Kater zugelegt. Item … den zweitnächsten Tag ging's wieder flott los, und Frau Stanzi brauchte nicht alles zu wissen.
Wie eine Erlösung überkam ihn plötzlich die Erinnerung an diese Frühlingstage, in denen er die Melodien wie weiße Blüten von der Seele geschüttelt. Das bißchen Rausch und Schmutz dabei … Ach was! Ein Mann braucht auch das zuweilen.
»Pa–pa–pa–pa!« sang Mozart, als er mit Stanzis Kuß auf den Lippen über die Treppe sprang. Es konnte wieder einmal schön werden!
»Hat der Kerl eine Nas'n!« lachte Schikaneder, als ihm der Freund mitten in eine Probe hineinfiel.
»Weil meine Alte verreist ist zur Erholung, da kann's wieder einmal lustig hergehn in unserm Pavillon. Schad', daß ich die Prob' nit gleich abklopfen kann. Aber weißt was? Mach' derweil den Vogelfänger! Ich hab' dir jetzt ein paar Elevinnen. Na, schau' dir's selber an. Und die Gerl sitzt mitten drunter. Ihr Sponsus ist auch verreist. Na – nimm deinen Vorteil wahr, Amadé!«
Etwas verlegen trat der Meister an die kichernde Gruppe heran. Die Gerl hatte Augen, die ihm noch vom Frühling her in der Seele brannten, wenn er sich's auch nie recht gestanden hatte. Auch sonst war sie ein »Mordsmensch«, wie die Wiener damals von jeder hübschen Aktrice zu sagen pflegten. Hoch, schlank und doch mollet. Dazu erst jüngst verheiratet. Ihre »Kersch'naug'n« waren dem Amadé nachgegangen, solange sie noch Demoiselle Reisinger gewesen. Wie es nun um sie stand? Fast machte es ihm Spaß, sein altes Glück bei ihr aufs neue zu versuchen. Wenn's auch nur ein »G'spiel« werden durfte.
Aber – die Gerl war unterdes klüger geworden. Wenigstens tat sie merkwürdig froissiert. Das begann ihn erst recht zu reizen. Im Nu prasselte ein ganzes Feuerwerk von Scherzen und Anspielungen auf. Die Schöne blieb aber spröd; spielte ganz die » épouse«. Nur ihre Augen begannen zu glühen – ein Feuer, das langsam aber stetig auch ihre Wangen mit seinem heißen Purpur übergoß. ›Die brennt von innen heraus,‹ dachte Mozart. ›Ich hab's immer g'spürt.‹ Und ganz heimlich wünschte er, daß der Schikaneder auch sie einladen möchte. ›Mehr als eine Hetz wird's ja nit werd'n,‹ beruhigte er sich immer wieder. Ganz kalt stellen durfte er sie nicht. Denn sie sollte zwei Rollen in der »Zauberflöte« kreieren. Freilich, auch der » marito« war zu berücksichtigen. Ihm wollte Schikaneder die geheimnisleuchtende Hauptrolle der Oper übertragen, den Sarastro. Das gab diffizile Bedenken einer selbst flüchtigen Amour gegenüber.
»Na, hast dir deine »dritte Dame« auch recht ang'schaut?« neckte Schikaneder, als die Probe zu Ende war.
Mozart besann sich einen Augenblick. Am besten wär's, sich mit einigen Flattusen aus der »Affaire« zu ziehen. Damit vergab man sich nichts und kam doch immer gut weg bei den Weibsen. Er verneigte sich also vor der Schönen und meinte artig: »Madame Gerl wird auch die dritte Dame zur – Primadonna machen.«
»Je, je,« meckerte Schikaneder. »Red' nit so g'schwoll'n daher.«
Aus den dunklen Augen der Gerl zuckte etwas hervor … Wie eine Stichflamme war es. Und sie stach. Er senkte den Blick davor zu Boden. Endlich lachte sie auf. ›Eine Stimm' hat's!‹ dachte der Musiker. Die höhnische Roulade der weißen Kehle weckte ihm plötzlich die Erinnerung an jene schwülen Juninächte wieder. Draußen der im Blütenglast leuchtende Garten des Freihauses. Über den leise hereinnickenden Kastanienwipfeln der schwimmende Mond. Bernsteinfarbiger Ungarwein perlt in den Gläsern. Der Schikaneder erzählt von seinen Amouren, und Mademoiselle Reisinger lacht dazu, während ihre Fußspitze leise, ganz leise den Abbéschuh Mozarts sucht. ›Diavolo!‹ denkt er wieder, und wieder wird ihm wie damals und noch ein bisserl anders.
»Also kommt's, Leut'ln,« drängt Schikaneder. »Auf ein Mittagsmahl und ein Nachtmahl langt's noch. Das Diner nehmen wir im ›Prader‹, das Souper ganz entre nous. Na, tust mit, Gerl?«
Sie hat noch nicht ja gesagt, und er zieht sie schon hinaus. Rechts die Schöne, links den Freund. »Wenn ma' sie bei der Rupf'n erwischt, ist's noch immer die Reisinger,« scherzt er. So ziehn sie zum Schikanedertempel hinaus, dem »Prader« zu.
Spät nachts erst kehrte Mozart heim. Sein Blut fieberte von dem Wein, den er genossen. In seinem Ohr prickelte ein Lachen, dem er vielleicht allzulange gelauscht. Seine Pulse jagten, sein Kopf aber war schwer, sein Körper wie zerschlagen. Auf der Zunge lag ihm ein widerlicher Nachgeschmack. Was war denn geschehen? Gott, so wenig. Bloß – über seine Stanzi hatte er sich ein bißchen lustig gemacht mit der Gerl! Um der gekränkten Kokette wenigstens eine Genugtuung zu geben, um die künftige Trägerin einer Rolle bei guter Laune zu erhalten. Die Gerl war aber eine von den ganz Feinen; tat, als nehme sie seinen Scherz als Ernst, seinen eheherrlichen Humor als Bitterkeit. Der Wein sorgte fürs übrige. Zuletzt glaubte er fast selbst, daß sein Weib die Schuld an dem Übel trüge, mit dem er sich nun schon tagelang quälte. So war es gekommen, daß eine nichtsnutzige Aktrice und eine Hundeseele, wie der Schikaneder, mit der Mutter seiner Kinder ihren Spaß haben konnten, eh' er's selbst noch recht wußte und wollte. ›Gemein war ich,‹ dachte er, ›gemein‹, und kam sich wie ein Verräter des eigenen Glückes vor. Und … war es wirklich bloß nur jener Rolle halber geschehen? Nicht auch um der verbuhlten Blicke des Weibes willen?
›Ob ich mir nicht selbst zu hart tu',‹ sann er, ›auch in gesunden Tagen so empfunden hätte?‹
Mit einem Ruck blieb er stehen. Wie ein schriller Geigenstrich fuhr es plötzlich durch seine Seele – jäh, wild, höhnisch … die Musik, die er um Mitternacht gehört! Nun wurde es wieder Mitternacht. Ja, bekam er denn dieses Requiem wirklich nicht los?
» Dies irae – dies illa … rauschte, brauste, stöhnte und klagte es in ihm. Ein einziger Chor der Verzweiflung – vielstimmig, wie vom Morgen zum Abend der Erde gesungen – einem Tag entgegen, der allen die Masken nahm. Nur die nackte, zitternde Seele würde auf der bebenden Erde stehen – zwei Anklägern zugleich gegenüber, dem Bösen und dem eigenen Gewissen! ›Meine nackte, frierende Seele …‹ stammelte etwas in ihm. Und schon hörte er auch ihre Stimme. Musik und doch ein einziges Grausen, das ihm aus dem tiefsten Innern brach.
» Quantus tremor est futurus!« Als begleite der Chor das vieltausendstimmige Echo: » Dies irae – dies illa!«
War er toll oder wurde er es? Wie ein Gehetzter kam er heim.
Schon auf der Treppe merkte er, daß in seiner Wohnung etwas vorgehen mußte. Aus dem Küchenfenster brach ein später Lichtstrahl, durch die Außentür kam das leise Gewispel von Frauenstimmen. Und als diese Tür sich vor ihm auftat, begrüßte ihn der erste Schrei seines – Neugeborenen. Eine Seele, der er das Leben gegeben, klagte zum erstenmal zum Throne Gottes empor!
An der Tür empfing ihn seine Schwägerin Sophie. »Geh nicht zu ihr hinein – sie hat soviel gelitten, die Arme. Jetzt schläft sie ein bisserl!«
›Und ich?!‹ dachte er. Wie eine Schlange biß sich die Reue in seine Seele. Da hatte ein Weib gelitten – unmenschlich gelitten, seinetwillen, und er hatte sie dem Spott einer Komödiantin preisgegeben.
O ja, es gab ein Gericht! Eines, vor das Gott schon hier die Menschen rief. Tagtäglich … Nur verstehn wollten sie's nicht.
Wie besudelt kam er sich vor, als er endlich zwischen seine Kissen kroch …
Todmüde raffte er sich morgens auf, um an das Lager der Wöchnerin zu treten. Recht bleich sah sie aus, aber aus ihrem Antlitz strahlte ihm eine Welt voll Liebe entgegen. In ihrem Arme lag das Kleine und schlief. Von einer rätselhaften Ehrfurcht angeschauert, beugte er sich über das leise atmende Kind. Hier lag das Leben selbst. Rein und schuldlos, wie Gott es immer wieder ins Dasein sandte: den weißen Schmetterling aus den weißen Blütengefilden der Unsterblichkeit. O, er wollte sie hüten, diese Seele, wenn Gott ihm noch die Kraft dazu ließ! Wenn – wenn … Wer konnte es wissen? Wie er sich nun fühlte … Er schauerte zusammen, fuhr herum, starrte wie geistesabwesend hinter sich. Ihm war, als müsse das Gespenst seiner beklemmenden Seelenangst hinter ihm stehen, lang, grau …
»Was hast du?« forschte die junge Mutter.
»Nichts, nichts,« wehrte er ab. Doch er beugte sich noch tiefer und gab dem Kleinen den ersten Vaterkuß, mitten auf die Stirne, die jene rührenden Falten zeigte, die den Frühlingsblüten eigen, wenn sie eben die Knospe gesprengt. Und eine Weile war ihm, als müsse schon die bloße Nähe dieses jungen Lebens auch ihn beschützen und stärken. Dann ging er an sein Tagewerk.
Es war Ende Juli; im September sollte die Krönungsoper aufgeführt werden. Er hatte höchste Zeit. Nicht ein Tag mehr durfte verloren gehen, sollte er das Vertrauen rechtfertigen, durch das ihn die Prager geehrt. Und weil ihm der Text nicht die rechte Stimmung brachte, holte er sich bei der Geschichte Rat und bald stand die lichte Gestalt des Titus rein und hehr vor ihm – ein wundersames Bild menschlicher Hoheit und Güte.
So fing es aufs neue in der Seele Mozarts zu klingen an, denn auch Titus war ein Vollendeter aus dem Tempel Sarastros. Titus, der Heide! Und mehr als je empfand der Meister, wie schön und harmonisch die geheimnisvollen Kräfte seien, die das Leben seiner Höhe entgegendrängten – dem leuchtenden Gipfel, auf dem der Mensch wie ein König einst die Natur verstehen und beherrschen mochte. Ganz eingesponnen von der goldenen Fülle der eigenen Töne, schien er wieder Ruhe zu finden. Was sollten die dunklen Schatten auch jetzt schon in seinem Leben? Waren es nicht vielleicht die letzten Streiter, die ihm die Königin der Nacht an die Fersen heftete – auch ihm? Er war nicht umsonst solange ein frommer Katholik gewesen. Das spukte ihm noch gespenstisch in der Seele, die zwischen dem alten und dem neuen Glauben rang.
Soweit wieder Herr seiner selbst geworden, wagte der Meister endlich auch jene Teile des Requiems niederzuschreiben, die er solange in fiebernder Seele getragen. Den Introitus und das Kyrie und Christe eleison – jene mächtige Doppelfuge, deren wild gurgelnde Stimmen er im Traume gehört … die Not der Seele, die von wahnsinniger Angst einhergehetzt, endlich wie besinnungslos vor ihrem Richter ins Knie bricht … Er selbst staunte über die unheimliche Schnelligkeit, mit der er die Fuge niederschrieb. Jeden Ton, jede einzelne Stimme hatte er behalten, und die freundlichen Sonnenstrahlen, die ihm so warm und golden über die fleißige Hand glitten, verscheuchten das gespenstische Gesicht, das sich in seiner Erinnerung untrennbar mit der geistigen Empfängnis dieser Fuge verband. Auch die ersten Sätze des » Dies irae« brachte er zu Papier und wandte sich dann, förmlich erlöst, seinem »Titus« zu, wähnend, daß er die Schreckgespenster der eigenen Phantasie nun ein für allemal gebannt. Nur etwas war ihm während der Niederschrift aufgefallen: die große Ähnlichkeit der Instrumentierung, die das Requiem und die »Zauberflöte« gemein hatten. Und wie ein Blitzstrahl leuchtete plötzlich die Erkenntnis vor ihm auf, daß auch das Requiem in seiner Art so gewiß eine Fortsetzung der »Zauberflöte« bedeute als der »Titus« … In der »Zauberflöte« hatte die menschliche Seele den Kampf mit den gemeinen und finsteren Gewalten des Lebens zu bestehen – im Requiem sah sie dem Tod und ihrem letzten Richter ins Antlitz. Und wie ein Spiel erschien ihm plötzlich der Prüfungsweg Taminos und Paminas, obwohl er durch Feuer und Wasser führte. Hier entschieden Menschen, was gut und böse sei, was Weisheit und Tugend – dort Gott. Und ob es nun der Gott der Heiden, der Juden, der Christen oder der Erleuchteten war, was wußten die Menschen von ihm, den sie mit so vielen Namen nannten? Nur die schauernde Seele würde ihn kennen und erkennen – an jenem letzten Tage oder in der Stunde, die sie für immer vor ihn rief. Denn auch hier wußte sie nicht mehr von ihm, als das Fleisch zuließ. Alles Fleisch aber war dem Tode verfallen. So kam es, daß der Schatten jenes geheimnisvollen Mittlers immer wieder auf seinen Weg fiel, ihn ernst machte und nachdenklich, ob er auch wieder der Alte schien.
Süßmayr, der ab und zu kam, fand den Meister wieder »völlig oben«. »Er nennt mich wieder ›Sauermayr‹,« flüsterte er mit einem bedeutungsvollen Lächeln, als er Frau Stanzi seine Wochenbettvisite abstattete. Und um ihre Freude zu erhöhen, erzählte er, mit welchem Neid die »Kammerwelschen« die Erfolge Mozarts begleiteten und was alles sie noch von ihm fürchteten. »Auch der Salieri is nit viel besser,« sagte er. »Und die Krönungsoper wird er ihm lang nit verzeihn. Sogar die Kaiserin haben s' aufbracht, die Katzlmacher. Aber was nützt's? Kranäugeln können s' ihm doch nit eingeben.«
Und er und Frau Stanzi lachten, weil das Leben nun endlich, endlich etwas Sonne brachte für Mozart!
Auch van Swieten, der berühmte Arzt der Majestäten, entsann sich nun wieder gnädig, daß Wolfgang Amadé noch existiere. Kam öfter und öfter, wie in früheren Tagen. Ließ sich von dem Meister die Partitur der »Zauberflöte« zeigen und erbat sich einige Arien des »Titus« für seine musikalischen Abende. In den Papieren Mozarts wühlend, gerieten ihm dabei auch die Blätter in die Hand, auf die der Meister die ersten Teile des Requiems geschrieben. So kam die Sprache auch auf den geheimnisvollen Besteller, und Mozart, noch erregt von einer eben zu Ende gebrachten Arie, sprach sich, ohne daß er es merkte und wollte, wieder ganz in die Stimmung des Abends hinein, der jenen unheimlichen Gast in seine Stube geführt. Der Abend dämmerte wie damals: der Mond stand am Himmel und sah blau und kalt nach der Stelle, die den geheimnisvollen Fremden getragen … Des Meisters Augen aber leuchteten wie von einem Fieber, während er davon erzählte, und sein Blick irrte immer wieder nach dem Platz, auf dem der Lange, Graue gestanden.
Van Swieten horchte und horchte. Anfangs schien es ihm bloß eine »Musikantenaventure«, der er kaum soviel Gehör geschenkt hätte, wenn ihm nicht darum zu tun gewesen wäre, von dem Meister selbst einen Teil des Requiems zu hören. Je länger Mozart aber sprach, desto aufmerksamer wurde er. Und plötzlich trat er auf ihn zu, griff nach seinem Puls … »Ihr gestattet …«
»Oho,« lachte Mozart, »soweit sind wir nicht.«
»Gott sei Dank!« sagte van Swieten. »Aber wenn man Euch so reden hört … Jeder Medikus hätte das gleiche getan.«
Darauf trat er ans Spinett … »Wie weit habt Ihr also das Opus gebracht?«
›Wart,‹ dachte Mozart, ›dir will ich zeigen, wie gesund ich noch bin!‹ Und er setzte sich ans Spinett und spielte das Kyrie.
Die Nacht lag schon auf seinen Fingern, als er sie endlich von den Tasten hob. Van Swieten stand und fand keine Worte. »Das ist grausig-schön,« stammelte er endlich. »Wie aus einer anderen Welt herübergesungen. Ein bißchen wild, aber …« und er schüttelte die Hand des Meisters.
»Es hat mir's auch der Tod vorgespielt,« rief Mozart selbstvergessen.
Van Swieten horchte auf. Und nun erzählte ihm der Meister auch von seinem Traum und der rätselhaften Empfängnis des Tonstückes.
Van Swieten verlor kein Wort darüber, stand nur da und sah in das Antlitz Mozarts, der bleich und wie ein Entrückter vor sich hinsprach – wie aus einer andern Welt herüber. Als er sich aber verabschiedete, war er sichtlich bewegt, und weil ihm in der Küche gerade Frau Stanzi über die Füße lief, nahm er sie beiseite und sagte leise: »Habt acht auf Euren Mann, liebe Frau. Ich fürchte, der wird uns krank. Oder hat er in letzter Zeit sich sehr gehabt mit etwas?«
»Nicht daß ich wüßte,« stammelte Frau Stanzi betreten. »Es wär' denn seine Arbeit …«
»Die mein' ich eben,« nickte van Swieten. »Solche Dinge schafft man nur, wenn man ein schweres seelisches Trauma erlitten hat. Habt also acht auf ihn, noch einmal.«
Damit preßte er den Silberknopf seines Stockes an die schmalen Lippen, wie um zu verhindern, daß ihnen noch mehr entwische, und ging … Frau Stanzi aber stand und sann und wußte sich erst recht keinen Rat.
