Rudolf von Gottschall
Schulröschen
Rudolf von Gottschall

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Erstes Kapitel.

Da lag das Städtchen im Thal . . . über den roten Dächern erhob sich der alte Kirchthurm, von Dohlen umflattert. Rauchsäulen stiegen geradeauf in den hellen Himmel, doch sie kamen nur von den stillen Heimstätten der Bürger; die lärmende Industrie hatte in das Thal noch nicht ihren Einzug gehalten.

Der Eisenbahnzug eilte auf der leicht sich senkenden Bahn dem Städtchen zu.

Vorher noch eine Haltestelle . . . ein Passagier sprang aus dem Waggon; er schlug einen Fußpfad ein, der zwischen Getreidefeldern und über Wiesen sich hinschlängelte und gerade auf ein höher gelegenes dunkles Gebäude hinführte, das ansehnlich über die andern Dächer des Städtchens hinausragte.

Auf einem kleinen Hügel machte der Wanderer 2 Halt: hier stand eine hohe Linde, welche würzigen Blütenduft ausstreute und ein Schwarm von Bienen summte in der hohen Laubkrone.

Eine morsche Steinbank stand unter ihr . . . man hatte von hier einen freundlichen Anblick des Städtchens, das sich da zwischen den grünen Hügeln warm gebettet hatte.

Der Wanderer schien tief ergriffen von diesem Anblick . . . und doch war es eine höchst alltägliche Landschaft, wie sie die Illustratoren von Kinder- und Jugendschriften zum Hintergrunde ihrer kleinen Bilder zu zeichnen pflegen: ein paar Baumgruppen im Vordergrunde, dahinter saubere Häuschen, die sich zusammendrängen im Schutze eines dickleibigen Kirchthurmes, und grüne Felder ringsum.

Doch nicht das schönste Landschaftsbild, nicht der Blick von der Zauberhöhe Camaldoli's auf das schöngeschwungene Parthenope, seine vielgegliederten Küsten und Meeresbuchten, die Inseln, die davor Wache halten, auf die Sibillengrotte und unterweltliche Scenerie, auf den Vulkan mit der Aschenkrone hätte einen so tiefen Eindruck auf das Gemüth des Wanderers machen können als diese 3 harmlose Idylle, diese kleine Häusergruppe, die da so friedlich vor ihm lag.

Das sagte er sich selbst . . . einen Augenblick tauchte die Erinnerung an jenes großartige Rundbild in ihm auf, das er erst im vergangenen Jahre zu seinen Füßen gesehen; doch es verschwand wie ein Nebelbild vor dem mächtigeren Reiz dieser unscheinbaren Wirklichkeit. Eine Thräne trat ihm ins Auge.

»Hier unter dieser Linde hab' ich oft gesessen . . . hier las ich Horaz und Virgil, aber auch Schillers Tragödien . . . hier den Fußweg bin ich hinunter gewandelt, um dem widerstrebenden Gedächtnis die alcäischen Strophen des Mannes von Venusia einzuprägen. Und wenn ich hier oben gelesen hatte und ausblickte von meinem Buche . . . wie ahnt' ich da hinter jenen Hügeln eine weite schöne Welt und goldene Zukunftsträume zogen durch meine Seele. Und wie eng erscheint mir, dem Vielgereisten, jetzt oft Welt und Leben.«

Nachdem er einige Zeit sinnend gestanden, schritt er weiter des Weges. Ueberall begrüßten ihn alte Erinnerungen an die Spiele seiner Jugend: dem 4 hohlen Weidenbaum hatten sie abends glühende Augen eingesetzt; es war eine Art von gespenstiger Illumination, welche das Nachtgevögel schreckte; dort auf dem Wiesenplan hatten sie Ball geschlagen bis tief in die sinkende Nacht; hier zur Rechten war der Pfad im Birkenhölzchen, wo sie dahinschritten, er und sein Freund, Orest und Pylades, und sich gleiche Freundschaft gelobten für das ganze Leben und ihre verschlungenen Namen schnitten in die hellen Rinden der lichten Bäume, die mit den beweglichen Blättern so gefühlvoll über ihren Häuptern flüsterten.

