Maxim Gorki
Das Leben des Klim Samgin
Maxim Gorki

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Im Hotel wurde er mit jenem geschliffenen, zutunlichen Moskauer Wohlwollen empfangen, welches, da seine wahre Natur Klim unbekannt war, in ihm den Eindruck von Einfachheit und Klarheit, den er empfangen hatte, vertiefte.

Mittags suchte er Lida auf.

»Es ist Sonntag. Sie muß zu Hause sein.«

Während er durch warme, übermütig verschlungene Gäßchen schritt, überlegte er, was er Lida sagen, wie er sich im Gespräch mit ihr verhalten würde. Er musterte die bunten, freundlichen Häuschen mit netten Fenstern und Blumen auf den Fensterbänken. Über den Zäunen streckten die Bäume ihre Äste zur Sonne, die Luft war gesättigt von dem feinen, süßlichen Duft soeben aufgebrochener Knospen.

Aus einer Straßenecke bogen zwei Studenten, Arm in Arm, sie pfiffen einträchtig einen Marsch. Der eine stemmte sich mit den Füßen gegen den Ziegel des Trottoirs und fing ein Gespräch mit einem Weib an, das Fensterscheiben abwusch. Der andere zog ihn weiter und redete ihm zu:

»Hör auf Wolodjka! Gehen wir.«

Klim Samgin verließ das Trottoir in der Absicht, den Studenten auszuweichen, wurde aber sogleich von einer festen Hand an der Schulter gepackt. Er wandte sich rasch und zornig um, und ihm ins Gesicht rief freudig Makarow:

»Klimuscha? Woher? Darf ich vorstellen: Samgin – Ljutow.«

»Kaufmannssohn im dritten Semester der humoristischen Fakultät«, präsentierte sich blödelnd, den Kopf auf die Seite gelegt, der schielende, angeheiterte Student.

»Wolodja, er war es, der mich abgehalten hat, mich zu erschießen!«

»Ihnen gebührt die goldene Medaille, Kollega! Denn indem Sie das Leben dieses Jünglings erhielten, trugen Sie ein wenig zur Vertiefung der russischen Blödistik bei.«

Beide benahmen sich so laut, als gäbe es außer ihnen niemand auf der Straße. Makarows Freude schien verdächtig. Er war nüchtern, sprach aber so erregt, als wünsche er den wirklichen Eindruck dieser Begegnung für sich zuzudecken, zu überschreien. Sein Kamerad bewegte unruhig den Hals hin und her, in dem Bestreben, seine schielenden Augen auf Klims Gesicht einzustellen. Die beiden schritten, Schulter eng an Schulter, langsam vorwärts, ohne den entgegenkommenden Fußgängern den Weg freizugeben. Klim, der Makarows rasche Fragen gemessen beantwortete, fragte nach Lida.

»Aber hat sie dir denn nicht geschrieben, daß sie die Theaterschule aufgegeben hat und Vorlesungen hören wird? Sie ist vor zwei Wochen nach Hause gereist.«

Beim Sprechen blickte er mit Erstaunen in Klims Gesicht.

»Sie hat gefunden, daß sie sich nicht verstellen kann.«

»Richtig; das versteht sie nicht!« bekräftigte Ljutow und schüttelte so heftig den Kopf, daß seine Mütze ihm in die Stirn rutschte.

»Die Telepnew verläßt ebenfalls die Schule. Sie heiratet, – das hier ist ihr Bräutigam.«

Ljutow tippte mit dem Zeigefinger auf seine Brust, in die Herzgegend, und drehte ihn um wie einen Pfropfenzieher. Seine sehr leuchtenden Augen von vieldeutiger Farbe trafen Klims Gesicht mit einem unangenehm tastenden Blick. Das eine Auge versteckte sich unter der Nasenwurzel, das hintere lief bis zur Schläfe hinauf. Beide zuckten ironisch, als Klim sagte:

»Ich gratuliere Ihnen. Ein hervorragend schönes Mädchen.«

»Sie ist sinnbetörend«, verbesserte Ljutow und schob seine Mütze in den Nacken zurück.