»Seelisches Trauma!« Sie hatte ja keine Ahnung, was es damit sei –
Der September kam, und Mozart rüstete für die Reise nach Prag. Sein Weib sollte mit und nicht bloß, um all die Herrlichkeit zu sehen, die das Böhmerland für den Krönungstag seines Königs bereithielt. Er selbst mochte nicht gerne solange allein sein. Stanzi war immer heiter aufgelegt, schon ihr Lachen eine Musik, die wohltat. Er brauchte jetzt solche Musik um sich. So wurde beschlossen, daß die Großmutter und Tante sich unterdes der Kleinen annehmen sollten. Auch die junge Mutter gab sich zuletzt. Ganz Wien sprach bereits von den »Prager Tagen«, und sie würde nicht bloß mit dabei gewesen sein: der Glanz des Ruhmes, den man wie eine zweite Krone dort für das Haupt ihres Eheliebsten bereit hielt, mußte auch sie mit einem bescheidenen Strahle streifen. Sie packte also ihr »Seidenes« mit heimlichem Stolz in den großen, schwarzen Holzkoffer, der die Partitur des »Titus« barg und ganz zu oberst den seidenen Staatsfrack mit der echten Spitzenkrause, den ihr Amadé am Dirigentenpult jenes denkwürdigen Abends tragen sollte. Die mit doppelter Kunst toupierte Perücke des Meisters aber legte sie in eine Schachtel, die ihr während der ganzen Reise nicht von der Hand kommen sollte. Wer hätte auch ansonsten daran gedacht? Sie hatte nur zwei Kinder, aber ihr unverläßlichster und unbesonnenster Junge war halt noch immer ihr Amadé! Ganz fertig war der »Titus« auch noch nicht. Wenigstens die Ouvertüre mußte sozusagen erst im Reisewagen niedergeschrieben werden. Da war es ein heikel Ding, mit dabei zu sein und doch wieder nicht mit dabei …
Als die Glocken sieben Uhr läuteten, hielt der Reisewagen vor dem Tor. In den Straßen dunkelte es schon, aber zwischen den Dächern sah der Mond herab, und die Luft ging leis und linde – so konnte es eine schöne Nacht werden, voll Sammlung und Stille. Als das Dienstmensch mit dem Kutscher den Koffer aufgeladen hatte, kamen der Meister und sein Weib herab. Voll Sorge, daß die im Koffer untergebrachten Noten auch gegen das Etwan einer bösen Wetterlaune geschützt seien, wachte Mozart mit eigenen Augen darüber, daß Pferdekotzen und Spritzleder recht sorgsam darüber gebreitet wurden. Frau Stanzi lehnte unterdessen am Schlag und sah halb verträumt, halb müde in den Abend hinein. Der Abschied von ihrem Kleinsten war ihr doch recht schwer geworden.
Plötzlich war ihr, als streife eine Hand ihr Kleid; rasch fuhr sie herum, aber auch sogleich zurück. Neben ihr stand der Mann, der die blanken Dukaten für das Requiem hingelegt, sah ihr unter einer grauen Kapuze mit seltsam starren Augen ins Gesicht, lang, blaß, hager, wie ein dunkler Schatten von dem vorüberwandelnden Mond an die Wand gezeichnet – so ganz anders, wie ihr schien, als damals.
»Um Gott,« hauchte sie mit einem raschen Blick nach ihrem Mann. Aber der stand nun ganz vorne, hielt die Pferde fest, damit der Kutscher ungestört das Gepäck sichern könne.
»Bin ich erschrocken!« stammelte sie. Es sollte eine Entschuldigung sein und war doch zugleich ein Aufatmen. Wenn nur ihr Mann den geheimnisvollen Gläubiger nicht sah; wie er nun einmal war, er konnt' es als üble Vorbedeutung nehmen, nun man gerade vor der Abreise stand – einmal wieder dem Glück entgegen!
Der Graue starrte ihr noch immer ins Antlitz. Endlich bewegten sich die schmalen Lippen, die langen, gelben Zähne bleckten auf. »Das wollt' ich nicht, Madame,« zischelte er, noch tiefer in den Schatten des Wagens tretend. »Aber daß ich endlich nach meinem Teil frag', wird Sie nicht mißverstehen.«
»Gewiß nicht,« wehrte Frau Stanzi ab – »mein Mann hat ja schon daran gearbeitet.«
»Ich weiß, ich weiß,« nickte der Unbekannte, und als ihr Blick mit dem Ausdruck des Erstaunens ihn streifte, wie er denn dies wissen könne, setzte er mit einer Art boshafter Genugtuung hinzu: »Der Introitus und das Kyrie ist vollendet. Gegenwärtig halten wir beim Dies irae. Aber« – und wieder lächelte er – »ich fürchte, er hält sich zulange auf damit.«
Wieder machte Frau Stanzi den Versuch, dem unheimlichen Gesellen ins Gesicht zu blicken, es gelang nicht. »Lieber Herr,« murmelte sie, »es war jetzt soviel zu tun. Die Krönungsoper, nun die Reise. Eine andre Oper soll auch heraus.«
»Ich wollte ja nur wieder einmal anklopfen, versteht!« kam es flüsternd zurück. »Und jetzt geh' ich wieder. Euer Mann soll nicht etwa geschreckt werden.«
»Behüte,« wollte Frau Stanzi erwidern.
»Doch – doch!« nickte der Fremde und während er die Hand ganz leise auf ihre Schulter legte, setzte er mit einem kollernden Lachen hinzu: »Er fürchtet sich vor mir, ich – weiß es!«
Damit ging er, so rasch, wie Frau Stanzi noch niemals einen Menschen um die Ecke der Schauflergasse verschwinden gesehen.
›Hab' ich das jetzt geträumt?‹ dachte sie. Da legte sich wieder eine Hand auf ihre Schulter: bleich, verstört stand ihr Gatte vor ihr. »Was hat er – von dir wollen?«
Sie hatte Mühe, einen Schauer niederzukämpfen. »Hast du ihn gesehn?« stammelte sie. »Er wollte nicht – stören, nur anfragen – wegen – wegen des Requiems.«
Langsam schlich Mozarts Blick den Weg entlang, den der Geheimnisvolle genommen. »Nur – anfragen?« wiederholte er und legte einen Augenblick die Hand vor das Antlitz. »Es ist gut,« murmelte er endlich, »steig' ein!«
Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, aus der Höhe des zweiten Stockwerkes rief ihnen eine helle Frauenstimme ein liebes Abschiedswort zu. Als sie sich noch einmal aus dem Wagen beugten und emporsahen, war es Tante Sophie, die im Fensterrahmen stand, das schlummernde Kleine im Arm.
›So schön hätt' es sein können,‹ dachte Frau Stanzi, ›und da kommt der!‹ Sie mocht' es nicht beredet haben, aber der Fremde war auch ihr zum ersten Male nicht recht geheuer erschienen. Oder hatte die Empfindung ihres Gatten auch auf sie hinüberzuwirken begonnen? Da saß er und sprach kein Wort.
›Ich werd' mich wohl hüten, zuerst davon zu reden,‹ überlegte sie, während Mozart, in die Ecke zurückgelehnt, mit gesenktem Blick vor sich hinbrütete. Als er jedoch nach einer Weile leise vor sich hinzusummen begann und dann und wann die Rechte hob, wie um den Takt auszuschlagen, empfand sie mit stiller Freude, daß er seine Gedanken nun doch wieder auf das Notwendige gelenkt. ›Der Titus hat ihn!‹ dachte sie. War er nur einmal so recht im Komponieren, gab es weiter keine beschwernisvolle Angelegenheit für ihn. Sie selbst aber hatte nichts zu tun dabei, als sich hübsch stille zu verhalten. Darauf kam man von selbst, wenn man in den herrlichen Abend hinaussah.
Die Stadt lag schon eine Weile hinter ihnen, Feld an Feld entrollte sich das offene Gelände. Über den Stoppeln lag es wie ein Glanz silberner Schleier – Bodennebel, die langsam zur Höhe stiegen. Von den Wiesen her kam der Duft des Grummets, und die lila Kelche der Herbstzeitlosen, die in dichten Reihen dem Boden entwuchsen, stachen wie blasse Flämmchen aus dem Dunkel. Ganz Nacht wurde es heut' wohl überhaupt nicht, zu rein und klar stand der Mond am Himmel. Stern um Stern trat hervor, und bald flimmerte das ganze Firmament davon, während die Ebene in einer blaßroten Linie mit dem Horizont zu verschmelzen schien, Erdleuchten! Wie ein Traum flogen Dörfer und Gehöfte vorüber. Schlanke Kirchtürme hüteten ihren Frieden. Aus den Obstgärten kam der satte Geruch der Reife, und wo an sonnigen Geländen der Wein gedieh, flackerten die Feuer der Feldhüter auf … hier – dort – fern – nahe – wie zur Erde gefallene Sternlein.
»Ist das schön!« rief Frau Stanzi unwillkürlich; zugleich aber erschrak sie und sah nach dem Gatten zurück, den sie nun doch gestört. Ihre Blicke begegneten sich, und sein Antlitz war so blaß, der Ausdruck der Melancholie, der sich wieder beschattend über die geliebten Züge gebreitet, so unverkennbar, daß sie ihm wie in ahnungsvoller Besorgnis die Hand entgegenstreckte. »Amadé – was hast du?«
Er runzelte die Stirne. »Die Ouvertüre, du weißt ja. Übrigens macht sich die Sache; ich hör' es. Und wenn du mir in der Früh' mein Notenpapier zurechtlegst, hoff' ich, noch im Wagen fertig zu werden. Jetzt aber will ich schlafen. Ich bin so müde.«
Damit wandte er sein Antlitz, schloß die Augen. ›Nun hat er mich zum erstenmal angelogen,‹ sagte sie sich, ›drum will er mir nicht ins Gesicht schauen. 's ist halt doch wieder der Graue, hol' ihn der Teufel!‹
Und nachdem sich die rechtschaffene Entrüstung der Gattin solchermaßen genug getan, faltete Frau Stanzi die Hände und betete Vaterunser um Vaterunser in die beredte Stille dieser herrlichen Nacht hinein. Gott und Schicksal – sie glaubte die beiden noch niemals so nahe gefühlt zu haben.
Kaum eine Viertelstunde saß sie so, als ihr die tiefen und raschen Atemzüge des Gatten verrieten, daß er nun doch eingeschlafen. Leise erhob sie sich, breitete einen warmen Kotzen über seine Beine und zog sachte, ganz sachte das Fenster des Wagens herauf. Nichts sollte ihn stören. Und weiterbetend nickte sie zuletzt selbst ein.
Plötzlich fuhr sie auf. Ein wilder, schriller Ruf hatte sie geweckt. »Was ist?« schrie sie zurück, sprang empor … der Mond schien nun gerade ins Fenster herein, und in seinem Licht sah sie den Gatten. Todbleich stand er da, den Arm wie zur Abwehr von sich gestreckt, am ganzen Körper bebend, aber mit geschlossenen Augen.
»Amadé – was hast du?« flehte sie. Er schien sie nicht zu hören – nicht zu sehen, wehrte nur immer heftiger ab. »Fort – fort … berühr' mich nicht. Ich weiß, wer du bist …« Und während sich die angstgespannten Züge allmählich zu einem gräßlichen Lächeln geheimnisvollen Mitwissens verzerrten, keuchte er heiser und tonlos: »Dein Requiem wird – auf dem Friedhof gesungen …«
»Aber Amadé, erwach' doch,« schluchzte Frau Stanzi. »Und schau, wer bei dir ist und wo wir sind!«
Langsam, wie automatisch hoben sich seine Lider, sein Blick ging über sie, schien sie zu erkennen, begann aber, wie von einem neuen Schreckensbild gefesselt, sofort wieder zu erstarren. »Wo wir sind … wo wir sind?« stammelte er ihre Worte nach. Und plötzlich, wie zusammenschauernd: »Das ist doch ein – Friedhof!«
Wie mit magischer Gewalt zog sein Blick den ihren nach. Fast hätte sie nun aufgeschrien: Kreuz an Kreuz sah jenseits der Straße über eine niedere Kirchhofsmauer – mitten drin auf hochragendem Kreuze der bleiche Leib des Heilandes. Hell und blau stand der Mond über dem stillen Garten des Todes. Und Mozart, den Blick unentwegt hinübergerichtet, murmelte dumpf: »Diesen Friedhof hab' ich schon gesehen.«
»Aber Amadé,« sie versuchte zu lachen – »wo denn – wie denn?«
»In – einem Traum!« gab er kurz zurück, worauf er sich, wie fröstelnd, noch tiefer in die Decke hüllte und kein Wort mehr sprach. Schlief er wieder oder war er überhaupt nicht erwacht? Sie konnte es nicht sehen, hütete sich aber wohl, ihn auch nur durch eine Bewegung zu stören. Und weil er nun doch ganz ruhig blieb, schlief sie nach einer geraumen Weile wieder ein und schlief, bis sein lauter Morgengruß sie weckte.
»Mir scheint, du hast dich auf mein Notenpapier gesetzt!« scherzte er. Sie starrte ihn an. War er das wirklich selbst, oder hatte ihr geträumt von dem allen? Das Auspacken des Papiers, das sie unter sein Toupet gelegt, gab ihr Zeit, sich zu fassen, so daß sie ihm wieder ins Gesicht sehen konnte, heiter und arglos, als wäre nichts geschehen. Wie er ihr aber, so gemacht heiter, gleich darauf unter das Kinn griff, wußte sie plötzlich, was sie von dem allen zu halten hatte. Er mußte – und dies schon eine geraume Weile – ein zweites Leben führen. In einer Welt, von der sie nichts ahnte, als daß sie vielleicht der Abgrund war, den Gott knapp neben das Reich des Lichtes hingesetzt, aus dem ihm seine unsterblichen Melodien erklangen. Und wie in banger Muttersorge fühlte sie, daß sie nun doppelt achthaben müsse auf ihn und doch mit keinem Wort ihn aufschrecken dürfe.
Er aber schrieb und schrieb, nickte ihr zuweilen zu oder lächelte sie über die Noten hinweg an. »Sie wird, die Ouvertüre, sie wird …« Mit keinem Worte sprach er von der Nacht und seinem Traum. So verging der Tag. Frühstück und Mittagsmahl nahmen sie auf den Stationen, wo der Kutscher die Pferde wechselte, und mit Freude gewahrte Frau Stanzi, daß sich's ihr Amadé wenigstens gut schmecken ließ. Nur die Scherze, die er von Zeit zu Zeit versuchte, kamen ihm nicht recht vom Herzen, das sah man. Freilich, er hatte eine Ausrede, den »Titus«. Und sie fand es gut, einstweilen zu tun, als glaubte sie daran.
Langsam ging die Sonne unter. In ihrem letzten Glanz leuchteten die Türme Prags auf. Doch ward es fast Nacht, bis das Pflaster der ehrwürdigen Stadt unter den Hufen der Pferde erdröhnte. Weshalb Frau Stanzi Sorge tragen wollte, daß der Meister nach trefflicher Atzung so rasch als möglich Ruhe fand. Sie wußte, daß die Tage, die nun kamen, gleich einer geistigen Schlacht zu erachten waren. Mit den Plackereien der Proben und dem Ärger über die Primadonnen, deren zwei man bis aus Italien verschrieben hatte. Wann hätt' es ein deutscher Meister denen jemals recht gemacht? Und die Gegenwart so vieler welscher Musici ließ das übrige ahnen. Wie eine Einkreisung war es. Der Haß, der sich angesichts der ehrenvollen Berufung Mozarts nicht laut hervorwagte, würde heimlich um so giftigere Waffen brauchen. Schon während des Abendessens wurde es dem armen Weib ganz weh ums Herz. Da lagen Briefe, Noten, Probenzettel – ein ganzer Stoß! Und für all diesen Wust sollte ihr Amadé bis zum Morgen die richtige Erledigung finden – eine Antwort bereit haben! Kaum wußte der Speisenträger des »Neuwirtshauses«, wohin er Trank und Atzung setzen solle, soviel Papier beschwerte den Tisch. Und die müden Augen Mozarts gingen wie hilflos darüber hin. Sahen Ruhm und Freude so aus? Frau Stanzi hatte sich's anders vorgestellt.
Sein Käppchen in der Hand, trat zuletzt auch der Wirt an den Tisch der beiden. Er wußte, daß es illustre Gäste waren, und wollte für sein Teil womöglich noch abends erkunden, was man in Prag erst am andern Morgen erfahren würde. Der und der – er nannte die Namen – wäre auch schon dagewesen, um sich zu erkundigen, wann der Meister ankäme, und knapp neben ihm hätte die Signora Marchetti-Fantozzi ihre Zimmer. »Reist mit einem Amant,« zischelte der Wirt hinter dem Käppchen hervor und lächelte dazu – halb belustigt, halb malitiös. Auch Mozart lachte, horchte aber plötzlich auf und fragte, wer denn nebenan so wunderschön die Harfe schlüge?
»Ach ja,« entgegnete der Wirt, sichtlich herablassend, »das ist der alte Joseph, unser Hausharfenist. Kommt jeden Abend und spielt ein paar Stückerl, wenn's den Herrschaften paßt.«
»Nun, mein Lieber,« nickte Mozart, »dann lass' Er sich sagen, daß der Mann in seiner Art ein Meister ist.«
»Wenn Euer Gnaden ihn vielleicht zu sprechen wünschen?« fragte der Herbergsvater, sichtlich verdutzt.
»Heut bin ich wohl sehr müde,« meinte Mozart. »Aber entgeh'n lass' ich mir das nicht. Wie sieht er denn aus?«
Ohne ein Wort zu verlieren, trat der Wirt zur Tür des Nebengemaches, die er für einen Augenblick weit öffnete, so daß Mozart und seine Frau den Blick frei hatten. Es war rasch und leise geschehen – so leise, daß der Spielende, von der Fülle der eigenen Töne umklungen, es nicht gehört haben konnte. Doch fügte es ein seltsamer Zufall, daß er in demselben Augenblick nach der Tür sah und sein Blick mit dem des lauschend vorgeneigten Meisters sich kreuzte. Kaum einer Sekunde Dauer hatte dies gewährt, denn der Wirt schloß sofort wieder die Türe. Aber Mozart war überrascht und tief betroffen emporgeschnellt. »Hast du diese Augen gesehen?« flüsterte er seinem Weib zu.
