Maxim Gorki
Das Leben des Klim Samgin
Maxim Gorki

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»Nun denn«, sagte der Diakon und begann gedehnt, sinnend und leise:

»Als der Herr Jesus den Schlaf nicht fand.
Schritt er die himmlische Straße entlang,
Schritt von einem zum anderen Stern.
Mit dem Herrn Jesus gingen nur zwei:
Nikolaus der myrlikische Bischof
und der Apostel Thomas, sonst niemand.«

Es kostete Anstrengung, ihm zuzuhören. Die Stimme hallte dumpf, kirchenmäßig, zerdrückte und dehnte die Worte und machte sie auf diese Weise unverständlich. Ljutow stemmte die Ellenbogen in die Hüften und dirigierte mit beiden Händen, als wiege er ein Kind in Schlaf, und manchmal schien es, als streue er aus ihnen etwas hin:

»Denkt unser Herrgott hohe Gedanken,
Blickt hinab: die Erde dreht sich,
Wie ein Kreisel die schwarze Kugel,
Satan peitscht sie mit eiserner Kette.«

»Nun?« fragte Ljutow Klim mit einem Zwinkern, sein Gesicht bebte in einem harten Krampf.

»Störe nicht«, sagte Makarow.

Klim lächelte immer noch in gewisser Erwartung des Lächerlichen. Der Diakon glotzte zur Wand, auf einen dunkeln Stich in goldenem Rahmen und sprach hallend:

»›Ich war dort‹, spricht Christus trauernd.
Aber Thomas lächelt leise:
›Alle waren wir dort unten.‹
Christus sieht ins Erdendunkel,
Nikolaus, den Seligen, fragt er:
›Wer liegt trunken dort am Wege,
Schläft er, oder ist's ein Toter?‹
›Nein, Wassili aus Kaluga
Liegt und träumt von besserm Leben‹,
Spricht der selige Nikolaus.«

Ljutow hatte die Augen geschlossen, schüttelte heftig seinen wüsten Kopf und lachte lautlos. Makarow schenkte zwei Gläser voll Schnaps, trank das eine selbst aus und reichte das andere Klim.

»Christus, gnädiglich gelaunt,
Senkt als Taube sich zur Erde.
Tritt vor Waßjka: ›Ich bin Christus,
Hast du mich erkannt, Wassili?‹
Waßjka kniet vor Christus nieder,
Tief ergriffen, weinend fast.
›Herrgott‹, stammelt er, ›wie traurig,
Heut hab ich dich nicht erwartet.
Wärst du in der Früh erschienen,
Hätt das Volk dich schon empfangen,
Unser ganzer Kreis von Shisdrinsk.
Glocken hätten dir geläutet.‹
Schmunzelt Jesus in sein Bärtchen,
Spricht voll Milde zu dem Bauern:
›Kam nur schnell zu dir, Wassili,
Wollte deine Wünsche wissen.‹«

Ljutow streckte Samgin die linke Hand entgegen und flüsterte, während er mit der rechten Takt schlug, pfeifend:

»Hören Sie!«

»Waßjka, staunend, riß den Mund auf,
Denn das Glück raubt ihm die Sprache.
Flüstert endlich, Speichel schluckend:
›Herrgott, gib mir einen Rubel,
Einen nur, der nie sich ändert,
Ausgegeben doch nicht schwindet,
Unvergänglich auch beim Wechseln.‹«

»Genial!« rief Ljutow und warf die Hände empor, als werfe er dem Diakon etwas vor die Füße, der aber, die Augenbrauen gramvoll geneigt, ein Beben im dreifachen Bart, sprach:

»Geld führ ich nicht mit auf Reisen,
Thomas ist mein Schatzverwalter,
Er trat jetzt an Judas' Stelle.«

Ljutow konnte nicht länger zuhören. Er hüpfte, wand sich, verlor die Pantoffeln, klatschte mit nackten Sohlen auf den Boden und schrie:

»Was sagen Sie dazu? Wie? Was sagen Sie?«

Er hob sein Gesicht und die geballten Fäuste zur Decke und sang in dem näselnden Ton eines alten Kirchensängers:

»Den unvergänglichen Rubel gib mir, Herrgott! Nein, der Thomas, was? Der Skeptiker Thomas an Stelle des Judas, was?«

»Mach dem Krampf ein Ende, Wolodjka«, sagte grob und mit lauter Stimme Makarow, der sich Schnaps eingoß. »Genug der Raserei«, fügte er wütend hinzu.

Ljutow riß sich vom Diakon, den er umarmte, los, stürzte sich auf Makarow und umarmte den:

»Du bist immerfort um meine Würde besorgt? Nicht nötig, Kostja! Ich weiß, es ist nicht nötig. Wozu, hol's der Teufel, brauche ich Würde, was soll ich damit? Und du sollst dem dreschenden Ochsen das Maul nicht verbinden, Kostja!«

Samgin war so verwundert, daß er die Fassung verlor. Er sah, daß das schöne Gesicht Makarows sich verfinstert hatte, daß er die Zähne fest zusammenbiß und daß seine Augen naß waren.

»Du weinst doch nicht?« fragte er, unsicher lächelnd.

