Maxim Gorki
Das Leben des Klim Samgin
Maxim Gorki

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Ins Eßzimmer segelte geräuschvoll die rundliche Somow. Hinter ihr schritt behutsam, als durchquere er eine Furt über glatte Steine hinweg, ein hochgewachsener Jüngling in blauen Hosen, einem Hemd aus ungebleichtem Leinen und mit einer Art Sandalen an den nackten Füßen.

»Liebe Freundinnen, das ist eine Schweinerei!« schrie die Somow. »Ihr seid angekommen und schweigt, obwohl Ihr wißt, daß ich ohne euch nicht leben kann.«

»Und ohne mich«, sagte in hohlem Baß der Jüngling mit dem wilden Aussehen.

»Und ohne dich, Strafe Gottes, und ohne dich, jawohl! Darf ich vorstellen, Mädchen: Inokow, ein Kind meiner Seele, Landstreicher, künftiger Schriftsteller.«

Somow küßte die Freundinnen ab und setzte sich an Klims Seite. Sie wischte sich ihr schwitzendes Gesicht mit dem Zipfel ihres Kopftuchs und betastete Samgin mit einem lustigen Blick.

»Wie niedlich du geworden bist!«

Sogleich kugelte sie sich zu Lida hinüber und sagte:

»Also, aus dem Kreis der Lehrerinnen hat man mich ausgeschifft, wie gefällt dir das?«

Auf ihren Platz setzte sich mit Wucht Inokow. Er rückte den Stuhl ein wenig von Klim ab, striegelte mit den Fingern seine rötlichen langen Haare und heftete seine blauen Augen schweigend auf Lida.

Klim hatte die Somow länger als drei Jahre nicht gesehen. Inzwischen hatte sie sich aus einem lymphatischen, plumpen Backfisch in ein dralles Landmädchen verwandelt. Ihre an den Schläfen verschossenen Haare waren von einem weißen Tuch zusammengehalten, ihre Backen hatten sich prall gerundet, die Augen blitzten lebhaft. Sie sprach laut und mengte verschwenderisch volkstümliche Wendungen in ihre Rede, wobei sie rosenfarbig lächelte. Sie hatte etwas Vulgäres, weshalb Klim innerlich Grimassen schnitt. Inokow ähnelte einem dümmlichen Dorfhirten. Auch er hatte nichts mehr von dem Gymnasiasten, als den Klim ihn in Erinnerung hatte, zurückbehalten. Aus seinem breitkiefrigen, mit Sommersprossen übersäten Gesicht stak unschön eine stumpfe Nase. Nervös blähten sich die breiten Nasenlöcher. Auf der Oberlippe sproß ein spärlicher, tatarischer Schnurrbart. Der Ausdruck seiner blauen Augen veränderte sich oft und widerspruchsvoll, bald war er allzu weiblich sanft, bald unbegründet finster. Die gewölbte Stirn war bereits von Falten zerschnitten.

»Machorka rauchen darf man hier nicht?« fragte er leise Klim. Samgin empfahl ihm, zum Fenster zu gehen, das zum Garten hin geöffnet war, und folgte ihm selbst dorthin. Inokow holte dort Tabakbeutel und Papier hervor, drehte sich ein »Hundefüßchen«, schwenkte das Zündhölzchen in der Luft, um es auszulöschen und sagte mit einem Seufzer:

»Was für eine Dämonische . . .«

»Wer?«

Inokow zeigte mit den Augen auf Alina.

»Die dort. Wie ein Traum.«

Klim hielt ein Lächeln zurück und fragte:

»Womit beschäftigen Sie sich?«

Inokow zuckte die Schulter.

»So, überhaupt . . . arbeite. Im Herbst habe ich im Kaspischen Meer Fische gefangen. Das ist interessant. Schreibe für Korrespondenzen. Manchmal.«

»Wird es gedruckt?«

»Wenig. Ich schreibe wohl zu selten.«

Wenn Inokow stand, kam an ihm etwas Keilartiges zum Vorschein: die Schultern waren breit, das Becken schmal, die Beine dünn.«

»Ich denke mich ernsthaft mit der Fischerei zu befassen, mit Ichthyologie.«

Die Mädchen am Tisch lärmten sehr, doch die Somow hatte gleichwohl Inokows Worte aufgefangen.

»Schriftstellern wirst du«, rief sie.

Inokow schleuderte die halb aufgerauchte Zigarette aus dem Fenster, blies heftig den beißenden Rauch aus dem Munde und ging zum Tisch, mit den Worten:

»Schreiben muß man wie Flaubert, oder überhaupt nicht. Bei uns schreibt man nicht, sondern flicht Bastschuhe für die Seele.«

Er faßte mit beiden Händen die Lehne eines schweren Stuhls und sagte mit großer Glut, wobei er die O's stark betonte:

»Da sind wir nun das erste Land in Europa, was den Reichtum an Fischen betrifft, aber wir betreiben den Fischfang barbarisch, wir beuten ihn räuberisch, ohne Verstand aus. Nach Astrachan kam Professor Grimm, ein Ichthyologe, ich habe ihn durch die Fanggebiete begleitet, aber er war blind, absichtlich blind . . .«

»Braucht denn das Volk Heringe?« schrie die Somow, sie rieb sich ihre prallen Backen mit einem unangenehm gelben Tüchlein.