»Nun ja,« meinte Frau Stanzi arglos, »ein alter Mann.«
»Die Herren Maler, die bei mir speisen, sagen immer, er hätt' einen Gottvaterkopf,« sprach der Wirt, aufs neue hinzutretend. »Aber neulich hat ihn einer als Tod gemalt – uralt, der lange, weiße Bart wie im Wind wehend, Sense und Stundenglas in der Hand. Ganz ist er's nicht – auf dem Bild, mein' ich. Aber doch hat er seltsam dazu gepaßt. Freilich, wenn er so in seinem böhmischen G'wand steckt, merkt man nicht, wie dürr der arme Kerl ist. Meine Frau gibt ihm, was sie kann,« fügte er rasch bei. »Aber weiß der Teufel, wo er's hin ißt. Gute Nacht den Herrschaften!« damit verbeugte er sich rasch, denn der Meister schritt, ohne weiter ein Wort zu reden, an ihm vorbei, und sein Aufbruch geschah so plötzlich und hastig, daß selbst Frau Stanzi ganz verwundert emporsah, im übrigen aber froh, daß sie nicht erst dazu mahnen mußte. Müde wie sie war, schlief sie bald ein, in der Gewißheit, daß es ihrem lieben Amadé, nach all der Arbeit im Reisewagen, nicht anders ergehen könne, notabene in solch einem guten, kommoden Bett, wie sie der Neuwirt hatte.
Und nun kam und ging Tag um Tag, einer wie der andere. Jeder ausgefüllt mit den Proben, dem Nachkomponieren und jener, fast unerträglichen Fülle freudiger oder ärgerlicher Erregungen, die nun einmal vom Theater unzertrennlich sind. Scheinbar erfrischt durch einen, wenn auch nicht allzu langen Schlummer, ging Mozart täglich ans Werk und kam immer bleicher, immer gereizter und abgespannter zurück. Die beiden Primadonnen waren mit ihren Arien nicht zufrieden. Mehr Glanz und Bravour wollte jede, obwohl eine der beiden den Vitellius darstellte, also eine sogenannte Hosenrolle hatte. Vergeblich bemühte er sich, ihr klar zu machen, daß ein alter Römer, selbst als Liebhaber, nie ein zuckriger Amant gewesen sein könne, daß es seine künstlerische Meinung sei, die Musik müsse dem Charakter entsprechen, der sie trug. Sie wollte ihre Rouladen und Koloraturmätzchen! Im Hintergrund einer Loge saß täglich Salieri – im Auftrag der Kaiserin, wie man behauptete – und machte seine giftigen Witze, kam aber nach jeder Probe devotest hervor, um den » illustrissimo maëstro« zu beglückwünschen. Wie ein Natterngezischel lief es über die Bühne, so oft Mozart am Dirigentenpult erschien. Und die Marchetti-Fantozzi fragte ihn eines Tages unter dem Gelächter der übrigen, ob er wirklich allen Ernstes daran gedacht, den Text Metastasios zu »verbessern«? Bloß weil er einige ebenso undramatische wie sentimentale Stellen daraus getilgt. Er biß die Zähne zusammen, schwieg, griff nach seinem Taktstock, und da freilich hörte jeder Widerstand auf. Wie Orpheus bändigte er ihr unschönes Wesen; zwang sie in den Dienst seiner Töne, wenigstens eine Stunde lang, nötigte sie vor allem, weniger »brillant« als richtig zu singen, mehr auf reine Intonation als auf das » portamento« zu achten. War die Probe zu Ende, wußte er freilich sehr wohl, wer mit dem ewigen » buffone« gemeint war, über den die gewiegten Komödianten scheinbar so herzhaft lachen mußten. Und zuletzt kam wieder Salieri hervor und mit ihm ein paar andere » maëstri«, von denen die Welt noch nichts wußte oder – nichts wissen wollte und brachten ihr » Pro« und » Contra« für.
»Wenn nur die Prager zufrieden sind,« schnappte ihn Mozart einmal ab.
In den Augen des Welschen glinserte es. »Doch vor allem – die Majestäten?« fragte er und katzbuckelte dabei.
»Gewiß,« entgegnete Mozart ruhig. »Aber meine Prager haben mich immer zuerst verstanden.«
Salieri biß sich in die Lippen und lächelte.
So kam der Tag der Aufführung heran.
Die Prager selbst, soweit sie musikverständig waren und Freunde Mozarts, hatten das Nachsehen. Wer sich nicht mit einer vom Obersthofmeister gezeichneten Einladung ausweisen konnte, mußte draußen bleiben und sich's an der festlichen Auffahrt genügen lassen, dem Anblick der mit Seide und Purpur ausgeschlagenen Prunkkarossen, der Läufer, die schlank und elegant vor den Wagen einhergingen, die brennenden Fackeln in hocherhobener Hand, dem Diamantengefunkel all der Diademe und Parüren, die wie Sterne durch die klare Nacht blitzten.
Frau Stanzi war nicht müde geworden, an ihrem Amadé herumzuputzen. Eine Weile hatte er auch fein stille gehalten, aber plötzlich fast unwillig kehrtgemacht. »Du tust ja, als wenn ich eine Leich' wär'!«
Wie gelähmt fielen ihr die Hände herunter … »Amadé!«
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Na, ist schon gut. Aber … der ›Titus‹ kann ja auch nicht gefallen!«
»Haben dich die Welschen so heruntergebracht?«
»Das sein Windhund',« meinte er bitter, »die haben immer die richtige Witterung. Und die Kaiserin mag mich einmal nit.«
»Wer weiß, was ihr der Salieri sonst noch eingeblasen!«
»Weißt du, daß der heut' schon einmal da war?« erinnerte sich Frau Stanzi. »Ich wollt' es dir schon zu Mittag sagen, hab' dann nimmer dran denkt.«
»Bei – dir?« staunte Mozart.
»Nein, in der Gaststuben. Da ist er mit dem Harfenisten beisammeng'sessen und hat sich was vorspiel'n lassen.«
»Ich hab' ihm von dem Alten erzählt,« erwiderte Mozart. »Aber daß er grad den heutigen Tag gewählt hat …?«
»Mit seiner Gicht hat er nit überall dabei sein können.«
Mozart starrte, wie grübelnd, eine Weile ins Licht. Plötzlich huschte ein Schimmer der alten Fröhlichkeit über sein Antlitz. »Weißt was, Stanzi? Wart' auf mich. Und wenn der Abend gut wird, lassen wir uns auch was vorspielen. Warum auch nit?« sprach er leiser und wie für sich selbst … »Wenn es der Salieri tut …«
Unten fuhr ein Wagen vor. Es war die Hofkutsche, die den Maëstro zum Theater bringen sollte, als Gast des Kaisers. Steif und hochtoupiert saß der Kutscher auf dem Bock. Der schwarzseidene »Zweimaster« und die langherabfallenden, bis unten »ausfrisierten« Schweife der Hofschimmel brachten die ganze Gasse auf die Beine.
»Glück darf man nit wünschen,« lachte Frau Stanzi, als sie ihrem Amadé den Hut reichte, »aber –« und sie gab ihm einen Kuß, der warm war und weich wie der einer Mutter.
»Also ich werd' auf Euer Liebden warten!« scherzte sie. Er nickte ihr noch einmal zu und ging.
Während die Kutsche in friedlichem Trab mit ihm dahinrollte, übersann er noch einmal die Ereignisse der letzten Woche. So ›recht z'wider war all's g'west‹, wie seine Wiener daheim zu sagen pflegten. Ganz seltsam aber berührte es ihn selbst plötzlich, daß unter all diesen Z'widrigkeiten, den täglichen Anblick der Welschen nicht ausgeschlossen, ihm die stete Nähe des alten Harfenisten eigentlich am ›z'widersten‹ gewesen … ›Den dürft' mir der Lange, Graue nachg'schickt hab'n!‹ hatte er Tag für Tag bei sich gedacht und dabei keinen leichten Kampf gekämpft, denn die Kunst des Alten zog ihn Tag für Tag mehr in seinen Bann. Wie eine Sehnsucht überkam es sein Musikantenherz zuweilen, dieses Spiel so recht aus der Nähe zu genießen. Einige Male – wenn Frau Stanzi gerade nicht gegenwärtig – hatte er sogar eigenhändig die Türe nach der großen »Gaststub'n« geöffnet, wie damals der Wirt, schon das Wort auf den Lippen, das den Alten an seinen Tisch laden sollte. Aber es war immer unausgesprochen geblieben, dieses Wort. Vielleicht bloß deshalb, weil es der Zufall immer wieder fügte, daß der Alte mit den eingesunkenen Augen sofort nach ihm sah, wie beim erstenmal. Und er konnte sich nicht helfen, vor diesen Augen graute ihm – dunkel, glanzlos und tief, wie sie waren.
Wie er aber nun so dahinfuhr – von kaiserlichen Pferden gezogen, einer großen Stunde seines Lebens entgegen, nicht der Letzte unter denen, die heut' einen Namen voll Glanz in das Fest hineintrugen, bäumte sich plötzlich all sein Mannesstolz wider die Angst der eigenen Seele auf. Und während er mit beiden Fäusten zugleich auf die seidenen Polster der Kutsche lostrommelte, rief er in einem Anfall seines alten, knabenhaften Übermutes: »Heut' g'schieht's – justament, justament! Was der Salieri kann, trifft a Deutscher auch am End!« Und er beugte sich zurück und lachte. Somit stand es für ihn fest, daß er den alten Harfner heute an seinen Tisch laden würde.
Unterdes machte sich Frau Stanzi ans Warten. Etwas über zwei Stunden würde es währen, hatte Mozart gesagt. Bis er zurückkam, konnten es ihrer drei werden. Denn gewiß würden ihn die Majestäten vor sich befehlen, um ihm irgend etwas Huldvolles zu sagen. Das nahm er an. Deshalb blieb Frau Stanzi einstweilen auf ihrem Zimmer und sah halb ungeduldig, halb entzückt in den Abend hinaus.
Dabei mußt' es ihr natürlich auch zu Sinn kommen, wie oft sie schon so auf ihren Amadé gewartet. Die Aufführung des »Figaro« fiel ihr ein und des »Don Juan« … Werke, an die Mozart allen Glanz seines Könnens, die ganze Inbrunst seiner Seele verschwendet, den vollen, strengen Ernst seines Wollens. Und was war der schnöden Welt Lohn gewesen? Sie durfte nicht daran denken, sollte ihr nicht bang und bitter zumute werden – ihr allein, in all dem Jubel!
Um nicht ganz traurig zu werden, was sie als ein übel Zeichen gedeutet hätte, schloß sie das Fenster und ging in die Gaststube hinunter, um für ihren Amadé ein kleines Festmahl rüsten zu lassen. Seine Lieblingssuppe sollte er haben, ein gebraten Huhn mit etwas Süßem dazu … etwa die eingemachten Ringlotten, die sie in der Speisekammer der Neuwirtin gesehen. Das aß er gern, ihr Amadé, wie gerne! Gerade nur, daß man es so selten hatte dazu. Und ganz allein wollten sie sein in der Stub'n, richtig! Das bedang sie sich noch extra aus.
In dem Saal nebenan ging es hoch her. Die Prager ließen ihren König leben. Auch der Harfenist ließ sich wieder hören, und wie Frau Stanzi so allein dasaß – beklommen und doch wieder einer eigenartigen Erwartung voll, kam ihr vor, als mache sie dies Spiel noch trauriger und grübelsüchtiger. Es waren auch ganz eigene Weisen, die er spielte – selbst in ihrem Jubel eine leis' mitzitternde Wehmut … ›Als wenn er auf meinem eigenen Herzen spiel'n tät!‹ dachte sie.
Aber die Zeit verstrich ihr dabei, und als das elegante Getrab der Hofkarosse vor dem Hause endlich wieder hörbar ward, schrak sie wie aus einem Traum empor und strich sich jäh über die Stirne. Was würde nun zu jener Tür hereinkommen, zugleich mit ihrem Amadé … die Freude, oder –? Sie blieb stehen, die Hand am Herzen, dessen Gepoch sie bis zum Hals empor spürte.
Ein müder, fast schleppender Schritt … Ein paar Worte, wie von einem Fremden gesprochen und doch die Stimme ihres Amadé! ›Er hat wieder verspielt!‹ dachte sie. Die Türe ging auf. Er sah sie bloß an …
»Amadé?« stammelte sie.
Sein Blick glitt über den festlich gerüsteten Tisch, den sie selbst mit Astern und Rosen geschmückt – streifte die lockenden Gerichte, die der Kellner mit wichtiger Miene eben herbeitrug. Sein Mund zuckte … »Das hab' ich mir nit verdient!« sprach er leise.
Sie starrte ihn an, wie ungewiß.
»Das Essen mein' ich,« lächelte er bitter. »So ein durchg'fallener Musikant!«
Sie wartete, bis der Speisenträger sich entfernt hatte. Kein Fremder sollte ahnen, wie schwer ihnen diese Stunde war. Beide Hände legte sie auf seine Schultern, sah ihm tief in die großen, traurigen Kinderaugen. »Ist dir so weh g'scheh'n, Amadé?«
»Der Salieri ist in die Hofloge befohlen worden …«
»Und die – die anderen?« stammelte Frau Stanzi.
»Haben sich – gelangweilt bei meiner Musik!«
»Das bild'st dir ein. Und wenn, heut' waren lauter müde oder hochmütige Leut' drin. Wart erst den morgigen Tag ab. Da gehen deine Prager hinein. Hast du Hunger –?«
»Wie ein arm's Vieh!« sagte er.
»Dann komm!« Mit einer schier mütterlichen Sorge zwang sie ihn auf den Stuhl nieder, rückte ihm den Suppenteller zur Hand. »Red' jetzt nix – denk' an nix, als daß 's aus is und du wieder dir g'hörst.«
»Jawohl,« nickte er. »'s ist wieder einmal aus.«
»Gott … weg'n den neidigen Katzlmachern! Laß ihnen die Freud' …«
Er sprach kein Wort, aß Löffel um Löffel seine Suppe, müde, stumm, wie ein armes, zu Tode beschämtes Kind. Wie nah ihm die Tränen sein mochten – sie ahnte es. Drum hob sie keinen Blick von dem eigenen Teller. Aber die Tränen, die er nicht weinte, brannten ihr auf dem Herzen und füllten die Seele des einfachen Weibes mit einem Weh, das sie die ganze Tragödie des Genies mitempfinden ließ.
Mit bebender Hand griff sie nach einem Kelchglas, goß es voll, bis an den Rand. »Die Zauberflöte« – sagte sie …
»Justament!« Seine Hand zitterte, als er mit ihr anstieß, aber sein Blick lag so tief und dankbar in dem ihren, daß sie fühlte: Ihm wird wieder wohl! Was tat es denn auch und wie lange noch konnt' es so weitergehen? Über jedes Kreuz kam zuletzt die Glorie her.
»Du wirst recht müde sein?« fragte er nach einer Weile.
»Wollen wir hinaufgehen?«
»Geh du derweil,« nickte er. »Ich hab' mit dem Neuwirt noch zu rechnen. Morgen fahren wir fort.«
Einen Augenblick war ihr, sie dürfe und dürfe ihn nicht allein lassen. Warum – wußte sie selbst nicht. Aber plötzlich besann sie sich eines anderen. Wenn sie ging, kam er nicht darauf, den alten Harfenisten heranzubitten, wie er ihr versprochen. ›Das traurige G'spiel wär' heut' nix für ihn,‹ dachte sie und ging, rasch, fast ängstlich. –
Als sie draußen war, legte er die Hand an die Glocke, wollte schellen, um sich die Rechnung geben zu lassen, wie er es versprochen. Aber plötzlich fiel sein Arm herab – seine Augen öffneten sich weit, sahen starr und wie gebannt nach einer Stelle … Es war die kaiserliche Loge, die er wieder vor sich sah und darin seinen Feind, den schlangenglatten, ewig lächelnden Salieri.
Auch dort war ihm der Arm so herabgeglitten, wie jetzt. Der Arm, der so unermüdlich den Taktstock geschwungen, so siegesfroh während der Fahrt nach dem Theater auf die seidenen Polster der Hofkarosse losgetrommelt. ›Heute g'schieht's – justament – justament. Was der Salieri kann – trifft a Deutscher auch am End'!‹
Er legte die Hand vor die Augen. Wie war es denn – was wollte er denn?
Hinter ihm öffnete sich eine Türe. Leise, ganz leise streifte ein kühler Luftzug seine brennende Stirne. Hatte er am Ende doch geschellt und wußte es nicht mehr? Als er herumfuhr, stand der alte Musikant vor ihm.
»Der gnädige Herr wird entschuldigen,« bat er in gutem Deutsch. »Aber drinnen war es schon so heiß. Und die Leute sind betrunken. Da wollt' ich hier hinaus …«
Die Harfe hing ihm über der Schulter, schier hinfällig krümmte er sich unter ihrer Last. ›Wo hab' ich nur meine Augen gehabt,‹ dachte Mozart erstaunt, – ›daß mir der nicht geheuer erschien?‹ War es die Erzählung des Wirtes oder seine eigene Phantasie, die ihm diesen Streich gespielt? Wie der Alte da vor ihm stand, war er ein böhmischer Musikant, wie so viele andere. Der Blick seiner erloschenen Augen ging nach dem Tisch. Dort stand noch Wein. Die Bettelneige! Mozart begriff. Und weil er sich selbst plötzlich wie ein armer, abgespielter Musikant vorkam, stieg ihm ein wehes Mitleid an die Seele.
»Komm Er, komm Er,« sagte er, »da ist noch etwas Wein. Und ein Bratenrest –«
Der Alte kaute an den Lippen, sah vor und hinter sich, dann wieder nach dem Glas.