Jetzt führte der Weg den Hügel hinauf: links verstattete er den Blick in die Straßen des Städtchens; sie waren so schlecht wie früher; die kleinen Häuser waren noch älter und grauer geworden . . . ihm schien's, als wären sie noch näher an einander gerückt. Und das schöne Eckhaus mit den grünen Jalousien, das in seiner Erinnerung lebte als ein stattliches Prachtgebäude . . . wie dürftig erschien es ihm jetzt. Einst war es für ihn ein Zauberpalast; denn hinter den Blumen im Erdgeschoß zeigte sich oft ein artiges Gesichtchen . . . es war seine erste Liebe! Und er war glücklich, wenn er seine 5 blaue Mütze beim Vorübergehen grüßend abnehmen konnte. Doch damals war er noch in Tertia . . . und sie stand so unmeßbar hoch über ihm; sie konnte jeden Augenblick heiraten und sie that es auch . . . wer weiß, wohin das Leben sie verschlagen hat!

Der Wanderer schritt jetzt dem großen, grauen Gebäude auf dem Hügel zu; es war das Gymnasium! Es blickte ihn an mit seinen langen Fensterreihen, doch nicht so imponierend wie zu jener Zeit, als er noch mit der Schulmappe ihm zuschritt. Sein ehrwürdiges Aussehen war noch unentweiht durch irgend einen neuen ketzerischen Anstrich: nur kamen ihm die Fenster jetzt noch schmäler und niedriger vor als früher. Ja, wie ganz anders stand das alles vor seiner Seele . . . o, wo war das Augenmaß seiner Jugend und Kindheit geblieben?

Noch einmal ergriff es ihn mit wehmütigem Gefühl, als er die rostige Klinke erfaßte, um die Thüre zu öffnen, die in den Thorweg führte. Tausendmal hatte diese Klinke in seiner Hand geruht . . . und welche wechselnde Stimmungen hatten dabei seine Seele beherrscht: bald ein bängliches Gefühl, wenn er ein mißlungenes Scriptum in der 6 Schultasche mitbrachte oder die Reihen der römischen und deutschen Kaiser, die demnächst vor den Lehrern aufmarschieren sollten, bedenkliche Lücken zeigten, bald ein siegesgewisses Selbstgefühl, wenn schwierige Rechnungen stimmten, deren Lösung den begleitenden Gefährten versagt geblieben war. Wie kleinlaut hatte sich die alte Thüre in den Angeln gedreht, wenn's zu einem hochnothpeinlichen Halsgerichte über irgend ein gemeinsam verübtes Verbrechen ging, und wie flog sie im Sturme auf, wenn er vom Turnplatz kam und der Lehrer und Kameraden ihm einstimmig am Reck und Barren den ersten Preis zuerkannt hatten. War es ihm aber vorher gelungen, einen freundlichen Gruß von dem lächelnden Gesichtchen hinter den Blumen zu erhaschen, dann merkte er nichts von Thür und Thor; dann glitt er hindurch wie durch ein Zaubergewölk, das seine Phantasie um ihn ausbreitete, traumversunken und selig im Traume.

Und auch heute war's ihm traumhaft zumute, als er in den Thorweg trat. Rechts im Flur war die Loge, wo der Pedell Sturmwedel während der 7 Schulzeit Wache hielt: sonst war er im Hause des Direktors als Faktotum angestellt.

Und in der That, durch das Glasfenster der Thür, die zur Loge führte, blickte ein wohlbekanntes Gesicht: das war der alte kriegerische Schnauzbart, nur noch mehr ins Graue schimmernd; das waren die alten dicken Brauen, die sich weniger drohend, als gutmüthig über den funkelnden Augen lagerten; das war dasselbe scharf geschnittene Gesicht, das schon vor einem Jahrzehnt hinter diesen Glasscheiben sichtbar gewesen; das war dieselbe würdige Baßstimme wie früher, mit welcher der Thürhüter durch die halbgeöffnete Thür rief:

»Zu wem wünschen Sie, mein Herr?«

Jetzt erschien auch im Thürrahmen die lange Gestalt des Schulwächters, nur nicht ganz so hoch aufgerichtet wie früher. Das Alter hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und ihn etwas zu Boden gedrückt.