Makarow schlug vor, zu frühstücken.

»Versteht sich«, sagte Ljutow, der Klim ungeniert untergefaßt hatte. »Dafür existiert Moskau, damit man ißt.«

Einige Minuten später saßen sie in dem finsteren, aber behaglichen Winkel eines kleinen Restaurants. Ljutow bestellte bei dem alten Lakai im Gebetston.

»Und gib uns, Vater, zum Wodka westfälischen Schinken und spanische Zwiebeln, in dicke Scheiben geschnitten . . .«

»Ich weiß, Herr.«

»Ich zweifle nicht daran, sondern rufe nur ins Gedächtnis . . .«

»Es ist angenehm, dich zu sehen!« sagte Makarow, der eine Zigarette angebrannt hatte, mit einem Lächeln, das vom Rauch umkräuselt war. »Seltsam, Bruder, daß wir einander nicht schreiben, wie? Nun, wie, bist du Marxist?«

Er beeilte sich, seine Fragen an den Mann zu bringen und trieb dadurch Klim noch mehr zur Vorsicht an.

»Marxist?« rief Ljutow aus. »Solche verehre ich!«

Er legte die Ellenbogen auf den Tisch und begann, mit belegter Stimme sich von Zeit zu Zeit überschreiend, was Klim an Dronow denken ließ:

»Ich verehre sie nicht als Repräsentant jener Klasse, der Marx erschöpfend die Dynamik des Kapitals, seine kulturelle Macht erklärt hat, sondern als russischer Mensch, der da aufrichtig wünscht: möge jegliches lästige Hinzögern ein Ende finden! Dieweilen wir in der Person Marxens endlich den Glaubenslehrer von neunzigprozentiger Stärke haben. Das ist nicht unser russisches Dünnbier, das eine lyrische Krätze der Seele nach sich zieht, noch das Gebräu eines Fürsten Krapotkin, eines Grafen Tolstoi, eines Obersten Lawrow und jener Seminaristen, die sich zu Sozialisten umgetauft haben, mit denen sich gut reden läßt. Nein! Mit Marx läßt sich kein Schwätzchen machen! Bei uns ist es doch so: man beleckt mit der Zunge die gallige Leber seiner Exzellenz Michail Jewgrafowitsch Saltykows, versüßt sich die Bitterkeit mit dem Lampenöl Ihrer Durchlaucht von Jasnaja Poljana und – ist vollauf befriedigt! Die Hauptsache bei uns ist, daß was zu schwatzen da ist, leben kann man auf jegliche Art, und setze man einen auf einen spitzen Pfahl, er lebt!«

Ljutow trug seine Rede flüssig, ohne Pausen, vor. Nach ihren Worten sollte sie ironisch oder bösartig klingen, doch fing Klim darin weder Ironie noch Bosheit auf. Das setzte ihn in Erstaunen. Noch erstaunlicher war aber, daß ein vollkommen nüchterner Mensch sprach. Klim musterte ihn und zweifelte:

»Sollte ich mich geirrt haben? Er war noch vor fünf Minuten betrunken.

Er fühlte in Ljutow etwas Unechtes. Die Farbe seiner ausgerenkten Augen war schmutzig, nichts Trübes, sondern eben etwas Schmutziges war in dem Weiß der Augäpfel, sie waren gleichsam von innen heraus mit dunklem Staub bestreut. Aber in den Pupillen lohten schlaue Fünkchen, die zur Vorsicht mahnten.

»Diese Augen sind nach außen gestülptes Hirn«, erinnerte Klim irgend jemandes Worte.

Ljutows gelbes Haar war à la cappoule gekämmt, das paßte so wenig zu seinem langen Gesicht, daß es wie absichtlich gemacht wirkte. Sein Gesicht verlangte einen breiten Bart, während dessen rasierte Ljutow sich die Wangen bis auf ein spitzes Bärtchen. Über diesem blähten sich wulstige, kautschukartige Negerlippen, die Oberlippe war mit dünnen Barthärchen bestanden. Seine Hände waren rot, stark geädert, ebenso wie sein Hals, auf den Schläfen schwollen bereits bläuliche Venen. Er schien sich auch mit gewollter Saloppheit zu kleiden: unter dem abgetragenen Jackett von sehr teurem Tuch trug er ein seidenes Hemd. Er mußte siebenundzwanzig Jahre alt sein, vielleicht sogar dreißig und ähnelte in nichts einem Studenten. Makarow, der in herausfordernder Weise noch schöner geworden war, hatte sich anscheinend, als Folie, diesen Menschen zum Freund gewählt. Doch weshalb hatte die schöne Alina ihn gewählt?