»Er kann mir ja etwas vorspielen,« meinte Mozart gütig. Er begriff nicht, weshalb der Blick des Alten ihm plötzlich auswich. Doch die knochigen Finger griffen nach dem Harfenstrang; mit einem festen Ruck setzte er das Instrument auf die Dielen. Über die Saiten glitt es wie der Hauch eines Tones. Windgestöhn und fernher schwebende Klagelaute mischten sich darin, und ein leises, drohendes Murren. ›Wie wunderlich!‹ dachte Mozart, dessen Ohr selbst jedem Ton wie ein feinstes Instrument antwortete. ›Der gebrochene Septimakkord, so ganz pianissimo … der könnt' ein Motiv werden.‹
Mit eigener Hand rückte er einen Stuhl für den Alten zurecht. Der neigte das Haupt über die Harfe, strich mit der Linken die langen Silberfäden des Bartes zurück. Etwas Seltsames war in seinem Blick, und nun erst merkte Mozart, wie nah die Augen des Alten an die lange Hakennase traten. ›'s ist doch ein unheimlicher Kerl,‹ dachte er wieder. ›Das Profil eines Raubvogels. Na, wird mich nit derstößen!‹ beruhigte er sich in gutem Wienerisch.
»Ich hab' heut schon soviel tolles Zeug durcheinander gespielt,« begann der Musikant. »Tolles und dummes Zeug, und der Herr ist ein Meister, wie man mir sagte. Da möcht' ich mich gern ein bißchen zeigen. Unsere Lieder sind schön?«
Sein Ton stieg wie zu einer Frage an. Mozart lehnte sich zurück, nickte ihm zu. Schon spielte er – spielte und sang dazu.
»Sie treten mich mit Füßen,
Und ich zieh' sie doch hinab –
Mit Blumen muß ich sie grüßen,
Und fang' mir sie doch ins Grab.
Über mich hin geht ihr Reigen,
Das tolle und laute Fest –
Ich lad' sie zum ewigen Schweigen,
Eiapopeia – die lustigen Gäst'!
Die Erde, die stumme, alte,
Die sie sehen und doch nie
sehn –
Sie fühlen nicht, daß ich sie halte,
Soweit ihre Füße gehn …«
Er griff noch einen letzten Akkord, sah empor …
»Das ist ein merkwürdiges Lied!« sagte Mozart leise. »Da, nehmt!« Er füllte ihm ein Glas, reichte es über den Tisch hinüber.
»Nur wenn Ihr mir Bescheid tut, Herr!« entgegnete der Alte unterwürfig. Mit einem leichten Nicken trank Mozart ihm zu. »Ein merkwürdiges Lied,« wiederholte er, wie gebannt von dem Gehörten. »Und noch mehr darin, als man gleich herausfühlt. Das geht einem dann nach.«
»Ja,« sprach der Alte. »So sind alle unsere Volkslieder. Blumen aus der Erde. Aber« – und seine Stimme wurde plötzlich zu einem geheimnisvollen Geraun – »was dieses eine betrifft … gerade dieses eine. Das ist nicht bloß traurig – da ist noch etwas drin –«
»Hohn!« erwiderte Mozart leise. »Hohn und eine Bosheit, die heimlich frohlockt!«
»Dieses ›halte‹, nicht wahr?« fragte der Alte. Hatte er dabei aufgelacht oder plötzlich und wie von ungefähr einen Akkord gegriffen? Mozart wurde sich nicht recht klar darüber, aber mit einemmal war ihm, als dürfe er nun dem Alten nicht ins Antlitz schauen, um Gottes willen nicht! Sollten sich ihre Blicke nicht Dinge erzählen, vor denen ihm graute.
Leise, ganz leise tönte die Harfe weiter …
»Hohn und Bosheit, ganz richtig,« kam es über den Tisch herüber. »Und darum hab' ich auch mein ganzes Leben lang soviel nachgedacht über dies Lied! Denn was schlingt die Erde nicht alles hinab – wie? Was und wen! Arm und reich und Lieb und Haß und Alter und Jugend und Weise und Narren. Hätt' die Erde nun eine Stimme – was könnte sie sonst tun? Lachen müßt' sie! Höhnisch und boshaft lachen. Das hat der gehört, der dies Lied gemacht hat. Alle müssen sich vertragen da unten, und wenn unser Herrgott nicht recht feine Ohren hat –«
Er lachte, schob sein Glas wie ungefähr an das Mozarts heran. »Und wißt Ihr, was noch in der Erde ist?«
»Nun?« Es kam leise zurück, leise, fast gehaucht. Er hatte nicht fragen wollen, um Gottes willen nicht. Aber etwas saß in ihm, das stärker war.
»Der Tod!« zischelte der Alte. »Der leibhaftige Tod. So wahr der Herr und ich leben!«
Mozart versuchte zu lächeln. »Ach, geht!«
»Der Herr glaubt mir nicht? So will ich dem Herrn etwas erzählen. Da hab' ich einmal zu einer Hochzeit aufgespielt – bei einem Bauer war's, da um Strakonitz herum. Die Tafel war im Freien gedeckt. Die Braut selbst half bedienen. Wie sie den Leuten so vorschnitt, ritzt sie sich die Fingerchen … Wie ein Spaß war's, kaum ein Tropfen Blut kam heraus. Sie lacht bloß und greift nach einer Erdbeere, die zwischen den anderen Früchten lag – rot, groß, ungewaschen, wie es bei den Bauern eben ist. Gerad nur ein Stäubchen Erde hing an der Beere. Was geschieht? Nach zwei Stunden liegt das Bräutchen im Starrkrampf. Und zwei Tage später hab' ich in der Kirche für sie aufgespielt. Zum letzten Tanz, Herr! In dem kleinen Stäubchen Erde, das sie mit dem wunden Finger berührte, saß der Tod. Der ganze, kalte Tod, Herr!«
»Unsinn!« Mozart lachte geärgert.
»Doch, doch!« flüsterte der Alte. »Und ist es anders möglich? Nichts als Leichen gibt man ihr hinab und immer und immer wieder Leichen. Daher hat sie dieses Gift in sich – das die Menschen starr macht und niederwerfen kann, bei lebendigem Leibe! Das muß man gesehen haben, Herr!«
»Trink!« sagte Mozart rauh.
»Nur wenn auch der Herr …« Dem Meister schien, als züngle ein Blick frohlockenden Hohns in den toten Augen des Alten auf – das reizte ihn.
»O –« Er lachte. »Nun soll mir der Wein erst recht schmecken.«
Er zog die Flasche heran, sie war leer.
»Wirt!«
Es tat ihm förmlich wohl, sich selbst zu fühlen. So eilte er nach der Tür des Nebenzimmers, in dem er den Herbergsvater wußte. »Eine frische Flasche, Wirt!«
Als er zurückkehrte, war das Glas des Musikanten fast geleert, und wie die beiden Gläser nun aneinander standen, hätte er nicht mehr sagen können, welches eigentlich das seine war.
Der Wirt trat ein, entkorkte die neue Flasche, goß die Gläser bis an den Rand voll, ohne zu beachten, daß sich in jedem noch ein kleines Neiglein befand. ›Welches war nun das meine?‹ dachte Mozart. Da griff der Alte nach dem einen, er würde sich's ja wohl gemerkt haben! Mit einem freundlichen Nicken trank Mozart ihm zu – trank sein Glas aus, bis auf die Neige. »Die Musik!« Er lächelte dabei. Und der Alte, die dunklen Augen fest und starr auf ihn gerichtet, lächelte wieder: »Die Musik!«
Zugleich erhob er sich, zog wie in plötzlicher Beflissenheit wieder sein Instrument hervor. »Wenn der Herr es wünscht … ich spiel' auch etwas Lustiges auf.«
»Glaub' Er nur ja nicht, daß Er mir die Laune verdorben!« lachte Mozart souverän. »Im Gegenteil. Wenn Er noch etwas dergleichen hat in Seinem Repertoire – so zwei landfahrende Musikanten wie wir, die lachen dem Freund Hein geradeswegs ins Gesicht, gelt? Was könnt' er einem denn auch nehmen, wo einem das Leben ohnedies nichts gelassen?«
So scherzte er, wunderte sich aber baß, wie groß er tat und so ganz anders, als ihm eigentlich zumute war. Mit einemmal mußt' er auch warum. Der Salieri war bei dem Alten gewesen, kam morgen vielleicht wieder, wenn er schon unterwegs nach Wien war. Die Freud' sollt' er nicht haben, von dem Böhmaken zu hören, der Mozart sei traurig und kleinmütig gewesen!
Der Alte griff einen Akkord, hob noch einmal das Haupt, sah ihn wie prüfend an und dann an ihm vorüber. ›Alter Walzenbruder,‹ dachte Mozart, ›mich kennst du nicht aus!‹ Und wieder lächelte er und füllte sein Glas.
Da kam ein Akkord …
Eigentlich war es eine Disharmonie. »Das tut einem ja bis in den Magen hinunter weh!« scherzte Mozart halblaut. Oder …? Einen flüchtigen Moment lang hatte er in der Tat die Empfindung eines leisen, körperlichen Unbehagens gehabt. So ein Zusammenkrampfen der Eingeweide, ein jäh hervorbrechender, leichter Schweiß. Doch es ging vorüber, und schon hörte er wieder nur mehr das Spiel und den Gesang des wunderlichen Landstreichers.
Was zitterst du so, meine Seele,
Du Vöglein, nackt und klein?
»Eine große, große Hand hält mich feste –
Mit Fingern, kalt wie Stein.«
Warum fliegst du nicht in die Sonne,
Mein Vöglein, bang und bloß?
»Ich tät es so gern, ach so gerne,
Doch die Finger lassen nicht los!«
Du siehst doch vom Morgen zum Abend,
So fröhlich und blühend die Welt –
»Ich seh' sie und kann mich nicht freuen,
Weil der Tod so feste mich hält!«
Ein leises Nachspiel folgte, zuletzt wieder jener Akkord. Brutal, schrill, wie ein derbes, würgendes Zugreifen.
Mozart sprang auf. »Mir ist der Atem ausgeblieben. Das ist von der vielen Plag' heute. Sonst« – er machte einen letzten Versuch, zu lächeln … »Ihnen könnt' ich bis in den Morgen hinein zuhören!«
»Euer Wohl, Herr!« Der Alte dienerte unterwürfig. Als Mozart sich, schon in der Türe, noch einmal nach ihm wandte, stand er, an seine Harfe gelehnt, das Glas in der Hand …
»Hast du mit dem Neuwirt soviel zu rechnen gehabt?« fragte Frau Stanzi, als er gegen Mitternacht hinaufkam.
»Mir war nicht recht wohl,« wich er aus. »Da hab' ich ein Flascherl mehr getrunken!«
»Aber jetzt?« forschte sie besorgt.
Er kam ins Licht, und sie merkte, daß in seinen Augen ein ganz eigener Glanz war. Ein fast unheimliches Feuer. Die Pupille weit, groß, starr …
»Jetzt bitt' ich dich, recht brav und still zu sein,« bat er. »Ich will noch etwas an dem – dem Requiem machen!«
»Jetzt? Wo wir in aller Früh fortsollen und du nicht eine Stunde Ruh' dir gegunnt hast, die ganze lange Zeit?«
»Ich tu', was ich muß!« kam es kurz zurück. »Sag' du einem Motiv, es soll einschlafen, wenn mir die Ohren davon klingen.«
Basta. Sie kannte seine Art. Und müde, wie sie war, schlief sie ein und ließ ihn gewähren.
Als sie frühmorgens, zur Abreise bereit, in den Wagen stiegen, hielt ihr Mozart die rechte Hand entgegen. »Schau, was ich da hab'!«
»Mein Gott,« schrie sie auf, »die ist ja hoch ang'schwoll'n. Hast du dir wehtan?«
»Kann sein – im Schlaf,« meinte er. »Aber weh tut's nit.«
Und wie er, schon im Wagen, so auf die eigene Hand niedersah, kam es ihm selbst ganz wunderlich für, woher ihm das wohl so plötzlich angeflogen? Nachdem dieselbe Hand doch bis spät nach Mitternacht fein und zierlich die Noten und Stimmen zu Papier gebracht, in denen das Weltgericht über die Erde niederging.
Als Mozart in Wien eintraf, wichen ihm Freunde und Schüler eine Weile aus. Traf er aber den oder jenen zufällig auf der Straße, so sagten ihm verlegene Mienen und eine Art verstörter Rücksicht, wie rasch und trefflich seine Feinde es verstanden, den halben Erfolg in Prag in eine ganze Niederlage umzudichten. Und sie hatten guten Grund, sich zu beeilen. Denn je weniger vornehm die Leute waren, die jetzt in Prag den »Titus« hörten, desto mehr wuchs das Verständnis für die wahrhaft vornehme Art des Werkes.
Wie aber die Tage kamen und gingen und jeder mehr Arbeit brachte – denn Schikaneder drängte, nun endlich die »Zauberflöte« herauszubringen –, fühlte sich der Meister von Woche zu Woche elender und hätte doch nicht sagen können, was ihm eigentlich fehle. Die Geschwulst der Hand war gleich am ersten Tage zurückgegangen; dafür hatten sich heftige Kopfschmerzen eingestellt, von Zeit zu Zeit lief es wie ein Fieberfrost über den einst so blühenden Leib, die Haare erblichen und fielen aus – kurz, alle Anzeichen eines schweren inneren Siechtums traten hervor. Frau Stanzi tat, was in ihrer Macht lag, um dem geliebten Mann die schwere Zeit körperlichen Unbehagens und wuchtender Arbeitslast erträglicher zu machen. Vom Requiem schwieg sie geflissentlich, konnte sich auch nicht wohl denken, daß ihm selbst in der fiebernden Hast der einander jagenden Proben zur »Zauberflöte« Zeit blieb, diesem fatalen Auftrag nachzusinnen. Und als sie merkte, daß er, todmüde heimkommend, auch meist einen todähnlichen Schlaf fand, glaubte sie, sich über seine Nächte beruhigen zu dürfen.
Um so peinlicher war ihr Erstaunen, als sie eines Morgens beim Aufräumen einen Bund Zettel fand, die der Meister auf seinem Nachtkästchen liegen gelassen und deren jeder einzelne in fortlaufender Seitenbezeichnung den Vermerk »Requiem« trug. Das meiste wohl bloß skizziert und mit rascher, flüchtiger Hand hingeworfen, das Ganze aber doch ein verräterischer Beweis, wie es eigentlich um seine Nachtruhe stand. Er hatte sich doppelt sicher geglaubt, seit sie Nacht für Nacht bei den Kindern drüben schlief, damit nicht der leiseste Schrei des Neugeborenen ihn störe oder wecke. Nun fügte es der Zufall, daß er sich selbst vergaß und verriet.
Lange erwog Frau Stanzi, was sie nun am besten tun und lassen sollte. Endlich beschloß sie, die Zettel nicht zu erwähnen und ganz arglos zu scheinen. Ihre Liebe und irgend eine günstige Gelegenheit, die ihn wenigstens für ein paar Stunden wieder den Seinen zurückgab, würden sie schon das Richtige finden lassen. War einmal die »Zauberflöte« gespielt, mußte es ohnedies anders werden.
Endlich kam auch dieser Tag heran. In aller Frühe wurde ihnen der Theaterzettel ins Haus getragen, zugleich mit einem Strauß dunkler Rosen, den Schikaneder, der besten Erwartungen voll, der »Gesponsin seines geliebten Bruders Amadé« sandte. Der Zettel lag den ganzen Tag auf dem Pult des Meisters, und immer wieder schlich Frau Stanzi hin und las, daß »die Musik von Herrn Wolfgang Amadé Mozart«, der »aus Hochachtung für ein gnädiges und verehrungswürdiges Publikum und aus Freundschaft gegen den Verfasser des Stückes das Orchester heute selbst dirigiert«. Auch das Buch der Oper hatte Schikaneder gesandt, fein in Leder gebunden und mit zwei artigen Kupfern versehen, deren einer ihn als Papageno zeigte, »nach wahrem Kostüm gestochen«.
An der Spitze des Theaterzettels standen die Namen der Akteure; nicht ein »Katzlmacher« darunter. Die Gerl freilich war mit zwei Rollen bedacht, was dem Meister einige Sorge machte. War er doch ihren geheimen Wünschen in keiner Weise entgegengekommen, hatte sie aber, ohne zu wollen, gerade durch diese Zurückhaltung immer mehr aus ihrer koketten Reserve herausgelockt, daß sie zuletzt förmlich wie ein heischend Kätzlein das weiche Fell an ihm rieb. Aber er war standhaft geblieben, ohne sich darauf gerade etwas zugute zu tun. Fühlte er doch, wie rätselhaft und beharrlich sein innerstes Wesen sich je länger je mehr von dem bunten Schein dieser Welt kehrte, ohne daß er es wollte, wie einem Gesetze folgend, dem zu widerstreben er keine Kraft mehr hatte. Die Gerl war ja noch immer das schöne Weib, das sein Herz einmal begehrlich, sein Blut toll gemacht. Nun verstand er sich selbst nicht, so kühl und sicher blieb er in ihrer Nähe.
›Katze‹, dachte er mit herablassendem Verständnis, wenn sie ihn so umschlich. Aber – die Katze konnte auch fauchen! Das war seine einzige Sorge.
Immer wieder nahm er das Textbuch zur Hand, ging im Geiste die Empfindungen durch, die ihn während des Schaffens beseelt – las, was andere vielleicht abends nicht so rasch oder gar nicht verstehen würden, zwischen den Zeilen: den Geheimsinn der Ordensbräuche, in die er eingeweiht war. Aber seltsam! Auch diese Stimmen fanden sich jetzt nicht mehr zu ihm. Wie eine kalte, starre, geheimnisvolle Dunkelheit war es um ihn, durch die seine Seele in mystischer Sehnsucht einem großen Unfaßbaren entgegenrang: Gott!
Freilich – er hatte Weib und Kinder, und so tat er, was er tun mußte. Oft, wenn sein Weib ihn bei irgendeinem Berufsgang vermutete, saß er im Vorzimmer van Swietens und wartete, bis der berühmte Mann ein Stündlein frei hatte, um ihm irgend einen Rat zu geben oder ein Pulver aufzuschreiben. Seit Wochen nahm er Chinin, und im Augenblick schien der Arzt keine Sorge zu haben. Immerhin aber glaubte Mozart zu bemerken, daß auch die Kunst van Swietens vor seinem Zustand wie vor einem Rätsel hielt, das man nicht bloß mit Mixturen löste.