»Kennen Sie mich nicht, Sturmwedel?« sagte der Fremde. Es trat eine Pause ein, nur unterbrochen durch ein seltsames Geräusch. Es war die Schnupftabaksdose Sturmwedels, die in ein 8 nachdenkliches Quiken verfiel; der Deckel konnte nicht umhin, allmählich der sachten Drehung nachzugeben und eine mit den Fingerspitzen sacht und würdevoll erhobene Prise bemühte sich vergeblich die Gedächtniskraft Sturmwedels zu stärken.

Es flog zwar bisweilen wie ein freudiger Schimmer von Aufklärung über seine Züge; er glaubte das Gesicht wiederzuerkennen. Doch der kurze Sonnenblick machte bald wieder düsterer Enttäuschung Platz.

»Gustav von Felsen,« sagte der Fremde jetzt.

»Wußt ich's doch,« rief Sturmwedel, »Blitz noch, was wird meine Alte sagen!«

Und jetzt stürzte er auf Felsen zu, drückte ihm die Hand wacker und herzlich.

»Sie sind's . . . Herr Gustav, Herr Baron, welche Freude!«

In diesem Augenblicke schlug die alte Gymnasialuhr, die noch heiserer geworden war als früher, vier Uhr, und das ganze Gymnasium entschaarte sich ins Freie. Lauter fremde Gesichter, Schüler und Lehrer. Felsen entzog sich dem Sturm und Drang, indem er sich halb in die Portierloge 9 zurückzog. Ein ganz anderes Geschlecht . . . diese Schüler, welche zum Teil lustige Operettenmelodien sangen, diese Lehrer, von denen einige so fashionabel aussahen, als wenn sie aus einem Salon kämen, nicht aus der Schule, in der einen Hand elegant eingebundene Bücher, mit der andern den gepflegten zierlichen Schnurrbart kräuselnd. Besonders der eine fiel Felsen auf; er war nach der neuesten Mode gekleidet; ein Duft von Parfüms löste sich von ihm los, als er an der Thür des Portiers vorüberschritt; er hatte ganz die großen Mienen eines vornehmen Herrn.

»Das ist Oberlehrer Berning,« sagte Sturmwedel auf Felsens Anfrage.

Kaum war der wilde Troß vorbeigestürmt, da kam noch ein altes Herrchen mit einem überaus wohlwollenden Gesicht, das aus der Umrahmung der silbernen Haare so freundlich hervorblickte. Das war ein guter Bekannter, ein fossiler Überrest aus Felsens Schulzeit; es war der Zeichenlehrer, der mit seinem kundigen Bleistift die krummen Häuser gerade gerückt, den wolkigen Baumschlag, der wie schäumige Milch aussah, etwas verständlicher gegliedert 10 und die unmöglichen Gesichtswinkel der gezeichneten Köpfe auf ein glaubwürdiges Maß zurückgeführt hatte. Der arme, alte Zeichenlehrer! Was hatten sie nicht alles in den Mappen versteckt und hinter seinem Rücken getrieben; welche Caricaturen wurden da zu Papier gebracht, welche Romane gelesen, die alsbald an Stelle der Vorlagen traten, wenn der Alte den Rücken gekehrt hatte. War er doch selbst ein verunglücktes künstlerisches Genie, der mühselig die Aehren las auf einem Felde von dem er sich einst die reichsten Ernten versprochen hatte.

Felsen konnte nicht umhin, ihn zu begrüßen . . . es war ihm, als müßte er dem gutmüthigen Alten allen Schabernack abbitten, den er in seiner Jugend an ihm verübt. Der Zeichenmeister erschrak fast über die Anrede des fremden Herrn . . . doch bald fand sich das freundliche Lächeln auf seinen Lippen wieder ein, und da er ein gutes, durch seine Kunst geübtes Gedächtniß für Physiognomien hatte, so tauchte auch bald wieder sein Schüler Felsen in der Erinnerung auf. Und er war gerührt über das Wiedersehen . . . niemals hatte sich irgend einer seiner Zöglinge später um ihn gekümmert; Felsen 11 war der erste seit langen Jahrzehnten . . . und ein so unerwartetes Ereigniß drängte ihm eine Thräne ins Auge. Wie beschämt schlich er dann fort, den einsamen Pfad weiter wandelnd, wo ihm nur Dornen der Enttäuschung und des Spottes wuchsen, aber diesmal mit einer kleinen Genugthuung im Herzen.