Während er von dem Schnaps, der so kalt war, daß die Zähne schmerzten, ein Glas nach dem andern leerte und dicke Scheiben Zwiebel, auf dünne Blättchen Schinken gelegt, zerbiß, fragte Ljutow:

»Die nicht kanonische Literatur, das ist: die Apokryphen, schätzen Sie?«

»Er ist ein Ketzerfürst«, sagte Makarow mit gutmütigem Lachen und sah Ljutow freundlich an.

»Die ›Offenbarung Adams‹, – haben Sie die gelesen?«

Er erhob die Hand mit dem Messer und sagte heilig:

»Und der Teufel sprach zu Adam: ›Mein ist die Erde, Gottes – der Himmel. So du mein sein willst, bebaue die Erde!‹ Und Adam sprach: ›Wessen die Erde ist, dem bin auch ich mit Kind und Kindeskind zu eigen.‹ Da habt ihr's! Solcher Art ist er formuliert, unser bäuerlicher, nach innen gerichteter Materialismus!«

In dem Bestreben, sich Unverständliches zu vereinfachen, überzeugte Klim sich innerhalb einer Stunde, daß Ljutow tatsächlich etwas von einem Spitzbuben hatte und ungeschickt den Hanswurst spielte. Alles an ihm war künstlich, in allem zeigte sich nackt die Gemachtheit. Besonders kraß offenbarte dies seine gekrampfte Sprache, gesättigt mit Slawismen, lateinischen Zitaten und boshaften Versen von Heine, verziert mit jenem rohen Humor, mit dem die Schauspieler der Provinzbühnen glänzen, wenn sie in den »Divertissements« Witze erzählen.

Er, Ljutow, schien wieder betrunken. Er streckte Klim einen Pokal Champagner hin, errötete und schrie:

»Wünschen Sie mir weder Daunen noch Federn, und lassen Sie uns auf die Gesundheit der herrlichen Jungfrau Alina Telepnew anstoßen!«

In seiner Stimme klang Begeisterung, Makarow stieß mit Ljutow an und sagte streng:

»Jetzt hast du aber genug getrunken.«

Ljutow leerte sein Glas mit einem Zug und zwinkerte Klim zu:

»Er erzieht mich. Ich bin dessen würdig, dieweilen ich des öfteren trunken bin und schweinigele, um der Zähmung des Fleisches willen. Ich fürchte die Hölle – diese« – er beschrieb mit der Hand einen Halbkreis in der Luft – »und die jenseitige. Aus jüdischer Furcht halte ich Freundschaft mit der Geistlichkeit. Ach, Kollega, einen Diakonus will ich Ihnen zeigen!«

Ljutow schloß die Augen, wiegte den Kopf und zog dann aus der Hosentasche eine stählerne Schlüsselkette, an deren Ende eine massive goldene Uhr baumelte.

»Hallo, ich muß gehen! Kostja, sag, sie sollen anschreiben.«

Er reichte Samgin die Hand:

»Sehr erfreut, Sie kennengelernt zu haben. Hörte viel Gutes von Ihnen. Vergessen Sie nicht: Ljutow, Daunen und Federn en gros . . .«

»Kokettiere nicht«, empfahl Makarow, der Schieläugige aber drückte fest Samgins Hand und sagte mit einem kleinen Grinsen in dem Hinterwälder-Gesicht:

»Wissen Sie, es gibt so Jungfrauen mit kleinen Mängeln. Niemand würde diesen kleinen Mangel bemerken, wenn die Jungfrau nicht selber warnte: ›Sehen Sie, meine Nase ist nicht ganz geglückt, dafür ist das übrige . . .‹«

Er stieß Klim sanft zurück, setzte sich in Bewegung, stolperte mit dem Fuß über ein Stuhlbein, drohte ihm mit der Faust und verschwand.