»Was sonst? Soll ich etwa lachen? Das ist durchaus nicht zum Lachen, Bruder«, sagte Makarow schroff. »Das heißt, vielleicht ist es lächerlich – ja . . . Trink, Wißbegieriger, der Teufel weiß es, wir Russen können wohl nur Wodka trinken, mit wahnsinnigen Worten alles zerbrechen und verstümmeln, grausig über uns selbst spotten und überhaupt . . .«

Er machte eine resignierende Bewegung mit der Hand.

Klim fühlte sich in einer eigentümlichen Lage. Unter der Wirkung des getrunkenen Schnapses und der sonderbaren Verse verspürte er plötzlich einen Andrang von Traurigkeit. Durchsichtig und leicht, wie die blaue Luft eines sonnigen Tages im Spätherbst, rief sie, ohne zu beschweren, den Wunsch hervor, allen etwas Herzliches zu sagen. Das tat er denn auch, während er mit dem Glas in der Hand dem Diakon gegenüberstand, der in gekrümmter Haltung ihm vor die Füße sah.

»Sie sind sehr originell in Ihren Versen. Und überraschend. Ich gestehe, ich erwartete etwas Komisches.«

Der Diakon straffte sich und erhellte sein dunkel gerötetes Gesicht mit einem Lächeln seiner beinahe farblosen Augen.

»Mit Komischem kann ich auch dienen. Es ist ja eine lange Dichtung, sechsundachtzig Verse. Ohne Komisches geht es bei uns nicht, es würde unwahr sein. Ich habe zum Beispiel gewiß mehr als tausend Menschen beerdigt, aber eines Begräbnisses ohne komischen Zwischenfall entsinne ich mich nicht. Richtiger gesagt, ich erinnere mich nur der scherzhaften. Wir sind ja ein Volk, das auch auf dem bittersten Weg über einen Witz stolpert!«

Ljutow, der sich unter Verrenkungen aufs Sofa fallen ließ, schrie und bat:

»Laß, Kostja! Das gute Recht des Aufruhrs, Kostja . . .«

»Weiberaufruhr! Hysterie. Geh, gieß dir kaltes Wasser über den Kopf.«

Makarow stellte den Freund ohne Anstrengung auf die Füße und führte ihn hinaus. Der Diakon aber erzählte auf Klims Frage, was denn nun Waßjka aus Kaluga mit dem unvergänglichen Rubel gemacht habe, mit nachdenklicher Miene:

»Christus kehrt in den Himmel zurück, bittet Thomas um den Rubel und wirft ihn Waßjka hinunter. Waßjka beginnt zu saufen und zu bummeln, – natürlich, wie könnte es anders sein?«

»›Waßjka trinkt und ißt und buhlt,
Schenkt Harmonikas den Burschen,
Zaust die Greise an den Bärten,
Brüllt, daß man's im Umkreis hört:
›Spuck auf euch, ihr Erdenmenschen!
Ich kann sündigen, ich kann büßen,
Alles tu ich, wie ich's will.‹«

»›Christus ist mein Busenfreund.
Immer ist für mich geöffnet
Und bereit das Paradies.‹«

Aber der berüchtigte Wolgaräuber Nikita, der erfahren hat, woher Waßjkas beständiger Rubel stammt, stiehlt ihm die Münze, schleicht sich nach Diebesart in den Himmel und spricht zu Christus: »Du, Christus, hast es verkehrt gemacht. Ich begehe für einen Rubel allwöchentlich schwere Sünden, und du hast ihn dem Faulenzer und Schürzenjäger geschenkt, das ist nicht schön von dir!«

Ljutow kehrte zurück, mit glattgekämmtem Haar, in Hose und Kittel.

»Den Schluß, den Schluß mußt du erzählen!« schrie er.

Der Diakon lächelte erstaunt:

»Ja, ich erzähle doch! Christus gibt Nikita recht: ›Richtig‹, sagt er, ›ich habe mich in meiner Herzenseinfalt geirrt. Ich danke dir, daß du die Sache in Ordnung gebracht hast, obgleich du ein Räuber bist. Bei euch auf der Erde‹, sagt er, ›ist alles derartig durcheinander geraten, daß man sich nicht mehr zurechtfinden kann. Mag sein, daß du recht hast. Es heißt, dem Teufel in die Hand arbeiten, wenn Güte und Einfalt schlimmer als Diebstahl sind.‹ Er klagt, als Nikita von ihm Abschied nimmt: ›Schlecht lebt ihr, habt mich ganz vergessen.‹ Und Nikita sagt dann:

»Du, Christus, zürne uns nicht.
Wir haben dich nicht vergessen.
Auch hassend lieben wir dich.
Im Haß auch dienen wir dir.«

Tief und geräuschvoll aufseufzend, sagte der Diakon:

»Und das ist der Schluß.«

»Das kann niemand verstehen!« schrie Ljutow. »Niemand! Dieses ganze europäische Gelichter wird niemals den russischen Diakonus Jegor Ipatjewski verstehen, der dem Gericht übergeben ist wegen Schmähung der Religion und Gotteslästerung, begangen aus Liebe zu Gott! Kann ihn auch gar nicht verstehen!«

»Das ist wahr, ich liebe Gott sehr«, sagte der Diakon einfach und überzeugt. »Aber meine Forderungen an ihn sind strenge: er ist kein Mensch, man braucht ihn nicht zu schonen.«

»Halt! Wenn es ihn aber nicht gibt?«

»Die das behaupten, irren sich.«

Jetzt mischte sich Makarow ein.