Wiederum knirschte die Dose des alten Pedell's, als er mit gastfreundlichem Lächeln Felsen ersuchte, auf einem Stuhle in seiner Loge Platz zu nehmen. Einige Schulreglements sahen mürrisch von den Wänden des kleinen Raumes herab; das Bild des Directors, der vor einiger Zeit sein Jubiläum gefeiert hatte, hing unter einem vergilbten und verwitterten Lorbeerkranz, von dem die trockenen Blätter abfielen. Das Bild war eine Zeichnung des alten Herrn, welcher Felsen im Hausflur begrüßt hatte: es zeigte in scharfen Umrissen die Züge des Schulmonarchen, die nach dem Vorbilde vieler großer Gelehrten in energischem Styl geschnitten waren: eine Adlernase, deren kräftiger Vorsprung etwas im Widerspruch stand mit einem zurückfliehenden Kinn, sodaß ein Physiognom in Verlegenheit gewesen wäre, das Durchgreifende und Schwächliche in Einklang zu 12 bringen, welches er beides aus diesen Zügen herauslesen mußte; doch um die Lippen schwebte das milde Lächeln jener Urbanität, welche die klassische Bildung ihren Meistern und Jüngern mitzutheilen pflegt.

»Wie geht es unserem Director?« fragte Felsen auf das lorbeerumkränzte Bild zeigend; »ich habe seit langen Jahren nichts von ihm gehört. Nachdem ich die Universität verlassen, bin ich auf weite Reisen gegangen.«

»Na«, meinte Sturmwedel, »es hat sich da drüben viel verändert, seit Sie dort ein Pensionär waren. Die erste Frau Directorin, die Sie kannten, ist vor sechs Jahren gestorben.«

»Und ihre kleine, niedliche Tochter?«

»Röschen? O, die ist sehr hübsch und sehr gelehrt geworden und sie lebt auch noch im Hause des Vaters. Doch hört' ich vor einigen Tagen, daß sie dasselbe bald verlassen wird.«

»Und warum?«

»Ja, Herr Baron . . . das ist eine eigene Geschichte! Director Rostner hat vor fünf Jahren wieder geheirathet und seine zweite Frau ist ganz anders als die erste war. Die war ein liebes 13 Hausmütterchen, eben wie meine Alte, nur natürlich eine Etage höher und auch etwas sanfter und geduldiger; doch die zweite Frau ist . . . nun, wie sag ich doch gleich . . . eine Dame!«

»Eine Dame?«

»Ja, sie hat so etwas Elegantes, Seidenrauschendes, und sie giebt sich oft den Anschein, als sei es sehr herablassend von ihr gewesen, daß sie den Herrn Director geheirathet, da sie damit eine eigentliche »gnädige Frau« nicht geworden. Wir tituliren sie einmal nicht so; sie gehört zum Schulfache und da sind alle Katzen grau.«

»Ist sie denn von vornehmer Herkunft?«

»Das eigentlich nicht, sie hat entfernte Vettern von Adel; doch sie lebte mit ihrer Mama in sehr bescheidenen Verhältnissen, und die Rittergüter der Familie spielten nur in ihren Gesprächen eine große Rolle; in Wirklichkeit warfen sie ihr keinen Pfennig Zinsen ab. Sie hat gar keine Ursache herablassend zu sein. Nach meiner Ansicht ist sie eine Bank hinaufgerutscht, als sie die Frau unseres Directors wurde; sie ist jetzt eine hochansehnliche Frau und 14 die blauen Mützen des ganzen Gymnasiums fliegen vom Kopfe, wo ihre Feder vom Hute weht.«

