Maxim Gorki
Das Leben des Klim Samgin
Maxim Gorki

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In einer engen Sackgasse zwischen faulenden Zäunen lärmten etwa zwanzig Jungen. Abseits lag, barfüßig und ohne Mütze, Inokow auf dem Bauche. Sein zerzaustes Haar glänzte an der Sonne wie Seide, sein gesprenkeltes Gesicht runzelte sich in einem seligen Lächeln, die Sommersprossen zitterten. Aufgeregt, in flehendem Ton, schrie er den Jungen zu:

»Petja, nicht so hastig! Ruhig! Schlag den Popen! Den Popen . . . autsch, vorbeigetroffen!«

Inokow tauchte häufig vor Klims Augen auf. Bald ging er irgendwohin, weit ausholend, den Blick auf die Erde geheftet, die geballten Hände auf dem Rücken versteckt, als schleppe er auf seinen Schultern eine unsichtbare Last. Bald saß er im Stadtpark auf einer Bank, ließ die Lippe hängen und verfolgte verzaubert die launischen Spiele der Kinder.

Aus dem Keller der Kaufleute Sinewoi krochen Tausende von Maden, wimmelten umher, erklommen den grauen Stein des Fundaments und bedeckten ihn mit lebendem schwarzen Spitzenwerk. Sie krochen über das Trottoir vor die Füße der Menschenmenge. Die Menschen wichen ihnen aus, die einen voll Abscheu, die andern furchtsam, und knurrten, bald böse, bald schadenfroh:

»Ein böses Zeichen! Ein böses Zeichen!«

»Unsinn!« schrie Inokow. Er lachte laut und entblößte die schiefen bösen Zähne, er erklärte:

»Es ist etwas verfault . . .«

Die Leute wichen ihm, der lang und hager war, ebenso aus wie den Maden.

Einmal stand Klim ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber und wollte mit ihm einen Gruß tauschen, aber Inokow schritt mit glotzenden Augen, sich auf die Lippe beißend, wie ein Blinder an ihm vorüber.

Zwei- oder dreimal sprach Inokow zusammen mit Ljubow Somow bei Lida vor, und Klim sah, daß dieser keilförmige Jüngling sich bei Lida als ungebetener Gast fühlte. Planlos, wie ein schläfriger Flußbarsch in einem Zuber mit Wasser, schleppte er sich von einer Ecke in die andere, wobei er heftig seinen langmähnigen Kopf schüttelte und sein buntgesprenkeltes Gesicht verzog. Die Augen sahen fragend auf die Gegenstände. Es war klar, daß Lida ihm unsympathisch war und er sich innerlich mit ihr auseinandersetzte. Unvermittelt trat er an sie heran, zog die Brauen in die Höhe, riß die Augen auf und fragte:

»Lieben Sie Turgenjew?«

»Ich lese ihn.«

»Das heißt – wie verstehen Sie das, daß Sie ihn lesen? Sie haben ihn gelesen?«

»Also gut, ich habe ihn gelesen«, gab Lida mit einem Lächeln zu. Inokow aber machte ihr in lehrhaftem Ton klar:

»Die Bibel, Puschkin, Shakespeare liest man, Turgenjew hingegen ›hat man gelesen‹, um der russischen Literatur den Tribut der Höflichkeit zu zollen.«

Darauf befleißigte er sich, Albernheiten und Frechheiten zu sagen:

»Turgenjew ist ein Konditor. Bei ihm findet man nicht Kunst, sondern Törtchen. Wahre Kunst ist nicht süß, sie hat immer etwas Bitteres.«

Sprach's und entfernte sich. Ein anderes Mal trat er von hinten auf sie zu, beugte sich über ihre Schulter und fragte ebenso unvermittelt:

»Haben Sie ›Eine langweilige Geschichte‹ von Tschechow gelesen? Spaßig, was? Der Professor hat da sein ganzes Leben irgend etwas gelehrt und zum Schluß muß er erkennen: Es gibt keine allgemeine Idee. An was für einer Kette hat er dann sein Leben lang gesessen? Was hat er – ohne allgemeine Idee – die Menschen gelehrt?«

»Ist die allgemeine Idee nicht ein – Gemeinplatz?« fragte Lida.

Inokow sah sie verwundert an und murmelte:

»Ach so! Hm . . . ja, daran habe ich nicht gedacht. Ich weiß es nicht.«

Und fuhr hartnäckig fort:

»Tschechow hat auch keine allgemeine Idee. Er hat ein Gefühl des Unglaubens an den Menschen, an das Volk. Ljeskow, der glaubte an den Menschen, an das Volk freilich auch nicht besonders glühend. Er hat gesagt: Slawischer Plunder, heimatlicher Mist! Aber er, Ljeskow, hat ganz Rußland durchdrungen. Tschechow verdankt ihm überaus viel.«

»Das sehe ich nicht ein«, sagte Lida, die Inokow neugierig betrachtete.

»Lesen Sie erst den einen, dann den anderen, so werden Sie es einsehen . . .

Er tippte dem Mädchen auf die Schulter, so daß sie zurückfuhr:

»Hören Sie mal, wo ist denn diese Schönheit, Ihre Freundin?«

»Wahrscheinlich bei sich zuhause. Wollen Sie etwas von ihr?«

Lida lächelte. Auch die Sommersprossen in Inokows Gesicht hüpften, die Lippen zogen sich wie bei Kindern auseinander, und in den Augen erstrahlte ein sanftes Lachen.

»Habe ich komisch gefragt? Na, macht nichts. Natürlich will ich nichts von ihr, ich bin bloß neugierig, wie sie einmal leben wird? Mit einer solchen Schönheit ist es schwer. Und dann denke ich immer, daß wir unter dem neuen Zaren eine Lola Montez haben müssen.«

»Er hat sich in sie verliebt, das ist es«, sagte die Somow und sah ihren Freund liebevoll an. »Er ist gierig nach Grellem . . .«

»Daß ich mich verliebt habe, ist Quatsch. Verlieben kann ich mich garnicht. Ganz einfach – dieses Fräulein stimmt mich tief nachdenklich. Allzuwenig paßt sie in ihre Umgebung. Darum ist es traurig, an sie zu denken.«

»Versuchen Sie, nicht an sie zu denken«, riet Lida.

Inokow wunderte sich und bewegte krampfhaft die Brauen.