»Es gibt keinen Gott, Vater Diakon«, sagte er, ebenfalls sehr überzeugt. »Es gibt ihn nicht, weil alles dumm ist!«

Ljutow winselte, während er die Streitenden aufeinander hetzte, und sagte zu Samgin:

»Wissen Sie, weshalb er vor Gericht gekommen ist? In seinen Gedichten wirft die Mutter Gottes in einem Gespräch mit dem Teufel diesem vor: ›Warum hast du mich dem schwachen Adam überlassen, als ich Eva war? Als dein Weib hätte ich ja die Erde mit Engeln bevölkert!‹ Wie finden Sie das?«

Klim lauschte sowohl seiner erregten, bohrenden Stimme wie dem hohlen Baß des Diakons:

»Natürlich, das dröhnt mit Posaunenschall, wenn ein kleines Menschlein das Weltall eine Dummheit nennt, nun und dennoch ist es lächerlich . . .«

»Das Weib ist dumm beschaffen . . .«

»Darin bin ich mit Ihnen einverstanden. Überhaupt scheint es, als sei das Fleisch auf Widersprüche gegründet, aber vielleicht nur deshalb, weil die Wege seiner Vereinigung mit dem Geiste uns noch unbekannt sind . . .«

»Ihr Kirchlichen verhöhnt das Weib . . .«

Ljutow stieß Klim an und kreischte begeistert:

»Wer würde es wagen, von Gott so zu reden, wie wir?«

Klim Samgin hatte niemals ernsthaft über das Dasein Gottes nachgedacht. Ihm fehlte das Bedürfnis dafür. Und jetzt fühlte er sich angenehm berauscht, wünschte Musik, Tanz, Lustbarkeit.

»Man sollte irgendwohin fahren«, schlug er vor. Ljutow warf sich aufs Sofa, zog die Füße zu sich heran und fragte grinsend:

»Zu Mädels? Aber Sie sind doch wohl Bräutigam? Wie?«

»Ich? Nein«, sagte Klim und fügte, sich selbst unerwartet, hinzu:

»Dieselbe Geschichte wie bei Ihnen . . .«

Sogleich glaubte er auch, daß es so sei, etwas riß in seiner Brust und erfüllte ihn mit dem Qualm beißender Trübsal. Er begann zu schluchzen. Ljutow umarmte ihn und suchte ihn auf jede Weise zu trösten, wobei er liebevoll Lidas Namen aussprach. Das Zimmer schaukelte wie ein Boot, an der Wand leuchtete silbrig gleich einem Wintermond das Zifferblatt der Uhr von Moser und schwang in sichelförmigem Bogen wie ihr Pendel.

»Du mißfielst mir sehr«, sagte Klim, aufschluchzend.

»Allen mißfalle ich.«

»Du bist ein Revolutionär!«

»Alle sind wir Revolutionäre . . .«

»Also hat Konstantin Leontjew recht: man muß Rußland einfrieren.«

»Dummkopf!« sagte Ljutow erschrocken. »Dann wird es in Stücke springen wie eine Flasche.«

Und rief aus:

»Übrigens, zum Henker mit ihm! Mag es in Stücke springen, damit Ruhe wird!«

Dann saßen alle vier auf dem Sofa. Im Zimmer wurde es eng. Makarow füllte es mit Zigarettenrauch, der Diakon mit dem dichten Nebel seiner Baßstimme. Man konnte kaum atmen.

»Die Seelen sind voll des Leides, der Geist aber ist sehr verzagt . . .«

»Mach halt an dieser Stelle, Diakonus!«

»Das Leben ist kein Gefilde, keine Wüstenei, man kann nirgends haltmachen.«

Die Worte hämmerten gegen Samgins Schläfen, versetzten ihm Stöße.

»Ich erlaube nicht, daß man die Wissenschaft schmäht,« schrie Makarow.

In den Diakon kam Bewegung. Er begann, sich langsam aufzurichten. Als er, lang und dunkel, wie ein unheimlicher Schatten, mit dem Kopf gegen die Decke stieß, knickte er ein und fragte aus der Höhe herab:

»Und wie gefällt Ihnen dies?«

Schwingend wie ein Glockenklöppel, brüllte er, dröhnte er mit ganzer Macht:

»Den an Gottes Existenz Zweifelnden – Anathema!«

»Anathema! Anathema!« sang durchdringend, mit Begeisterung Ljutow. Der Diakon echote feierlich mit Grabesstimme: »Anathema!«

»Schweigt!« gröhlte Makarow.

Des Diakons Gebrüll betäubte Klim und stieß ihn in eine dunkle Leere hinab. Aus ihr trug Makarow ihn wieder empor.