»Was für ein Kauz!« sagte Klim.

Makarow stimmte nachdenklich zu:

»Ja, er ist wunderlich.«

»Ich verstehe Alina nicht – was hat sie dazu veranlaßt?«

Makarow zuckte mit der Schulter und begann hastig, als müsse er sich rechtfertigen, zu sprechen:

»Nein, wieso? Ihre Schönheit verlangt einen würdigen Rahmen, Wolodjka ist reich. Interessant, Gutherzig bis zur Lächerlichkeit. Er hat sein juristisches Studium beendet, augenblicklich studiert er Geschichte und Philologie. Übrigens arbeitet er nicht, er ist verliebt, aufgestört und überhaupt auf den Kopf gestellt.«

Makarow zündete sich eine Zigarette an, ließ das Hölzchen zu Ende brennen und warf statt dessen die Zigarette auf den Teller. Er war sichtlich berauscht, auf seinen Schläfen trat Schweiß aus. Klim sagte, er wolle sich Moskau ansehen.

»Fahren wir auf die Sperlingsberge«, schlug Makarow angeregt vor.

Sie verließen das Restaurant und nahmen eine Droschke. Makarow, der auf den gekrümmten, straff von dem blauen Rock umspannten Rücken des Kutschers starrte, sagte:

»Moskau verwirrt ein wenig die Sinne. Ich bin von ihm behext, bezaubert und fühle, daß ich hier verblödet bin. Findest du das nicht? Du bist liebenswürdig.«

Er nahm seine Mütze ab. An seiner Schläfe klebte eine Haarsträhne, nur sie allein war unbeweglich, während die übrigen Wirbel sich regten und bäumten. Klim seufzte: von einer prachtvollen Schönheit war Makarow. Er sollte die Telepnew heiraten. Wie dumm war das alles. Durch den ohrenbetäubenden Straßenlärm hörte Klim:

»Phantastisch begabt sind die Menschen hier. Wahrscheinlich waren von dieser Art die Menschen der Renaissance. Ich zweifle: wo sind hier Heilige, wo Betrüger? Beides findet sich fast in jedem gleichzeitig. Und die Menge derer, die das Kreuz auf sich genommen haben! Und um wessentwillen? Der Teufel weiß es. Du mußt das verstehen . . .«

Klim blickte seinen Kameraden argwöhnisch von der Seite an:

»Warum ich?«

»Du bist ein Philosoph, du siehst mit Gelassenheit auf die Dinge . . .«

»Wie harmlos er ist«, dachte Klim. »Du hast ein gutes Gesicht«, sagte er und verglich Makarow mit Turobojew, der die Menschen mit dem Blick eines Leutnants maß, der alle Zivilisten verachtet. »Du bist auch ein guter Junge, wirst aber wohl durch das Trinken auf den Hund kommen.«

»Möglich«, gab Makarow gleichmütig zu, als wäre nicht von ihm die Rede. Doch daraufhin schwieg er, in Gedanken verloren.

In den Sperlingsbergen kehrten sie in einem verlassenen Gasthaus ein. Der dicke Kellner führte sie auf die Veranda, auf der ein Maler die Fensterrahmen weiß anstrich, brachte dann Tee und befahl in hastiger Rede einem Glaser:

»Störe die Herrschaften nicht, sich an der Schönheit zu erfreuen.«

»Er ist aus Kostroma«, stellte Makarow fest, er blickte in die unsichtbare Weite, auf die brokatene Stadt, die mit den goldenen Flecken der Kirchenkuppeln reich durchwirkt war.

»Ja, es ist schön«, sagte er leise. Samgin nickte zustimmend, bemerkte aber sogleich:

»Ein bedingter Begriff.«

Makarow antwortete nicht. Er schob das Glas, in dessen roter, von einer Zitronenscheibe bedeckter Flüssigkeit ein Sonnenstrahl badete, von sich, stemmte die Ellenbogen auf den Tisch und versenkte die Finger in seine dichten, zweifarbigen Haarwirbel.