Alina lachte ungeniert, während sie auf sie blickte und heimlich zu Inokow hinschielte. Lida sah ihn blinzelnd, wie man etwas sehr Entferntes und Undeutliches betrachtet, an, er aber stieß zum Takt seiner Rede mit dem schweren Stuhl auf den Boden auf und predigte selbstvergessen:

»Der Aralsee, das Kaspische Meer, das Asowsche Meer, das Schwarze Meer, dazu die nördlichen, dazu die Ströme . . .«

»Austrocknen sollen sie!« erboste sich die Somow. »Ich kann es nicht anhören!«

Lida erhob sich und lud alle zu sich nach oben ein. Klim säumte einen Augenblick vor dem Spiegel, um einen Pickel auf der Lippe zu betrachten. Aus dem Salon trat die Mutter. Sie verglich sehr glücklich Inokow und die Somow mit Liebhabern der dramatischen Kunst, die eine verfehlte Farce spielen, legte ihren Arm auf Klims Schulter und fragte:

»Wie gefällt dir Alina?«

»Sie ist blendend.«

»Und nicht dumm, obwohl sie mutwillig ist . . . in etwas grober Weise.«

Seine Schulter streichelnd, sagte sie leise:

»Das wäre eine Braut für dich, wie?«

»Aber Mama, das ist doch ein Götzenbild!« antwortete lächelnd ihr Sohn. »Man muß Zehntausende jährliches Einkommen haben, um es würdig zu schmücken.«

»Das ist wahr«, sagte die Mutter ernst und seufzte. »Du hast recht.«

Klim ging zu Lida hinauf. Dort saßen die jungen Mädchen, wie in der Kindheit, auf dem Sofa. Es war stark verschossen, seine Sprungfedern ächzten greisenhaft. Aber er war ebenso weich und breit geblieben wie einst. Die kleine Somow hatte die Beine hinaufgezogen. Als Klim hinzutrat, machte sie ihm einen Platz an ihrer Seite frei. Aber Klim setzte sich auf einen Stuhl.

»Er ist immer noch der gleiche, ein Außenseiter«, sagte die Somow den Freundinnen, während sie mit ihrem plumpen Stiefel dem Stuhl einen Stoß gab. Alina bat Klim, von Petersburg zu erzählen.

»Ja, was für Menschen leben dort?« murmelte Inokow, der auf dem Sofapfühl saß mit Warawkas dicker Zigarre zwischen den Zähnen.

Klim begann zu erzählen, bedächtig, vorsichtig in der Wahl seiner Ausdrücke – über Museen, Theater, literarische Abende und Künstler, doch bald bemerkte er mit Verdruß, daß er uninteressant erzählte und daß man ihm nur unaufmerksam zuhörte.

»Die Menschen sind dort weder besser noch klüger als überall«, fuhr er fort. »Selten begegnet man einem Menschen, für den die wichtigsten Fragen des Daseins die Liebe und der Tod sind.«

Lida rückte eine Haarsträhne zurecht, die ihr über Ohr und Wange gerutscht war. Inokow nahm die Zigarre aus dem Mund, streifte die Asche in die linke, hohle Hand ab, preßte sie in der Faust zusammen und bemerkte vorwurfsvoll:

»Das predigt ja Leo Tolstoi . . .«

»Weniger als die anderen . . .«

»Gibt es auch andere?«

»Sie verhalten sich ablehnend gegen Fragen dieser Art?«

Inokow schob die linke Hand in die Tasche und wischte sie dort ab.

»Ich weiß nicht.«

Klim fühlte, daß dieser Bursche ihn reizte, weil er ihn hinderte, sich der Aufmerksamkeit der jungen Mädchen zu bemächtigen.

»Wahrscheinlich ein Propagandist und vermutlich dumm.«

Er suchte nun anzüglichere Worte zu brauchen, sah aber darauf, daß sie sanft und überzeugend klangen. Nachdem er über Maeterlinck, über die »Blinden« sowie über Rosenbachs »Spinnrad des Nebels« berichtet hatte, wandte er sich in strengem Ton, wobei er Inokow mit dem Blick maß, zur Politik:

»Unsere Väter haben sich allzu eifrig mit der Lösung von Fragen materieller Natur beschäftigt und die Rätsel des seelischen Lebens vollständig ignoriert. Die Politik ist das Gebiet der Selbstgewißheit, die die tiefsten Regungen der Menschen abzustumpfen pflegt. Ein Politiker ist ein bornierter Mensch. Er betrachtet die Nöte des Geistes als so etwas wie eine Hautkrankheit. Alle diese Volkstümler und Marxisten sind Gewerbetreibende. Das Leben aber verlangt Künstler, Schöpfer.«

Inokow, der seine Zigarre wie eine Kerze aufgerichtet hielt, hieb mit dem Finger der linken Hand durch die blauen Spiralen des Rauchs.

»Nun sind Menschen von anderem Schlag erschienen, sie eröffnen uns die geheimnisvolle Grenzenlosigkeit unseres inneren Lebens, sie bereichern die Welt der Gefühle, der Phantasie. Indem sie den Menschen über die häßliche Wirksamkeit erheben, zeigen sie sie nichtiger und weniger schrecklich, als sie scheint, wenn man in gleicher Ebene mit ihr steht.«

»In der Luft kann man nicht leben«, sagte verhalten Inokow und bohrte die Zigarre in die Erde eines Blumentopfes.