»Ist denn so etwas möglich: sehen und nicht daran denken?«

Als er und die Somow weggegangen waren, fragte Klim Lida:

»Weshalb redest du mit ihm im Ton einer alten Gnädigen?«

Lida kicherte und erklärte, während sie die Arme auf der Brust kreuzte, achselzuckend:

»Ich fühle selbst, daß es albern ist, aber ich finde keinen anderen Ton. Mir scheint, spräche ich mit ihm auf andere Weise, würde er mich auf seine Knie setzen, umarmen und ausfragen: »Sie – was sind Sie eigentlich?«

Klim dachte nach und sagte:

»Ja, von ihm kann man jede Frechheit erwarten.«

Eines Abends kam die Somow allein, sehr müde und offensichtlich beunruhigt:

»Ich werde bei dir übernachten, Liduscha«, erklärte sie. »Mein allerliebster Grischuk hat sich irgendwohin in den Distrikt aufgemacht, er muß zusehen, wie die Bauern rebellieren. Gib mir was zu trinken, nur keine Milch. Hast du Wein?«

Klim ging in den Keller und kam mit einer Flasche Weißwein zurück. Man setzte sich zu dritt aufs Sofa, und Lida begann, ihre Freundin auszuforschen, was für ein Mensch dieser Inokow sei.

»Ich weiß es selbst nicht, meine Freunde!« begann die Somow und breitete ratlos die Arme aus, was Klim für aufrichtig hielt.

»Ich bin sechs Jahre mit ihm bekannt, lebe mit ihm das zweite Jahr, sehe ihn aber selten, weil er beständig nach allen Richtungen hin von mir abspringt. Er kommt wie eine Motte hereingeflogen, dreht sich, schwirrt ein wenig und plötzlich heißt es: »Ljuba, morgen fahre ich nach Cherson.« Merci, Monsieur. Mais – pourquoi? Meine Lieben, furchtbar albern und sogar bitter ist es, in unserem Dorf französisch zu sprechen, aber man möchte es so gern! Wahrscheinlich möchte man es zur Vertiefung der Albernheit, vielleicht auch, um sich daran zu erinnern, daß es noch ein anderes Leben gibt.«

Sie hatte scherzhaft, mit komischen Intonationen angefangen, fuhr aber bereits nachdenklich fort, jedoch ohne ihren traurigen Humor zu verlieren.

»Man muß, sagt er, Rußland kennenlernen. Alles kennen – das ist sein Spleen. Er sagt es sogar in Versen:

›Doch diese Ketten werde ich zerreißen,
Dafür ist mir der Wille gegeben,
Dazu hat meine Seele nur erweckt
Der Fanatiker des Wissens – Satanas!‹

Ja, so ist er also verschwunden. Auch kein Brief, und auch ich selbst bin scheinbar nicht da. Plötzlich stapft er zur Tür herein, zärtlich, schuldbewußt. Erzähle, wo warst du, was hast du gesehen? Er erzählt dann etwas nicht sehr Aufregendes, aber trotzdem . . .«

Tränen traten der Somow in die Augen, sie zog ihr Tuch hervor, wischte sich verlegen die Augen und lächelte:

»Die Nerven. Also: in Mariupol, sagt er, hat eine Kaufmannswitwe einen Neger, einen Matrosen von Beruf, geheiratet, er hat den orthodoxen Glauben angenommen und singt den Tenor im Kirchenchor.«

Die Somow schluchzte laut auf und bedeckte wieder mit dem Tuch die Augen.

»An den Neger glaube ich nicht, den Neger hat er erdichtet. Aber Unvereinbares zu erdichten, das ist auch ein Steckenpferd von ihm. Er zankt mit dem Leben wie mit einer launenhaften Frau: ach, so bist du? Nun, ich kann es noch etwas kniffliger! Ach, meine Kinder, wie er mich damit schreckt. In unserem Dorf gab es einen verzweifelten Raufbold, Mikeschka, der Fröhner genannt. Niemanden ließ er in Frieden mit seinen Frechheiten. Als Grischa bei uns lebte, wurde er auf ihn aufmerksam und stand bei jeder Begegnung vor ihm auf dem Kopf. Alle lachen, was ist los? Auch Mikeschka lacht. Aber die Mädels und Burschen begannen ihn zu necken: ›Du, Fröhner, kannst das aber nicht!‹ Der wurde wütend und suchte mit Grischa Händel. Aber Grischa war stärker als er, zwang ihn zu Boden und begann ihm, wie einem Jungen, die Ohren zu zausen. Mikeschka war aber vierzig Jahre alt. Er zitterte am ganzen Körper und bat: ›Mach keinen Unsinn! Unsinn machen kann jeder, sogar noch besser als du!‹«

Die Somow schnitt eine Grimasse, seufzte und fuhr leiser fort:

»Um die Wahrheit zu sagen, es war nicht schön anzusehen, wie er auf Mikeschkas Rücken ritt. Wenn Grigori böse ist, ist sein Gesicht . . . grauenhaft. Dann weinte Mikeschka. Hätte man ihn bloß geschlagen, hätte er es sich nicht so zu Herzen genommen, so aber hatte man ihn bei den Ohren genommen. Man lachte ihn überall aus, und er ist als Landarbeiter ins Gehöft der Shadowskis gegangen. Ich muß gestehen, ich war froh, daß er wegging, er warf mir alles mögliche Zeug zum Fenster herein, tote Mäuse, Maulwürfe, lebende Igel, und ich habe schreckliche Angst vor Igeln!«

Die Somow bebte, nahm einen Schluck Wein, leckte sich die Lippen und sagte so, als erinnere sie etwas lange Vergangenes:

»Die Bauern liebten Grigori. Er erzählte ihnen alles, was er wußte. Er war auch bereit, ihnen bei der Arbeit zu helfen. Er ist ein guter Zimmermann. Hat Fuhrwerke ausgebessert. Er verstand sich auf jede Arbeit.«

Sie schwieg trübsinnig eine Weile, dann fügte sie seufzend hinzu:

»Fröhlich arbeitet er.«

Nachdem er diese Erzählung gehört hatte, war Klim überzeugt, daß Inokow in der Tat ein anormaler und gefährlicher Mensch war. Am nächsten Tag teilte er seine Ansicht Lida mit, doch die sagte sehr fest:

»Mir gefallen solche.«

»Du aber bist, glaube ich, nicht ganz nach seinem Geschmack.«

Lida warf ihm einen schiefen Blick zu und schwieg.