Moskau verführte Klim nicht zur Begeisterung. Für seine Augen ähnelte die Stadt einem ungeheuerlichen Honigkuchen, in schreienden Farben bemalt, mit opalenem Staub gepudert, und brüchig. Als von Schönheit gesprochen war, zog Klim es klug vor zu schweigen, wenngleich er seit langem bemerkt hatte, daß man immer häufiger von ihr sprach, und dieses Thema ebenso gewöhnlich wurde wie das Wetter und die Gesundheit. Er verhielt sich gleichgültig gegen die allgemein anerkannten Naturschönheiten, da er fand, daß Sonnenuntergänge ebenso gleichförmig waren wie der gesprenkelte Himmel frostiger Nächte. Weil er aber fühlte, daß Schönheit ihm unzugänglich sei, begriff er, daß es ein Mangel seiner Natur war. In der letzten Zeit erbitterte ihn sogar die ständige Verherrlichung der Naturschönheiten und weckte in ihm die Befürchtung, ob nicht vielleicht Lidas Widerwille gegen die Natur ihm diese Kälte eingeflößt habe.

Ihn hatte Turobojew sehr verwirrt, der, um Jelisaweta Spiwak und Kutusow zu ärgern, spottlustig gefragt hatte:

»Wenn nun aber unsere ganze Schönheit nichts ist als der Pfauenschweif der Vernunft, eines ebenso dummen Vogels wie der Pfau?«

Klim verblüffte die Frechheit dieser Worte, und sie legten sich noch fester in sein Gedächtnis, als Turobojew im Streit fortfuhr:

»Je leuchtender und schöner ein Vogel ist, desto dümmer ist er, aber je häßlicher ein Hund ist, desto klüger ist er. Das trifft auch auf die Menschen zu: Puschkin sah wie ein Affe aus, Tolstoi und Dostojewski sind keine Schönheiten, ebensowenig wie überhaupt alle klugen Köpfe.«

Das lyrische Schweigen Makarows ärgerte Klim. Er fragte:

»Denkst du an Puschkins ›Moskau! Wie schrecklich ist dem Russen dein freudloses Gesicht!‹?«

Makarow maß ihn mit nüchternen Augen und antwortete nicht. Das mißfiel Klim, es erschien ihm unhöflich. Seinen Tee schlürfend, sagte er in einem Ton, der Aufmerksamkeit heischte:

»Wenn man von Schönheit spricht, scheint es mir, daß man mich ein wenig betrügt.«

Makarow zog heftig die Finger aus seinem Haar, nahm die Ellenbogen vom Tisch und fragte befremdet:

»Wie hast du gesagt?«

Klim wiederholte seinen Ausspruch und fuhr fort:

»Was ist Schönes an einer Wassermasse, die in einem Abstand von sechzig Werst aus einem See in ein Meer fließt? Aber jeder sagt, die Newa sei schön, während ich sie langweilig finde. Dies berechtigt mich, zu denken, daß man sie schön nennt, um die Langeweile zu verdecken.«

Makarow trank rasch den abgestandenen Tee aus, kniff die Augen zu und sah Klim aufmerksam ins Gesicht.

»Den gleichen Wunsch, sich selbst die Dürftigkeit der Natur zu verheimlichen, sehe ich in den Landschaften Lewitans, in den lyrischen Birkenbäumchen Nesterows, in den leuchtend blauen Schatten auf dem Schnee. Der Schnee blinkt wie der Beschlag der Särge, in denen man junge Mädchen zu beerdigen pflegt, er schneidet die Augen, blendet. Blaue Schatten gibt es in der Natur nicht. All das wird zum Zweck des Selbstbetrugs erdacht, damit man gemütlicher leben kann.«

Klim, der sah, daß Makarow aufmerksam zuhörte, sprach zehn Minuten lang. Er erinnerte sich der finsteren Klagen der Nechajew und vergaß nicht, den Ausspruch Turobojews über den Pfauenschweif der Vernunft anzubringen. Er hätte noch eine ganze Menge sagen können, aber Makarow murmelte:

»Erstaunlich, wie all das mit Lidas Gedanken zusammenfällt.«

Sich die Stirn reibend, fragte er:

»Was willst du eigentlich?« und lachte verlegen.