Klim verstummte. Ihm schien, daß er etwas Falsches, ja etwas ihm selbst Unbekanntes ausgesprochen habe. Er traute nicht den zufälligen Gedanken, die ihm bisweilen von irgendwoher, abseitig, ohne Zusammenhang mit einer bestimmten Person oder einem Buch kamen. Das, was sich auf andere Menschen bezog, sich mit seiner Grundstimmung deckte und leicht in sein Gedächtnis einging, erschien ihm verläßlicher als diese schweifenden, unvermittelt aufflammenden Gedanken, in denen etwas Gefährliches lag, weil sie ihn gleichsam von dem Vorrat schon gesicherter Meinungen abzulenken und zu trennen drohten. Klim Samgin ahnte dunkel, daß die Angst vor plötzlichen Gedanken in Widerspruch zu irgendeinem seiner Gefühle stand, aber dieser Widerspruch war gleichfalls dunkel und wurde von dem Bewußtsein der Notwendigkeit eines Selbstschutzes gegen den Sturzbach von Meinungen verkörpert, die seiner Natur feindlich waren.

Einigermaßen aufgeregt, musterte er seine Zuhörer. Ihre Aufmerksamkeit beruhigte ihn, während Lidas durchdringender Blick ihm sehr schmeichelte.

Die Somow, die sinnend den Zipfel ihres Zopfes auflöste und wieder zusammenflocht, sagte:

»Dronow, der Unglückliche, philosophiert auch.«

»Ja, ein Bedauernswerter«, bestätigte Inokow nach einem bekräftigenden Nicken seines Krauskopfes. »Und auf dem Gymnasium war er ein so frischer Junge. Ich rede ihm zu, werde Dorflehrer . . .«

Die Somow empörte sich:

»Was ist er denn für ein Lehrer? Er ist böse. Ich kenne ihn wenig – und liebe ihn nicht.«

Inokow trat schwankend zur Seite, postierte sich am Fenster und sagte von dort her:

»Als man mich vom Gymnasium jagte, glaubte ich, das sei durch Dronows Gnade geschehen, weil er mich angegeben habe. Ich fragte ihn sogar unlängst: ›Hast du mich angegeben?‹ Nein, sagt er. Na, schön. Wenn du es nicht warst, dann warst du es eben nicht. Ich frage nur aus Neugier.«

Beim Sprechen lächelte Inokow, obwohl seine Worte kein Lächeln erforderten. Dieses Lächeln machte, daß die ganze Haut auf seinem knochigen Gesicht sich sanft und strahlend runzelte, die Sommersprossen näher aneinander rückten und das Gesicht dunkler wurde.

»Natürlich ist er dumm«, entschied Klim.

»Ja, Dronow ist böse«, sagte nachdenklich Lida. »Aber er ist es in einer langweiligen Weise, als sei die Bosheit sein Gewerbe, das er satt bekommen habe.«

»Wie klug du bist, Liduscha«, seufzte die Telepnew.

»Ein gepfeffertes Mädel«, stimmte die Somow, die Lida umarmte, zu.

»Hören Sie«, wandte Inokow sich an sie. »Die Zigarre riecht nach Kirgisen. Darf ich ein wenig Machorka rauchen? Ich werde es zum Fenster hinaustun.«

Klim stand plötzlich auf, trat zu ihm und fragte:

»Erinnern Sie sich meiner nicht?«

»Nein«, antwortete, ohne ihn anzuschauen, Inokow und rauchte seine Zigarette an.

»Wir besuchten zusammen die Schule«, beharrte Klim.

Inokow entließ einen langen Rauchstrahl aus seinem Mund und schüttelte den Kopf.

»Ich erinnere mich Ihrer nicht. Wir waren in verschiedenen Klassen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Klim und verließ ihn.

»Was hatte ich nur, wozu?« dachte er.

Lida verschwand aus dem Zimmer. Auf dem Sofa stritten geräuschvoll die Somow und Alina.

»Durchaus nicht jede Frau ist dazu da, Kinder zu gebären«, schrie beleidigt Alina. »Die Häßlichsten und die Schönsten dürfen es nicht tun.«

Die Somow wandte unter Lachen ein:

»Dummchen! Dann müßte ich also ins Kloster oder ins Zuchthaus und du dein Leben im Gebet verbringen?«

Klim schritt durchs Zimmer, er dachte: wie schnell und unkenntlich verändern sich alle. Nur er blieb »immer noch derselbe Außenseiter«, wie die Somow bemerkt hatte.

»Darauf kann ich stolz sein«, erinnerte er sich. Dennoch war ihm traurig zumute.

Tanja Kulikow trat, still und flach wie ein Schatten, mit der angezündeten Lampe ins Zimmer.

»Schließt das Fenster, sonst fliegt das ganze Ungeziefer herein«, sagte sie. Dann, als sie dem Streit der jungen Mädchen auf dem Sofa folgte und mit zwinkernden Augen den breiten Rücken Inokows betrachtete, seufzte sie:

»Ihr solltet in den Garten gehen.«

Man antwortete ihr nicht. Sie knipste mit dem Nagel gegen den milchweißen Lampenschirm, lauschte mit auf die Seite gesenktem Kopf dem Klang des Glases und verschwand lautlos, eine noch tiefere Traurigkeit in Klim zurücklassend.