Zwei Tage später kam die Somow in großer Aufregung angelaufen.

»Der Gouverneur hat befohlen, Inokow aus der Stadt auszuweisen, beleidigt durch einen Korrespondenzbericht über eine Lotterie, die seine Frau zugunsten der Abgebrannten veranstaltet hat. Man sucht Grischa, die Polizei ist bei mir gewesen, man hat verlangt, ich soll angeben, wo er sich befindet. Aber ich weiß es ja selbst nicht. Man glaubt mir nicht.«

Sie saß auf dem Stuhl, griff sich an den Kopf und fuhr, während sie hin- und herschwankte, fort:

»Ich kann doch nicht sagen, er ist dorthin gegangen, wo die Bauern rebellieren? Ich weiß auch nicht, wo die überhaupt rebellieren!«

Lida begann, sie zu beruhigen, aber sie sagte unter Schluchzen:

»Du verstehst nicht. Er ist ja blind gegen sich selbst. Er sieht sich nicht. Er braucht einen Blindenführer, eine Kinderfrau, das ist ja mein Amt bei ihm. Lida, bitte deinen Vater . . . übrigens, laß, es ist nicht nötig!«

Sie riß sich vom Stuhl los, küßte hastig ihre Freundin und lief zur Tür, sagte aber von dort her, stehenbleibend:

»Ich denke, Dronow hat über die Korrespondenz geschwatzt, niemand außer ihm hatte Kenntnis von ihr. Sie haben es zu schnell erfahren. Gewiß war es Dronow. Lebt wohl!«

Weg war sie, und schon seit mehr als zwei Wochen wurde sie in der Stadt nicht gesehen.

Klim fiel das alles ein, als er im Stadtpark über den Rand des Teiches gebeugt saß und sein verzerrtes Spiegelbild im grünlichen Wasser betrachtete. Er tauchte seinen Spazierstock ins Wasser, ließ Wassertropfen auf den weißen Fleck spritzen, und wenn er ihn zerstört hatte, verfolgte er, wie von neuem sein Kopf und seine Schultern auftauchten und seine Brillengläser funkelten.

»Wozu taugen solche Menschen wie die Somow, wie Inokow? Erstaunlich verworren und verschüttet ist das Leben«, dachte er und redete sich ein, das Leben würde erträglicher und einfacher ohne Lida sein, die wahrscheinlich nur deshalb rätselhaft erschien, weil sie feige war, feiger als die Nechajew, doch ebenso gespannt auf eine bequeme Gelegenheit wartete, um sich der Gewalt ihrer Triebe zu überlassen. Es wäre ruhiger zu leben ohne Tomilin, ohne Kutusow, ja, ohne Warawka, überhaupt ohne alle diese Weisen und Taschenspieler. Es gab zuviel Menschen, die bestrebt waren, anderen ihre Einfälle aufzuzwingen, und darin das Ziel ihres Lebens erblickten. Turobojew hatte nicht schlecht gesagt:

»Jeder von uns läuft mit einer Schelle am Hals in der Welt umher, wie eine Schweizer Kuh.«

Wenn Samgin Gedanken dieser Farbe und Natur kamen, fühlte er sehr wohl, daß das seine eigenen Gedanken waren, diejenigen, die ihn wirklich von allen übrigen Menschen unterschieden. Doch zu gleicher Zeit fühlte er auch, daß diese Gedanken etwas Unentschiedenes, Ungelöstes und Zaghaftes enthielten. Sie laut auszusprechen, war nicht wünschenswert. Er verstand, sie sogar vor Lida zu verbergen.

Im Wasser des Teichs, neben dem weißen Fleck seiner Jacke, erschien plötzlich ein dunkler, im selben Augenblick fragte ihn eine beleidigte Weiberstimme:

»Warum so hochmütig, Samgin?«

Klim schrak zusammen, schwang seinen Stock und erhob sich. Neben ihm stand Dronow. Der Mützenkopf war ihm über die Stirn gerutscht und ließ seine Ohren noch weiter abstehen. Unter dem Schirm hervor funkelten die irren Augen.

»Ich bat dich doch um eine Zusammenkunft. Hat die Somow es dir nicht ausgerichtet?«

»Ich hatte keine Zeit«, sagte Samgin, während er die rauhe, harte Hand drückte.

»Aber am dumpfigen Wasser zu sitzen, hast du Zeit?«

Dronow spuckte unter Rülpsen und Husten in den Teich. Klim bemerkte, daß er jedesmal genau oder annähernd einen Punkt traf, dieser Punkt war seine, Klims, weiße Mütze, die sich im Wasser spiegelte. Nachdem er Iwan Dronow aufmerksam ins Gesicht gesehen hatte, rückte er von ihm weg. In dem sehr eingefallenen Gesicht regte sich wütend ein rotes, geschwollenes Näschen, gereizt funkelten die Augen. Sie waren heller und frostiger geworden und irrten nicht mehr so fieberhaft umher, wie Klim es in der Erinnerung hatte. Mit fremder, näselnder Stimme erzählte Dronow abgerissen und eilig, daß es ihm schlecht ginge, er habe keine Arbeit. Vierzehn Tage lang habe er im Keller eines Bierlagers Flaschen gespült und sich dabei erkältet.

»Hast du keine Zigaretten?«

»Ich rauche nicht.«

»Ja, ich vergaß. Und du wirst auch nicht rauchen?«

»Weiß ich nicht«, antwortete Klim achselzuckend.

»Natürlich wirst du es nicht.«

Dronow seufzte gedehnt, mit einem pfeifenden Geräusch, hustete und sagte darauf:

»Also – du studierst? Mich, siehst du, hat man begehrlich gemacht und dann weggeworfen. Hätte man mich nicht ins Gymnasium gesteckt, würde ich Aushängeschilder und Ikonen malen oder Uhren ausbessern. Überhaupt irgendwie leichte Arbeit machen. Jetzt kann ich so als Steckengebliebener weiterleben.«

Klim blickte auf sein abstehendes Ohr und dachte:

»Hättest du nicht verbotene Bücher ins Gymnasium geschleppt.«

Er war sogar im Begriff, es Dronow zu sagen, als dieser, der seine Gedanken zu erraten schien, selbst zu sprechen anfing:

»Als diese Idioten mich vom Gymnasium jagten, lasen dort nur drei Unterprimaner Broschüren von Tolstoi, heute dagegen . . .«

Er winkte ab.