»Ich weiß nicht, was ich fragen soll . . . es ist so seltsam . . .«

Plötzlich schoß ihm das Blut ins Gesicht, sogar die Ohren färbten sich dunkel. Seine Augen blitzten im Zorn, als er halblaut zu sprechen anfing:

»Mich berühren diese Fragen nicht, ich sehe die Dinge von einer anderen Seite und finde, die Natur ist ein Schwein, vernunftlos und böse. Kürzlich hatte ich die Leiche einer Frau, die an einer Geburt gestorben war, zu präparieren. Mein Herzchen, hättest du gesehen, wie zerfleischt und verstümmelt sie war! Bedenke nur: der Fisch laicht, das Huhn legt Eier ohne Schmerzen, das Weib aber gebärt unter teuflischen Qualen. Weshalb?«

Makarow zählte die lateinischen Bezeichnungen von Körperorganen auf, deren Umrisse er mit den Fingern in der Luft malte und stellte vor Klims Augen rasch und zornig etwas so Abscheuliches dar, daß Klim ihn bat:

»Hör auf!«

Sich in immer heftigere Empörung steigernd, sagte Makarow, wobei er mit dem Finger auf den Tisch klopfte:

»Nein, bedenke doch nur: weshalb das alles, wie?«

Klim fand die Empörung seines Freundes naiv und ermüdend und hatte Lust, Makarow die Erwähnung Lidas heimzuzahlen. Er lächelte boshaft:

»Nun, beschäftige dich doch mit Gynäkologie, dann kannst du Frauenarzt werden. Deine äußere Erscheinung ist vorteilhaft.«

Makarow stutzte, blickte ihn verständnislos an und sagte, nach einigem Schweigen, mit einem Seufzer:

»Du scherzst seltsam.«

»Und du philosophierst augenscheinlich immer noch über die Frauen, statt sie zu küssen?«

»Das hört sich an wie eine Phrase aus einem Offizierslied«, sagte Makarow unbestimmt, rieb sich heftig das Gesicht und schüttelte den Kopf. In seinem Gesicht erschien ein zweifelnder, verlegener Ausdruck, er nickte gleichsam für eine Minute ein und kam dann wieder zu sich, aufgestört durch einen Stoß und sehr betreten darüber, daß er eingeschlafen war.

»Er wird nüchtern«, erriet Klim, der den Wunsch empfand, dem Kameraden auch das Offizierslied zu entgelten.

Darin waren ihm zwei Fliegen behilflich, die sich auf dem Bügel des Teelöffels niederließen. Eilig genossen sie einander. Die eine verschwand sofort in der Luft, die andere folgte ihr zwei oder drei Sekunden später.

»Hast du's gesehen? Das ist alles!« sagte Klim.

»Nein!« antwortete beinahe schroff Makarow. »Ich glaube dir nicht«, fuhr er in protestierendem Ton fort. Er blickte unter gefurchten Brauen hervor. »Du kannst so nicht denken. Nach meiner Meinung ist Pessimismus auch nichts anderes als Zynismus.«

Nachdem er den abgestandenen Tee ausgetrunken hatte, sprach er, mit leiserer Stimme, weiter:

»Ich muß wohl ein wenig Dichter sein, vielleicht auch einfach dumm – aber ich kann nicht . . . ich habe Achtung vor den Frauen, und – weißt du – manchmal glaube ich, daß ich sie fürchte. Grinse nicht, warte! Vor allen Dingen Achtung, selbst für diejenigen, die sich verkaufen. Und auch nicht Furcht, mich anzustecken, nicht Widerwillen, nein! Ich habe viel darüber nachgedacht . . .«

»Aber du redest schlecht«, vermerkte Klim.

»Ja?«

»Unklar.«

»Du wirst mich verstehen!«

Makarow schüttelte abermals heftig den Kopf, blickte zum farbenschillernden Himmel, preßte heftig die Finger zu einer Faust zusammen und schlug sich aufs Knie.