»Steh auf! Es ist die fünfte Stunde!«

Samgin erhob sich langsam und setzte sich auf das Sofa. Er war bekleidet, nur Rock und Stiefel waren ausgezogen. Das Chaos und die Gerüche im Zimmer führten in seinem Gedächtnis sogleich die verbrachte Nacht wieder herauf. Es war finster. Auf dem Tisch, inmitten von Flaschen, brannte in zweifarbigem Licht eine Kerze. Ihr Wiederschein fing sich sinnlos im Innern einer leeren Flasche aus weißem Glas. Makarow zündete ein Streichholz nach dem andern an. Sie flammten auf und erloschen. Er beugte sich über die Kerzenflamme, stieß eine Zigarette hinein, löschte unversehens das Licht und schimpfte:

»Teufel nochmal!«

Dann fragte er:

»Du glaubst also, Lida hat sich in diesen Idioten verliebt?«

»Ja«, sagte Klim, fügte jedoch nach zwei oder drei Sekunden hinzu. »Wahrscheinlich . . .«

»Na . . . geh, wasch dich.«

Es gelang ihm, die Kerze anzuzünden. Klim bemerkte, daß seine Hände heftig zitterten. Beim Fortgehen blieb er auf der Schwelle stehen und sagte leise:

»Der Diakon hat da vorhin was von der Mutter Gottes, dem Teufel und dem schwachen Menschen Adam hergesagt. Sehr schön! Eine gescheite Bestie, dieser Diakon.«

Er malte mit dem Feuer der Zigarette Zeichen in die Luft und sagte:

»Nicht Christus und nicht Abel braucht die Menschheit.
Sie braucht Prometheus-Antichrist.«

»Das ist glänzend gesagt!«

Er warf die Zigarette heftig auf den Fußboden und ging hinaus.

Ein kahlköpfiger Greis mit einer Beule auf der Stirn half Klim beim Waschen und führte ihn dann wortlos hinunter. Dort, in einem kleinen Zimmer, saßen beim Samowar drei ernüchterte Menschen. Der Diakon, in dieser Nacht noch magerer geworden, glich einem Gespenst. Seine Augen erschienen Klim nicht mehr so ungeheuer groß wie gestern. Nein, es waren die ziemlich gewöhnlichen, wässerigen und trüben Augen eines bejahrten Säufers. Auch sein Gesicht war im Grunde alltäglich. Solchen Gesichtern begegnete man nur allzu häufig. Hätte er sich seinen dreifachen Bart abnehmen und die wellige Lämmerwolle auf seinem Kopf scheren lassen, er wäre einem Handwerker ähnlich gewesen. Ein Mensch wie aus einem Witz. Er redete auch in der Sprache der Erzählungen Gorbunows.

»Die Gitarre verlangt einen träumerischen Charakter.«

»Kostja, hör auf, die Gitarre zu martern«, sagte Ljutow, eher befehlend als bittend.

Klim schlürfte mit Gier den starken Kaffee und erriet: Makarows Rolle bei Ljutow war die häßliche Rolle des Schmarotzers. Schwerlich vermochte dieser verkrampfte und pöbelhafte Schwätzer jemand ein Gefühl aufrichtiger Freundschaft einzuflößen. Da begann er auch schon wieder, die gelangweilte Zunge zu wetzen:

»Ja, wie soll man das verstehen, Diakon, wie soll man es verstehen, daß du, ein reinblütiger russischer Mensch, ein Wesen von ungewöhnlichster Farbigkeit, an Langeweile leidest?«

Der Diakonus schüttete Salz auf ein Stück Roggenbrot, hustete dumpf und antwortete:

»Die Langeweile hat mit echt russischem Wesen nichts zu tun. Die Langeweile macht allen Menschen zu schaffen.«

»Aber welche?«

»Auch Voltaire langweilte sich.«

Und augenblicklich, gleich einem Haufen Hobelspäne, loderte ein Streit auf. Ljutow hüpfte auf seinem Stuhl in die Höhe, klatschte mit der Hand auf den Tisch und kreischte. Der Diakon erdrosselte sein Geschrei kaltblütig mit wuchtenden Worten. Während er mit dem Messer das verstreute Salz ebenmäßig über den Tisch strich, fragte er:

»Ja, gibt es denn dieses Rußland? Nach meiner Ansicht, existiert es so, wie du, Wladimir, es siehst, nicht.«

»Ach, wie ihr mir zum Halse heraushängt«, sagte Makarow und trat mit der Gitarre zum Fenster, während der Diakon eigensinnig weiterkanzelte.

»Gotteshäuser haben wir, aber eine Kirche fehlt. Die Katholiken glauben alle römisch, wir dagegen synodisch, uralisch, taurisch und, weiß der Satan, wie noch . . .«

»Aber weshalb? Weshalb, Samgin?«

»Wie jede Ideologie, sind die religiösen Anschauungen . . .«

»Wissen wir«, sagte in grobem Ton der Diakon. »Mein Sohn ist auch Marxist. Er versprach einmal, ein Dichter zu werden, ein Nekrassow, statt dessen behauptet er jetzt, daß der landlose Bauer nicht fähig sei, an den Gott des Dorfreichen zu glauben. Nein, nicht darum handelt es sich. Das ist in Wahrheit das Elend der Philosophie. Die wirkliche Philosophie des Elends aber hörten wir, der Herr Samgin und ich, ja vor drei Tagen. Der Philosoph war unansehnlich, aber man muß sagen, daß er es meisterhaft verstand, den wahren Kern aller und jeder Beziehungen bloßzulegen, indem er zeigte, daß der verborgene Mechanismus unseres Daseins die krasse Blutgier ist. Dreimal hörte ich ihn und versuchte mit ihm zu streiten, vermochte aber die Gewalt seines Denkens nicht niederzuringen. Meinen Sohn kann ich bei allen seinen Schachzügen in die Enge treiben, diesen Mann aber nicht.«

Der Diakon lächelte breit und beifällig.