»Das Gehirn juckt immer heftiger. Es ist hier ein Prophet Jesaja erschienen, in der Art deines lieben Onkels, der beschwört: ›Liebe Kinder, seid Helden, verjagt den Zaren . . .!‹«

»Nun – und du? Bist du einverstanden, ihn davonzujagen?«

»Ich mache dieses Spiel nicht mit. Ich, Bruder, glaube weder Onkeln noch Tanten.«

Mit leichtem Spott um die schiefen Lippen sagte Dronow gutmütiger, während er den dunklen Flaum auf seinem Kinn glättete:

»Tomilin – glaube ich. Er verlangt nichts von mir, er stößt mich nirgendwo hin. Er hat auf seinem Dachboden eine Art Jüngstes Gericht etabliert und ist zufrieden. Wühlt in Büchern und Ideen und beweist sehr einfach, daß überall in der Welt mit Wasser gekocht wird. Er lehrt nur eins, Bruder: den Unglauben. Das ist doch nun wirklich Uneigennützigkeit, wie?«

Er blickte Klim in die Augen und wiederholte:

»Es ist doch uneigennützig, wie?«

»Ja . . .«

Dronow nahm seine Mütze ab und klatschte sich mit ihr aufs Knie, während er beruhigter fortfuhr:

»Ein wunderbarer Mensch. Er lebt, ohne Grimassen zu schneiden. Dieser Tage wurde hier jemand beerdigt. Einer der Leidtragenden sagte spaßig: ›Dreißig Jahre hat er gelebt und Grimassen geschnitten, als er es nicht länger aushielt, starb er!‹ Tomilin – wird viel aushalten . . .«

»Zäh ist der Tatar – der zerbricht nicht!
Sehnig ist der Hund – er zerreißt nicht!«

Graues Gewölk stieg aus den Bäumen, das Wasser verlor seinen öligen Glanz, ein kühler Wind seufzte auf, bedeckte den Teich mit einer feinen Gänsehaut, säuselte im Laub der Bäume und verschwand.

»Wird er noch lange reden?« dachte Klim, der Dronow von der Seite scheel musterte.

»Er hat ein Werk ›Über den dritten Instinkt‹ geschrieben, ich weiß nicht, wovon es handelt, aber ich habe ins Nachwort hineingeschielt: ›Nicht Trost suche ich, sondern Wahrheit‹. Er hat das Manuskript einem Professor in Moskau geschickt, der hat ihm mit grüner Tinte auf dem ersten Blatt der Handschrift geantwortet: ›Ketzerei und zensurwidrig‹.«

Mit sichtlichem Vergnügen, doch nicht laut und irgendwie linkisch, begann er zu lachen. Seine Finger dehnten die Mütze.

»Er wäre natürlich vor Hunger eingegangen, hätte die Witwe des Kochs ihn nicht gerettet. Sie hält ihn für einen Heiligen. Hat ihm die Anzüge ihres Mannes gegeben, speist ihn, tränkt ihn. Sogar schlafen tut sie mit ihm. Nun, was?

Umsonst wird nichts gewährt. Das Schicksal
heischt Sühneopfer . . .

Die Frau des Kochs ist für ihn, den Philosophen, das Schicksal.«

Dronow sprach abgerissen und hastig, in dem Wunsch, zwischen zwei Hustenanfällen soviel wie möglich zu sagen. Ihm zuzuhören, war schwierig und langweilig. Klim hing seinen eigenen Gedanken nach, während er beobachtete, wie Dronow seine Mütze mißhandelte.

»Der Literat Pissemski hatte gleichfalls eine Köchin zum Schicksal. Ohne sie machte er keinen Schritt auf die Straße. Mein Schicksal dagegen hat immer noch kein Auge für mich.«

Samgin hatte auf einmal Lust, nach Margarita zu fragen, aber er unterdrückte diesen Wunsch, da er befürchtete, auf diese Weise Dronows Geschwätz noch mehr in die Länge zu ziehen und seinem familiären Ton noch Vorschub zu leisten. Er erinnerte sich daran, wie dieser lästige Bursche einmal, in der Absicht, Makarows Nöte auszuspotten, herablassend und zynisch bemerkt hatte:

»Der Trottel. Was fürchtet er? Soll er doch beim ersten Mal die Augen zumachen, so, als nehme er Rizinus ein, und fertig . . .«

»Dein Onkel predigt brüllend ›Das Evangelium der Liebe‹ . . .«

»Er ist verhaftet.«

»Ich weiß. Aber die Liebe ist ihm ein Mittel für Raufhändel . . .«

»Das ist vielleicht wahr«, dachte Klim.

»Während Tomilin aus seinen Operationen sowohl die Liebe als auch alles übrige ausschaltet. Das lob ich mir, Bruder. Da gibt es keinen Betrug. Warum besuchst du ihn nicht? Er weiß, daß du hier bist. Er lobt dich: das ist ein Mensch von unabhängigem Denken, sagt er.«

»Natürlich werde ich ihn besuchen«, sagte Klim. »Ich muß aufs Land fahren, ich habe da eine Arbeit zu erledigen. Morgen fahre ich schon . . .«

Er hatte gar keine Arbeit. Aufs Land zu fahren, schickte er sich auch nicht an. Aber er hatte keine Lust, Tomilin aufzusuchen, und der familiäre Ton Dronows irritierte ihn immer mehr. Er fühlte sich sicherer, wenn Dronow ihn wütend tadelte. Nun jedoch flößte ihm Dronows Redseligkeit die Befürchtung ein, daß er geflissentlich Begegnungen mit ihm suchen und ihm überhaupt lästig fallen würde.

»Brauchst du nicht Geld, Iwan?«

Er erkannte sogleich, daß er über dieses Thema entweder vorher oder nachher hätte sprechen müssen.

Dronow erhob sich, sah sich um, zog langsam die Mütze über seinen flachen Schädel und setzte sich wieder, mit den Worten:

»Ich brauche welches . . .«

Nachdem er Geld erhalten hatte, stopfte er es in die Tasche seiner zerknitterten Hose, streckte mit schroffer Geste ein Bein vor und schloß den einzigen Knopf seiner grauen, an den Ellenbogen durchgescheuerten Jacke.