»Dieses Gefühl hat mir Lida eingeflößt, weißt du?«

»Ach so?« machte Klim unbestimmt und wurde wachsam.

»Wir sind Freunde«, fuhr Makarow fort und seine Augen lächelten dankbar. »Nicht verliebt, aber sehr vertraut. Ich liebte sie, aber das ist vorbei. Es ist schrecklich schön, daß ich gerade sie geliebt habe, und schön, daß es vorüber gegangen ist.«

Er fing an zu lachen, sein Gesicht strahlte vor Freude.

»Bin ich wirr?« fragte er unter Lachen. »Ich bin nur in Worten wirr, aber in der Seele ist alles klar. Du mußt verstehen: sie hat mich am Rande eines Abgrundes angehalten. Aber natürlich, wichtig ist nicht, daß sie mich angehalten hat, sondern, daß sie da ist.«

Samgin dachte nicht ohne Stolz:

»Niemals würde ich mir erlaubt haben, so zu einem fremden Menschen zu sprechen. Und warum hat sie ihn ›angehalten‹?«

»So lieben, wie man überhaupt zu lieben pflegt, darf man sie nicht«, sagte streng Makarow.

»Warum denn nicht?«

»Lach nicht. Ich fühle es so: man darf nicht. Sie ist ein wunderbarer Mensch, Bruder.«

Er schloß die Augen und dachte nach.

»In der Bibel hat sie gelesen: »Und ich will Feindschaft säen zwischen dir und deinem Weibe.« Sie glaubt daran und fürchtet die Feindschaft, die Lüge. Ich nehme es an, daß sie das fürchtet. Weißt du, Ljutow sagte ihr einmal: ›Wozu müssen Sie auf der Bühne schauspielern, wenn Ihr Weg, der Natur Ihrer Seele nach, ins Kloster führt?‹ Sie ist mit ihm ebenso befreundet wie mit mir.«

Klim hörte angestrengt zu, begriff aber nicht und glaubte auch nicht Makarow. Die Nechajew hatte auch philosophiert, bevor sie nahm, was ihr not tat. Ebenso mußte es sich auch mit Lida verhalten. Er schenkte auch dem keinen Glauben, was Makarow über sein Verhältnis zu den Frauen, über seine Freundschaft mit Lida erzählte.

»Das ist auch – ein Pfauenschweif. Es ist auch klar, daß er Lida liebt.«

Samgin wendete nun den verworrenen, unklaren Reden Makarows weniger Aufmerksamkeit zu. Die Stadt wurde heller, feuriger. Der Glockenturm Iwans des Großen ragte gleich einem mit rötlichem Nagel verzierten Finger empor. In den Lüften schwebte ein weiches Tönen, vielstimmig läuteten die Kirchenglocken die Abendmesse ein. Klim zog seine Uhr hervor und warf einen Blick auf sie.

»Ich muß zum Bahnhof. Begleitest du mich?«

»Natürlich.«

»Du hast, zu Beginn unseres Gesprächs, sehr richtig bemerkt, daß die Menschen sich Dinge einbilden. Möglich, daß es so sein muß, weil dadurch der bittere Gedanke der Zwecklosigkeit des Lebens versüßt wird . . .«

Makarow blickte ihn erstaunt an und erhob sich:

»Wie seltsam, daß du, ausgerechnet du, das sagst! Ich dachte nichts dergleichen, selbst als ich beschloß, mir das Leben zu nehmen . . .«

»Du warst in jenen Tagen nicht normal«, erinnerte ihn gelassen Klim.

»Dein Leben ist schwer?« fragte leise und freundschaftlich Makarow.