»Ich bin in der That neugierig, diese Dame kennen zu lernen«, versetzte Felsen, »wie schlicht und einfach war ihre Vorgängerin im Hauswesen!«

»Ja, nicht blos schöne Töchter, sagt meine Alte immer, auch schöne Frauen sind ein goldenes Ei, das der Teufel einem in die Wirthschaft legt. Und sie konnte es sagen, denn sie war nie schön, meine Alte, und hatte hierin mit dem Teufel nichts zu thun; aber klug war sie immer . . . und man merkte auch bisweilen ihren Pferdefuß.«

»Nun . . . die Dame will wohl Röschen nicht im Hause dulden?«

»Sie nimmt ihr zu vielen Platz fort . . . die neuen Kinder wachsen heran, jedes Kalenderjahr wird mit einer Kindtaufe bezeichnet. Und weil sie eine Dame ist, die Frau Directorin, so braucht sie auch viel Geld; denn sie muß eine Toilette nach der Mode haben und dann hat sie auch . . . wie heißt es doch gleich? . . . einen jour fixe: da kommt alles in's Haus und erhält Thee und Butterbrödchen und da trommelt sie auf dem Pianoforte und singt, 15 daß man's über die ganze Straße hört, und die Herren Lehrer müssen ihr den Hof machen, um sie herum hüpfen und düfteln, denn ihr zu Liebe parfümirt sich alles und zieht Lackstiefeln an und sie führt dann die Unterhaltung mit »Spritt«, wie meine Alte immer sagt. Und wenn's auch nur Thee und Butterbrödchen sind: das kostet doch Geld. Und da hat sie sich denn entschlossen, wieder Pensionäre zu halten, obschon ihr das anfangs nicht vornehm genug war; doch Noth bricht Eisen. Und wo soll da Röschen bleiben? So groß ist die Amtswohnung nicht.«

»Das arme Mädchen.«

»Ich bin ein alter Freund von ihr . . . eine Prise, Herr Baron? Mir sagt sie alles . . . sie hat sich schon nach einer Stellung umgesehen und erwartet täglich einen erwünschten Bescheid. O, es kann ihr nicht fehlen . . . sie ist eine Lateinerin und Griechin und in ihrem gelehrten Kränzchen ertheilt sie jungen Mädchen darin Unterricht.«

»Ei sieh da«, rief Felsen verwundert aus, »das kleine Röschen, mit dem ich früher oft so herablassend 16 gespielt habe, ist ein solches Wunder von Gelehrsamkeit geworden?«

»Mir thut's leid, daß sie fort muß oder fort will . . . an ihre Stelle kommen dann die garstigen Pensionäre.«

»Doch bedenken Sie, Sturmwedel, daß ich selbst jahrelang ein Pensionär des Directors war.«

»Nichts für ungut, meine Alte sagt immer, wo ein Pensionär hintritt, da wächst kein Gras! Sie ist nicht mehr so kräftig wie früher und es wird ihr eine große Last werden, drüben das Haus in Ordnung zu halten.«

Der Pedell plauderte noch einige Zeit lang im gleichen Tone fort; dann bat ihn Felsen, er möge ihn in die Klassenzimmer führen, in die Prima und Secunda.

Eine schräge, vom Sonnenschein angeglühte Staubwolke hing in den öden Räumen, die Felsens Fuß betrat; auf der Schultafel standen halbverlöschte stereometrische Figuren und mathematische Formeln; unten in den Winkel hatte eine verbrecherische Hand mit kecken Umrissen zwei Lehrerprofile hingezeichnet, welche Sturmwedel alsbald mit wohlwollendem 17 Schwamm, um alle künftigen Conflicte zu vermeiden, fortwischte.