Er ging in den Garten. Dort war es schon bläulich dunkel. Die Rispen der weißen Syringen schienen blau. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Am Himmel leuchteten eine Menge Sterne. Der vermischte Duft der Blumen hob sich von der Erde. Das schimmernde Laub berührte kühl bald den Hals, bald die Wangen. Klim schritt über den knirschenden Sand des Pfades, der Lärm der Reden, der sich aus dem Fenster ergoß, hielt ihn vom Denken ab, übrigens trieb es ihn auch nicht, nachzudenken. Der starke Blumenduft berauschte, und Klim schien, daß er über dem Gartenweg Kreise ziehe und sich selbst irgendwohin entfliehe. Plötzlich erschien Lida. Ihren Schal fest um die Brust wickelnd, ging sie neben ihm her.

»Du hast schön gesprochen. Als ob nicht du es gewesen seiest.«

»Danke«, sagte er ironisch.

»Ich erhielt heute einen Brief von Makarow. Er schreibt, du habest dich sehr verändert und gefielst ihm.«

»So? Schmeichelhaft.«

»Laß diesen Ton. Warum solltest du dich nicht freuen, wenn du gefällst? Du liebst es doch zu gefallen, ich weiß es . . .«

»Das habe ich noch nicht an mir bemerkt.«

»Bist du schlecht gelaunt? Weshalb hast du sie verlassen?«

»Und – du?«

»Ich habe sie satt bekommen. Aber, trotzdem, es ist unangenehm, laß uns zu ihnen gehen.«

Lida nahm seinen Arm und sagte nachdenklich:

»Ich war überzeugt, dich zu kennen, aber heute warst du mir ein Unbekannter.«

Klim Samgin drückte vorsichtig und dankbar ihren Arm, da er fühlte, daß sie ihn zu sich selbst zurückgeführt hatte.

Im Zimmer wurde erbittert geschrien. Alina stand am Flügel und wehrte die Somow ab, die wie ein Huhn auf sie lossprang und dabei rief:

»Schamlosigkeit! Zynismus!«

Inokow aber lächelte einigermaßen fassungslos und sagte mit scharfer Betonung der O's:

»Eigentlich ziehe ich immer den Zynismus der Heuchelei vor, indessen Sie verteidigen die Poesie der Familienbäder . . .«

»Alina, man darf doch nicht . . .«

»Man darf!« schrie, mit dem Fuß stampfend, die Telepnew. »Ich werde es beweisen. Lida, hör zu, ich werde Gedichte vortragen, Sie, Klim, auch. Übrigens, Sie . . . na, ganz gleich . . .«

Ihr Gesicht flammte, die trägen Augen blitzten zornig, sie blähte die Nüstern, aber in ihrer Entrüstung bemerkte Klim etwas Ungeschicktes und Lächerliches. Als sie ein Blatt Papier aus der Tasche riß und es kriegerisch in der Luft schwenkte, mußte Klim unwillkürlich lächeln – Alinas Geste war ebenfalls von kindlicher Lächerlichkeit.

»Ich kann sie auch so«, erklärte sie, ruhiger geworden, und barg das Blatt sorgsam in ihrer Tasche. »Hört zu!«

Sie schloß die Augen und stand einige Sekunden schweigend, sich gerade richtend, und als ihre dichten Brauen sich langsam hoben, schien es Klim, als sei das Mädchen plötzlich um einen Kopf gewachsen. Gedämpft, nur mit dem Atem, sprach sie:

»Wollüstige Schatten auf dunklem Bett umkreisten, mich, schmiegten sich, lockten . . .«

Sie stand, den Kopf und die Brauen erhoben, und blickte erstaunt in die bläuliche Dunkelheit vor dem Fenster. Ihre Arme hingen am Körper herab, die geöffneten, rosigen Handflächen standen ein wenig von den Hüften ab.

»Ich schaue im Schimmer der Knie Bildwerk, Weißmarmor der Hüften, den Umriß des Haars . . .« hörte Klim.

Die Nechajew lispelte häufig solche krankhaft sensiblen Verse, und sie weckten in Klim stets vollkommen eindeutige Regungen. Bei Alina blieben diese Emotionen aus. Sie erzählte erstaunt und schlicht mit fremden Worten eine Traumerscheinung. In Klims Erinnerung erstand die Gestalt jenes kleinen Mädchens, das einst vor langer Zeit schelmisch die geliebten Gedichte Fets aufgesagt hatte. Doch heute klang auch keine Schelmerei in den wollüstigen Versen, nur Staunen. Eben dieses Gefühl hörte Klim aus den Lauten der schönen Stimme heraus, sah er in dem, vielleicht vor Scham oder Furcht erblaßten Gesicht, in den geweiteten Augen. Ihre Stimme sank immer tiefer herab, belastet von den fiebrigen Worten. Immer langsamer und kraftloser sprach sie, als entziffere sie mit Mühe eine undeutliche Schrift, und plötzlich sagte sie, unter erleichtertem Seufzen, eine Strophe mit erhobener Stimme:

»O ferner Morgen auf schäumendem Strande, fremd purpurne Farben der schamhaften Früh'.«

Es schien, als ob sie mühsam die Worte des Dichters wiederhole, der unsichtbar neben ihr, ihr, unhörbar für die anderen, berauschende Worte eingab.