»Ich bessere Schuhe aus.«

Er spuckte in das dunkle Wasser des Teichs und sagte aus irgendeinem Grunde:

»Im vergangenen Sommer hat sich an dieser Stelle, unter den Augen des promenierenden Publikums, der Landeshauptmann Mussin-Puschkin nackt ausgezogen und ein Bad genommen. Einige Tage darauf aber, auf seinem Gut, hat er mit Wolfsschrot in eine von der Weide heimkehrende Herde gefeuert. Die Bauern fesselten ihn und brachten ihn in die Stadt, wo die Ärzte feststellten, daß der Landeshauptmann lange, seit zwei Monaten schon, irrsinnig war. In diesem Zustand der Geistesgestörtheit hat er seinen Dienst versehen und Menschen abgeurteilt. Bronski dagegen, gleichfalls Landeshauptmann, straft die Bauern mit einem halben Rubel, weil sie nicht den Hut vor seinem Pferd ziehen, wenn der Stallknecht es zur Schwemme führt.«

Klim blieb noch ein paar Minuten, verabschiedete sich dann und ging nach Hause. An der Wegbiegung wandte er sich um: Dronow saß immer noch auf der Bank, mit dermaßen gekrümmtem Körper, als sei er im Begriff, ins dunkle Wasser des Teichs zu springen, Klim Samgin stieß verdrossen seinen Stock gegen die Erde und beschleunigte den Schritt.

Er war sehr unzufrieden über dieses Wiedersehen und über sich selbst, über die Farblosigkeit und Mattheit, die er im Gespräch mit Dronow an den Tag legte. Während er mechanisch seine Reden aufnahm, hatte er zu erraten versucht, worüber bereits seit drei Tagen Lida so geheimnisvoll mit Alina tuschelte und weshalb sie heute unerwartet aufs Land gefahren waren? Die Telepnew war beunruhigt. Sie hatte augenscheinlich geweint. Ihre Augen waren müde. Lida, die sie besorgt betreute, biß sich zornig die Lippen.

Er schritt gegen den Wind durch die Hauptstraße der Stadt, die schon mit den Lichtern der Laternen und Läden geschmückt war. Papierfetzen flogen ihm vor die Füße, eine Erinnerung an den Brief, den Lida und Alina gestern im Garten zusammen gelesen hatten, an Alinas Ausruf:

»Nein, das ist einer! Das ist ein Rüpel!«

»Ob sie wirklich Ljutow meint?« überlegte Klim. »Wahrscheinlich hat sie nicht nur diesen einen Roman.«

Der Wind spritzte ihm Regentropfen ins Gesicht, warm wie die Tränen der Nechajew. Klim nahm eine Droschke, kroch unter das Lederverdeck und dachte empört, daß Lida ihm zu einem Ärgernis, einer Krankheit wurde, die ihm das Leben verbitterte.

Daheim angelangt, hatte er sich kaum ausgezogen, als Ljutow und Makarow erschienen. Makarow, zerknittert, aufgeknöpft, strahlte und betrachtete den Salon wie eine Lieblingskneipe, die er lange nicht besucht hatte. Ljutow, ganz in Flanell, in knallgelben Stiefeln, sah unvergleichlich albern aus. Er hatte sich sein Bärtchen bis auf die spärlichen Härchen eines Katerschnurrbarts abnehmen lassen, was seinem Gesicht eine fatale Nacktheit verlieh. Es sah für Klims Augen jetzt wie das Gesicht eines Mongolen aus. Ljutows wulstlippiger Mund war im Vergleich zu seinem Gesicht von grotesker Größe. Hinter dem verkrampften und schiefen Lächeln hervor blitzten die kleinen Fischzähne.

Klim befremdete die unhöfliche Flüchtigkeit, mit der Ljutow der Mutter die Hand küßte, die Art, wie er unter Verrenkungen seines Halses ihre Figur mit seinen verdrehten Augen umfing.

»Ist er schüchtern oder ein Flegel?« fragte sich Klim, während er feindselig beobachtete, wie Ljutows Pupillen flink über Warawkas dunkelrotes Gesicht liefen, und erstaunte noch heftiger, als er bemerkte, daß Warawka den Moskauer mit Vergnügen, ja sogar achtungsvoll empfing.

»Mein Onkel, Radejew, hat Ihnen mitgeteilt . . .«

»Natürlich, natürlich!« rief Warawka aus und schob seinem Gast einen Sessel hin.

»Sie kaufen das Land eines gewissen Turobojew . . .«

»Ganz recht.«

»Darunter befindet sich ein strittiges Revier, dessen Eigentumsrecht Turobojew streitig gemacht wird von einer Tante meiner Braut Alina Nikolajewna Telepnew, der Freundin Ihrer Tochter . . .«

Klim hörte, daß Ljutow die Stimme des Amtsschreibers aus »Kaschirs alte Zeit« nachahmte und absichtlich näselnd, im Ton eines Intriganten sprach. Natürlich meinte Alina mit dem Rüpel ihn.

». . . die sich, wie ich hoffe, bei guter Gesundheit befindet?«

»Durchaus. Sie ist heute zusammen mit Ihrer Braut aufs Land gefahren!«

»Heute?« fragte Ljutow schneidend und richtete sich auf, wobei er die Arme auf die Seitenlehnen des Sessels stützte. Doch sogleich ließ er sich mit den Worten: »Ungeachtet des schlechten Wetters!« wieder fallen.

Klim bemerkte in dieser Bewegung Ljutows etwas Eigentümliches und nahm ihn schärfer aufs Korn, aber Ljutow hatte bereits seinen Ton verändert und sprach mit Warawka über das Land sachlich und ruhig, ohne Mätzchen.

Verdächtig war die von der Mutter vorgetäuschte Verwunderung, mit der sie Ljutow empfing. So empfing sie nur Leute, die ihr unsympathisch waren, die sie aber aus irgendeinem Grund brauchte. Als Warawka Ljutow zu sich in sein Kabinett geführt hatte, begann Klim sie zu beobachten. Sie saß, mit dem Lorgnon spielend und süß lächelnd, auf dem Ruhebett, Makarow auf einem Polsterschemel ihr gegenüber.

»Klim sagte mir, daß die Professoren Sie lieben . . .«

Makarow lachte:

»Es ist leichter Wissenschaften vorzutragen, als sie sich anzueignen.«

»Warum denkt sie sich das aus?« rief Klim. »Ich habe niemals dergleichen gesagt.«

Das Mädchen trat ein und meldete Wera Petrowna:

»Der gnädige Herr lassen bitten . . .«

Als die Mutter eilig verschwand, fragte Makarow erstaunt:

»Alina ist heute fortgefahren? Seltsam.«

»Weshalb?«

»Nun, so.«

Klim lachte spöttisch.