»Ich rede nicht zum Vergnügen. Ich bin ein wißbegieriger Mensch. Wenn ich mit einem mir nahestehenden, aber einer unruhigen Auffassung vom Dasein huldigenden Laien zusammentreffe, gebe ich ihm zwei, drei Stöße in der meinem Sohn so teuren marxistischen Richtung. Und immer zeigt es sich, daß der Laie die Anfangsgründe dieser Lehre gewissermaßen schon unter der Haut trägt.«

»Der Marxismus ist also eine Hautkrankheit?« rief Ljutow erfreut aus.

Der Diakon lächelte.

»Nein, ich sagte doch: unter der Haut. Können Sie sich die Freude meines Sohnes vorstellen? Er bedarf ja sehr der geistigen Freuden, dieweil er der Kraft zum Genüsse körperlicher beraubt ist. Er leidet an der Schwindsucht, und seine Beine sind gelähmt. Er war in der Sache Astyrews verhaftet und hat im Kerker seine Gesundheit eingebüßt. Vollständig eingebüßt. Tödlich.«

Der Diakon seufzte geräuschvoll und schlug mit einer Nuance von Verwegenheit vor:

»Wolodja, sollten wir nicht einen Punsch genehmigen?«

Ljutow sprang auf, schrie:

»Ich weiß, Diakon, weshalb wir alle ein zersplittertes und einsames Volk sind«, und rannte hinaus.

Der Diakon glättete sein Haar mit beiden Händen, zupfte sich am Bart und sagte darauf mit leiser Stimme:

»Der Frühling pocht ans Fenster, meine Herren Studenten.«

Das sagte er deshalb, weil vom Dach ein Stück tauenden Eises herabfiel und gegen das Eisen der Fensterfassung dröhnte.

Ljutow stürzte mit einer Flasche Champagner in der Hand ins Zimmer. Ihm folgte mit weiteren Flaschen ein rosiges, üppiges Stubenmädchen.

»Bereite ihn!« sagte er dem Diakonus. Doch weshalb die Russen das einsamste Volk der Welt seien, vergaß er zu erzählen, und niemand erinnerte ihn an seine Absicht.

Alle drei verfolgten aufmerksam den Diakon, der die Ärmel aufschürzte und dabei ein nicht sehr sauberes Hemd und die seltsam weiße und wie die einer Frau glatte Haut seines Arms entblößte. In vier Teegläsern mischte er Porter, Kognak und Champagner, schüttete Pfeffer in das trübschäumende Naß und forderte auf:

»Nehmet ein!«

Klim trank mutig, wenngleich er schon nach dem ersten Schluck fand, daß das Getränk widerwärtig war. Doch er war entschlossen, in nichts hinter diesen Menschen, die eine so unglückliche Vorstellung von sich besaßen und sich so aufreizend im Gestrüpp der Gedanken und Worte verirrt hatten, zurückzustehen. Unter dem brandigen Geschmack schaudernd, dachte er sekundenlang nochmals daran, daß Makarow sich nicht beherrschen und Lida verraten würde, wie er sich betrank, und daß Lida sich die Schuld geben würde. Mochte sie sich nur schuldig fühlen.

Eine Viertelstunde später flog er, während sein Körper auf einem Stuhl saß, gleich einer Schwalbe durch das Zimmer und redete in das dreibärtige Gesicht mit den ungeheuren Augen hinein:

»Ihre Gedanken scheinen Ihnen schillernd von Bedeutung und so weiter. Aber es sind überaus banale Gedanken.«

»Halten Sie ein, Samgin!« schrie Ljutow. »Dann ist das ganze Rußland eine Banalität. Das ganze!«

»Auch Christus, den wir angeblich lieben und hassen. Sie sind ein überaus schlauer Mensch. Aber Sie sind ein naiver Mensch, Diakon. Und ich glaube Ihnen nicht. Ich glaube niemand.«

Klim fühlte sich flammend. Er wollte eine Menge verletzender, aber entwaffnend richtiger Worte sagen, wollte diese Menschen zum Schweigen bringen. Er bat sogar, müde der Entrüstung:

»Wir sind alle sehr einfache Menschen. Lassen Sie uns einfach leben. Lebt einfach . . . wie die Tauben, Sanftmütig!«

Sie lachten schallend und schrien.

Dann fuhr Ljutow ihn in einem mit windschnellen Rossen bespannten Schlitten durch die Straßen, und Klim sah, wie die Telegraphenmasten zum Himmel emporhüpften und darin die Sterne umrührten wie Stückchen Orangenschale in einer Bowle. Dies währte vier Tage und Nächte. Dann lag Klim bei sich zu Hause im Bett und ließ die einzelnen Momente des langen Albtraumes an seinem Auge vorüberziehen.