Klim, an die Wand gelehnt, vernahm bereits nicht mehr Worte, sondern nur noch die rhythmischen Schwingungen der Stimme und blickte gebannt auf Lida. Sie saß, sich wiegend, auf dem Stuhl und blickte in einer Richtung mit Alina.

»Chaos!« sagte Alina das letzte Wort des Gedichts, bedeckte ihr Gesicht mit der Hand und sank auf das Taburett vor dem Flügel nieder.

»Empörend schön«, murmelte Inokow.

Die Somow näherte sich leise der Freundin, streichelte ihren Kopf und sagte schmachtend:

»Du brauchst nicht zu heiraten – du bist eine Schauspielerin.«

»Nein, Ljuba, nein . . .«

Inokow hatte es plötzlich eilig:

»Ljuba, wir müssen gehen.«

»Ich auch«, sagte Alina und erhob sich.

Sie trat zu Lida, küßte sie schweigend und fest und fragte Inokow:

»Nun?«

»Sie haben recht behalten – empörend schön!« antwortete er ihr unter kräftigem Händeschütteln.

Sie gingen. Der Mond schien in das offene Fenster. Lida schob ihren Stuhl näher zu ihm hin, setzte sich und legte die Arme auf die Fensterbank. Klim stellte sich neben sie. In der bläulichen Dämmerung zeichnete sich klar das Profil des Mädchens ab, glänzten ihre dunklen Augen.

»Liebe trägt sie unnachahmlich vor«, sagte Lida, »aber ich glaube, sie schwärmt nur, fühlt nicht. Makarow spricht ebenfalls festlich über die Liebe und wie sie . . . an der Liebe vorbei. Gefühl hat – Ljutow. Es ist ein erstaunlich interessanter Mensch, aber er ist auf irgendeine Weise verstört, er fürchtet etwas . . . Manchmal tut er mir leid.«

Sie sprach, ohne Klim anzusehen, still, und als ob sie ihre Gedanken prüfe. Sie schlang die Arme um den Nacken und reckte sich. Ihre spitzen Brüste hoben das leichte Gewebe ihrer Bluse ganz hoch. Klim schwieg abwartend.

»Wie ist das alles so seltsam . . . Weißt du, in der Schule machte man mir ausdauernder und häufiger den Hof als ihr, und doch bin ich neben ihr beinahe ein Scheusal. Und ich nahm mir das sehr zu Herzen, nicht um meinetwillen, sondern um ihrer Schönheit willen. Ein merkwürdiger Mensch, Diomidow, nicht einfach Dimidow, sondern Diomidow, sagte, Alina sei eine abstoßende Schönheit. Ja, mit diesen Worten hat er das gesagt. Aber er ist ein ungewöhnlicher Mensch, es ist schön, ihm zuzuhören, aber schwer, ihm zu glauben . . .«

Ehe Samgin Zeit fand, ihr zu sagen, daß er ihre Andeutungen nicht verstehe, fragte Lida nach einem Blick hinter seine Brille:

›Hast du auch bemerkt, daß sie, wenn sie deklamiert, einem Fisch ähnelt? Sie hält ihre Hände wie Schwimmflossen.«

Klim pflichtete ihr bei:

»Ja, eine hölzerne Pose.«

»Das konnte man ihr in der Schule nicht abgewöhnen. Glaubst du, ich schmähe sie? Beneide sie? Nein, Klim, das ist es nicht«, fuhr sie, nach einem Seufzer, fort. »Ich glaube, es muß eine Schönheit geben, die keine rohen Gefühle erregt . . . nicht wahr?«

»Natürlich«, sagte Klim. »Du redest seltsam. Weshalb muß Schönheit rohe Gefühle erregen . . .«

»Doch, wiedersprich nicht! Wäre ich schön, würde ich nur rohe Gefühle wecken . . .«

Sie sagte es in entschiedenem Ton und hastig und fragte sogleich:

»Wie nanntest du den Verfasser der ›Blinden‹? Maeterlinck? Besorge mir dieses Buch. Nein, wie wunderbar, daß du gerade heute vom Wichtigsten gesprochen hast!«

Ihre Stimme klang liebevoll, sanft und erinnerte Klim an die halbvergessenen Tage, als sie noch klein war und, müde vom Spielen, ihn einlud:

»Komm, sitzen wir ein wenig.«

»Mich regen diese Fragen auf«, antwortete sie, zum Himmel hinaufschauend. »In der Woche vor Weihnachten nahm Dronow mich zu Tomilin. Er ist in Mode, Tomilin. Man ladet ihn ein in die Häuser der Intelligenz, zur Predigt. Aber mir scheint, daß er alles auf der Welt in Worte verwandelt. Ich war noch ein zweites Mal bei ihm, allein. Er warf mich in diese kalten Werte, wie ein Kätzchen ins Wasser, das war alles.«

Obwohl sie dies spöttisch, ohne Klage, sagte, fühlte Klim sich ergriffen. Er empfand den Wunsch, herzlich zu ihr zu reden, ihre Hand zu streicheln.

»Erzähle etwas«, bat sie.