»Ein Geheimnis?«

»Ach Unsinn, fühlst du dich schlecht oder bist du böse?«

»Müde.«

Klim sah aus dem Fenster. Vom Himmel lösten sich graue Fetzen Gewölk und fielen auf Dächer und Bäume.

»Es ist unhöflich von mir, ihm den Rücken zuzuwenden«, dachte Klim schlaff, wandte sich jedoch nicht um, als er fragte:

»Haben sie sich verzankt?«

Statt Makarows Antwort ertönte die strenge Frage der Mutter:

»Glauben Sie nicht auch, daß Vereinfachen das sichere Merkmal eines normalen Verstandes ist?«

Ljutow brannte sich eine Zigarette an, die krumm aus einer Bernsteinspitze ragte, schmatzte mit den Lippen, zwinkerte und murmelte:

»Eines naiven, bitte, eines naiven . . .«

Er, die Mutter und Warawka drängten sich in der Tür, als getrauten sie sich nicht, die Schwelle zu überschreiten. Makarow trat zu ihnen, riß die Zigarette aus Ljutows Spitze, schob sie in seinen Mundwinkel und sagte heiter:

»Wenn er Ihnen etwas Entsetzliches verkündet hat, glauben Sie ihm nicht. Das ist nur Bluff.«

Ljutow zog die Uhr aus der Tasche, klopfte mit der Spitze aufs Glas und fragte:

»Gehen wir, Makarow?«

Und zu Warawka gewandt:

»Also Sie werden Turobojew drängen?«

Neben dem massiven Warawka erschien er als ein Halbwüchsiger, er hatte die Schultern fallen lassen und wand sich. Es war etwas Zerfließendes, Gedrücktes in ihm.

Als die unerwarteten Gäste gegangen waren, bemerkte Klim:

»Eine sonderbare Visite.«

»Eine geschäftliche Visite«, verbesserte Warawka, und sogleich drückte er, seinen Bart liebkosend, Klim mit dem Bauch an die Wand und kommandierte:

»Morgen früh fährst du aufs Land und richtest den beiden unten zwei Zimmer her. Für Turobojew aber eins im oberen Stock. Merkst du was? Na also . . .«

Er begab sich in sein Zimmer hinauf, wobei er wie ein Jüngling die Treppe hinaufhüpfte. Die Mutter sah ihm nach, seufzte und verzog ihr Gesicht:

»Mein Gott! Wie unsympathisch ist dieser Ljutow! Was hat Alina an ihm gefunden?«

»Geld«, sagte Klim widerwillig und setzte sich an den Tisch.

»Wie gut, daß du kein Sittenrichter bist«, sagte nach einem Schweigen die Mutter. Klim schwieg ebenfalls, da er nichts fand, worüber er mit ihr reden könnte. Dann sagte sie, nicht laut und augenscheinlich mit anderen Dingen beschäftigt:

»Ein schreckliches Gesicht hat dieser Makarow. Ein so aufreizendes, wenn man das Profil sieht. Aber en face ist es das Gesicht eines anderen Menschen. Ich sage nicht, daß er ein doppeltes Gesicht hätte in einem für ihn nicht schmeichelhaften Sinn. Nein, er ist es auf eine unglückliche Weise.«

»Wie ist das zu verstehen?« fragte Klim aus Höflichkeit, mit einem Achselzucken. Wera Petrowna antwortete:

»Mein Eindruck.«

Sie sagte noch etwas über Turobojew. Klim, der nicht hinhörte, dachte:

»Sie wird alt. Geschwätzig.«

Als sie hinausgegangen war, fühlte er, daß ihn ein nie gespürtes, krankhaftes Gefühl des Gesättigtseins mit einem beißenden Rauch, der Gedanken und Wünsche verzehrte und eine beinahe körperliche Übelkeit hervorrief, erfaßte wie ein Zugwind. Als habe sich in seinem Kopf, in seiner Brust die menschliche Fähigkeit zu denken und zu reden, die Fähigkeit des Erinnerns plötzlich entzündet, ohne zu brennen, und verglimme jetzt ganz langsam. Dann tauchte ein wie Schmerz gedehnter Widerwille gegen seine Umgebung auf, gegen diese mit Bilderquadraten gesprenkelten Wände, gegen die schwarzen, in die Finsternis hineingehauenen Fensterscheiben, gegen den Tisch, dem ein vergiftender Geruch von gequollenen Teeblättern und Holzkohle entstieg.

Klim starrte hartnäckig in sein leeres Glas, hörte das feine Piepen des verlöschenden Samowars und wiederholte mechanisch das eine Wort:

»Öde!«

Sein untätiger Verstand bedurfte weder anderer Worte, noch brachte er sie hervor. In diesem Zustand innerer Stummheit ging Klim Samgin in sein Zimmer hinüber, öffnete das Fenster, setzte sich davor hin, starrte in die feuchte Finsternis des Gartens und horchte, wie jenes zweisilbige Wort stampfte und pfiff. Nebelhaft erschien der Gedanke, daß es wohl dieser Zustand der Niedergedrücktheit durch das Gefühl der Sinnlosigkeit sein müsse, der die Landeshauptleute irrsinnig machte. In welcher Absicht hatte Dronow ihm von diesen Landeshauptleuten erzählt? Weshalb erzählte er fast immer so greuliche Anekdoten? Nach Antwort auf diese Fragen suchte er nicht.

Kältegefühl ließ ihn der Leere seiner Selbstvergessenheit entgleiten. Ihm kam es so vor, als seien schon einige Stunden verstrichen, aber während er sich träge entkleidete, um sich ins Bett zu legen, vernahm er entfernten Glockenschlag und zählte elf Schläge.

»Nicht mehr? Seltsam.«

Er hatte sich in dem Gefühl des Niedergedrücktseins, der Verwüstung niedergelegt und erwachte infolge eines Klopfens an der Tür. Das Mädchen weckte ihn zum Zug. Rasch sprang er aus dem Bett und stand einige Sekunden mit geschlossenen Augen, geblendet von dem wunderbar leuchtenden Glanz der Morgensonne. Die feuchten Blätter der Bäume vor dem offenen Fenster, deren kristallene Regentropfen schillernde, kurze und scharfe Strahlen zurückwarfen, leuchteten blendend. Der Genesung spendende Duft von feuchter Erde und Blumen erfüllte das Zimmer. Die Frische des Morgens kitzelte die Haut. Klim Samgin dachte bebend:

»Eine dumme Stimmung habe ich gestern gehabt!«

Aber als er in sich hineinhorchte, fand er, daß von dieser Stimmung ein schwacher Schatten zurückgeblieben war.