Klim fand, daß es bedeutender aussehen würde, wenn er weder ja noch nein sagte, und schwieg, mit hart zusammengepreßten Lippen. Sie gingen zu Fuß, ohne Eile. Klim fühlte, daß Makarow ihn von der Seite mit traurigen Augen ansah. Während er die widerspenstigen Haarsträhnen unter die Mütze zurückschob, erzählte er leise:

»Nach dem Examen komme ich auch, ich habe dort eine Lehrstelle, ich werde Repetitor des Adoptivsohnes Radejews, des Reeders, weißt du? Auch Ljutow kommt hin.«

»Aha. Und wo ist die Somow?«

»Sie ist Lehrerin an einer Dorfschule.«

Aus einer Wolke regenbogenfarbigen Staubs löste sich ein bärtiger Kutscher auf seinem Gefährt. Die Freunde stiegen in die Equipage und fuhren einige Minuten später durch die Straßen der Stadt, hart am Trottoir entlang. Klim betrachtete die Menschen, dicke gab es hier mehr als in Petersburg, und sie sahen, ungeachtet ihrer Bärte, wie Weiber aus.

»Wahrscheinlich beunruhigt nicht einen von ihnen der Gedanke an den Sinn des Daseins«, dachte er verächtlich und erinnerte sich an die Nechajew.

»Nein, sie ist doch nett. Sogar ein ungewöhnliches Mädchen. Wie würde Lida sich wohl gegen sie verhalten?«

Makarow schwieg. Sie fuhren am Bahnhof vor. Makarow, dem etwas eingefallen war, hatte es eilig, umarmte Klim und ging fort.

»Wir sehen uns bald wieder!«

Klim sah ihm nach und ging dann zum Büfett. Er setzte sich in eine Ecke an einen Tisch. Bis zum Abgang des Zuges blieb noch eine reichliche Stunde. An Makarow zu denken, hatte er keine Lust. Schließlich hinterließ er den Eindruck eines verblichenen Menschen, und unklug war er immer gewesen. Alle Bekannten riefen in Klim diesen Eindruck des Verblichenen, Farblosgewordenen hervor. Er nahm das als ein Zeichen seines geistigen Wachstums. Diesen Eindruck gab ihm ein und befestigte die Eile, womit alle bestrebt waren, sich mit den Pfauenfedern Nietzsches oder Marxens zu schmücken. Klim war es ärgerlich, daran zu denken, daß auch Turobojew diesen Eifer sah und ihn zu verlachen verstand. Jawohl, dieser eilte nirgendwohin und verblich nicht. Er sprach, die gestickten Brauen hochziehend, und seine Augen blitzten:

»Ich anerkenne die Rechtmäßigkeit des Strebens jedes ledigen Menschen, sich dieses oder jenes Ideechen zur Gemahlin zu erkiesen und mit ihr bis ans Ende seiner Tage in gutem Einvernehmen zu leben, aber ich persönlich ziehe es vor, Junggeselle zu bleiben.«

Klim neidete Turobojew seine Manier zu sprechen bis zum Haß gegen ihn. Turobojew nannte die Ideen »Jungfrauen geistlichen Standes«, behauptete, daß »humanitäre Ideen das Gefühl des Glaubens in bedeutend höherem Maße in Anspruch nehmen, als die kirchlichen«, weil Humanismus »verderbte Religion« sei. Samgin grämte sich: weshalb verstand nicht auch er es, gelesene Bücher so gewandt auszulegen?

Es schien, als ob Turobojew ihn allzu aufmerksam beobachtete, ihn schweigend studierte und auf Widersprüchen ertappte. Einmal bemerkte er wegwerfend, während er Klim mit frechen Augen ins Gesicht blickte:

»Auf alle Fragen, Samgin, gibt es nur zwei Antworten; ja oder nein. Sie wollen anscheinend eine dritte erfinden? Das ist der Wunsch der meisten Menschen, doch bis zum heutigen Tag ist es noch niemandem gelungen, ihn zu verwirklichen.«

Es war kränkend, diese Worte zu hören, und unangenehm zuzugeben, daß Turobojew nicht dumm war.

Das Glockenzeichen und der Ruf des Bahnhofsdieners, die den Abgang des Zuges verkündeten, unterbrachen Klims Sinnen über den fatalen Menschen. Er blickte sich um, im Saal hasteten die Reisenden, sie stießen einander und drängten zum Ausgang nach dem Bahnsteig.

Klim stand auf und fragte sich achselzuckend:

»Was sollen mir Turobojew und Kutusow?«

 


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