Er begann von Turobojew zu erzählen, während er dachte:

»Wie, wenn ich ihr die Geschichte mit Nechajew anvertraute?«

Lida hörte seine ironische Rede noch nicht eine Minute lang an und sagte:

»Das ist uninteressant.«

Doch fast im gleichen Augenblick fragte sie lässig:

»Er ist sehr krank?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Klim befremdet. »Weshalb fragst du? Ich meine, weshalb glaubst du es?«

»Ich hörte, er habe die Schwindsucht.«

»Es fällt nicht auf.«

Lida verstummte, rieb sich mit dem Tuch die Lippen und die Wange und sagte seufzend:

»Wir hatten in der Schule einen Freund Turobojews, einen ganz unerträglichen Flegel, aber ein hervorragendes Talent. Und – plötzlich . . .«

Sie zuckte nervös zusammen, sprang auf die Füße, trat zum Sofa, wickelte sich in den Schal und flüsterte, dort stehenbleibend, empört:

»Denke dir, wie entsetzlich – mit zwanzig Jahren von einer Frau krank zu werden. Wie gemein! Das ist schon eine Niederträchtigkeit! Liebe und dann – dies . . .«

»Nun, was denn für eine Liebe?«

Lida unterbrach ihn im Zorn:

»Ach, laß nur! Du verstehst es nicht. Es darf hier keine Krankheiten geben, keine Schmerzen, nichts Schmutziges . . .«

Während sie sich, mit gekrümmtem Rücken, wiegte, sprach sie durch die Zähne:

»Überhaupt alle, ein Grauen! Du weißt es nicht: mein Vater hat sich im vergangenen Winter mit einer Soubrette eingelassen, – dick, rot und gemein wie ein Marktweib. Ich stehe nicht freundschaftlich zu Wera Petrowna, wir lieben uns nicht, aber – mein Gott! Wie hat sie gelitten! Ihre Augen sind wahnsinnig geworden. Hast du gesehen, wie sie ergraut ist? Wie roh und furchtbar ist das alles. Die Menschen treten aufeinander mit Füßen herum. Ich will leben, Klim, aber ich weiß nicht, wie.«

Die letzten Worte sprach sie mit solcher Schroffheit aus, daß Klim ängstlich wurde. Sie aber forderte:

»Nun, sag du, wie man leben soll!«

»Liebe«, antwortete er still. »Liebe, und alles wird klar sein.«

»Du weißt es? Hast es erfahren? Nein. Nichts wird klar sein. Nichts. Ich weiß, daß man lieben muß, aber ich bin überzeugt, daß es mir nicht gelingen wird.«

»Warum?«

Lida biß sich auf die Lippen und schwieg, sie stützte ihre Arme auf die Knie. Ihr dunkles Gesicht wurde tiefer vom Andrang des Blutes, sie bedeckte geblendet ihre Augen. Klim hätte ihr gern etwas Tröstendes gesagt, aber er kam nicht so weit.

»Da bin ich nun auf der Theaterschule gewesen, um nicht zu Hause leben zu müssen, und weil ich keinerlei Hebammenkurse, Mikroskope und dergleichen liebe«, sagte Lida sinnend in gedämpftem Ton. »Ich habe eine Freundin mit einem Mikroskop, sie glaubt daran, wie ein altes Mütterchen an das Mysterium des heiligen Abendmahls. Aber im Mikroskop sieht man weder Gott noch Teufel.«

»Man sieht sie ja auch durch das Teleskop nicht«, scherzte Klim zaghaft und tadelte sich für seine Furchtsamkeit.

Lida setzte sich in die Sofaecke und zog die Beine hinauf.

»Mir scheint«, begann Klim energisch, »ich bin sogar davon überzeugt, daß Menschen, die ihrer Einbildungskraft Spielraum geben, es leichter haben. Schon Aristoteles hat gesagt, daß die Einbildung der Wahrheit näher sei als die Wirklichkeit.«

»Nein«, sagte Lida hart. »Das ist nicht so.«

»Aber ist denn die Dichtung – keine Einbildung?«

»Nein«, sagte noch schroffer das Mädchen, »Ich verstehe nicht zu streiten, aber ich weiß, es ist nicht wahr. Ich – bin keine Einbildung.«

Sie berührte mit der Hand Klims Arm und bat:

»Sprich nicht in Zitaten wie Tomilin . . .«

Dies verwirrte Klim so heftig, daß er von ihr abrückte und fassungslos stammelte:

»Wie du willst . . .«

Zwei oder drei Minuten schwiegen beide. Dann erinnerte Lida leise:

»Es ist schon spät.«

Während Klim sich auf seinem Zimmer entkleidete, empfand er ein scharfes Mißvergnügen. Weshalb war er ängstlich geworden? Er bemerkte bereits zum wiederholten Male, daß er sich unter vier Augen mit Lida gedrückt fühlte und daß dieses Gefühl nach jedem Wiedersehen wuchs.

»Ich bin kein Gymnasiast, der in sie verschossen ist, kein Makarow«, grübelte er. »Ich sehe sehr wohl ihre Mängel, während ihre Vorzüge mir eigentlich nicht klar sind«, beschwichtigte er sich. »Was sie von der Schönheit sagte, war dumm. Überhaupt spricht sie, wie die Laune es ihr eingibt, unnatürlich für ein Mädchen in ihren Jahren . . .«