»Eine Wachstumskrankheit der Seele«, entschied er, während er sich eilig anzog.

Abends saß er auf dem Sandhügel an der Lichtung eines von Birken durchsetzten Fichtengehölzes. Hundert Schritt weiter plätscherte vor seinen Augen freundlich der Fluß dahin, schillernd in den Strahlen der Sonne. Das Dach der zwischen verkrüppelten Weiden versteckten Mühle flammte brokaten. Die Felder jenseits des Flusses sträubten sich heiter im Stachelgewand des Korns. Klim sah eine Landschaft, ähnlich den buntgemalten Bildchen aus einem Buch für Kinder, obgleich er wußte, daß dieser Ort wegen seiner Schönheit berühmt war. Auf dem Buckel eines Hügels, der aussah wie die feierliche Kopfbedeckung eines Friedensrichters, hatte Warawka ein großes, zweistöckiges Landhaus erbaut, an den Abhängen liefen noch sechs buntfarbige, von Schnitzwerk im russischen Stil geschmückte Häuschen zum Fluß hinab. Im äußersten Haus rechts lebte Alinas Vormund, ein finsterer Greis, Mitglied des Kreisgerichts. Auch die übrigen Sommerhäuschen waren von Städtern gemietet, jedoch noch nicht bewohnt.

Es war sehr still, nur die Käfer summten im feinen Laub der Birken, und der Abendwind seufzte warm in den Nadeln der Fichten. Schon mehrere Male waren die saftige Stimme, das weiche Lachen Alinas durch die Stille zu Klim gedrungen, aber eigensinnig versagte er es sich, zu den jungen Mädchen zu gehen. An dem Rauch, der aus dem Schornstein von Warawkas Landhaus stieg, an den geöffneten Fenstern und der Geschäftigkeit der Dienstboten mußten Lida und Alina merken, daß jemand gekommen war. Klim trat einige Male auf den Balkon der Villa und verweilte lange in der Hoffnung, daß die jungen Mädchen ihn sehen und herbeilaufen würden. Er erblickte Lidas zierliche Figur in einer orangefarbenen Bluse und einem blauen Rock, sah Alina in Rot gekleidet. Es war schwer zu glauben, daß sie ihn nicht bemerkt haben sollten.

Es wäre schön, unverhofft vor ihnen aufzutauchen und etwas Ungewöhnliches, Verblüffendes zu sagen oder zu tun, zum Beispiel in die Luft emporzusteigen oder den schmalen, aber tiefen Fluß wie festes Land zu durchqueren.

»Wie dumm ist das«, tadelte sich Klim und erinnerte sich, daß solche kindlichen Gedanken in letzter Zeit häufig in ihm auftauchten wie Schwalben. Beinahe immer waren sie verknüpft mit Lida, und stets folgte ihnen eine stille Bangigkeit, die dunkle Vorahnung einer Gefahr.

Es dunkelte rasch. In der Bläue über dem Fluß hingen an dünnen Strahlenfäden drei Sterne und erschienen als Öltröpfchen im Wasser wieder. In Alinas Landhaus wurde in zwei Fenstern Licht angezündet. Über dem Fluß stieg ein ungeheuerlich großes, quadratisches Gesicht mit gelben, verfließenden Augen empor, über das sich eine spitze Kappe stülpte. Einige Minuten später traten die jungen Mädchen vom Söller des Sommerhäuschens ans Ufer hinunter, und Alina rief klagend aus:

»Mein Gott, welch eine Langeweile! Ich überlebe es nicht . . .«

»Geh doch«, sagte Lida mit sichtlichem Verdruß.

Klim erhob sich und schritt ihnen rasch entgegen.

»Du?« verwunderte sich Lida. »Weshalb so geheimnisvoll? Wann bist du gekommen? Um fünf Uhr?«

Neben dem Erstaunen glaubte Klim aus ihren Worten Freude herauszuhören. Auch Alina war erfreut.

»Wundervoll! Wir werden Boot fahren. Du wirst rudern. Nur, bitte, Klim, ohne gescheite Reden. Ich habe schon alles Gescheite intus, von den Ichtyosauren bis zu den Flammarions, mein Erkorener hat mich in alles eingeweiht.«

Eine halbe Stunde ruderte Klim gegen den Strom, die Mädchen schwiegen und lauschten, wie das dunkle Wasser unter den Ruderschlägen spröde plätscherte. Der Himmel bedeckte sich mit immer reicherer Sternenpracht. Die Ufer hauchten trunkene Frühlingswärme aus. Alina seufzte und sagte:

»Du und ich, Lidok, sind Gerechte, und dafür darf Samgin, so ein weißer kleiner Engel, uns lebendig ins Paradies hinüberfahren.«

»Charon«, sagte Klim leise.

»Was? Charon ist grauhaarig, mit einem gewaltigen Bart, und du hast es selbst bis zum Bärtchen noch weit. Du hast mich gestört«, fuhr sie launisch fort, »ich hatte etwas Komisches ausgedacht und wollte es gerade sagen, und du . . . Erstaunlich, wie sehr alle es lieben, zu verbessern und zu gängeln! Die ganze Welt ist eine Art Korrektionsanstalt für Alina Telepnew. Lida hat mich den lieben langen Tag mit den trostlosen Dichtungen irgendeines Metelkin oder Metalkin bedrängt. Mein Vormund versichert mir ernsthaft, daß die ›Herzogin von Gerolstein‹ keine historische Frauengestalt sei, sondern eine von Offenbach für die Operette erfundene. Mein verdammter Bräutigam betrachtet mich als sein Notizbuch, in das er, zum Festhalten, seine Einfälle einträgt . . .«

Lida kicherte, auch Klim mußte lächeln.