Auf den Bänken suchte Felsen seinen Namen, den er einst als memento mori zur Erinnerung an jene Stunden, wo er vor Langeweile fast gestorben wäre, in das geduldige Holz eingeschnitten hatte. Daneben standen die Anfangsbuchstaben anderer Namen . . . und sie weckten in ihm wehmütige Erinnerungen an die alten Genossen. Zwei Buchstaben genügten, um ein lebendiges Bild hervorzuzaubern. Aus einem A. und Z. erstand der semmelblonde Anton Zalow mit den gutmüthigen blauen Augen, genannt der »Schäfer«, der, wenn er sein Pensum hersagte, die Hirtenflöte blies; aus dem W. und R. der Wilhelm Rudberg mit dem scharfen Blicke, der aus einem Buche lesen konnte, das vier Bänke weiter vorn aufgeschlagen auf dem Tische lag, dessen eigentliches Wissen sich gar nicht controliren ließ, da er alles ablas und abschrieb, was sich in der Nähe und in der Ferne zeigte . . . man nannte ihn deshalb den »Somnambulen«, und aus zwei verschlungenen E. und D. erstand Carlchen Dunzer, der lustigste in der ganzen Klasse, der alle Lehrer 18 und alle Schüler in ihrer Sprechweise und ihren Manieren mit vollendeter Meisterschaft nachzuahmen wußte, vom tiefsten Grunzen des patriarchalischen Basses bis zur höchsten Fistel, die dem Primus eigen war und seine sonstigen Vorzüge wesentlich beeinträchtigte.

Während Sturmwedel das Katheder abstäubte und einige verschobene Bänke zurechtrückte, setzte sich Felsen auf seinen alten Platz, und es war ihm, als ob jetzt sein Namenszeichen wie die Buchstaben einer geheimnißvollen Kabbala seine ganze Magie entbände, als ob ein visionäres Leuchten durch das Schulzimmer ginge und wie aus einem Zauberspiegel Gestalten aufleuchteten, anfangs verdämmernd, dann immer lichter, deutlicher. Der Lärm der Klasse brauste um ihn . . . des Primus Fistelstimme ließ vergeblich den Ordnungsruf ertönen; da trat ein Lehrer nach dem andern auf das Katheder; der Mathematiker, ein quecksilbernes Männlein, der mit der Fingerfertigkeit eines Escamoteurs an die Tafel Figuren zeichnete und Formeln schrieb, und dem alle verwundert zusahen, wie Mephistopheles den Hexen um den Rabenstein: »weiß nicht, was sie kochen 19 und schaffen;« der Grieche, genannt der Chorführer, denn die Metrik der Chöre des Sophokles war sein Steckenpferd, und er mühte sich immer vergeblich ab, die Schüler in das Geheimniß der durcheinander taumelnden Längen und Kürzen einzuweihen; der Geschichtslehrer, ein urwüchsiger, kräftig gebauter Teutone, dem's auf eine kleine Geschichtsfälschung nicht ankam und der die Deutschen gelegentlich auch da siegen ließ, wo sie nach allen guten Quellen die Schlacht verloren hatten.

Zehn Jahre erst entschwunden . . . und mit ihnen alle diese Lehrer, versetzt, pensionirt, gestorben!

Und in dieser magischen Vision kam die alte Schulstimmung über Felsen: er empfand die Angst, wenn er sein Pensum nicht konnte, und den Jammer über die rothen Striche am Rande der Hefte, die hier und da so dicht standen, als wäre zum Sammeln geblasen worden, und die Freude über die rothe Eins, wenn sie wie der Posten vor dem Schilderhäuschen dastand und das Gewehr vor ihm präsentierte.

Er war so tief in Gedanken versunken, daß ihn 20 Sturmwedels ungeduldig knarrende Schnupftabaksdose erst in die Gegenwart zurückrufen mußte.

Er folgte ihm durch die hallenden Corridore und gab ihm dann eine Karte mit, die er dem Director abgeben sollte, um seinen Besuch bei ihm anzumelden. Dann ging er in's Hotel, wohin er seine Sachen von der Bahn bringen ließ, und dort im einsamen Zimmer hing er wieder seinen Träumen nach.

O diese kleine enge Welt . . . wie war sie doch damals so reich gewesen! in der Ferne lag so ahnungsvolle Dämmerung . . . das war das Leben!

Doch wem hatte es Wort gehalten?

Aus so schwermüthigen Gedanken riß sich Felsen gewaltsam heraus, um seine Toilette für den Besuch bei dem Director zu machen. 21

 


 


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