Am tiefsten und dauerhaftesten hatte die Gestalt des Diakons sich in sein Gedächtnis eingegraben. Samgin fühlte sich mit seinen Reden behaftet wie mit Teer. Da stand der Diakon mit der Gitarre in der Hand mitten im Zimmer und sprach von Ljutow, der ganz plötzlich mit so verzweifelt aufgerissenem Mund, als stieße er einen lautlosen und um so furchtbareren Schrei aus, aufs Sofa gesunken und eingeschlafen war.

»Er säuft selbstmörderisch. Marx ist ihm schädlich. Auch mein Sohn zwingt sich gewaltsam, an Marx zu glauben. Ihm mag man es verzeihen. Er ist erbittert auf die Menschen wegen seines zerstörten Lebens. Einige sind gläubig aus dummer, kindischer Tapferkeit: der Kleine fürchtet die Dunkelheit, geht aber auf sie los, weil er sich vor den Kameraden schämt, schlägt sich blutig, um zu zeigen, daß er kein Feigling ist. Einige glauben aus Hast, aber die meisten aus Angst. Diese letzteren achte ich gering . . .«

Und wiederum – er hatte es endlich aufgegeben, Makarow im Gitarrespiel zu unterweisen – fragte er Klim:

»Haben Sie Sinn für Musik?«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, schwärmte er, während er mit den Fingern auf seine Knie trommelte:

»Wenn sie mich aus dem geistlichen Stand ausstoßen, werde ich in eine Glasfabrik gehen und mich mit der Erfindung eines gläsernen Musikinstrumentes beschäftigen. Sieben Jahre schon frage ich mich: warum wird Glas nicht zur Musik verwandt? Haben Sie in Winternächten, wenn Schneestürme brausen und man nicht einschlafen kann, zugehört, wie die Fensterscheiben singen? Ich habe wohl tausend Nächte diesem Gesang gelauscht und bin auf den Gedanken gekommen, daß gerade Glas und nicht Metall oder Holz uns die vollkommene Musik geben wird. Alle Musikinstrumente sollten aus Glas gemacht werden, dann würden wir ein Paradies der Töne erhalten. Ich werde mich unbedingt diesem Werk widmen.«

Ein schwärmerisches Lächeln milderte das knochige Gesicht des Diakons, und Klim schien es, als habe der Diakon sich das alles eben erst ausgedacht.

Noch zwei oder drei Begegnungen mit dem Diakon, und Klim stellte ihn in eine Reihe mit dem dreifingrigen Prediger, mit dem Menschen, dem es gefiel, wenn man die Wahrheit »von sich gab«, mit dem lahmen Welsjäger, mit dem Hausmeister, der absichtlich den Staub und Unrat der Straße den Sträflingen vor die Füße fegte und mit dem mutwilligen alten Bauarbeiter.

Klim meinte, es wäre schön, wenn ein mächtiger und schrecklicher Jemand diese Menschen anfahren würde:

»Was soll der Unfug?«

Nicht nur jene Menschen allein bedurften dieses drohenden Zurufs. Auch Ljutow brauchte ihn. Den Zuruf verdienten auch viele Studenten. Aber diese Erscheinungen der Straße, der unterirdischen Keller und des Albtraumes empörten Klim ganz besonders durch ihren Mutwillen. Wenn bei Onkel Chrisanf der lustige Student Marakujew und Pojarkow mit ihrem Freund Preis, einem kleinen, eleganten Juden mit feinem Gesicht und Samtaugen, einen Wettstreit über die Wahrheit der Volkstümlerbewegung und des Marxismus begannen, hörte Samgin diesem Wortgefecht beinahe gleichmütig und bisweilen mit Ironie zu. Nach einem Kutusow, der, langen Reden abgeneigt, geizig, doch unwiderstehlich, zu sprechen wußte, erschienen diese hier ihm als Schuljungen, ihre Diskussionen als Spiel und ihre hitzige Kampflust darauf berechnet, Warwara und Lida zu verführen.

»Jedes Volk ist die Verkörperung einer einmaligen geistigen Eigenart!« schrie Marakujew. In seinen nußbraunen Augen brannte wilde Begeisterung. »Sogar die Völker der romanischen Rasse unterscheiden sich auffallend voneinander, jedes stellt eine psychische Individualität für sich dar.«

Pojarkow, bestrebt, eindringlich und gelassen zu sprechen, ließ seine gelblichen Augäpfel blitzen, aus denen reglos die dunklen Pupillen starrten, stemmte seinen Bauch gegen den kleinen Preis, drängte ihn in eine Ecke und schraubte ihn dort zwischen seine kurzen, zornigen Sätze:

»Der Internationalismus ist eine Erfindung denationalisierter und deklassierter Leute. Die Welt wird regiert vom Gesetz der Evolution, das die Verschmelzung des Unverschmelzbaren ausschließt. Der sozialistische Amerikaner erkennt den Neger nicht als Genossen an. Die Zypresse wächst nicht im Norden. Beethoven ist in China unmöglich. In der Pflanzen- und Tierwelt gibt es keine Revolution.«