»Nein, im Ernst«, fuhr das Mädchen fort, während sie ihre Freundin umschlang und sich mit ihr schaukelte, »er wird mich bald ganz und gar beschrieben haben. Wenn er in einen lyrischen Ton verfällt, leiert er wie ein Küster:

›O herrliche Jungfrau! Erlöse mich von dem Schweigen, auf daß ich dir Worte sage, so die Seele erbauen.‹ Er findet das, müßt ihr wissen, witzig, diese – ›auf daß‹ und ›so‹ . . .«

Gedankenvoll ertönte Lidas Stimme:

»Du behandelst ihn zu leichtfertig. Er ist schüchtern. Augen bringen ihn in Verwirrung . . .«

»So? Leichtfertig?« fragte Alina kriegerisch. »Und wie würdest du deinen Bräutigam behandeln, der dir immerfort nur von Materialismus, Idealismus und sonstigen Schrecken des Lebens erzählt? Klim, hast du eine Braut?«

»Noch nicht.«

»Stell dir vor, du hast schon eine. Wovon würdest du mit ihr sprechen?«

»Natürlich über alles«, sagte Klim, der begriff, daß er vor einem verantwortungsvollen Moment stand. Mit eingeschobenen Zwischenpausen, die vollkommen natürlich waren und mit dem Rhythmus der Ruderschläge übereinstimmten, verbreitete er sich weise darüber, daß ein Glück mit einer Frau nur möglich sei bei vollkommener Offenheit im Gedankenaustausch. Aber Alina winkte ab und unterbrach ironisch seine Rede:

»Habe ich schon gehört. Wahrscheinlich quaken auch die Frösche das gleiche.«

Klim, ohne aus der Fassung zu geraten, sagte:

»Aber jede Frau glaubt sich einmal im Monat verpflichtet, zu lügen und sich zu verstecken . . .«

»Warum nur einmal?« fragte, mit derselben Ironie Alina. Lida jedoch sagte dumpf:

»Das ist furchtbar wahr.«

»Was ist wahr?« fragte Alina ungeduldig und empörte sich:

»Schämen Sie sich nicht, Samgin?«

»Nein, ich bin traurig«, entgegnete Klim, ohne sie und Lida anzusehen. »Mir scheint, es gibt . . .«

Er wollte sagen ›Mädchen‹, aber er beherrschte sich. »Frauen, die sich aus falschem Schamgefühl verachten, weil sie glauben, daß die Natur, als sie sie schuf, ein grobes Versehen begangen habe. Und es gibt Mädchen, die sich fürchten zu lieben, weil ihnen scheint daß die Liebe sie erniedrige, zum Tiere herabwürdige.«

Er sprach vorsichtig, in Angst, daß Lida aus seinen Worten das Echo der Gedanken Makarows heraushören könnte, Gedanken, die ihr wahrscheinlich nur zu gut bekannt waren.

»Vielleicht sind manche Frauen gerade deshalb ausschweifend, weil sie so schnell wie möglich ihr Weibliches, – wie sie es auffassen: ihr Tierisches – ausleben wollen, um dann Mensch zu sein, erlöst von der Gewalt der Triebe . . .«

»Das ist erstaunlich wahr, Klim«, sagte Lida, nicht laut, aber vernehmlich.

Klim fühlte, daß seine über der lautlosen Bewegung des dunklen Wassers schwebenden Worte eindrucksvoll klangen.

»Kennen Sie solche Frauen? Wenigstens eine?« fragte leise und aus irgendeinem Grunde unwillig Alina.

»Ja oder nein?« forschte Klim bei sich selbst. »Nein, ich kenne keine. Aber ich bin überzeugt, daß es solche Frauen geben muß.«

»Gewiß«, sagte Lida.

Klim verstummte. Die jungen Mädchen schwiegen auch. Fest in ihre Schals gehüllt, schmiegten sie sich eng aneinander. Einige Minuten später schlug Alina vor:

»Es ist wohl Zeit, heimzufahren?«

Das Boot schaukelte und glitt geräuschlos in der Strömung dahin. Klim ruderte nicht, sondern steuerte nur. Er war zufrieden. Wie leicht hatte er Lida veranlaßt, sich ihm zu erschließen. Jetzt war es vollkommen klar, daß sie die Liebe fürchtete und daß diese Furcht alles war, was ihm an ihr rätselhaft erschien. Seine Zaghaftigkeit aber ihr gegenüber fand ihre Erklärung darin, daß Lida ihn in gewisser Weise mit ihrer Furcht ansteckte. Wunderbar einfach war alles, wenn man zu schauen verstand. Während er sich seinen Gedanken überließ, hörte Klim die zornigen Klagen Alinas:

»Es ist also doch nicht ohne ein gescheites Gespräch abgegangen! Ach, diese Gespräche werden mich irgendwohin jagen, wo nicht Trübsal wohnt noch Seufzen, sondern das Leben . . . das flüchtige . . .«

Alina brach in lautes Lachen aus, sie schaukelte sich, klatschte sich mit den Händen auf die Knie und wiederholte:

»O mein Gott!«

Klim fand sowohl ihr Lachen wie ihre Gesten roh.

Lida ließ die Arme über die Bootwand fallen und schaukelte das Boot so heftig, daß ihre Freundin erschrak:

»Bist du verrückt geworden?«

Lida spritzte ihr Wasser ins Gesicht, streichelte sich mit der nassen Hand die Wangen und sagte:

»Feigling!«

An dem einen Rand des schwarzen Wasserstreifens erhoben sich rote Sandhügel, am anderen schob sich das Gestrüpp des Dickichts vor. Alina deutete mit der Hand auf das Ufer:

»Sieh doch, Lida: das Haupt der Erde neigt sich zum Wasser, um zu trinken, und ihre Haare sträuben sich«

»Der Kopf eines Schweins«, sagte Lida.

Als man sich trennte, fühlte Klim, daß sie seine Hand sehr fest drückte, und sie sagte ungewöhnlich sanft:

»Bist du für den ganzen Sommer gekommen?«

Alina blickte in die Sterne und riet:

»Also wird morgen mein Erkorener erscheinen?«

Sie umschloß Lida und entfernte sich langsam zum Sommerhaus hin. Klim hielt sich an den Nadeltatzen der jungen Fichten fest und kroch den steilen Abhang des Hügels hinab. Durch das Rascheln der Nadeln und das Knirschen des Sandes hindurch vernahm er das Lachen der Telepnew und dann ihre Worte:

». . . Turobojew. Wie wirst du es, Herzchen, zwischen zwei Feuern aushalten?«

»Ja«, dachte Klim. »Wie?«

Er blieb stehen, um zu horchen, konnte jedoch die Worte nicht mehr verstehen. Lange, bis ihm die Augen schmerzten, starrte er in den in der Finsternis völlig unbewegten Fluß, in die glanzlosen Abbilder der Sterne.


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