Bemüht, zu ergründen, was ihn zu diesem Mädchen hinzog, entdeckte er bei sich nicht nur keine Verliebtheit, sondern nicht einmal jene physiologische Neugier, die die kundigen Liebkosungen Margaritas und die Gier der Nechajew in ihm entfachten. Doch es zog ihn immer gewaltiger zu Lida, und in dieser Anziehung witterte er dunkel eine Gefahr für sich. Zuweilen schien Lida ihm mit jener Überheblichkeit zu begegnen, die ihr in der Kindheit eignete, als alle Mädchen außer Lida ihn tiefer stehende Geschöpfe dünkten als er. Als er sich erinnerte, daß in seiner zierlichen, geschmeidigen Freundin immer der Hang zum Befehlen lebte, hielt er bei der Erkenntnis, daß dieser Hang sich nun in mißgestalteter Form ausgewachsen hatte, bleischwer geworden war und durch eben diese Wucht Lida zu Boden drückte. Er lag nicht in dem, was Lida sagte, er verbarg sich hinter ihren Worten und verlangte gebieterisch, daß Klim ein anderer Mensch wurde, anders dachte und sprach, verlangte eine ungewöhnliche Aufrichtigkeit. Sie belehrte:

»Du sprichst zu gelehrsam und behandelst die Menschen wie ein Beamter in besonderem Auftrag. Weshalb lächelst du so gezwungen?«

All das erregte Klims Protest, das Bewußtsein der Notwendigkeit einer Abwehr und eben dieses Bewußtsein, das ihm Makarow vor Augen hielt, diktierte:

»Ich werde sie nicht beachten und basta! Ich will ja nichts von ihr!«

Er versuchte, eine unabhängige Haltung einzunehmen, bemühte sich, Lida davon zu überzeugen, daß sie ihm gleichgültig sei, führte ihr seine neue Miene recht deutlich vor die Augen und wünschte sehr, daß sie seine Unabhängigkeit bemerke. Sie bemerkte sie und fragte wegwerfend:

»Mit wem schmollst du eigentlich?«

Um darauf unabweisbar zu forschen:

»Warum gefällt dir ›Unser Herz‹? Es ist unnatürlich. Einem Mann darf ein solches Buch nicht gefallen.«

Nicht immer war es leicht, ihre Fragen zu beantworten. Klim fühlte, hinter ihnen versteckte sich der Wunsch, ihn auf Widersprüchen zu ertappen, und noch etwas, was gleichfalls in der Tiefe der dunklen Pupillen, im hartnäckigen, sezierenden Blick versteckt war.

Einmal verlor er die Beherrschung und sagte wütend:

»Du examinierst mich wie einen Schuljungen.«

Lida fragte verwundert:

»In der Tat?«

Sie blickte ihm mit einem rätselhaften Lächeln in die Augen und sagte dann ziemlich sanft:

»Nein, einen Jüngling kann man dich nicht nennen, du bist so ein . . .«

Sie suchte ein passendes Wort und fand nur ein sehr vages:

»Besonderer . . .«

Und, nach ihrer Gewohnheit, verhörte sie ihn:

»Was findest du an Rodenbach? Das ist schlechter Seifenschaum für meinen Geschmack.«

Eines Abends, als ein Frühlingsschauer stürmisch gegen das Fenster schlug, Klims Zimmer in blauem Feuer aufflammte und die Scheiben unter den Donnerschlägen zusammenbebten, stöhnten und klirrten, küßte Klim, lyrisch gestimmt, dem Mädchen die Hand. Sie nahm diese Geste gelassen auf, als habe sie sie nicht einmal gefühlt, aber als Klim versuchte, sie noch einmal zu küssen, entzog sie ihm still ihre Hand.

»Du glaubst mir nicht, aber ich . . .« begann Klim, aber sie fiel ihm ins Wort:

»Am allerwenigsten gleichst du dem Chevalier des Grieux. Und ich bin keine Manon.«

Einen Augenblick später zuckte sie zusammen und sagte:

»Ich glaube, am widerwärtigsten lieben die Schauspieler uns Frauen.«

Klim fragte beunruhigt:

»Warum ausgerechnet Schauspieler?«

Keine Antwort.

Derartige Gedanken äußerte sie unerwartet, ohne Zusammenhang mit dem Vorangehenden, und Klim witterte in ihnen stets etwas Verdächtiges, eine verletzende Anspielung, Ob sie ihn wohl für einen Schauspieler hielt? Er ahnte bereits, daß Lida, worüber immer sie reden mochte, an die Liebe dachte, so wie Makarow an das Los der Frauen, Kutusow an den Sozialismus, so wie die Nechajew fälschlich an den Tod dachte, bis es ihr gelang, Liebe zu erzwingen. Klims Abneigung und Furcht vor Menschen, die von einer Idee besessen waren, wuchs beständig. Sie waren Gewaltmenschen und alle beherrscht von dem Drang, andere zu unterjochen.

Zeitweilig hatte er den Eindruck, daß Lida mit ihm spielte. Das vertiefte seine Feindseligkeit gegen sie, steigerte auch seine Zaghaftigkeit. Doch er nahm mit Erstaunen wahr, daß auch dies ihn von dem Mädchen nicht abstieß.

Am übelsten war er dran, wenn sie, mitten im Gespräch, in eine sonderbare Erstarrung fiel. Mit fest zusammengepreßten Lippen und weit geöffneten Augen stierte sie ihn an und gleichsam durch ihn hindurch. Auf ihrem dunklen Gesicht erschien der Schatten unergründlicher Gedanken. In solchen Augenblicken schien sie plötzlich gealtert, durchdringend und gefährlich weise. Klim, unfähig, diesen Blick zu ertragen, senkte den Kopf und erwartete, daß sie gleich etwas Ungewöhnliches, Anormales ersinnen und verlangen würde, daß er diesen ihren Einfall ausführen solle. Er fürchtete, daß er es ihr nicht abschlagen könnte. Und nur ein einziges Mal fand er in sich Mut genug, um zu fragen:

»Was hast du?«

»Nichts«, antwortete sie mit dem allen gewohnten, leeren Wort.