Der Tag wich einem wundermilden Abend, und als die Glocken der Stephanskirche den »Segen« einläuteten, machte Mozart sich auf. In den Straßen begann es schon leise zu dunkeln – die frühe Dämmerung des Herbstabends; fremd und geschäftig hasteten die Menschen an ihm vorüber. Je näher er aber dem Theater kam, desto dichter wurde der Strom der Leute, die mit ihm dasselbe Ziel hatten. »Wir hab'n ein übervoll's Haus!« berichtete Schikaneder mit fettem Schmunzeln.
Sowie Mozart durch das kleine Pförtchen ins Orchester schritt, trat Frau Stanzi in ihre Loge. War es ein Zufall? Er nahm es als gutes Zeichen.
Ein-, zwei-, dreimal klingelte es. Das Gebrause der Stimmen wurde zu einem Gesumme – endlich verstummte auch dieses. Tiefe – atemlose Stille. Ein fühlbarer Luftzug ging über ihn hin. Die letzte Welle der Bewegung all dieser Hunderte, die gekommen waren, ihn zu hören. Wie Andacht kam es über ihn – noch einmal. Zugleich wie ein leiser, heimlicher Schauer: ›Hier steh' ich zum letztenmal.‹ Mit bebender Hand hob er den Taktstock.
Wie gebannt hing Frau Stanzi an den Bewegungen des Geliebten. Sein Profil, so bleich und starr ihr zugewendet, schien fast wie leblos. Seine Gestalt war nie so hager gewesen. Aber die Hand, die den Taktstock führte, schien alle Kraft in sich gesammelt zu haben. Eine magisch bannende Kraft, die wie sichtbar auf die Menschen wirkte. So erwartungsvoll, so atemlos sahen alle nach dieser Hand! Und zum ersten Male merkte Frau Stanzi, daß ihr Amadé nun auch in Wien endlich jemand geworden war. Trotz all der Ränke und Kabalen seiner Feinde. Noch saßen diese Hunderte da unten, stumm – die unbewegte, ungelöste Masse. Aber aus jedem Blick leuchtete es, in dem atemanhaltenden Schweigen barg sich, was sie alle dachten: ›Unser Mozart!‹ Das Dornröschen deutsche Seele war wieder einmal aus dem Schlaf erwacht, und dort stand der Prinz, dem dies Wunder gelungen!
›Wenn er nur nit gar so bleich wär',‹ dachte Frau Stanzi. ›Und das G'schau … wie in eine and're Welt hinein schaut er!‹
Und plötzlich, sie wußte nicht, wie es geschehen war, geschehen konnte – plötzlich schob sich das Bild jenes Friedhofes vor ihre Seele, wie er bei der Prager Fahrt vor ihr gelegen – mondbeglänzt, schaurig einsam und öde … Sie fuhr zusammen, legte die Hand aufs Herz – fast hätte sie aufgeschrien. Da brach es wie ein Gewitter um sie los, toste durch alle Ränge, ging wie ein Sturm über alle Häupter hin – der Beifall!
Die Ouvertüre war zu Ende. Dort stand ihr Amadé und verbeugte sich wieder und immer wieder. Nun trafen sich auch ihre Blicke – ruhten eine Sekunde ineinander – stummselig. ›Wie bleich er ist!‹ fuhr es ihr wieder durch den Sinn. ›Und wie schön!‹ sprach es wie mit raunender Stimme in ihr. Ja, weiß Gott! All ihr Lebtag hatte sie ihn nicht so gesehen.
Aber nun hatte sie keine Zeit mehr, weiterzugrübeln; der Vorhang rauschte empor.
Wie im Traum ging ihr der erste Akt vorüber, selbst ein Traum. Dann und wann versuchte ihr Blick, die Mienen der Leute zu durchdringen, die so stumm dasaßen und aufhorchten. Ihr dünkte, ein seltsames Befremden lege sich plötzlich über all diese hundert Antlitze – mache sie geheimnisvoll und undurchdringlich.
›'s ist ja auch nichts Alltägliches, was sie heut' zu hören kriegen,‹ dachte Frau Stanzi.
›Aber – sie haben ja das Büchl!‹ tröstete sie sich.
Schneller, als sie selbst gedacht, senkte sich der Vorhang wieder über die Szene, da und dort klatschten einige Hände. Dann wurde es wieder still … unheimlich still.
Als sie nach dem Dirigentenpult sah, war Mozart verschwunden.
»Mein Amadé!«
Wie eine Mutter bangte sie für ihn; warf feindselige Blicke auf die Menge. Was steckten sie so die Köpfe zusammen – wispelten und raunten?
Wie ein heimliches Einverständnis spann es sich von Sitz zu Sitz. Leute, die sich früher kaum angesehen, gewiß nie gekannt, begannen, miteinander zu reden, traten zu großen Gruppen zusammen, wispelten und warfen doch wieder mißtrauische Blicke um sich.
Plötzlich begannen einige zu klatschen. Wie eine Frage war es, mitten in diese raunenden, geheimnistuschelnden Gruppen hinein. Und – Frau Stanzi mußte beide Hände ans Herz pressen, um vor Glückseligkeit nicht umzusinken: Wie ein Gewitter ging nun der Beifall nieder – schlug das Erkennen in die Seelen. Spät, aber doch und mit Blitzesgewalt.
Die Wiener hatten verstanden …
In donnernden Wogen warf sich das Getöse an die Wände – kam von den Wänden zurück, wie das Echo eines brandenden Meeres.
Endlich, endlich bewegte sich der Vorhang.
Aber nur Papageno-Schikaneder trat hervor.
»Mozart – Mozart!« brauste es ihm entgegen.
Er machte eine hilflose Bewegung. Die Leute begannen aufzuhorchen. Endlich kamen ihm die Worte.
›Ein gnädiges Publikum wolle entschuldigen, aber – weder er noch irgend jemand auf der Bühne wisse im Augenblicke, wo der Gefeierte sei. Er wäre so untröstlich gewesen über die, wie er glaubte, ungnädige Aufnahme!‹
»Mozart – Mozart!« donnerte es zurück und »Sarastro!« rief eine helle, junge Stimme aus der Höhe. »Mozart-Sarastro!« scholl es empor. Von allen Sitzen erhob man sich, klatschte und rief.
Schikaneder stand auf der Bühne und wischte sich die Tränen aus den Augen. Der alte Zyniker!
So ging der Zwischenakt hin. Wann würde sich der Vorhang wieder heben? Sein Dirigentenpult konnte der Flüchtling doch nicht im Stich lassen. Damit trösteten sich die Begeisterten.
Endlich das erste Zeichen. Durch die Reihen der Musiker schob sich eine schmale, hastende Gestalt – Mozart! Alles bebte an ihm, man sah es. Wieder hob es sich um ihn, wie Sturmgebraus und Schwingenrauschen. Todfahl war sein Antlitz, als er sich wandte. Die Lippen zuckten, die großen Augen hatten einen fieberischen Glanz, aber über seine Züge ging ein Lächeln, das selbst wie Musik war. Ein-, zwei-, dreimal verneigte er sich. Dann hob er den Taktstock und wies nach dem Vorhang. Die Wiener verstanden ihn. Mit den Tönen, die noch in den Kehlen der Sänger schlummerten, wollte er ihnen seinen eigentlichen Dank sagen. Sein Werk rief ihn und sie.
Von Szene zu Szene wuchs die Begeisterung. Immer tiefer in den erlösenden Sinn des Werkes dringend, wurde dieses allmähliche Verstehen auch zum Schlüssel für die mystischen Schönheiten der Musik. Taminos Standhaftigkeit, Paminas Liebe und Trauer rissen hin, Papagenos Menschlichkeiten entzückten und gaben ein deutsam nebenherlaufendes Satyrspiel zu der Tragödie hohen Wollens und Ringens. So oft aber die Königin der Nacht erschien, lief es wie drohendes Bienengesumme durch die Reihen. Man wußte, was man von ihr zu halten hatte, brachte noch vor kurzem Selbsterlebtes in geheime Beziehung zu dem Rätselspiel auf der Bühne. War's denn so lange her, daß Kaiser Joseph gestorben – im aufreibenden Kampf mit derselben, immer im Dunkel schleichenden Macht? Um so viel Licht war die Welt wieder ärmer geworden seit seinem Tod? Mochten die heimlichen Schleicher hören, wie man über sie dachte! Lange, lange braucht es, bis der Wiener aus seiner behäbigen Ruhe aufgerüttelt wird, bis er sieht und versteht. Hat er aber einmal verstanden, schreit er der ganzen Welt seine Meinung ins Gesicht.
»Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht,
Vernichten der Heuchler erschlichene Macht!«
– wie ein jauchzendes Aufatmen ging es bei diesen Worten durch die Reihen. Nicht nur Tamino und Pamina, auch Wien hatte die Prüfung bestanden. In andächtiger Seele trug man den Namen des Meisters heim, der von nun an mehr denn jeder andere dieser sonnigen, singenden Stadt gehörte: Mozart.
Schikaneder freute sich wie ein Wahnsinniger über den Erfolg. »A Zugoper – Leutl'n wißt's denn, was dös bedeut't in Wean?« Er hatte guten Grund für seine Freude. Des Meisters Töne würden ihm das Gold ausmünzen, mit dem er seine Schulden zahlen konnte. Die Gerl stand mit brennenden Augen vor Mozart und versuchte zum letztenmal ihre Kunst. Ein milder, aber todtrauriger Blick des Meisters streifte sie. Ein Blick, der sie wider Willen erröten machte. Etwas Christushaftes glänzte darin auf – Erbarmen, Verstehen, Verzeihen und Entsagen. Sie wußte selbst nicht, wie ihr wurde. Mit hängendem Haupt schlich sie nach ihrer Garderobe und merkwürdig – ohne jeden Groll.
Schikaneder wollte die Freude in Wein ertränken. Und alle sollten dabei sein – vor allem natürlich der Meister und seine Frau! Aber Mozart schüttelte das Haupt. Nur um den Theaterwagen bat er. Der sollte ihn und seine Stanzi heimbringen … »Ich bin so müd, Leutl'n.«
Er hätt' es nicht erst zu sagen brauchen. Selbst dem leichtsinnigen Schikaneder fiel es auf, wie so ganz anders er sich seit einiger Zeit gehabte, wie blaß und trist er sah, darum ließ er ihn ziehn.
Draußen stand eine helle Sternennacht über der Erde … Feierlich und stumm, in der ganzen Gewalt ihrer beredten Schönheit, stieg die Karlskirche in den silbernen Glanz der Sphären.
»O, Amadé!« schluchzte Frau Stanzi, als sie im Wagen an der Brust des geliebten Mannes lehnte. Das Glück riß sie hin – dieses solange spröde, solange ersehnte Glück.
Seine Hand lag ruhig auf ihrem blonden Scheitel. Plötzlich zuckte er zusammen. »Schau dorthin!«
»Wo?«
Er wies nach dem Schatten der Karlskirche.
»Ich seh nix!«
»Doch …« kam es heißer zurück. »Dort ist er jetzt g'standen und hat hereingenickt!«
»Wer?«
»Amadé!« flehte sie. Er sagte kein Wort, zog aber mit bebender Hand den Vorhang über die Scheibe des Wagens.
Aber ihr Schmerz konnte nun nicht länger an sich halten. »Warum gönnst dir auch keine Ruh'?« brach sie los. »Tust jeden Morgen, als hätt'st du weiß Gott wie g'schlafen, und arbeit'st dabei an der unseligen Totenmess'.«
»Gehst hinter mir her?« fragte er unwillig.
»Wer sollt' denn auf Dich schau'n, Wolferl?«
»Und was soll's nützen? Das Geld war uns recht.«
»Jetzt wird's aber anders werden,« hielt sie ihm entgegen. »Hast g'hört, was sich der Schikaneder von der Oper verspricht?«
»Hast dir unsere Schulden aufg'schrieb'n?« kam es bitter zurück. Und plötzlich, wie in einem Ausbruch ohnmächtiger Wut: »Solang ich leb', wird's Geld mein Meister sein und die Not mit der Peitsch'n hinter mir steh'n. Da verkauft man sich auch dem Teufel.«
»Und 's ist doch so schön, was du bis jetzt dran g'macht hast,« lenkte sie ein.
»O ja,« kam es dumpf zurück – »ich hab' tief 'neing'schaut.«
»Wie meinst?« forschte sie.
Er riß wieder den Vorhang zurück, ließ das Fenster herab … »Das Herz klopft mir noch so … und der Atem bleibt mir seit ein paar Tagn ganz aus! …«
»Wenn du nur einmal ordentlich schlafst!«
Gerührt von all der Güte, griff er nach ihrer Hand. »Heute!«
»Meinst?«
»Kanonenfest!« versuchte er zu scherzen. Aber es war nur ein halber Ton in seinem Lachen.
Als sie in den Hausflur traten und langsam treppauf stiegen, begann sie, von den Kindern zu reden. »Nun darfst wieder deinen Spaß mit ihnen haben,« lachte sie. »Warst uns ja so lang entfremdet, durch die Oper. Und nit wahr – wenn der nächste, schöne Sonntag kommt, führst mich wieder einmal in den Prater? So lang schon waren wir nit mehr dort, Wolferl, eine Ewigkeit nit!«
Er drückte ihren Arm und nickte zu allem ja.
»Und jetzt schlafen – schlafen!« drängte sie, als sie ihm in seiner Stube noch einmal Glück wünschte. »Hast soviel Schön's erlebt – soviel Lieb' d'erfahr'n, auch von den Weanern. Weißt was? Ich leget' mich jetzt auf die Seit'n und denket': Blast's mir ein' Marsch!«
Er mußte lachen, und lachend küßte er sie. Das war ihr mehr wie ein Versprechen; er hatte ja schon so lange nicht mehr gelacht.
»Küß' mir die Kinder,« bat er noch. Damit ging sie hinaus.
Auf seinem Pult standen noch die Rosen Schikaneders und dufteten durch die Stube wie alter Wein. Er stellte sie mit eigener Hand ins Fenster, damit sie frisch bleiben sollten. Wie er aber nun zurückging und den Leuchter vom Pult nahm, um ihn ans Bett zu tragen, blieb er plötzlich stehn. Das war ja nicht seine Hand … oder? Hochgeschwollen wieder wie damals! Lang sah er auf sie nieder, nickte zuletzt eigen vor sich hin, wie jemand, der über eine Sache nachdenkt, von der nur er allein weiß.
»Die große Hand« – murmelte er leise … »sie halt't mich fest, sie laßt mich nimmer aus, seit – Prag!«
Hundertmal hatte er's verschworen, nicht mehr daran zu denken – nicht mehr darüber zu grübeln. Warum schlich es immer und immer wieder an ihn heran? Er sah um sich, ob er auch wirklich allein war … nicht gehört werden konnte. Er hatte sich in letzter Zeit bei ganz wunderlichen Selbstgesprächen ertappt. Nun kam es wieder über seine Lippen, ohne daß er's wollte, ohne daß er recht darum wußte.
»Das ist doch seit – Prag her! Seit Prag! Ob er mir nicht … wenn er die Gläser verwechselt hat? Tags vorher war Salieri bei ihm, die welsche Natter. Sie soll'n dort Trankl'n mach'n können …«
Er fuhr empor, starrte wie geistesabwesend nach einem grotesken Schatten an der Wand. Wo kam der her? Wenn man näher zusah, war er wie die Silhouette eines alten Mannes, der das bärtige Haupt vornüberlehnte. Hielt er nicht eine Harfe? Und dort hinten – was verbarg er dort? Wie ein runder, schmaler Bogen sah es hervor – die Sense!
Und ihn sah er an.
Fast hätte er aufgeschrien. Da machte die Hand, die das Licht trug, eine unwillkürliche Bewegung, der Spuk begann zu schwanken, zerrann.
›Mein Bett war's und das Licht und der Aufsatz vom Pult –‹ begriff er langsam.
›Na, gehen wir schlafen!‹
Er lächelte dazu, müd, ungläubig. Doch er begann, sich zu entkleiden, und als Frau Stanzi eine Stunde später an seine Türe schlich, war alles dunkel und still.
Mit einem Male war ihm, als ob er erwache … Und so deutlich war dieses Gefühl, so bewußt schien ihm der eigene Zustand, daß er Stück für Stück die Möbel in seiner Stube zu sehn glaubte und am Fenster die Rosen in der Vase, wie er sie selbst hingestellt. Über allem aber die silberne Bläue der Sternennacht, die still und feierlich noch immer über der Erde stand.
Er setzte sich auf, griff um sich. Aber was war das? Er griff in lauter aufgewühlte Schollen! Hügelhoch lagen sie plötzlich um ihn, und er wand sich zwischen ihnen empor, bekam die Erde in die Hände, in den Mund – mußte die Augen schließen, um wenigstens das Gesicht von all dem Staub freizuhalten.
›Wo bin ich?‹ dachte er.
Da scheuchte ihn ein langhinrollender, gleichsam rufender Ton auf. Seine Gedanken begannen sich zu verwirren.
›Das ist die Posaune, die das » Tuba mirum« einleiten wird!‹ entsann er sich, plötzlich wieder ganz bei seinem Werk.
Der Ton hallte weiter. Aber die Erde …? Die Schollen, die, wie von einem mächtigen Orkan durcheinandergewirbelt, rechts und links umherstoben? › Tuba mirum – spargens sonum!‹ … klang es in seinem Ohr. In sein Herz aber krallte sich plötzlich ein lähmender Schreck. Wie eine ferne, fernste Erinnerung dämmerte es in ihm auf, die allmählich ein furchtbares Sichbesinnen wurde. ›Ich war tot … und das – ist die Auferstehung!‹
Seine Glieder schienen bleischwer, ein eiskalter Schweiß rann an ihm herab. Am liebsten hätte er sich zwischen all den Schollen verkrochen. Er machte einen Versuch, wieder in die Tiefe zu gleiten, aber eine unsichtbare Gewalt stieß ihn förmlich zurück, weiter und weiter an das Licht empor, dessen Anblick er so fürchtete. Die Erde selbst gab ihre Toten wieder, er fühlte es.
Plötzlich stand er aufrecht, hatte festen Grund unter den Füßen. Sein Leib erschauerte wie unter einem Schüttelfrost, eine herzbeklemmende Angst preßte ihm die Hände vors Antlitz. ›Nichts sehen jetzt – nichts sehen!‹ schrie es in ihm. Aber der Sturm, der die Schollen in die Luft gewirbelt, riß ihm die Arme herab – das Licht, das er nicht sehen wollte, ging durch seine Lider, als wären sie Glas.