Alle diese Tiraden waren Klim mehr oder weniger vertraut. Sie schreckten nicht, reizten nicht auf, und in den Antworten des kleinen Preis lag sogar etwas Tröstliches. Er entgegnete sachkundig, mit Zahlen, und Klim war bekannt, daß eine genaue Rechnung Grundregel der Wissenschaft war. Im allgemeinen erweckten Juden nicht die Sympathien Samgins, doch Preis gefiel ihm. Er ließ die Reden Marakujews und Pojarkows gelassen über sich ergehen, betrachtete sie offensichtlich als etwas so Unvermeidliches, wie anhaltender Herbstregen. Er sprach ein auffallend reines Russisch, ein wenig trocken und im Ton eines Professors, dem seine Vorlesungen bereits langweilig geworden sind. In seinen festgefügten Sätzen fehlten vollständig die den Russen so teuren überflüssigen Worte, sie hatten nichts Blumenreiches, Kokettierendes, sondern etwas, was man greisenhaft nennen konnte und was gar nicht zu seiner hellen Stimme und zum festen Blick seiner Samtaugen paßte. Als Marakujew wie ein Feuerwerk aufzischte und abbrannte, und Pojarkow, der den ganzen Vorrat seiner abgehackten Sätze verbraucht hatte, Preis mit seinen ungleichfarbigen Augen hartnäckig fixierte, sagte er:

»Das alles mag schön sein, aber es ist nicht die Wahrheit. Die unbestrittene Wahrheit bedarf der Verschönerung nicht. Sie lautet schlicht und einfach: ›die ganze Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Klassenkämpfen.‹«

Klim Samgin empfand nicht das Bedürfnis, die Wahrheit, die Preis verkündete, zu prüfen, dachte nicht darüber nach, ob man sie anzunehmen oder abzulehnen hatte. Doch da er sich im Verteidigungszustand wußte und im Ziehen der Schlüsse aus dem, was er vernahm, ein wenig voreilig war, fand er in dem, ihm so fatalen »Kutosowismus« bereits eine wertvolle Eigenschaft: der »Kutosowismus« vereinfachte das Leben bedeutend, da er die Menschen in gleichartige Gruppen einteilte, die durch die Linien durchaus verständlicher Interessen streng voneinander geschieden waren. Handelte jeder gemäß dem Willen seiner Klasse oder Gruppe, so war es, wie schlau er seine wahren Wünsche und Absichten auch hinter den blumigen Geweben der Worte verstecken mochte, jederzeit möglich, den Kern seines Wesens – die Kraft der Gruppen- und Klassenbefehle – zu entlarven. Möglich, daß gerade der »Kutosowismus«, und nur er allein, es erlaubte, die vielen gespenstischen Menschen, wie der Diakon, Ljutow, Diomidow und andere, zu begreifen, ja mehr noch: vollkommen aus dem Leben zu entfernen. Doch hier tauchten eine Reihe schwieriger Fragen und Erinnerungen auf:

»Im Interesse welcher Gruppe oder Klasse lebt der gepflegte und solide Preis?«

Ihm fiel die überaus boshafte Frage Turobojews an Kutusow ein:

»Und wie nun, wenn die Klassenphilosophie sich nicht als Schlüssel zu allen Lebensrätseln erweist, sondern nur als Dietrich, der die Schlösser verdirbt und zerbricht?«

Es hallte die schreckeneinflößende Stimme des Diakonus:

»Man wird meinem gelähmten Sohn zustimmen, wenn er sagt: ›Einst glich die Revolution einem spanischen Abenteuerroman, einem gefahrvollen, aber äußerst angenehmen Spiel in der Art der Bärenjagd, heute jedoch ist sie eine tiefernste Sache geworden, rastlose Arbeit vieler einfachen Leute.‹ Dieses letztere gehört natürlich in den Bereich der Prophezeiung, ist aber nicht ohne Sinn. In der Tat: man hat alle Lungen mit der ansteckenden Atmosphäre vollgepumpt, und Beweis ihrer ansteckenden Wirkung sind nicht nur wir, die hier versammelten Trunkenbolde, allein.«

Die Zahl dieser Erinnerungen und Fragen nahm zu. Sie wurden immer widerspruchsvoller und verwickelter. Da er sich seiner Ohnmacht, Klarheit in dies Chaos zu bringen, bewußt wurde, dachte er mit Entrüstung:

»Aber ich bin doch nicht dumm?«

Daß er nicht dumm war – davon überzeugte ihn seine Fähigkeit, das Falsche, Fadenscheinige und Lächerliche an den Menschen zu entdecken. Er war sicher, unbeirrbar und scharf zu sehen: Die Moskauer Studenten tranken mehr als die Petersburger und waren leidenschaftlichere Freunde des Theaters. Die Menschen von der Wolga stellten die größte Zahl von Revolutionären. Pojarkow war ohne Zweifel sehr böse, lächelte aber, um seine Bosheit nicht zu zeigen, auf unnatürliche Weise und behandelte alle mit übertriebener Liebenswürdigkeit. Preis sah auf die Russen wie Turobojew auf die Bauern. Wenn Marakujew nicht so lustig wäre, würde es allen klar sein, daß er dumm war. Warwara trank sogar ihren Tee mit tragischer Pose. Onkel Chrisanf war ausgesprochen dumm, und er wußte es selbst.