Doch dann erhellte ein langsames Lächeln ihr Gesicht, und sie sagte:

»Der Schweiger hat mich gepackt. Pawla, erinnerst du noch? das Dienstmädchen, das uns bestahl und spurlos verschwand? – Sie erzählte mir, es gebe ein Wesen, das »Schweiger« heiße. Ich verstehe sie, ich sehe ihn beinahe – als Wolke, als Nebel. Er umfängt und durchdringt den Menschen, um ihn zu verwüsten. Es ist eine Art Schauer. In ihm verschwindet alles, Gedanken, Worte, Gedächtnis, Verstand – alles! Nur eines bleibt im Menschen zurück: die Furcht vor sich selbst. Verstehst du?«

»Ja«, antwortete Klim, der beobachtete, wie ihr gemachtes Lächeln erlosch, und dachte: »Sie schauspielert. Natürlich schauspielert sie.«

»Ich aber verstehe nicht«, fuhr sie fort, mit einem neuen, spitzen Lächeln. »Nicht mich und nicht die anderen. Ich verstehe nicht zu denken, scheint mir. Oder ich denke nur an meine eigenen Gedanken. In Moskau wurde ich einem Sektierer vorgestellt, so einem Einfaltstropf mit einem Hundeschnäuzchen. Der wiegte sich und murmelte:

»Mein Fuß singt – wohin gehe ich?
Meine Hand singt – weshalb nehme ich?
Mein Fleisch singt – wozu lebe ich?«

Nicht wahr, das ist seltsam? So ein Einfältiger, Kümmerlicher. Das ist nicht notwendig, meiner Meinung nach.«

Klim stimmte zu:

»Nein, das ist es nicht.«

Aber Lida fragte plötzlich sehr streng:

»Wenn es aber doch notwendig ist? Sicher weißt du, ob ja oder nein?«

Sie machte es beständig so: zwang ihn, ihr zuzustimmen und bestritt sofort ihre eigene Behauptung. Klim pflichtete ihr gern bei, hatte aber keine Lust, mit ihr zu streiten, da er es fruchtlos fand, weil er sah, daß sie Einwände überhörte.

Er sah auch, daß seine einsamen Gespräche mit Lida seiner Mutter mißfielen. Auch Warawka verfinsterte sich, kaute mit roten Lippen an seinem Bart und sagte, die Vögel bauten ihr Nest erst, nachdem sie flügge geworden seien. Langeweile, Müdigkeit und Erbitterung gingen von ihm aus. Er erschien zuhause zerknittert wie nach einer Schlägerei. Er zwängte seinen wuchtigen Körper in einen Ledersessel, trank Selters mit Kognak, näßte den Bart und beklagte sich über die Stadtverwaltung, die Landschaftsversammlung, den Gouverneur. Er sagte:

»In Rußland leben zwei Rassen: die Menschen der einen können nur über das Vergangene denken und sprechen, die Menschen der anderen nur über die Zukunft und unbedingt über eine sehr entfernte. Die Gegenwart, der morgige Tag, interessiert niemand.«

Die Mutter saß ihm gegenüber, als sitze sie einem Porträtisten. Lida begegnete auch früher dem Vater nicht gerade zärtlich, jetzt aber sprach sie mit ihm unhöflich, behandelte ihn gleichgültig, wie einen Menschen, den sie nicht brauchte. Die qualvolle Langeweile trieb Klim auf die Straße. Dort sah er, wie ein betrunkener Kleinbürger einem dicken einäugigen Weib Eier abkaufte, sie aus dem Korb nahm, eins nach dem anderen gegen das Licht hielt und sie mit den tatarischen Worten: »Jakschi. Tschoch jakschi!« in die Tasche steckte.

Ein Ei geriet neben die Tasche, er zertrat es. Unter der Sohle seines schmutzigen Stiefels schnalzte gelbe Jauche. Vor dem Hotel »Moskau« hockten auf dem zerbrochenen Schild Tauben, die in ein Fensterchen guckten. Dahinter stand in Hemdsärmeln ein Mann mit schwarzem Schnurrbart, der, pfeifend und besorgt die Stirn runzelnd, prüfend seine blauen Hosenträger spannte. Ein altes Weiblein mit freundlichem Gesicht stieß ein Wägelchen vor sich her, aus dem ein Paar winziger rosiger Händchen in die Luft griffen. Die Alte streifte Klim mit dem Rad des Wägelchens und rief wütend:

»Haben Sie denn keine Augen? Und dabei noch ein Bebrillter!«

Sie blieb einen Augenblick stehen, um eine Prise zu nehmen, und sagte laut etwas über die gottlosen Studenten. Klim ging und dachte an den Sektierer, der brummte: »Mein Fuß singt – wohin gehe ich?«, an den betrunkenen Kleinbürger, an die strenge Alte, an den schwarzbärtigen Mann, der mit seinen Hosenträgern beschäftigt war. Welcher Sinn war in dem Dasein dieser Menschen?


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