› Rex tremendae majestatis!‹ heulte, wimmerte, brüllte es um ihn auf. Es war ein Gestöhn wie das Schluchzen eines Mannes und die heißen Kehllaute eines gebärenden Weibes.
› Rex tremendae majestatis!‹
›Bis hierher hab' ich die Partitur fertig,‹ sprach es ganz ruhig, ganz sachlich in ihm. Und wie ein Echo seiner Erinnerung setzten nacheinander drei Stimmen ein und antworteten wie in zaghaftem Flehen seiner Besinnung: › Cum vix justus sit securus …‹
Es waren seine Töne, unleugbar. Aber sie schwollen an, wie von unzählbaren Stimmen aufgenommen, verloren ihren Klang, wurden ein einziges, wahnsinniges Gebrüll der Angst. Und mit einemmal hörte er seinen eigenen Schrei.
› Rex – rex – rex!‹
Ein grell hereinbrechendes Licht riß ihm förmlich die Lider empor, daß er sah, sehen mußte. Wie ein riesiger, aufgewühlter Acker lag die Erde vor ihm, und er stand da, inmitten von Hunderttausenden, und starrte zum Himmel empor. Die eine Seite des Firmamentes war nachtschwarz – wie in einen Abgrund schienen die Gestirne dort hinunter zu stürzen, verschlungen vom alten Chaos. Gen Osten stand eine Feuergarbe, die wie eine lodernde Säule Himmel und Erde verband, wie etwas Lebendiges heranzukommen schien, näher, näher …
»Das ist die Hölle!« schrie eine Stimme auf.
»Nein, Gott ist's!« riefen Tausende zurück. »Es kommt von Sonnenaufgang her!«
Die Erde begann zu beben. »Wir gehen unter!« heulte die Angst. »Jetzt – jetzt« … Aber die Qual nahm kein Ende.
Plötzlich wurde es still … totenstill … Die Feuersäule zerteilte sich, wich nach rechts und links, gab wie in stummer Ehrfurcht den Weg frei für etwas, das noch gewaltiger war als sie, noch entsetzlicher.
»Dort kommt das – Meer!« sprach eine bebende Stimme in die atemlose Stille hinein.
Er blickte hin wie die anderen, und ihm schien, er werde zu Stein.
Zwischen Himmel und Erde rollte der Ozean heran. Er konnte die Milliarden des stummen Getiers sehen, das seine Wasser führten. Lautlos zog es heran, mußte sich nun und nun über die Knienden dahinwälzen … Aber nein! Auch die Wasser hielten plötzlich still, wie früher das Feuer, und wo die Grenzen des Firmamentes zu sehen waren, brach plötzlich ein Geleucht herein, das weiß war und glühete, als wolle es alles verzehren und auftrinken … den Ozean, die Menschen und das Feuer selbst.
»Gott!« hörte er sich wimmern, und er schlug mit dem Haupt wider die Erde. Es war die Erscheinung des Herrn, die dort heraufkam, zu seinen Füßen Himmel, Erde und Meer …
»
Rex tremendae majestatis,
Qui salvandos salvas gratis,
Salva me, fons pietatis!«
Mit all den Hunderttausenden der Auferstandenen wimmerte er es in die Erde hinein, die ihn eiskalt anhauchte, wie der leibhaftige Tod. So kalt, daß er mit einem Schrei erwachte.
Wie gelähmt lag er da, wollte rufen und konnte nicht. Als es ihm nach einer Weile gelang, die Arme zu bewegen, machte er Licht. Lebte er wirklich noch? Ihm war, als hätte er auch das Letzte überstanden. In dumpfer Verzweiflung starrte er seine Hände an. Nun war auch die Linke hochgeschwollen – zum erstenmal. Und das Fieber war kein Traum – es hatte ihn wieder überfallen, wie schon so oft in all den kummerschweren Nächten, von denen die Seinen nichts ahnten. Er erhob sich, schlich mit schwanken Schritten an sein Pult, zog eine Lade auf. Zwischen Bündeln von Noten barg er dort das Pulver, das van Swieten ihm für alle Fälle gegeben. Es war Chinin. –
Eine Woche verstrich, die heimlich genommenen Pulver taten ihre Schuldigkeit. Das Fieber wich, die Geschwulst an den Händen ging zurück. Der Erfolg der »Zauberflöte« und Schikaneders Kassenberichte brachten Freude und Behagen ins Haus.
Sah Mozart den Abglanz innerster Zufriedenheit im Antlitz seiner Stanzi, das glückselige Lächeln, mit dem sie ihm Tag für Tag die besseren Bissen vorsetzte, dünkte ihm fast, es müsse nun wirklich alles anders werden. Auch in seine Mienen stahl sich von Zeit zu Zeit ein heiteres Lächeln, und er gab im Kreise seiner Schüler irgendeinen Scherz zum Besten, wie einst; täuschte die andern und – sich selbst. Ließ sich aber das Fieber an seinem Lager nieder, pochte sein Herz den Takt zu den stürmenden Blutwellen, besuchten ihn seine heimlichsten und finstersten Gedanken, dann grübelte er: Wie war dies so plötzlich über ihn gekommen? Gerade in Prag?! Was immer auch seine Seele vor der Abreise bedrängt und belastet, sein Leib war gesund gewesen. Speise und Trank hatten ihm gemundet; kein Fieber ihn heimgesucht. Und nun … woher kam ihm dieses langsame, schleichende Siechtum?
Hielten seine Gedanken bei diesen Erinnerungen, tauchte wie ein finsterer Schatten auch immer die Gestalt jenes Harfners auf. Und je länger er über den Alten nachdachte, desto weniger wollte ihm sein Wesen und Gebaren gefallen. Was ihm damals so selbstverständlich erschienen war: das plötzliche Eintreten des Greises, seine fast hündische Unterwürfigkeit, die Lieder, die er gesungen, die Worte, die er gesprochen, der Blick, den er ihm beim Abschied nachgesandt – dies alles verzerrte, verdunkelte sich nun in seiner Vorstellung, gewann eine heimliche und tückische Beziehung zu all dem Ungemach, das ihn seither quälte. Das nahe Aneinanderrücken der Gläser erschien ihm nun wie ein absichtliches Vertauschen derselben. Sehr wohl entsann er sich, daß es gerade in jenem Augenblick geschehen war, als er sich zur Türe begeben, um nach dem Wirt zu rufen. ›Warum?‹ fragte er sich nun. War auch nur eine kleine Neige in seinem Glas geblieben, der Wirt hatte sie aufgefüllt und er sie – getrunken! Wieder aber war es der Alte gewesen, der dem Wirt in hastiger Beflissenheit die Gläser an die Hand gerückt. Und der lauernde Blick, den er ihm nachgesandt, als er, schon in der Türe, wie von ungefähr noch einmal zurücksah –
Ja, es waren schwarze Gedanken, die ihn besuchten, Gedanken, vor denen ihm zuletzt fast noch mehr graute als vor seinem Übel, Gedanken, die dem Wahnsinn gehörten, wenn sie es nicht selbst waren.
Diese zwiespältige Angst rüttelte ihn auch endlich soweit auf, daß er seinem Weibe versprach, wieder einmal einen ganzen Tag mit ihr im Prater zu verleben. Und da es ihm gerade leidlich ging und auch der Sonntag vor der Türe stand, wählten sie den Samstag. Unter der Woche war es soviel schöner und ruhiger dort.
Der klare Tag, die herbe Frische der Luft, der tiefe Friede, den die uralten Baumwipfel wie ein verlorenes Eden so nahe der Stadt hüteten, weckten auch in der Seele des Kranken wieder eine leise, schüchterne Hoffnung. Zwei Tage hatte ihn das Fieber verschont, sogar ruhig geschlafen hatte er eine Nacht. Zum ersten Male, nach langer, langer Zeit. Und nun zog er wieder einmal ins Grüne hinaus, wie die andern, konnte sich's einige Stunden herzlich wohl geschehen lassen. Weit ab wollte er die finsteren Geister bannen – nichts sehen als diese tiefe, satte Schönheit, in der sich die Natur zum Sterben vorbereitete, nichts hören, als das fröhliche Geplauder seines Weibes – ruhen, atmen, sich gehen lassen.
Die Hauptallee lag schon in herbstlicher Verlassenheit; nur da und dort sprengte ein Reiter vorüber. Wie ein goldenes Gespinnst hing die Stille über den Wipfeln.
»Bist noch nicht müd'?« fragte Frau Stanzi.
Er lächelte, schüttelte den Kopf, drängte mit einem Anflug seines alten Übermutes zum Weitergehn.
›Ob's ihm auch wirklich so zumute ist?‹ dachte Frau Stanzi. Er sah so bleich; die Schläfen waren eingesunken, die Augen von dunklen Ringen umzogen, zwischen denen der Blick traurig und müde hervorkam, wie verhaltene Sehnsucht und schauerndes Ahnen.
»Gehn wir da hinein,« bat er, plötzlich nach links abbiegend. »Da hab' ich einmal als Bub einen ganzen Tag lang gespielt.«
Sie sah ihn an …
»Wie ich mit dem Vater und der Nandl zum erstenmal in Wien war,« erklärte er, »und vor der Kaiserin gespielt hab'. Wie ist das lang her!« Er seufzte auf.
Irgendwoher kam das Geglucks eines Wässerchens; da und dort pflückte der Wind ein Blatt von den Bäumen, leise, ganz leise. Aber so tief war die Stille ringsum, daß man das raschelnde Niedergleiten hörte, von Ast zu Ast, durch das Gezweig. Eine halbverfallene Bank stand an ihrem Weg, ein uralter Ahorn breitete seine Krone darüber. Wie eine purpurne Glorie hing es um ihn – die satten, jubilierenden Farben des Herbstes.
Langsam ließ Mozart sich nieder, sah in die Au zurück, in den Wald hinein, mit großen, suchenden Augen.
»Wolferl,« schmeichelte Frau Stanzi, »was ist dir?« Ihr war, als müsse sie ihn schützen. Wenn sie nur gewußt hätte, wovor.
In seinem Antlitz zuckte etwas auf. Doch er beherrschte sich und schwieg.
»Da muß es im Frühling viele Veigerln geben,« begann Frau Stanzi aufs neue.
Über sein Antlitz huschte ein versonnenes Lächeln. »O, bis in den Mai hinein! Ganze Händ' voll haben wir damals gebrockt. Ich und die Nandl.«
»Ich hab' mir's denkt!« nickte Stanzi, und wie um ihn seinem Brüten zu entreißen, begann sie, leise vor sich hin zu summen: »Wie möcht' ich doch so gerne – ein Veilchen wiedersehn – o lieber Mai, wie gerne – einmal spazieren gehn!« Sein Lied! Er wollte nach ihrer Hand greifen, ihr etwas Liebes sagen. Plötzlich rann ihm ein Schauer durch den Leib. Wie gelähmt fiel seine Hand herab: das Fieber! Er fühlte es wieder nahen, hier …
»Dort blüht aber auch was!« rief sie, über den Weg hinweisend. Eine hochstengelige, purpurne Dolde stach aus dem Grün der Haselbüsche. »Soll ich's holen?«
Wie gestochen fuhr er empor. »Laß – laß, 's ist Gift!«
»Gift?«
»Fingerhut!«
»Wir essen's ja nit!« scherzte sie, verstummte aber sofort. Groß, fremd, fast drohend ging sein Blick über sie. Wieder zuckte es in dem blassen Antlitz, die zusammengepreßten Lippen begannen zu beben, und plötzlich rann Träne um Träne über seine Wangen. Wie lang er sie wohl schon zurückgehalten? Ihr war mit einemmal, als wisse sie alles.
»Amadé – was ist dir?«
»Bleib still,« flüsterte er scheu zurück, »daß uns niemand hört.«
»Warum du weinst, will ich wissen!« flehte sie.
Er beugte das Haupt, sah zur Erde nieder. Lang, lang brauchten seine Lippen, bis sie das Wort formten, vor dem seine Seele schon solange bebte; seine Brust rang förmlich, es auszusprechen. Aber der Ton, den er ihm endlich gab, hatte die Schwere einer ehernen Gewißheit. »Ich werde sterben!«
»Amadé!« schrie sie auf.
»Doch,« nickte er traurig vor sich hin. »Mit mir dauert es nicht mehr lange. Ich fühle mich zu sehr …« Plötzlich hob er das Haupt, sah sie an. Wie ein Hauch kam es über die lauernde Stille zu ihr her: »Man hat mir Gift gegeben!«
Sie fuhr empor, wollte etwas sagen, brach aber förmlich in sich zusammen. Nur ihre Augen hefteten sich auf ihn – groß, weit, schreckensstarr.
Er verstand und lächelte, müde, resigniert. »Für verrückt halt'st mich, gelt? Ich möcht' es ja auch am liebsten glauben. Aber wie's nun einmal ist, wird's schon richtig sein.«
»Was –?« stammelte sie wie besinnungslos.
»Daß man mir was geb'n hat!«
Sie starrte um sich … der Tag war so hell und warm. Wie ein goldener Abglanz des Lebens lag das Sonnenlicht auf den schaukelnden Zweigen. Aus dem Volksprater kamen verwehte Geigentöne herüber. Lustige Menschen sangen und schwatzten und schmausten und tanzten dort. Die glückliche, fröhliche Unbefangenheit des Alltags, wie er kam und ging, für jeden seine Mühen hatte, für jeden seine Freuden und für alle das Gefühl einer Sicherheit, die so selbstverständlich schien, wie das Atmen. Und hier – gerade hier hätte sich das Unerhörte niedergelassen? Das Verbrechen oder – der Wahnsinn? Daß sie es greifen konnte, in der liebsten Gestalt? Sie tastete um sich, sank wieder auf ihren Platz zurück. Ihr war, als schwände der Boden unter ihren zitternden Füßen. Und wie es nun einmal Weibesart ist, der Wucht des Schicksals mit der Ohnmacht der Verständnislosigkeit zu antworten … sie brach in Tränen aus.
»Tu mir nicht noch weher,« bat der Kranke leise. »Lang genug hab' ich's bei mir behalten. Aber – wem hätt' ich's denn sag'n sollen?«
»Weil's ein Unsinn ist!« schrie sie fast zornig auf.
Er hielt ihr bloß die Hand entgegen. »Stanzi – da schau her!«
Sie fuhr zusammen, erblich. »Das ist ja wie in – Prag?!«
Er nickte. »Gelt, das weißt noch? Seitdem ist es immer wieder 'kommen. Ich hab's nur nit bered't. Aber in Prag, freilich – in Prag war's zum erstenmal.« Und er sah sie an, mit einem Blick, der sie durchschauerte.
»Ich versteh' nur nit,« stotterte sie – »wer – wer dir das dort an'tan hab'n soll?«
Wieder sah er um sich, ob niemand in der Nähe wäre, dann hauchte er leise, leise einen Namen in ihr Ohr. Wie gestochen fuhr sie zurück, besann sich aber sofort. »Mit dem hast ja kaum g'red't dort.«
»Meinst, ein Italiener ist so dumm, so was selbst zu tun?« fragte er zurück.
»Aber wir zwei haben doch immer dasselbe 'gessen!«
Sein Blick verdunkelte sich. »Einmal nit!«
»Wann?«
»Am letzten Abend, wie du hinauf bist,« erzählte er schwer atmend. »Da hat mich so ein Trotz gepackt wider alles. Und weil g'rad' der alte Harfenist 'neinkommen ist, hab' ich ihn an den Tisch geladen und extra eins getrunken mit ihm. Das war er – dem Tod sein Spion!«
» Der –?« sie dehnte das Wort, wollte noch etwas sagen und fand plötzlich kein Ende. Nicht greifbar, aber in schattenhafter Deutbarkeit wuchs das Ungeheuerliche mit einem Male auch in ihre Seele hinein und etwas aus ihrer Seele wuchs ihm entgegen, wehrte sich, schrie auf und – begann doch zu verstehen. Ja. Der Salieri war tags zuvor lange bei dem Alten gesessen – dem Neuwirt selbst war es aufgefallen und – und …
Da kroch es wieder an ihr empor: die plötzliche Angst von damals, ihn um Gottes willen auch nicht eine Minute allein zu lassen! Und doch war sie gegangen! Das Schicksal aber war lautlos hereingeschlichen und hatte sich an die Seite des Geliebten gesetzt. Und ob es nun der Wahnsinn oder das Verbrechen gewesen, sie fühlte: es war sein Tod!
»Und das hast verschwiegen?« schluchzte sie auf. »Die ganze, lange Zeit?«
»Ich bin zum van Swieten gegangen, hab' Pulver um Pulver genommen …«
Der Name des berühmten Arztes schlug wie ein Blitz in ihre Seele. Würde der bloß ein Pulver aufschreiben und – schweigen, wo es sich um ein – Verbrechen handelte? Wie hatte er damals gesagt? »Haben Sie acht auf Ihren Mann. Er muß ein seelisches Trauma erlitten haben.« Nun schien ihr auf einmal, sie könne sich auch das fremde Wort deuten. Und das war vor Prag gewesen.
Mit einem Ruck schüttelte sie das Dunkle von sich.
›Nur jetzt soll mir unser Herrgott beistehen,‹ dachte sie, ›daß ich's ihm ausred'. Alles andre wird von selber gut.‹
Sanft legte sie die Hand auf seinen Arm, strich weich und mütterlich daran herunter. »Schau, Amadé, sei vernünftig! Wenn ein berühmter Arzt wie der van Swieten dir nur ein Pulver gibt und weiter nichts dazu sagt, kann ja das nit so schlimm sein. Oder meinst, der fänd' das Gift nit heraus? Hast ihm denn auch nur ein Wort g'sagt, von deinem Bedenken?«
»Wer möcht' mir's denn glauben?«
»Also siehst.«
»Und doch ist es so!« kam es fest von seinen Lippen.
»Also werd' ich noch den Doktor Klosset fragen, und da werden wir hören …«
Sie sah ihn an, doch er schwieg und schaute über den Weg hinüber, wo hoch und purpurn die giftige Dolde blühte.
»Einbildung ist's,« sprach sie laut. »Und nit erst seit Prag geht das her.«
»Da hast recht,« nickte er müde. »Der Tod hat schon früher an'klopft bei mir.«
Sie starrte ihn an.