»Ich bin ein guter Mensch, aber ohne Begabung«, pflegte er zu sagen. »Das ist das Rätselhafte! Einem guten Menschen sollte auch Talent gegeben sein, mir aber ist keins zuteil geworden.«

Die Zahl dieser Beobachtungen vermehrte sich rasch, Samgin gab sich keinem Zweifel bezüglich ihrer Richtigkeit hin. Er merkte, daß sie ihm eine immer sicherere Stellung unter den Menschen gaben. Schlimm war nur das eine, daß jeder Dinge sagte, die eigentlich Samgin selbst aussprechen sollte. Jeder bestahl ihn. So sagte Diomidow:

»Die Welt ist des Menschen Feind.«

In diesen paar Worten vernahm Klim sein eigenes Glaubensbekenntnis. Ärgerlich empfahl er Diomidow:

»Gehen Sie in ein Kloster.«

»Du hast ihn nicht verstanden«, sagte Lida mit einem strengen Blick, während Diomidow sein Gesicht mit den Händen bedeckte und durch die Finger hindurch murmelte:

»Auch das Kloster ist ein Käfig.«

Klim machte in letzter Zeit die Wahrnehmung, daß Lida den Requisitenmacher wie ein kleines Kind behandelte und sich Sorgen machte, ob er auch aß und trank und sich warm kleidete. In Klims Augen erniedrigte diese Fürsorge sie.

Diomidow war offenkundig anormal. Davon überzeugte Samgin endgültig eine seltsame Szene: Der Tischler und Requisitenmacher verließ Lida und zog seinen alten Mantel über. Er hatte bereits den linken Arm in den Ärmel gesteckt, konnte aber den rechten nicht finden und kämpfte lächelnd mit dem Mantel, den er dabei heftig schüttelte. Klim beschloß, ihm zu Hilfe zu kommen.

»Nein, lassen Sie«, bat Diomidow, zog den Mantel aus, streichelte liebevoll den eigensinnigen Ärmel und schlüpfte jetzt rasch und gewandt in den Mantel. Während er ihn mit den ungleichen Knöpfen schloß, erklärte er:

»Er liebt fremde Hände nicht. Die Sachen, wissen Sie, haben auch ihren Charakter.«

Er knetete seine Mütze in der Hand und sagte:

»In sehr starkem Maße haben sie ihn. Besonders die kleinen und jene, die man so häufig in die Hand nimmt. Zum Beispiel Instrumente: die einen lieben Ihre Hand, die anderen nicht, und wenn Sie sie fallen lassen! Ich zum Beispiel mag eine Schauspielerin nicht leiden, sie aber gibt mir eines Tages eine antike Schatulle zum Ausbessern. Eine ganz unbedeutende Reparatur. Sie werden es nicht glauben: ich habe mich lange geplagt und konnte damit nicht zurechtkommen. Die Schatulle ergab sich nicht. Bald schnitt ich mir den Finger, bald klemmte ich die Haut ein, bald verbrannte ich mich am Leim. So habe ich sie denn nicht ausbessern können. Denn die Schatulle wußte, daß ich ihre Herrin nicht liebe.«

Als er weg war, fragte Klim Lida, was sie dazu sage.

»Er ist ein Dichter«, sagte das Mädchen in einem Ton, der jeden Widerspruch ausschloß.

Über die Widerspenstigkeit der Dinge sprach Diomidow häufig.

»Die kleinen Gegenstände sind ungehorsamer als die großen. Einen Stein kann man vermeiden, man kann ihm ausbiegen. Vor dem Staub aber kann man sich nicht retten. Man muß mitten hindurch. Ich liebe es nicht, kleine Gegenstände zu machen«, seufzte er, schuldig lächelnd, und man konnte glauben, dieses Lächeln glühe nicht im Innern seiner Augen, sondern breche sich von außen her in ihnen. Er machte lächerliche Entdeckungen:

»Wenn man sich nachts von einer Laterne entfernt, wird der Schatten immer kürzer und verschwindet schließlich ganz. Dann scheint mir, daß auch ich nicht mehr da bin.«

Wenn Klim ihn neben Lida sah, empfand er ein aus Verständnislosigkeit und Ärger zusammengesetztes Gefühl.

Doch meldete sich die Eifersucht immer noch nicht, wenngleich Klim eigensinnig fortfuhr zu glauben, daß er Lida liebe. Dennoch wagte er es, ihr zu sagen:

»Dein Hang zur Romantik wird dich zu nichts Gutem führen.«

»Was ist das: das Gute?« fragte sie halblaut. Sie furchte dabei die Stirn und blickte ihm in die Augen. Während er sich achselzuckend zu einer Antwort sammelte, sagte sie:

»Ich glaube, die Beziehungen zwischen Männern und Frauen können niemals ›das Gute‹ sein. Sie sind unvermeidlich, aber Gutes ist nicht in ihnen. Die Kinder? Du und ich, wir beide waren Kinder, aber ich kann heute noch nicht begreifen, wozu wir beide auf der Welt sind.« Zuletzt schien es Samgin, daß er alles und alle ausgezeichnet verstehe, nur sich selbst nicht. Schon ertappte er sich nicht selten dabei, daß er sich beobachtete wie einen Menschen, den er wenig kannte und der ihm gefährlich war.

 


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