»Der Graue, Lange, weißt? Der sich nit nennen wollt' oder kunnt'!«
Ihre Hände verkrampften sich. »Amadé! Was du dir all's aussinnst!«
»Doch!« kam es bestimmt zurück. »Ich schreibe das Requiem für mich …« Sie wollte etwas sagen, aber seine Hand, brennend rot und hoch geschwollen, legte sich schwer auf ihr Knie. »Sei still. Wenn es einmal so weit ist, weiß jeder, wie es mit ihm steht. Es ist nur –«
Er hielt ein, sah mit einem qualvollen Blick um sich – dann in ihr Antlitz. Plötzlich schlug er beide Hände vors Gesicht: »Ich weiß nit, wie ich vor unserem Herrgott bestehn soll!« Und ein tiefes, mächtiges Schluchzen brach aus seiner Brust hervor.
» Du, Amadé, den er so g'segnet hat!« weinte sie auf. »Aber das ist ja alles …«
Seine Hände fielen herab, über die totenblassen Züge breitete sich der Ausdruck eines Ernstes und einer Größe, die sie nie darin gesehen. »Man kommt aus seiner Hand, aber wenn man wieder zu ihm zurück soll … Soweit ist man ohne ihn gegangen, wie oft gegen ihn und plötzlich ruft er einen an. Ich – fürcht' mich, Stanzi!« Ein Schauer lief über seine hageren Glieder.
»Komm, gehn wir,« sprach sie tonlos. »Es wird kühl.«
Noch selten hatte Mozart so sehr die Stille der Nacht herbeigesehnt wie diesen Abend. Nicht bloß der körperlichen Ruhe wegen. Ein Etwas in ihm verlangte nach dem beredten Schweigen dieser Stunden, die ihm soviel mehr gaben, als der geschwätzige Lärm des Tages, ihn langsam aber stetig mit dem geheimnisvollen Dunkel versöhnten, in das er sich allmählich versinken fühlte. Er ließ sich von Stanzi zu Bett bringen, nahm geduldig sein Pulver, ließ es mit einem müden Lächeln geschehen, daß Stanzi Notenpapier und Federkiel von seinem Pulte nahm, es versperrte und den Schlüssel abzog. Sie trug ja auch ein Teil der Last, weiß Gott! Und die zornige Hast, in der sie die unheilbringende Arbeit entfernte, rührte ihn um ihrer Kindlichkeit willen. Sie meinte es so gut mit ihm. Aber helfen – nein helfen konnte ihm nur mehr Gott. So allein war er schon.
Nur eines hatte Frau Stanzi unbeachtet gelassen, so klug sie auch war: das kleine, schwarze Andachtbüchlein, dem der Meister Strophe um Strophe den Text des Dies irae entnahm. Ein geistlicher Freund hatte es ihm geliehen, Abbé Stadler, und wer weiß wie lange und oft mit sich selbst herumgetragen. So hatte es den eigentümlichen Geruch der katholischen Sakristei angenommen, duftete nach Weihrauch und dem etwas moderigen Hauch, den alte, goldgestickte Paramente von sich geben, die Jahr um Jahr im Geflacker der Wachskerzen prunken. Es war dies etwas ganz Äußerliches. Aber für Mozart, der im letzten Jahrzehnt seines Lebens den religiösen Bräuchen ganz fern geblieben, war dieser Geruch zugleich eine Erinnerung. Seine gläubige Kindheit schien aus der Ferne der Jahre darin herüberzuatmen; die Andacht, die seine junge Seele einmal so ganz hingenommen, die Poesie des kirchlichen Pompes. Wenn er sich auch ängstlich hütete, es jemandem zu sagen, er selbst verhehlte sich's nicht: ein gut Teil der echt kirchlichen Weihe, die von seinem Requiem ausging, kam über diese Erinnerung her und über diesen Duft.
Mit einer Art verstohlener Freude bemerkte er deshalb die Versäumnis Frau Stanzis, wenngleich er vorerst des festen Willens schien, diese Nacht der Ruhe zu pflegen. Aber – und auch dies war erst seit der Arbeit an dem Requiem über ihn gekommen: eine gewisse Freude an den geheimnisvollen Empfindungen, die sich von diesem Werk zu seiner Seele herüberspannen, ob er auch von Tag zu Tag mehr fühlte, daß es nicht zu seinem Heil ausschlug. Doch konnte er sich so wenig dagegen wehren, als er sich selbst bis vor kurzem eine Rechenschaft darüber gegeben. Aber wie er nun dalag und auf den eintönigen Schlag der Springuhr des alten Domes lauschte, war es ihm fast ein unbehagliches Gefühl, sich selbst seinem Weibe soweit mitgeteilt zu haben. Als hätten seine Worte wie mit brutalen Händen die Brücke abgebrochen, die seine Seele mit einer Welt verband, aus der etwas von den Geheimnissen zu ihm herüberfand, die wie gebändigte Ungeheuer zu Fußen Gottes schliefen. Ein Grauen war es, ihrem Gesicht standzuhalten. Aber solange man sie nicht mit Namen nannte, dienten sie einem. Ihm hatten sie gedient; so oft er sein Werk vor sich sah, fühlte er's. Nun hatte er sie zum ersten Male angerufen – vor fremdem Ohr – und ihm schien, als wäre damit ein Zauber zerstört, seine letzte Kraft gebrochen.
Dabei sagte er sich allerdings, daß es eigentlich das Fieber sei, das ihm Urteil und Widerstand also trübe und breche. Hatte das Pulver seine Wirkung getan, sah er alles wieder, wie es eigentlich war. Nur die Glut des durcheinandergepeitschten Blutes ließ ihm Gedanken und Empfindungen so toll vorüberflüchten, daß er für Wirklichkeit nahm, was bloß die Bildkraft eines krankhaften Zustandes war. Auch heute sagte er sich's vor, immer wieder, immer wieder. Hoffte, über die Monotonie dieses Gedankens endlich ins Reich des Schlummers hinüberzufinden. Umsonst! Und plötzlich hielt er das Buch in Händen, er wußte selbst nicht wie.
Der Papierstreifen, den er als Lesezeichen hineingelegt, fand sich nicht mehr vor. Er mußte blättern, um den Text zu finden. Dabei geriet er auf ein Bildchen, das Abbé Stadler in dem Buche vergessen. Es war der dornengekrönte Heiland. Darunter die Worte: Über ein Kleines werdet ihr mich nicht mehr sehen – und über ein Kleines werdet ihr mich wieder sehen.
Ohne es sonderlich zu betrachten, legte Mozart das Bild zur Seite. Nur um das Dies irae war ihm zu tun. Da schlug er es auf und las: » Recordare, Jesu pie, quod sum causa tuae viae, ne me perdas illa die.« Am Rand der Seite hatte ihm Stadler in zierlicher Schrift den deutschen Text hingesetzt: »Gedenke, milder Jesu, daß ich der Grund deines Kreuzwegs bin, laß mich nicht verloren gehen an jenem Tage.«
Darunter – er zählte sie ab – noch zehn Strophen. Aber – er kam an die eine nicht heran, über die eine nicht hinüber – noch immer nicht! Wie eine tote Saite lag es in seiner Seele und gab keinen Klang. Frau Stanzi hatte ihm eine neue Kerze angesteckt, daneben stand ein Glas Wasser. Er fühlte Durst und langte mit zitternder Hand danach. Als er das Glas wieder zurückstellte, fiel ihm das Bildchen ins Aug', das er früher fast ungeduldig weggelegt: Christus im Spottmantel, die Dornenkrone auf dem Haupt. Es war ein grelles Bild, und das Licht der flackernden Talgkerze strich wie mit blutigen Schatten darüberhin. Er zog es aus dem Lichtschein, behielt es eine Weile zwischen den Fingern, sah müde darauf nieder.
Wie merkwürdig das Bild fortleuchtete – dieser rote Spottmantel – selbst im Schatten!
Langsam senkte Mozart die Lider. Vielleicht war es auch nur der Brand seiner Augen … Das Bild in der Hand, dämmerte er ins Reich des Traumes hinüber.
Wieder schien ihm, er wandle durch den Prater. Wenigstens sah er eine weite, grünende Fläche vor sich. Daneben lief ein Damm, und über diesen Erdwall ging er, aber nicht allein. Zu seiner Rechten schritt ein langer, hagerer Geselle, gar wunderlich gekleidet. Schwarze Beinkleider, die sich, immer enger zulaufend, knapp und straff um die Knöchel legten; Schuhe, die einen Schnabel hatten, der sich wie ein Widerhaken spitz und krumm zurückbog; ein Wams, das so faltig schlotterte, als stäke kein Leib darinnen; darüber ein kurzes, schwarzes Mäntelchen, dessen bauschige Ärmel wie im Wind zurückflogen. Auf dem Haupt trug der lange Geselle ein spitz zulaufend Hütlein, von dessen Schwärze eine rote Feder gar seltsam abstach und das nicht recht fest zu sitzen schien, als hätte der Kopf, den es deckte, irgendeinen Höcker, auf den es hin- und widerrutschte. Eine übermäßig lange und scharf gebuckelte Nase gab dem Profil etwas Raubvogelartiges, und in den Augen leuchtete zuweilen ein flackerndes Licht auf, das einen rubinenen Schein hatte, wie niederbrennende Flammen.
Im Westen standen blitzdurchfahlte Wolkenbänke, grell und doch wie tot ging dazwischen die Sonne unter.
›Was will er nur von mir?‹ dachte der Träumende, mit dem klaren Gefühl, daß sein Weggenosse ihm so fremd sei, als hätt' er sich aus einer anderen Welt zu ihm gefunden.
Deutlich hatte er das Gefühl, dies nur gedacht zu haben, und wie eisig war das Staunen, das ihn durchrieselte, als der Lange ihm sofort eine Antwort gab, die wie ein Echo seiner unausgesprochenen Frage zurückkam.
»Wie komisch, daß Sie erst darüber nachdenken müssen, was ich von Ihnen will! Nachdem wir doch im Leben so viele Wege gemeinsam gegangen! Manchen allerdings glaubten Sie, allein zu gehen, und wenn Sie zufällig an mich dachten, lächelten Sie nicht anders, als wär' ich ein Spuk, etwas, das sich wider alle Vernunft zwischen Ihr Wollen und Ihr Handeln stellte. Die Menschen sind so stolz auf ihre Vernunft. Aber sehn Sie – gerade da war ich Ihnen immer am nächsten. Bloß – hinter Ihnen ging ich da –«
Ein kühler Hauch strich über die Heide, während der Unbekannte so sprach, und rechts und links bogen sich vor ihm die Gräser auseinander, als fürchteten sie, von ihm gestreift zu werden. Es war wie ein Schauer, der vor ihm herging.
»Wann und wo wär' ich mit Ihnen gewesen?« hörte sich der Träumende fragen.
Die Sonne war ganz untergegangen, die Wolkenbank zu einer schwarzen Mauer geworden, die sich langsam näher schob. Die Blitze zuckten noch immer hin und her. Aber wie er nun hinsah, war ihm, als hätten sie Schlangenleiber, auf denen die Köpfe scheußlicher Ungeheuer saßen. Doch hütete er sich, den anderen merken zu lassen, was er sah, aus einer Furcht heraus, über die er sich selbst keine Rechenschaft geben konnte.
Der Fremde aber neigte sich an sein Ohr, und mit einer Zischelstimme, die etwas von der Schärfe des Hauches hatte, der vor ihnen herstrich, fragte er: »Entsinnen Sie sich daran …? Und daran –? Und –« er wieherte förmlich auf vor Vergnügen … »und daran?«
Nicht ein Wort mehr hatte er gesagt, aber etwas in der Seele des Träumenden gab sofort Antwort. Wie ein dunkler Knäuel von Gedanken und Gefühlen war es, die sich gleich Schlangenleibern auseinanderwanden, daß er zugleich empfand und wußte und sah: Zorn – Neid – Haß – Wollust … böse, heimlichste Regungen. Manche – er fühlte es wie ein befreiendes Ausatmen – hatte er im Keim erstickt. Mit vielen gespielt, lang, hungrig. Irgendwo mußte ihr Schlangenleib die Griffspuren der Gier zeigen, die nach ihnen gefingert. An einigen war er gemein geworden. Und gerade dabei hatte seine – Vernunft ihm recht gegeben, ob ein heimlichster Instinkt ihn auch gewarnt.
Das alles durchlebte er noch einmal, gleichsam eines Blitzes Dauer lang, zugleich von dem Schauer einer Erkenntnis geschüttelt, die ihn fühlen ließ, daß feine Seele nicht einen Schlupfwinkel mehr habe vor dem stechenden Glanz dieser rubinenen Augen.
Und plötzlich wußte er alles: Der Satan ging neben ihm! Und seine Seele war ihm verfallen, so nicht ein Wunder geschah.
Wie Träumende aber in ihren erhabensten Gesichten immer irgendeinen kindischen Einfall haben, beruhigte er sich bei dem Gedanken, daß es ja von ihm abhänge, ob er den Teufel als solchen estimieren wolle oder nicht! Wenn er nach ein paar Schritten abbog und dem entsetzlichen Gefährten »Grüß' Gott!« sagte, mußte er verschwinden. Das schien ihm so gewiß, wie der Mut, mit dem er dem »Popanz« entgegengeschritten, der die »Erleuchteten« schrecken sollte.
Als er aber nun nach rechts und links sah, seinen Weg wahrzunehmen, da lag rechts und links ein unermeßlicher Abgrund vor ihm, und der Wall, über den er hinschritt, war zum schmalen Fußsteig geworden, davon ihn jeden Augenblick ein Schwindel hinabstoßen konnte oder das Grauen – oder der Feind, der mit stechenden Schritten und wehender Hahnenfeder neben ihm herging.
In dieser Not blieb er stehen und sah um sich und sahe plötzlich einen Mann, der in langem, weißem Gewande hinter ihm herging, mit goldenen Locken, die wie Sonnenstrahlen aufleuchteten, und einem Glanz im Auge, der eitel Erbarmen war. Nicht brauchte er erst nachzusinnen, wer dies wäre.
Er faltete die Hände und sprach wie in einem Gebete: »Laß mich nicht verloren gehen, Herr!«
Und der Heiland antwortete: »Meine Stunde ist noch nicht gekommen.«
Vor dem Geleucht seines Blickes aber schien das entsetzliche Traumgesicht zu zerrinnen und Mozart erwachte, in Schweiß gebadet, die Finger der Rechten wie in einem Krampf um das Bildchen geschlossen, das Abbé Stadler in seinem Andachtbuch vergessen.
Er setzte sich auf, legte das Bild in das Buch zurück, zwischen die Blätter, die das Dies irae enthielten. Sein Blick fiel dabei von ohngefähr auf die Strophe, bei der sein Werk gerade hielt. » Ne me perdas …« las er. Die Worte, die er an Christus gerichtet! Wie einfach das war und doch wie seltsam. Als hätt' er ein Wunder erlebt, ward ihm zumute. Wie lang er wohl geschlafen? Die Kerze, die er zu löschen vergessen, war nur um ein weniges herabgebrannt. Still und dunkel stand draußen noch die Nacht.
›Meine Stunde ist noch nicht gekommen!‹
Immer wieder sprach er es vor sich hin und gab den Worten zuletzt auch eine Deutung, die ihn mit neuer Zuversicht für seine Gesundheit erfüllte, so daß allmählich eine Ruhe über ihn kam, die etwas von der gesegneten Stille der Nacht hatte, die alles löst und entbindet. Er löschte das Licht, sank tief aufatmend in die Kissen zurück, schlief ein und traumlos weiter, bis ein fröhliches Lachen Frau Stanzis ihn verwundert die Augen aufschlagen ließ. Der helle, späte Morgen ging draußen über die Straßen. So lange hatte er geschlafen.
»Nun?« rief Frau Stanzi triumphierend. »Nun? Sehn so die Vergifteten aus?« Und wie er sich fühlte, mußte er mit ihr lachen. Das Fieber war wie weggeblasen, die Hand hatte ihr gewöhnliches Aussehen. Eine Frische und Arbeitslust regte sich in ihm, die sich nur schwer im Zaum halten ließ. Doch gelobte er, wenigstens zwei Tage nicht zu arbeiten. »Dann würde man ja seh'n,« meinte Frau Stanzi, mit einem beziehungsvollen Blick nach dem verschlossenen Pult. Einstweilen schickte sie den Kleinen über ihn, daß er sich nicht langweile.
Im Bett war er nun nicht länger zu halten. Das sah Frau Stanzi selbst ein, und als er sich tags darauf an einem reichen Mittagmahl gütlich getan, trug sie weiter kein Bedenken, ihm auch die Partitur auszufolgen. Und er stellte sich an sein Pult und schrieb und schrieb, daß sie ihren Augen nicht traute. Als es dämmerte, setzte er sich ans Spinett und ließ die bis nun noch toten Stimmen zum erstenmal aufleben. Mit gefalteten Händen stand sein Weib dabei.
»Wolferl – so was hast noch nit g'macht!«
Er erhob sich, und während er mit einem leisen Nicken in die sinkende Nacht hineinsah, erwiderte er ruhig: »Ja. Wenn ich jetzt auch sterben sollt' – das › Recordare‹ ist fertig!«
»Fangst wieder damit an?« zürnte Frau Stanzi.
»Andre Leut' woll'n auch ihr Recht!« gab er ruhig zurück. Sie fühlte, daß er wieder einmal auf den geheimnisvollen Besteller anspiele, und fuhr deshalb ziemlich derb in das Gespinst der traurigen Gedanken, die sie seine Einbildungen nannte.
»Wer weiß, wer den g'schickt hat. Daß es Salieri nit war, d'rauf trau' ich mir Gift zu nehmen! Meinst, der schickt dir eine solche G'legenheit ins Haus und hundert Dukaten dazu?«
Mozart sagte kein Wort. Zu voll war noch seine Seele von dem Wunderklang des eigenen Werkes, wie reingebadet in Bethesdaflut. » Ne me perdas – ne me perdas …« Alle Stimmen des Quartetts, in dem er das » Recordare« zusammengefaßt, riefen dem Heiland die Worte entgegen, mit denen er sich in der Not seines Traumes an ihn gewandt. Und wie damals nach dem Erwachen dachte er: ›Meine Stunde ist noch nicht gekommen.‹ Ja, es war ganz seltsam, wie wohl er sich wieder fühlte.
Doch das Fieber, das seinen Leib verlassen, schien nun doppelt mächtig seine Seele hinzunehmen. Tag um Tag fand ihn vor seinem Pult, die Qual der Verdammten, das selige Aufjauchzen der Begnadeten, die Angst der noch zu Richtenden – allen Stimmen des Weltgerichts lieh er Körper und Seele. Und obgleich er sonst ganz wohl schien, nahmen seine Züge doch mehr und mehr einen Ausdruck an, der seinem Weib wie seinen Schülern nicht recht gefallen wollte. Eine Spannung, die wie atemlos einem fernen Ziel entgegengerichtet schien, hohle Wangen, tief eingesunkene Augen, Schläfen, die von Tag zu Tag mehr zurückzuweichen schienen.
Damit ging der Oktober hin, kam der November und mit ihm die ersten Winterstürme. Die »Zauberflöte« übte nach wie vor ihre Zugkraft, und von Zeit zu Zeit erschien Schikaneder, um von der vollen Kasse zu berichten, dem Jubel des Publikums, dem Enthusiasmus der Frauen Wiens. »Nur von Salieri ließ ich mich an deiner Stell' nit einladen, Bruder,« warf er einmal scherzhaft hin. Frau Stanzi sandte ihm einen bösen Blick zu – Mozart erblich, verriet sich jedoch in keinem Worte. Als Schikaneder aber wieder draußen war, meinte er bedeutungsvoll: »Hast g'hört, was die Leut' dem zutrau'n? Ich hab's zu spüren 'kriegt.«
»Der Schikaneder is' a Tratschglocken!« rief Frau Stanzi verächtlich. Konnte aber doch nicht hindern, daß gerade seine Worte ihr heimlich nachzugehen begannen. Und mehr denn früher gab ihr das veränderte Aussehen Mozarts zu denken: die hohlen Augen, das Ausfallen und plötzliche Ergrauen der Haare, ein seltsamer Ausschlag, der nicht weichen wollte.
Wenn der Neid doch solche Ungeheuer heranwachsen ließe? Ihrer einfältigen Seele graute es, solches nur zu denken.
Eines Morgens, als die Dämmerung des Wintertages noch trüb in den Fenstern stand, hörte sie aus dem Zimmer ihres Mannes Töne, wie ihr dünkte, daß sie noch niemals welche vernommen. ›Als wenn ein paar traurige Engel singeten,‹ dachte sie. Mit Mühe den Tränen wehrend, schlüpfte sie rasch in ihre Kleider und trat lautlos in die Stube ihres Mannes.
»Wolferl, um Gottes willen?«
Die weit geöffneten Augen wie in eine andere Welt gerichtet, spielte er weiter. Nur seine Lippen antworteten: »Das ist mir jetzt gekommen … auf einmal.« Mit bebender Stimme wiederholte er den lateinischen Text.
»Ich – versteh' nit,« hauchte Frau Stanzi.
Er erhob sich, klappte das Spinett zu. Den Blick noch immer starr vor sich hingerichtet, sprach er ihr den deutschen Wortlaut: »In den Staub gebeugt bitt' ich flehentlich, ein wie Asche zerriebenes Herz – trag Sorge meines Endes.«
»Gott,« stammelte sie … »Wie man das – g'spürt!«
»Ja, wenn man's – g'spürt hat!« gab er kaum vernehmbar zurück.
»Wie sagst?« fragte sie. Da trat er ans Fenster und sah hinaus, wie es schien nicht gewillt, noch länger darüber zu sprechen.
Als der Monat zu Ende ging, begann sich wieder eine merkwürdige Unrast im Wesen Mozarts zu zeigen. Des Nachts fand er fast gar keinen Schlaf mehr und obwohl er die Arbeit wieder wochenlang ruhen ließ, verfiel er doch sichtlich von Tag zu Tag.
Ohne ihm etwas zu sagen, lief Frau Stanzi zu van Swieten. Dabei erfuhr sie, daß Mozart noch immer heimlich kam und merkte zu ihrem Schrecken, daß auch der berühmte Arzt über das eigentliche Wesen des Übels durchaus nicht im klaren schien. Einige Fragen, die er stellte, regten sogar in ihr den Verdacht an, daß auch van Swieten eine meuchlerische Untat heimlich für möglich hielt; obgleich er sich in höfischer Glätte hütete, ein bestimmtes Wort darüber laut werden zu lassen. »Ruhe, Schonung, bestmögliche Nahrung und Pflege« empfahl er für den Kranken und setzte, nicht ohne eine besorgte Miene hinzu: »Hätt' er gleich nach dem Prager Anfall ein tüchtiges Brechmittel genommen, wär' ihm rascher zu helfen gewesen« … Mehr war nicht aus ihm herauszubringen. Dagegen versprach er für einen der nächsten Tage seinen Besuch. So ging Frau Stanzi heim, um nichts klüger oder sorgenfreier, als sie gekommen.
Am Abend dieses Tages trat sie zu einer Stunde, um die Mozart gern allein zu sein pflegte, in sein Zimmer und fand ihn noch im Dunkeln. Ans Fenster hingelehnt, starrte er ganz versonnen zum Mond empor, und ohne sie zu bemerken, sprach er leise: »Nun muß der Graue jeden Tag kommen.«
»Was red'st da wieder?« brach Frau Stanzi los. Aber wenn der Überraschte auch nicht gerade erfreut schien, so gestört zu werden, war er doch auch nichts weniger als betreten. Er wandte sich vielmehr ruhig nach ihr und erwiderte laut: »Nun ja, das war die Frist, die er mir gegeben hat – fünf Vollmonde lang.«
»Monate wird er g'sagt haben,« sprach Frau Stanzi unwillig. »Als ein vernünftiger Mensch, der er mir zu sein schien. Ich hab' ihn doch auch g'sehn.«
Der Meister hatte sich wieder dem Fenster zugekehrt, und während er aufs neue zum Mond emporstarrte, dessen Licht in frostiger Bläue auf seinem bleichen Antlitz lag, murmelte er düster: »Nicht alle Menschen seh'n dasselbe.«
»Verhört wirst dich haben,« warf Frau Stanzi hin.
Er fuhr herum, lächelte bitter und sagte achselzuckend: »Gott geb's!« Sein Blick aber ging ihr durch und durch.
In der Nacht, die diesem Abend folgte, wurde Mozarts Gattin durch einen lauten Schrei geweckt. Erst dachte sie, der Ruf schlüge von der Straße herein; als sie aber nach der Tür ihres Gatten hinhorchte, vernahm sie ein schmerzliches Gestöhn, das von Zeit zu Zeit durch ein heftiges Würgen abgelöst wurde. Halbnackt und fast besinnungslos stürzte sie in das Zimmer des Kranken.
»Licht, Licht!« wimmerte er ihr entgegen. Mit bebenden Händen machte sie Licht … Da lag er, wie gelähmt, Hände und Füße hoch geschwollen, unfähig, sich auch nur nach der Seite zu wenden, zugleich von einem Brechreiz gepeinigt, der die Adern an Stirne und Schläfen hochaufquellen ließ und das arme, verfallene Antlitz fast blau färbte.
Rasch weckte Frau Stanzi das Mädchen, es nach dem Hausarzt zu schicken; der kam, nicht gerade flink, im Morgengrauen an, befühlte den Kranken, verschrieb eine Mixtur und hastete förmlich hinaus, in einer Art, deren Verlegenheit sich nur schlecht verbarg. Noch im Laufe des Vormittags sandte Frau Stanzi nach van Swieten, und wieder schien ihr, als wäre van Swieten durchaus nicht überrascht von dem, was er sah. Fast eine Stunde untersuchte er den Kranken, befliß sich aber wieder der größten Zurückhaltung und schien nur erfreut, daß dem Gelähmten wenigstens die Sprache geblieben. Die Geschwulst an Händen und Füßen besah er stumm, sagte aber voraus, daß sie wieder weichen werde und damit auch hoffentlich die Lähmung. Nachdem er noch die Verschreibungen des Hausarztes durchgesehen und gutgeheißen, empfahl er sich.
Der Tag ging hin, die Mittel schienen sich zu bewähren. Der Brechreiz setzte aus, die Beweglichkeit des Kranken nahm gegen Abend stetig zu. Als der nächste Morgen anbrach, war Mozart wieder soweit, daß er die Besuche mehrerer Freunde und Schüler empfangen konnte. Da war nicht einer, der ihm nicht etwas Liebes und Freudiges sagte, ihm nicht in irgendeinem Scherz- oder Trostwort etwas von der sonnigen Güte und Heiterkeit zurückgab, die der Meister in gesunden Tagen so reich und freigebig über sie alle ausgegossen. Blumen, gute alte Weine brachten sie an sein Bett, die Ärmsten wenigstens dieses oder jenes Hausmittelchen, das sich in diesem oder jenem Falle bewährt. Wer ihn zwischen den Kissen so aufrecht sitzen sah, munter sprechen, zuweilen scherzen hörte, seine blitzenden Augen sah, die feine Röte, die zuweilen in dem fast durchsichtigen Alabaster der hohlen Wangen stieg, konnte vielleicht noch meinen, ihm sei zu helfen.
So gingen fast zwei Wochen hin. Am Ende der zweiten Woche aber merkten auch seine Schüler, wie es eigentlich um den Meister stand. Immer häufiger kamen sie, gewillt, ihm alles zu tun, was ihn etwa noch erfreuen könne, erzählten von dem großen Erfolg der »Zauberflöte«, hüteten sich aber, auch nur mit einem Wort an sein letztes Werk zu rühren. Der Kranke aber durchschaute sie sehr wohl und als Süßmayr eines Abends eben zum Aufbruch rüstete und dem Meister neue Hoffnung auf die Genesung machen wollte, die nun nicht lange mehr auf sich warten lassen könne, ging Mozart scheinbar auf dies Spiel ein.
»Ich fühle mich in der Tat so,« entgegnete er mit einem kaum merkbaren Lächeln. »Und weil dem endlich so ist, möcht' ich dir, mein lieber Bittermayr, noch mit einem Anliegen beschwerlich fallen.«
Völlig ahnungslos, erklärte sich Süßmayr zu allem bereit. Worauf Mozart ihn ersuchte, für den Nachmittag des folgenden Tages seinen Schüler Schack und den Sänger Gerl, der die Rolle des Sarastro kreiert hatte, an sein Lager zu bitten. Zu welchem Zwecke, sagte er nicht, und obgleich auch Süßmayr über die eigentliche Absicht des Meisters gänzlich im unklaren war, sah er doch keinen billigen Grund, den Wunsch des Kranken nicht zu erfüllen. Nur die seltsame Rührung fiel ihm auf, die Mozarts Worte durchzitterte, als er ihm für seine Bereitwilligkeit dankte. Doch hatte er keine Zeit, erst lange darüber nachzudenken. Wollte er dem Meister gefällig sein, mußte er sich rasch auf die Beine machen. Musiker und Komödianten sind lose Vögel, die man nicht immer zur rechten Zeit erwischt.
Dieselbe Einladung ließ Mozart noch in derselben Stunde an seinen Schwager Hofer ergehen, der gleichfalls Sänger war. Und auch Frau Stanzi ahnte nicht, weshalb es geschah.
Während der Nacht, die diesem Tage folgte, schien der Kranke völlig ruhig, nahm willig Pulver und Tropfen, fragte zuweilen nach der Stunde, kehrte sich aber immer wieder aus dem Lichtkreis der Kerze, bis Frau Stanzi seinem Wunsch willfahrte und völliges Dunkel herrschen ließ. Da öffnete er weit und groß die Augen, faltete die welken Finger über der Brust und sagte leise, ganz leise die Gebete vor sich hin, die er seit seiner Kindheit nicht mehr gebetet. Frau Stanzi, die nebenan etwas der Ruhe pflegte, hörte nichts. Und wenn sie zuweilen ganz sachte die Türe öffnete, schien ihr bloß das leise Geseufz eines Schwerschlummernden durch die Stille herüberzuwehen. Sollte sie ihn stören? Sie war selig, daß er überhaupt schlief.
Auch den ganzen Morgen über schien der Meister sich ungemein wohl zu fühlen. Seine Augen schienen wieder etwas von ihrem alten Glanz zu haben, sein Antlitz war leicht gerötet. Er sprach lauter und rascher, wie ein Mensch, dessen Seele eine angenehme Erwartung beflügelt. Die Uhr aber kam fast nicht mehr aus seiner Hand.
So nahte die zweite Nachmittagsstunde – mit ihr die Freunde, die er beschieden. Nachdem er sie begrüßt und ihnen für ihre Treue gedankt, bat er Frau Stanzi, ihn im Bette aufzurichten, denn für das, was er nun vorhabe, müsse er hochliegen. Die Freunde sahen sich an, wagten aber noch immer nichts zu denken.
Er merkte es und das Lächeln eines schattenhaften Triumphes glitt über seine Züge. Und während sein Blick langsam von einem zum andern ging, sprach er ruhig: »So. Und nun, liebe Brüder, reicht mir das Requiem her! Dort liegt es.«
Seinem Weibe verschlug es den Atem. Da sie jedoch dachte, daß er irgendwelche Verfügungen vorhabe, ließ sie es, nach einem fragenden Blicke Hofers, ruhig geschehen, daß der Schwager die Partitur vom Pulte nahm und schier andächtig dem Meister zur Hand legte.
Mit wenigen Griffen fand Mozart die Stimmen heraus. Wer beschreibt aber das Staunen, um nicht zu sagen das Entsetzen der Überraschten, als er Heft um Heft an sie zu verteilen begann und sie bat, ihm als letzte Liebe sein Requiem vorzusingen?
Gerl war sprachlos, dem braven Schack stürzten die Tränen aus den Augen, Frau Stanzi mußte sich an den Bettpfosten klammern, um nicht umzusinken. Über ihre Angst und ihren Schmerz ging der flehende Blick des Kranken hin, beredter und mächtiger, denn ein lauter Befehl.
Der kluge Hofer fand sich zuerst: »Recht gerne,« sagte er, scheinbar willig, »aber wir haben keinen Alt.«
In die Wangen des Meisters trat eine flackernde Röte: »Den sing' ich!«
»Amadé,« schrie Frau Stanzi auf. Der Meister sah sie nur an.
»Wenn ihr wirklich glaubt, daß ich soweit bin, als ihr mir all die Tage vorgemacht habt …«
Da schlug Frau Stanzi die Schürze vors Antlitz und stürzte hinaus.
»Sie ist nur ein Weib,« sprach Mozart ruhig. »Aber wir?«
Die Blätter zwischen den Händen der Männer zitterten.
Mozart sah sie an, lächelte.
Endlich ließ er den Blick auf Gerl ruhen: »Nun, Sarastro, führ' mich ins Licht!« Und die Art, in der er zu ihnen sprach, wirkte wie ein Zauber.
Sie erhoben sich – begannen zu stimmen – setzten ein.
Die bleiche Hand, die des Todes Male trug, schlug ihnen den Takt; die Stimme, an der er schon würgte, mischte sich mit dem lebendigen Dreiklang der ihren. Etwas Übermenschliches und Überirdisches strömte von dem Kranken zu ihnen hinüber.
Und sie sangen, sangen. Immer mächtiger, zuletzt wie hingerissen. Sangen weiter und weiter bis …
Plötzlich sah jeder ein leeres Blatt vor sich. Im selben Moment hefteten sich ihre Blicke wie fragend auf den Kranken.
Er saß noch immer aufrecht im Bett – wollte etwas sagen. Aber plötzlich breitete er die Arme aus, schluchzte auf … »Ich werd' es nicht mehr vollenden …« Sein Haupt fiel nach vorwärts, seine Tränen rollten wie Perlen auf das weiße Linnen nieder.
Scheu, ohne ein Wort zu wagen, schlichen die Freunde aus der Stube. Sollten sie ihn noch einmal anlügen? Er war zu groß dazu.
Als Frau Stanzi wieder eintrat, staunte sie … die Freunde hatten ihr geraten, den Meister eine Weile allein zu lassen, damit er erst Herr seines Schmerzes werde.
Aber … da saß er ja – wieder aufrecht im Bett – schlug den Takt, starrte mit glänzenden Augen vor sich hin – über sie hinweg.
»Amadé?« hauchte sie scheu. Er schien sie nicht zu hören.
» Iudicandus homo reus …« sang er vor sich hin.
Plötzlich stieß er einen lauten Schrei aus, sank zurück – die Augen noch immer weit und starr geöffnet … Was er auch sah – nicht sie war es mehr.
Auf den Plätzen, wo die Freunde gestanden, standen wieder drei: riesengroß, in einem grauen, fast schwärzlichen Licht verschwimmend. Er erkannte sie und wie ein Alp legte sich's auf die ringende Brust des Sterbenden. Es war der geheimnisvolle Besteller des Requiems, der Harfner war's, der ihm das Gift gemischt, der Satan war's, der mit dem höhnischen Lächeln des Wissenden durch seinen Traum gegangen.
Und sie sangen.
» Iudicandus homo reus …«
Er bäumte sich auf, öffnete den Mund, schlug die Hände wie zum Gebet vor der Brust zusammen.
» Pie Jesu domine …«
Plötzlich verklärte sich sein Antlitz – sein Blick wurde wieder frei …
Die Türe, durch die er so viele Monde all seinen Kummer und seine Angst stumm und verzweifelt aus- und eingetragen – sie hatte sich weit geöffnet.
Ein weißer Glanz brach auf ihn ein; ein Atem, wie von blühenden Bäumen, wenn sie in der Fülle ihres Blustes stehn. Glorienscheinumwebte Seraphhäupter drängten sich in den Spalt – lilienfingrige Engelshände hielten die Stimmen seines Requiems …
» Lacrimosa dies illa …« klang es zu ihm herüber. Seine Töne und doch – und doch …
Er hob die Hände –
Langsamen Schrittes glitt eine hohe Gestalt auf ihn zu. Eine Dornenkrone umschloß die weiße Stirne, ein scharlachfarbener Mantel umhüllte die Glieder. Die Rechte hielt das Spottzepter fest. Es war nur ein Rohr … der dürre Stab, den der Erlöser in seiner schwersten Stunde festgehalten, wie seinen Glauben an die Menschheit.
Aber die drei Schreckgestalten versanken vor diesem Zepter, ohnmächtig, schattenhaft, wie alle Angst dieser Erde: das Schicksal, der Böse, der Tod …
Und der Heiland trat an das Lager des Meisters, und während er die Hände auf das hämmernde Herz legte, sprach er mit dem Lächeln einer Mutter: » Dona ei requiem!«
Als der Arzt im Laufe des Abends erschien, fand er, daß ein Größerer vor ihm dagewesen.